Leseprobe Flammen

Prolog

Die Appokalypse – Der Krieg der Zwei

In den letzten Tagen ist deutlich geworden, dass sich zwei Lager gebildet haben. Eine Reihe von Menschen, die sich die Gottlosen nennen, möchte nicht mehr unter den Göttern und ihren Gesetzen leben. Es wird Krieg geben. In diesen Tagebüchern berichte ich über die Geschehnisse.

„Ich verstehe nicht.“
„Was verstehst du nicht?“

„Nun … der Auftrag lautete anders. Ihr sagtet –“

„Ich weiß, was ich sagte.“ Thakas Gesicht blieb unverändert. „Aber du vertraust mir doch, nicht wahr?“

„Natürlich.“ Sie nickte, schloss die Arme enger um ihren Oberkörper. „Es ist nur, dass ich mich dann vielleicht anders vorbereitet hätte, wenn Ihr mir …“

Der Gott der Gerechtigkeit lächelte leicht. Die Mundwinkel seiner dünnen Lippen hoben sich kaum merklich an, doch sie wusste, dass diese Gesichtsregung einem Grinsen gleichkam. „Es gibt keinen Grund, dich vorzubereiten. Api wird sich um deine Vorbereitung kümmern. Alles, was ich dir geben möchte, ist eine Begründung … weißt du, was ein Wahrheitsleser ist?“

Kapitel 1

Die Appokalypse – Der Krieg der Zwei (1)

Der Appo ist nicht länger blau. Er verfärbt sich rosa – dabei haben die Kämpfe noch nicht einmal begonnen. Eine Menge Schiffe laufen aus. Die Menschen fühlen sich hier nicht mehr sicher.

Da war Oyitis. Der Appo. Der Altar. Der Dolch.
Levi. Liri. Jaan.

Ro. Filia. Leena.

Die Kutsche, die sie gestohlen hatten. Das hässliche graue Kleid, das sie gegen die Rüstung eingetauscht hatte.

Levi. Liri. Levi.

Sie lief übers Wasser. Sie versank im Wasser. Sie fürchtete sich vor dem Wasser. Überall war Wasser.

Blätter flogen um ihren Kopf, sie fühlte sich frei. Levis Lippen auf ihren, sein Herzschlag unter ihrer Hand.

Die Rebellen der Vierten Mauer.

Im Licht schauen sie nicht hin, im Schatten suchen sie dich.

Ihre Faust brannte. Sie zertrennte die Halsschlagader ihres Gegners. Das Genick brach unter ihrer Hand.

Lehm unter ihren Füßen. Etwas versperrte ihr die Sicht.

Das Osttor. Sie würden durch das Osttor in die Vierte Mauer gelangen. Oder durch das Tor Amries, der Hafenstadt. Sie wusste es nicht.

Ein Ring in Liris geschlossener Faust. Sie konnte ihn nicht sehen, aber wusste, dass er da war.

Feuer. Luft. Wasser. Erde.

Die Kreisberge. Niemand ging in die Kreisberge. Niemand – aber war Jaan nicht dort gewesen?

Provodes. Stechend graue Augen, deren Blick sich in ihren bohrte, versuchte, ihre Erinnerungen herauszufiltern.

Nyms Blick huschte hin und her. Er suchte nirgendwo und überall. Bilder strömten auf sie ein.

Dinge, die sie getan hatte. Dinge, die sie gehört hatte. Dinge, die sie gesehen hatte.

Sie spürte die Klinke unter ihrer rauen Handfläche. Sie glühte unter ihrer Berührung. Nym wusste, wo sie war, wusste, dass sie die Tür schließen sollte, die sie so unvorsichtig geöffnet hatte. Doch die Erinnerungen der letzten Tage strömten auf sie ein, schwirrten wie lästige Fliegen um ihren Kopf herum und ließen sich nicht vertreiben.

Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie hätte die Tür nie öffnen dürfen.

Plötzlich veränderten sich die Bilder. Sie wurden grau, verschwommen. Eine kleine Hand lag in ihrer, während sie auf den Boden sah. Diese Hand war das Kostbarste, was sie noch hatte.

Erde fiel dumpf auf Holz und heiße, salzige Tränen liefen an ihren Wangen hinab. Sie verglühten auf ihrem Gesicht und brannten sich in ihre Poren. Das einzig Kühle, das sie davor bewahrte, zu verbrennen, war die kleine Hand. Sie durfte sie nie wieder loslassen. Ihr durfte nichts passieren.

Ihr Griff wurde fester, doch der Schmerz nicht besser. Sie wünschte sich, nicht fühlen zu können, während das dunkle Holz des menschengroßen Kastens sich mit dem Braun der Erde vermischte – und die Umrisse des Bildes verwischten.

„Nym!“ Die Hand in ihrer war plötzlich gar nicht mehr so klein. „Nym! Verdammt noch mal, mach die Augen auf! Ro, hilf mir. Sie glüht förmlich!“ Die Hand wurde ihr entrissen, und wieder fluchte jemand.

Etwas Kaltes legte sich auf ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Hals. Es waren Hände, und unter der kühlen Berührung fing ihre Haut an zu zischen. So als wäre sie Feuer, das gelöscht wurde.

Auf einmal fuhr ein Ruck durch ihren Körper. Ihr Oberkörper wurde nach vorn geschleudert und sofort öffnete sie die Augen.

Das Erste, was ihr auffiel, war, dass ihre Wangen klebten. Das Zweite, dass es still war. Sie hörte weder Hufgetrappel noch das Knirschen von Rädern auf Sand. Die Kutsche bewegte sich nicht.

