Leseprobe Feuer

Prolog

Das Ziel

Am Anfang steht die Entscheidung, am Ende bleibt das Chaos.
Die Mitte untersteht Regeln, denn weder im Krieg noch in der Liebe ist alles erlaubt.

Eine Gänsehaut zog sich über ihren Nacken, während die kalte Hand des Gottes über ihre Wange strich und sich zwei Finger auf ihre Schläfe legten.

Sie fürchtete sich nicht. Es war eher … Unsicherheit, die sie verspürte. Sie wusste nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Wird es wehtun?“, fragte sie, als der Gott ihren Kopf in den Nacken drückte.

„Fürchtest du dich vor Schmerz?“

„Nein“, sagte sie ruhig. Und es war die Wahrheit. Körperlicher Schmerz hatte ihr nie Angst eingejagt. „Ich würde nur gerne auf alles vorbereitet sein.“

Das leise Lachen des Gottes war angenehm. Es hörte sich wie das eines Menschen an, fand sie. „Du wirst es kaum spüren. Schließe die Augen.“

Sie folgte seiner Anweisung, doch das, was er sagte, stimmte nicht.

Sie spürte es – gleichwohl es nicht wehtat. Es war, als würde eine kühle Hand sie berühren, nur dass sie die Berührung nicht auf ihrer Haut spürte, sondern in ihrem Geist.

„Lass mich ein.“

Und das tat sie. Bild um Bild floss in ihren Geist, vermischte sich mit ihren eigenen Erinnerungen, verdrängte sie, umspielte sie, schluckte sie hinunter und spuckte sie wieder aus. Sie konnte alles vor ihrem inneren Auge sehen.

Und dann war da noch etwas anderes.

Eine Präsenz. Nein, ein Licht.

Es war nicht ihr Licht. Es gehörte nicht zu ihr, es durfte eigentlich gar nicht hier sein, aber dennoch …

Sie griff danach, zog es zu sich herüber, umschloss es mit ihrem Geist – und ließ es nicht mehr los.

Kapitel 1

Unanfechtbare Vorschriften
№ 1

Es ist ein Zeitraum von eintausend Jahren vorgegeben.

Sie blickte auf sich hinab. Ihr langes schwarzes Haar lag um ihr Gesicht gefächert auf dem grauen Stein, und sanft strich sie sich eine Strähne aus der Stirn, bevor sie sich hinabbeugte und ihre Stirn küsste.

Ihr Herz tat weh, lag schwer in ihrer Brust, und schien sie auf den Boden der Lichtung hinunterzuziehen. Doch für Zweifel hatte sie jetzt keine Zeit. Sie hatte einen Auftrag. Sie bückte sich, nahm Erde in ihre Hände und strich sie über die rote Stoffhose, die eng an den Beinen ihrer bewegungslosen Gestalt anlag. Es musste aussehen, als habe sie gekämpft.

Als nächstes streckte sie die Hand aus, eine große, schwielige Hand, die nicht ihre war, nicht ihre sein konnte … und dennoch war sie es, die die Bewegung ausführte. Es war absurd. Sie betrachtete ihr bewusstloses Ich! Sah sich auf dem steinernen Altar liegen. Ihre Finger strichen über ihre eigenen, nahmen den Dolch von ihrem Gürtel und ersetzten ihn durch ein hölzernes, billiges Modell.

Sie lachte leise. Es war ein tiefes Lachen und nicht ihr eigenes. Salia wird wütend sein, wenn sie ohne ihren Dolch aufwacht. Sie …

 

Nym riss ihre Hand nach oben und starrte schwer atmend in das Gesicht des ihr gegenübersitzenden Mannes.

Es war seine Erinnerung gewesen. Nicht ihre. Das wusste sie mit der gleichen Gewissheit, mit der ihr jetzt klar war, dass Jeki Tujan ihr Verlobter war. Dass er sie liebte. Dass er ihr nie etwas angetan hätte … dass sie wirklich, wirklich verwirrt war.

Alles war falsch. Alles, was sie in den letzten Wochen über sich zu wissen geglaubt hatte, war falsch.

Diese Erkenntnis schien auf ihren Schultern zu lasten, schwer gegen ihre Schläfen zu pochen und ihr Herz gegen ihren Kehlkopf zu drücken.

Wie konnte es sein, dass sie das Gefühl hatte, sich selbst nicht zu kennen?

„Salia, alles in Ordnung?“

Jeki runzelte die Stirn und besorgt wanderte sein Blick über ihre Züge, bevor er zu seinem Unterarm zurückglitt, an dem sie ihn berührt hatte.

Nym stieß einen dumpfen Ton aus, den sie selbst nicht ganz einem Lachen oder einem leicht hysterischen