Sie ließ die Erinnerung an die Hand los – es war eine alte Erinnerung, eine von vor der Löschung ihres Gedächtnisses – und kämpfte damit, in die Realität zurückzukehren.

Da waren Fragen.

Wo, wer, was, wie, wann.

Sie war in einer Kutsche, auf dem Weg in die bistayischen Mauern. Sie wollten eine Gruppe Rebellen und Flüchtige aus der Vierten Mauer retten. Eine Suizidmission. Doch noch waren sie nicht tot.

Ro war bei dem Ruck gegen die Kutschwand gepresst worden, seine Hände erhoben. Neben ihm saßen Leena und Filia, die sie beide anstarrten.

Nyms Oberschenkel wurde gegen Levis gepresst. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Haut so heiß geworden war, dass die dünne, goldene Rüstung, die sie trug, angefangen hatte, orange zu glühen. Den Göttern sei Dank trug Levi selbst eine Rüstung, und seine Haut blieb somit unversehrt.

Langsam atmete sie ein und aus, versuchte sich zu beruhigen, ihr Blut zu kühlen. Ein Blick in Liris rundes, ängstliches Gesicht genügte.

„Du siehst ganz furchtbar aus“, flüsterte sie. „Du hast laut geschrien.“

Hatte sie? „Ich …“ Ihr Blick lief einmal durch die Runde. Alle starrten sie wortlos an. „Es tut mir leid. Ich … Warum stehen wir?“

Erst jetzt schien auch den anderen aufzufallen, dass sie sich nicht mehr bewegten – und dennoch Hufgetrappel zu hören war.

Und dann rief Jaan etwas. Er saß vorne auf dem Kutschbock und trug die dritte der Uniformen, die sie den Soldaten der Göttlichen Garde abgenommen hatten.

„Was gibt’s? Warum haltet ihr uns an?“

Das Hufgetrappel verstummte, und Nym lehnte sich leicht zurück, um aus dem Fenster der Kutsche blicken zu können. Die Sonne hatte sich noch nicht vollends über den Horizont gekämpft, spiegelte sich jedoch in einem Meer aus Lichtsplittern auf dem Appo wider, dem Fluss, der Asavez und Bistaye trennte. Sie ritten also immer noch nicht querfeldein, was bedeuten musste, dass sie den Eingang von Amrie, der Hafenstadt Bistayes, benutzen würden, um in die Vierte Mauer zu gelangen. 

„Wir sollen jede Kutsche durchsuchen, die uns entgegenkommt.“ Eine dumpfe Stimme wehte durch das Fenster. Sie kannte sie. Sie hatte die Stimme schon einmal gehört. Nym drückte sich gegen die Kutschwand, um einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, der sprach. Alles, was sie erkennen konnte, war jedoch nur der große Hintern eines braunen Pferdes. „Wir sind auf dem Weg zu den Diamantklippen. Asavezische Krieger werden heute erwartet. Sie überqueren von Lyrisa aus den Appo.“

Jaan lachte spöttisch auf. „Asavezische Krieger? Natürlich. Und der Appo besteht aus purem Gold und nicht aus Wasser.“ Er klang überzeugend ungläubig, dafür dass er selbst einer dieser asavezischen Krieger war.

Nur, wieso wurden sie gesucht? Woher wussten die Sprecher, dass sie den Appo überwunden hatten? Vor allem wo sie den Appo überwunden hatten. Es gab nur eine Brücke über den Fluss und die war nicht nur stark bewacht, sondern lag auch sehr viel weiter nördlich als die Diamantklippen, an denen sie tatsächlich angekommen waren. Sie hatten keinem davon erzählt. Woher hatte die Göttliche Garde ihre Informationen?

„Wir haben Anweisung von Jeki Tujan selbst erhalten, keine Ausnahmen zu machen. Ganz gleich, ob ein Göttlicher Soldat im Sattel sitzt oder nicht.“

Jeki Tujan. Nyms Nackenhaare richteten sich auf. Sie kannte den Namen. Sie konnte nicht sagen, ob sie ihn schon oft benutzt oder nur gehört hatte, aber direkt schossen ihr Zahlen und Fakten in den Kopf. Er war sechsundzwanzig. Ikano der Erde. Erster Offizier der Göttlichen Garde. Es hieß, er habe mehr Menschenleben als Atemzüge genommen. Er war für die Ergreifung der Rebellen zuständig. Trug die Verantwortung, Flüchtige zu fangen. Apis Liebling. Er hatte einen kleinen Bruder. Janon.

„Wir schauen nur kurz in die Kutsche hinein und reiten dann weiter. Ach ja, wir sollten dir wahrscheinlich auch noch die Zeichnungen geben, die von den Asavez angefertigt wurden.“

Neben ihr zog Levi zischend Luft ein und Ro schlug sich geräuschlos eine Hand auf die Augen.

Zeichnungen?

Woher hatte die Göttliche Garde Zeichnungen von ihnen?

„Was machen wir?“, wisperte Leena, die bereits zwei Dolche von ihrem Gürtel gezogen hatte. „Wir können nicht immer alle umbringen, die uns über den Weg laufen. Das wäre, als würden wir der Göttlichen Garde Brotkrumen in Form von Leichen hinwerfen, die ihnen unseren Weg weisen!“

Filia, die in der Mitte zwischen ihr und Ro saß, war schneeweiß geworden. Sie war eine Flüchtige aus der Sechsten Mauer und hatte in ihrem Leben schon genug gewaltsame Begegnungen mit der Göttlichen Garde gehabt. Man sah ihr deutlich an, dass sie nicht scharf darauf war, noch eine hinzuzufügen.

Nym blickte zu Levi, der ruhig geblieben war. Seine grünen Augen fanden ihre, und sie konnte seine Gedanken mit den ihren um die Wette rasen sehen.

Schwere Stiefel trafen dumpf auf dem Lehmboden auf und Nym konnte Metall klirren hören. Das waren mindestens vier Soldaten da draußen. Ein Schlag auf Holz bedeutete ihnen, dass Jaan nun ebenfalls aufgesprungen war. „Das ist albern. Ich werde mit Tujan selbst ein Wörtchen wechseln, sobald ich wieder in der Dritten Mauer bin …“

Schritte kamen näher und jetzt blitzte der Schatten einer breiten Statur durch den Rahmen des Kutschfensters. Neben ihr machte Liri einen Kiekslaut, die blonden Zöpfe klebten ihr am Hals. Sie wollte nicht zeigen, dass sie Angst hatte, versagte dabei aber kläglich.

Nym bekam eine trockene Kehle.

Liri.

Die Soldaten durften die Tür nicht öffnen. Wenn sie sahen, dass sie ein Kind dabei hatten … sie würden sofort wissen, dass es sich bei ihnen nicht um Mitglieder der Göttlichen Garde handelte!

„Setz den Helm auf!“, zischte Nym Levi zu, bevor sie sich den eigenen, der zwischen ihre Füße geklemmt gewesen war, über ihre, jetzt schulterlangen, schwarzen Haare stülpte. Im nächsten Moment trat sie unwirsch die Holztür der Kutsche auf, sodass die Soldaten, die sich fast direkt dahinter befunden hatten, zurückschreckten.

„Was soll der Unsinn?“

Sie trat in die Morgensonne, der Helm presste ihr unangenehm auf die Schläfen. Die Arme hielt sie verschränkt und ihre Stimme war ruhig und gefasst. Doch aus jeder Silbe, die ihren Mund verließ, hörte sie ihre eigene unterdrückte Wut tropfen. Und die Wut war nicht einmal gespielt.

Sie war es so leid.

Nicht zu wissen, wer sie war, und doch eine ungefähre Ahnung zu haben. Zu ahnen, dass die Uniform der Göttlichen Garde einst zu ihr gehört hatte, und doch von dem Gefühl verfolgt zu werden, dass die Rüstung versuchte, sie in die Knie zu zwingen.

Die Unsicherheit. Die Probleme. Die Geheimnisse. Das Nicht-Wissen.

Levi war ihr auf dem Fuß gefolgt, den Helm, der mehr als die Hälfte seines Gesichts verbarg, trug er an seinem angedachten Platz. Er stieß die Kutschtür hinter sich zu und sie schlug fest in ihren Rahmen.

„Wir müssen die Kutsche durchsuchen“, wiederholte der Soldat gelassen. „Es dauert nur ein paar Sekunden.“

„Durchsuchen? Die Kutsche eines Göttlichen Soldaten?“ Nyms Stimme war kalt und ihr Blick wanderte über die einzelnen Männer.

Es waren tatsächlich vier, so wie sie vermutet hatte. Immer noch fragte sie sich, ob sie die Stimme des Soldaten, der mit ihr sprach, tatsächlich kannte. Vielleicht spielte ihr ihr Gehirn, das zugegebenermaßen in letzter Zeit etwas gelitten hatte, auch nur einen Streich. Vielleicht pflanzte ihr Gedächtnis ihr Erinnerungen ein, die es überhaupt nicht gab. Sie hasste es, dass sie sich nicht mehr auf sich selbst verlassen konnte.

„Seit wann wird die Loyalität der Göttlichen Soldaten angezweifelt?“, verlangte sie scharf zu wissen. „Ist es nicht schlimm genug, dass bereits jedes Gesicht in der Vierten Mauer mit Skepsis betrachtet wird?“

Sie hörte, wie Levi sich hinter ihr gegen die Tür der Kutsche lehnte, und sein Blick huschte einen kurzen Moment zu ihr, als fragte er sich, was sie da eigentlich tat.

Sie wusste es selbst nicht genau. Doch es fühlte sich natürlich an. Die Worte fielen ihr leicht. Die Autorität, die sie ausstrahlte, flog ihr zu.

Ungeduldig schnalzte der Soldat, der direkt neben Jaan stand, mit der Zunge. „Ich habe Anweisungen von Jeki Tujan persönlich.“

„Jeki Tujan hat nicht das Recht, sich über jeden einzelnen Soldaten zu erheben“, zischte Nym. „Nur weil Api ihm regelmäßig den Kopf tätschelt, heißt es nicht automatisch, dass er jedem Offizier Befehle erteilen kann! Er ist nicht der einzige Erste Offizier. Unsere Kutsche ist leer und wir sind in Eile. Wir werden jetzt weiterfahren, und wenn ihr uns davon abhalten solltet, werdet ihr euch wünschen, ihr hättet Api selbst widersprochen, anstelle von uns.“

Die Soldaten sahen einander an und einer der hinteren schnaubte laut. „Eine Frau erhebt sich über einen Gott? Vielleicht solltest du uns deinen Namen nennen, damit wir ihn direkt an den Gott der Vergeltung weiterleiten können.“

Sie hatte es nicht so mit Namen. Vor allem nicht mit ihrem eigenen.

Und … eine Frau?

Nyms Füße fingen an zu kribbeln und Hitze stieg in ihr auf. Doch es war eine andere Hitze als die, die sie in ihrem Traum verspürt hatte. Es war keine Hitze der Angst. Sie fürchtete sich nicht vor den Soldaten. Diese Hitze bestand aus purer Wut.

Wie sprachen diese mickrigen Männer mit ihr? Diese Männer, die keinen Stand und keinen Ruf innerhalb der Garde genossen? Die sich hinter der Autorität eines Gottes und eines Ersten Offiziers verstecken mussten?

Bevor sie wusste, was sie tat, zog sie sich mit einem Ruck den Helm vom Kopf. „Ich sagte, wir werden jetzt weiterfahren“, knurrte sie. Der Helm glühte weiß zwischen ihren Fingern, und augenblicklich stolperten die Soldaten zurück. Sie stießen dabei beinahe Jaan um, der zum ersten Mal, seitdem Nym ihn kannte, eine klare Regung in seinem Gesicht erkennen ließ.

Fassungslosigkeit.

Doch die Soldaten vor ihr bemerkten es nicht. Sie hatten ihre Köpfe geneigt, und obwohl ihre Gesichter größtenteils verdeckt waren, konnte Nym plötzlichen Respekt und Demut in ihren geweiteten Pupillen erkennen.

„Entschuldigt. Wir hatten ja keine Ahnung. Natürlich könnt ihr weiterfahren. Es tut uns leid.“

Nym erschrak anhand der Reaktion der Soldaten, doch im gleichen Atemzug war sie kaum überrascht. „Ich will es nicht hören“, flüsterte sie. „Geht. Aber vorher will ich die Bilder haben.“

„Bi…Bi…Bilder?“ Der Soldat, der sie eben noch spöttisch als Frau verhöhnt hatte, hatte tatsächlich angefangen zu stottern.

„Die Zeichnungen von den Asavez, die ihr erwartet“, sagte sie unwirsch. „Ihr habt Kopien, schätze ich?“

„Natürlich!“ Eilig wandte er sich zu seinem Pferd um, das neben den zweien stand, die vor die Kutsche gespannt waren. „Ich bin überrascht, dass Jeki sie noch nicht weitergeleitet hat …“

„Ich war offensichtlich unterwegs.“

„Natürlich.“ Er zog einen Papierstapel aus einer Seitentasche und wollte ihn ihr reichen.

Nym nickte jedoch nur Levi zu, der die Aufgabe, sie entgegenzunehmen, für sie übernahm. Sie hatte das ungenaue Gefühl, dass sie einen solch profanen Akt nicht selbst ausgeführt hätte. Außerdem hatte sie Angst, dass das Papier in Flammen aufgehen könnte, sobald sie es berührte.

Die Blätter knisterten zwischen Levis Fingern, und Nym starrte die Soldaten nieder, bis sie wieder auf ihre Pferde stiegen und in die Richtung ritten, aus der sie gekommen waren. Erst als das Hufgetrappel zur Gänze verstummt war, atmete Nym aus.

Ihr Kopf sackte nach vorne, ihre Hände kühlten sich ab und die Rüstung lastete schwer auf ihren Schultern.

Sie hatte immer Angst davor gehabt, dass sie ihre Erinnerungen vielleicht gar nicht wiederhaben wollte. Und als sie jetzt Jaans ausdruckslosen Blick und Levis geöffneten Mund sah, schien es, als sei ihre Angst vielleicht berechtigt gewesen.

Wer war sie gewesen, dass Soldaten eine solche Furcht vor ihr hatten?

„Damit wäre die Frage offiziell beantwortet“, murmelte Levi hinter ihr und zog sich ebenfalls das goldene Metall vom Kopf, auf dem sich die weiter aufsteigende Sonne spiegelte. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du warst ein Mitglied der Göttlichen Garde, Nym. Und ganz offenbar keine kleine Nummer. Die Frage ist …“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Warum hat noch niemand mitbekommen, dass du offensichtlich kein Teil mehr von ihr bist?“

 

***

 

Jeki war müde. Er hatte die letzten achtundvierzig Stunden kaum geschlafen und das aus den verschiedensten Gründen. Der dringendste jedoch saß auf einem Stuhl direkt vor ihm, die zierlichen Hände auf dem Tisch verschränkt und die großen blauen Augen unschuldig geöffnet.

Nikana Halks war keineswegs der Inbegriff einer Rebellin. Sie war Tochter des ansässigen Diamantimporteurs und genoss hohe Anerkennung in der Vierten Mauer. Und doch hatte in den letzten Wochen nicht einmal, sondern gleich zweimal ein Gerücht die Runde gemacht, dass sie in Beziehung zu den Rebellen stand und sogar als ihre Anführerin fungierte.

Sie war kaum einundzwanzig, bei den Göttern! Jeki bezweifelte stark, dass sie auch nur eine Herde Kamele führen könnte, geschweige denn eine Gruppe Rebellen, die es in den letzten Monaten erfolgreich geschafft hatte, die Göttliche Garde an der Nase herumzuführen.

Sie wirkte wie eines dieser Mädchen, das sich mehr Gedanken um ihre Fingernägel als um die Entscheidungen der Götter machte.

Er seufzte tief und faltete die Hände zusammen. Nikana kannte ihn nicht, deswegen hatte er den Helm aufbehalten. „Nikana, wissen Sie, weswegen Sie hier sind?“

Sie blinzelte und zuckte dann die Schultern. „Ich dachte mir, dass es vielleicht mit ein paar gestohlenen Diamanten aus den Minen meines Vaters zusammenhängt. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum ich darüber etwas wissen sollte. Oder werde ich vielleicht sogar verdächtigt, sie selbst gestohlen zu haben?“

„Nein, es geht nicht um Diamanten.“ Jeki kratzte sich den Nacken.

Das Gefängnis der Göttlichen Garde war ein quadratischer, grauer Steinblock, der direkt neben dem Göttlichen Dom stand, den die Götter der Garde einst als Denkmal für ihre besonderen Verdienste um Bistaye geschenkt hatten. Die Sonne mühte sich noch immer am Horizont ab, zumindest glaubte Jeki das, denn der Raum, in dem sie waren, besaß keine Fenster. Lediglich zwei Kerzen standen vor ihnen auf dem Tisch und beleuchteten die kahlen Wände.

Das war keine Gegend, in der sich Töchter von Diamantimporteuren normalerweise herumtrieben. Außerdem war es kalt hier. Selbst durch seine Rüstung hindurch fror Jeki ein wenig. Und er war ein Mann – hieß es nicht immer, dass Frauen noch schneller kalt wurde?

Sein Blick fuhr über Nikanas naives Gesicht, über ihre langen, ungekämmten roten Haare – und jetzt, wo er darüber nachdachte, wirkte sie fast ein wenig zu unschuldig.

Zu unschuldig und vor allem zu gefasst. Er hatte sie zusammen mit seiner rechten Hand Arcal und der Ikano des Feuers Esya heute früh, noch vor Tagesanbruch, aus ihrem Haus geholt. Sie trug nur ein langes Nachthemd und einen Mantel und wurde in diesem desolaten Zustand in einem dunklen, engen Verließ von einem Ersten Offizier der Göttlichen Garde befragt.

Warum war sie immer noch so ruhig?

Oder suchte er schon gezielt nach Zeichen dafür, dass die Gerüchte über sie stimmten? Immerhin hatte der Informant, der sie auf Nikanas Spuren gebracht hatte, schon einmal richtiggelegen, was die Rebellen anging.

„Es geht nicht um Diamanten? Worum geht es dann?“

Langsam lehnte sich Jeki in seinem Stuhl zurück, sodass nur noch sein Kinn von dem Licht der Kerzen beleuchtet wurde. „Haben Sie schon einmal von den Rebellen aus der Vierten Mauer gehört?“

Verwirrt runzelte sie die Stirn, während sie eine dunkelrote Haarsträhne hinters Ohr strich. „Rebellen? In der Vierten Mauer? Der Vierten? Das ist absurd.“

Ja, sollte man meinen. „Oh, so absurd ist das nicht. Wir haben erst letzte Woche ein Treffen dieser Rebellen unterbrochen. Es gab drei Tote. In den inneren Mauern wird sehr viel getratscht – Sie müssen davon gehört haben.“

Nikana verdrehte die Augen. „Natürlich habe ich davon gehört. Aber mir wurde erzählt, dass es sich bei den Toten um Flüchtige gehandelt habe und nicht etwa um … Rebellen.“ Sie sprach das Wort aus, als würde es sauer auf ihrer Zunge schmecken.

„Nun. Es waren Rebellen. Rebellen, die anscheinend in nächster Zeit aus Bistaye fliehen wollen.“

Jetzt kicherte sein Gegenüber doch tatsächlich. Laut und hoch. Verwirrt blinzelte er. Frauen kicherten nicht in seiner Anwesenheit. Nie. Nicht einmal seine Verlobte tat das.

„Aus der Vierten Mauer fliehen. Direkt vor den Augen der Göttlichen Garde. Das können Sie unmöglich ernst meinen.“ Ausdrucksstark verdrehte sie die Augen. So wie es nur Mädchen taten, die in behüteten Haushalten aufgewachsen waren.

Nein. Sie musste unschuldig sein. Wieder ließ Jeki seinen Blick über sie schweifen und … blieb an ihrem Fuß hängen. Der Fuß, der leicht unter der Tischplatte hervorstach, wippte hastig von der Spitze auf die Ferse und wieder zurück.

Das war der Moment, in dem Jeki entschied, dass Nikana Halks nicht diejenige war, die sie vorgab, zu sein. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie etwas vor ihm verbarg. Nur, ob es tatsächlich eine Gruppe von Rebellen war, konnte er nicht sagen.

„Ja, da haben Sie recht. Es wäre Wahnsinn, es zu versuchen“, murmelte er leise. Seine Fingerspitzen trommelten auf den Tisch. „Doch zurzeit scheint es eine bedenklich große Menge an Menschen zu geben, die wahnsinnig ist.“

„Herr Offizier Tujan“, flötete die junge Frau und beugte sich auf ihren Unterarmen etwas nach vorne. „Mit dieser Aussage mögen Sie recht haben – und bei den Göttern vielleicht gibt es sogar eine Gruppe Rebellen in der Vierten Mauer. Aber warum erzählen Sie mir das?“

Jeki sah keinen Sinn darin, um den eigentlichen Vorwurf herumzureden. Die Reaktion auf eine direkte Anschuldigung verriet oft mehr als das langsame Vorantasten an eine Vermutung. „Es gab Gerüchte, die Sie mit den Rebellen in Verbindung gebracht haben.“

Wieder lachte sein Gegenüber. „Gerüchte? Ich hatte Sie nicht für die Art von Mann gehalten, die Gerüchten eine besondere Wertschätzung zuteilwerden lässt.“

Das hatte er auch nicht. Sein Blick fiel wieder auf ihren wippenden Fuß, den sie jetzt abrupt unter den Tisch zog. Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Züge. Vielleicht hatte sie ihren Fehler bemerkt. „Es ist als Erster Offizier meine Pflicht, jeder Spur nachzugehen“, stellte er gelassen fest.

„Natürlich ist es das, und das verstehe ich sehr gut. Aber Sie können unmöglich glauben, dass ich etwas mit den Rebellen zu tun habe“, antwortete Nikana nun gereizter, ganz die Rolle des verwöhnten, reichen Mädchens ausfüllend.

„Sie streiten also ab, etwas von den Rebellen zu wissen oder Teil einer solchen Vereinigung zu sein?“

„Natürlich streite ich es ab! Das ist absurd!“

Absurd.

Noch vor wenigen Minuten hatte Jeki dasselbe gedacht.

Doch der Fuß.

Was ein Fuß alles verraten konnte.

Er nickte langsam und stand auf. Es lohnte sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Sie würde ihm nichts erzählen.

Bevor er aus der Tür trat, wandte er sich noch einmal zu ihr um. „Ist Ihnen bewusst, dass sich gerade eine Soldatin der Göttlichen Garde in Ihrem Haus umsieht?“

Nikana blinzelte. „Tut sie das?“

Jeki nickte. „Ja. Und was für eine Schande wäre es, wenn sie tatsächlich etwas finden würde …“

Nikana lächelte, doch für einen kurzen Moment – und Jeki hätte sich ihn nur einbilden können – wirkte ihr Gesicht verkniffener als zuvor. „Sie wird nichts finden.“

„Das hoffe ich für Sie“, murmelte er, und endlich blitzte ein Teil der Angst über ihre Züge, den er die ganze Zeit auf ihrem Ausdruck vermisst hatte.

Er ließ die Tür leise ins Schloss fallen und schüttelte den Kopf. Interessant. Das Gespräch war anders verlaufen, als er erwartet hatte.

Er lief den steinernen Gang bis zum Ausgang und trat ins Licht hinaus. Arcal wartete auf ihn und hob fragend eine Augenbraue. „Und?“

Wahrheitsgemäß zuckte Jeki die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Sie ist entweder ein naives Dummchen, das Zuckungen im Bein hat, oder eine erstklassige Schauspielerin mit einem nervösen Fuß.“

Arcal lachte leise. „Und das bedeutet?“

Seufzend ließ sich Jeki mit dem Rücken gegen die Mauer sinken. „Wenn Esya nichts findet, müssen wir sie laufen lassen. Es wäre nicht rechtens, sie nur aufgrund eines Gerüchts hierzubehalten. Aber ich will, dass du ein, zwei Soldaten auf sie ansetzt, sollte Esya tatsächlich leer ausgehen. Verflucht seien die Gerüchte Bistayes, aber … an diesem könnte tatsächlich etwas dran sein.“ Bis vor ein paar Minuten hätte er nie geglaubt, diese Worte je aus seinem Mund zu hören.

Arcal nickte entschlossen. „Gut. Das werde ich. Und ich soll dir ausrichten, dass Api dich sprechen möchte.“

Jekis Augenbrauen flogen in die Höhe. „Jetzt?“ Die Sonne stand kaum am Himmel – außerdem schrie ein weiches Bett nach ihm.

„Nein. Nicht jetzt. In zwei Jahren.“

Jeki verdrehte die Augen. Noch ein Treffen an diesem elendig langen Tag. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seufzend legte er sich eine Hand auf den Helm. „Schön. Würdest du unserem Gast etwas Wasser bringen? Ich möchte nicht, dass ihr Vater uns vorwerfen kann, wir hätten sie schlecht behandelt.“

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern verschwand zwischen den nächstgelegenen Häusern.

Für seinen Geschmack hatten er und der Gott der Vergeltung in den letzten Wochen viel zu oft die Ehre miteinander gehabt. Er hoffte sehr, dass Api diesmal gute Nachrichten haben würde.

Jeki brauchte … Informationen.

Das grell türkise Haus des Gottes schien im Dämmerlicht des frühen Morgens fast grün, und kaum hatte Jeki seine Hand erhoben, um zu klopfen, öffnete sich die Tür vor ihm bereits.

Eine Dienstmagd, die ungewöhnlich blass und ängstlich wirkte, ließ ihn fahrig ins Haus. „Sie sind oben. In der Bibliothek.“

„Sie?“

Die Magd nickte nur, antwortete jedoch nicht.

Jeki erklomm die breite hölzerne Treppe in den ersten Stock, warf einen kurzen Blick auf die prunkvollen Kronleuchter, die in dem Ess- und Festsaal hingen, und trat dann in die Bibliothek des Hauses, deren Tür nur angelehnt war.

Sobald Jeki den ersten Schritt über die Schwelle gemacht hatte, wusste er, warum die Magd so blass und aufgeregt gewesen war. Man musste es ihr hoch anrechnen, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war.

In großen roten Sesseln saßen nicht nur ein, sondern gleich drei Götter.

Selbst Jeki, der zumindest mit Api und Thaka regelmäßig Kontakt hatte, machte erst einmal einen kleinen Schritt zurück und schluckte seine Überraschung geräuschvoll hinunter.

Api, der Gott der Vergeltung, saß in der Mitte zwischen Thaka, dem Gott der Gerechtigkeit, und Valera, der Göttin der Vernunft.

Thaka und Api waren beide hellblond, wobei Thakas Haare jedoch so kurzgeschoren waren, dass sie im gedämpften Licht fast weiß wirkten. Seine Augen waren flüssiger Bernstein, während Apis aufmerksamer Blick violett leuchtete. Jeki konnte nicht sagen, ob die beiden als attraktiv galten. Darüber sollte eine Frau urteilen. Er hatte dazu keine wirkliche Meinung. Was er jedoch mit Sicherheit sagen konnte, war, dass es sich bei Valera um eine Schönheit handelte.

Sie war über dreitausenddreihundert Jahre alt, sah jedoch keinen Tag älter aus als fünfunddreißig. Das hellbraune Haar fiel ihr in feinen Locken bis zur Taille, die so schmal war, dass sie den schwarzen Gürtel, den die Götter verpflichtet waren, zu tragen, zweimal darum binden konnte.

Die Drei hatten sich gedämpft unterhalten, verstummten jedoch, als Jekis Schatten in den Raum fiel. Alle lächelten ihn an.

Jeki hatte sich das letzte Mal so unwohl gefühlt, als seine Mutter ihn dabei erwischt hatte, wie er versuchte, einem Mädchen unter den Rock zu sehen. Damals war er dreizehn gewesen.

„Hallo, Jeki, bitte schließe doch die Tür.“

Jeki nickte, sagte nichts, schloss jedoch die Tür. Das war ihm eindeutig zu viel Aufmerksamkeit. Es bedeutete meist nichts Gutes, wenn so viele Blicke auf einmal auf einen gerichtet waren. Bei Hinrichtungen war das zum Beispiel der Fall.

Er blieb stehen, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, seine Wirbelsäule gerade. Wenn er es sich recht überlegte, hatte dieser Besuch mehr als nur eine Parallele zu einem Treffen mit seiner Mutter. Das Einsetzen von Schuldgefühlen, würde sicherlich noch folgen.

Es war Api, der wieder sprach. „Du brauchst nicht so nervös zu sein“, sagte er und lachte. „Ich dachte, deine Gelassenheit würde dich von den anderen Ersten Offizieren unterscheiden.“

Seine Gelassenheit? Seine schauspielerischen Fähigkeiten wohl eher. „Ich bin gelassen“, murmelte er verkrampft.

Valera hob den Blick und lächelte nachsichtig. Ihre Augen waren so schwarz wie Kohle. „Api, jetzt spann ihn nicht auf die Folter. Er wird es von allen am meisten wissen wollen.“

Api sah die Göttin vorwurfsvoll seufzend an, so als habe sie ihm gerade eine Menge Spaß verdorben, gab jedoch nach. „Nun gut. Ich habe gute Neuigkeiten. Ich konnte zu ihr durchdringen. Sie hat mich eingelassen. Ich hatte einen schönen weitläufigen Blick in ihren Geist.“

Er sprach von ihrem Kopf, als sei es eines der teuren Gemälde, die bei Api an der Wand hingen – doch das war Jeki egal. Erleichterung erfüllte ihn, und eine große Portion Anspannung, die er sich selbst in den letzten Wochen nicht eingestanden hatte, fiel von ihm ab.

Informationen. Das war es, was er gebraucht hatte, und jetzt würde er sie endlich bekommen. „Was habt Ihr gesehen?“, fragte er etwas atemlos, bemüht, nicht allzu gierig zu klingen.

„Viele Dinge, die nicht von Belang sind …“, antwortete Api langsam, das Kinn auf seine Fingerspitzen gestützt. „Wälder, durch die sie gegangen ist. Oyitis. Sie scheint eine kurze, nicht sehr angenehme Begegnung mit Wasser gehabt zu haben …“

„Aber sie kann nicht schwimmen.“

Api lachte leise. „Ja, aus diesem Grund empfand sie die Begegnung wohl auch nicht als angenehm. Na ja. Jedenfalls geht es ihr gut. Leider weiß ich immer noch nicht, wie die Asavez über den Appo gelangen konnten, aber das werde ich noch herausfinden. Alles, was für dich interessant sein wird, ist, dass sie auf dem Weg sind und sie entweder durch das Osttor kommen werden oder aber durch das Tor in Amrie. Sie haben sich wohl noch nicht entschieden. Und, ach ja: Sie sind als Soldaten der Göttlichen Garde verkleidet.“

Thaka, zur Rechten von Api, lachte laut auf. „Wie ironisch, nicht? Dass sie sich als Soldatin der Göttlichen Garde verkleidet.“

„Das ist in der Tat ironisch“, bestätigte auch Api, seine Augen jedoch auf Jeki gerichtet. „Aber das bedeutet natürlich, dass die Garde aufmerksamer sein muss denn je. Sie sollen jeden Soldaten, der die Mauergrenzen passiert, nach seinem Namen fragen.“

„Natürlich.“ Jeki nickte, immer noch ungeduldig.

All das war für ihn nicht von Belang. Natürlich war es wichtig, aber er brauchte andere, tiefergehende Informationen. Irgendetwas, das ihn wissen ließ …

„Da fällt mir ein“, unterbrach Api Jekis Gedankengang, „es scheint so, als hätte sie sich mit dem Ikano der Luft … angefreundet.“

Jeki blinzelte und Valera wandte sich interessiert zu ihrem Mitgott um. „Angefreundet? Ist das ein Euphemismus?“

Api betrachtete die Göttin der Vernunft und lächelte vage. „Möglich. Ich konnte nicht genug von ihrem Geist einsehen, um ein Urteil zu fällen, aber sie scheinen sich ungewöhnlich gut zu verstehen. Wenn man bedenkt, wo die beiden herkommen und was sie erlebt haben, ist das schon sehr verwunderlich, aber nun ja. Sie erinnert sich ja nicht.“

Angefreundet?

Irgendetwas in Jekis Magen rebellierte gegen dieses Wort. Der Ikano der Luft, der ihn beinahe getötet hatte …

„Jeki, alter Freund, du siehst müde aus.“ Diesmal war es Thaka, der seine Stimme erhoben hatte. Der Gott wedelte unwirsch mit einer Hand hin und her. „Du solltest etwas Schlaf bekommen. Wie ich höre, bist du mit der Arbeit gegen die Rebellen mehr als nur ausgelastet, und mehr als das bereits Gesagte ist für dich ohnehin nicht von Belang. Geh ruhig.“

Nicht von Belang?

Sein Kiefer verkrampfte sich, und es kostete ihn einige Mühe, seine Zähne auseinanderzureißen. „Natürlich“, murmelte er, denn er wusste, dass Thakas Worte kein Vorschlag gewesen war, sondern eine Aufforderung. Er wollte nicht gehen, doch er war offensichtlich nicht dazu eingeladen, zu bleiben.

Jeki neigte seinen Kopf leicht nach vorne und verließ dann rückwärts den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihm und ein fahler Geschmack haftete an seiner Zunge.

Er hatte Informationen gewollt und er hatte welche bekommen. Aber wissen tat er nichts.

 

***

 

Api beobachtete, wie Jeki den Raum verließ und fragte sich, ob er gerade eine Spur zu weit gegangen war. Es machte Spaß, zu sehen, wie Menschen auf gewisse Aussagen reagierten – doch er brauchte Jeki, und es wäre nicht ratsam, ihn absichtlich weiter zu reizen.

Valera schien den gleichen Gedanken zu haben. „Jeki ist ein treuer Soldat, Api. Davon gibt es nicht allzu viele.“

„Ich weiß.“

„Dann solltest du darauf achten, wie du ihn behandelst. Du hast ihn bereits belogen, und das wird er zweifelsohne bald herausfinden.“

Auch das wusste Api. Doch das hatte er bereits in seiner Planung berücksichtigt. „Es ging nicht anders. Das weißt du. Manchmal schützt eine Lüge das, was wirklich wichtig ist.“

Valera nickte langsam und betrachtete die rote Flüssigkeit in ihrem Weinglas, bevor sie daran nippte. „Ich weiß. Und ich weiß ebenso, dass du noch einige Informationen in ihrem Kopf gesehen hast, die uns interessieren könnten, aber Jeki nichts angehen.“

Api lächelte breit und lehnte sich zurück. Natürlich war ihr das aufgefallen. Wenn man über dreitausend Jahre mit jemandem befreundet war, war es schwierig, Geheimnisse voreinander zu verbergen. „Jaan ist bei ihnen“, stellte er deswegen tonlos fest. Apis Blick schwang von Valera zu Thaka. Wie von ihm erwartet, schien keiner der beiden überrascht.

„Natürlich ist er bei ihnen“, bemerkte die Göttin der Vernunft unbeeindruckt. „Was hast du erwartet? Der gute Anführer der Asavez ist vorsichtig. Es wäre dumm gewesen, Jaan nicht zu schicken.“

Thaka prustete ein freudloses Lachen. Api wusste, dass er ungeduldig wurde. Ihm ging es zu langsam, und zurzeit sah es nicht sehr gut für den Gott der Gerechtigkeit aus. „Der gute Anführer wäre sicherlich ziemlich wütend, wenn Jaan etwas zustieße …“, knurrte er.

„Thaka!“, schalt Valera ihn sofort. „Du weißt, dass du ihn nicht töten kannst.“

Kann? Nicht töten kann?“

„Wir haben Regeln.“

„Die einzige Regel, die wir haben, ist die, dass keiner von uns Kinder bekommt. Das andere Geschwätz … das kann höchstens als Abmachung gewertet werden.“

Valera kniff die Augen zusammen. „Und diese Abmachung ist mindestens genauso viel Wert wie unsere Regel. Wir waren alle damit einverstanden.“

Der Gott der Gerechtigkeit schlug ungehalten auf die Lehne seines Sitzes. „Vor tausend Jahren! Ja! Aber jetzt ist es eine Abmachung, die uns allen nichts mehr nützt. Außer ihm.“

„Du hast deinen Nutzen bereits aus ihr gezogen“, erinnerte ihn Valera bestimmt. „Unser Gerechtigkeitssinn gebietet es uns, die Abmachung bis zum Schluss einzuhalten. Dir, als Gott der Gerechtigkeit, muss das doch bewusst sein.“

„Gerechtigkeitssinn!“ Thaka spuckte das Wort auf den Boden und sprang auf. „Natürlich spricht die Göttin der Vernunft von Gerechtigkeitssinn! Unsere Abmachungen bergen für dich zurzeit ja auch keinen Nachteil!“

Interessiert betrachtete Api Valeras Gesicht, das kaum ein Lächeln verbergen konnte. „Du hast deine Wahl getroffen, Thaka. Und seien wir ehrlich: Der Einzige, der sich sichtlich ärgern sollte, ist Api.“

Api lachte leise. Sie hatte vollkommen recht, aber er hatte bereits vor dreihundert Jahren eingesehen, dass er die falsche Wahl getroffen hatte. „Es liegt nicht in meiner Natur, mich unnötig aufzuregen. Ich bin mit meiner Position vollauf zufrieden.“

Und das war er. Er hatte die Göttliche Garde, er hatte seine Ikanos und er hatte seine Pläne. Mehr brauchte er nicht. Außerdem machte es ihm Spaß, seinen Mitgott dabei zu beobachten, wie ihm vor Nervosität der Schweiß ausbrach. Gleichwohl er sich wünschte, dass auch Valera ein wenig mehr Anspannung zeigen würde.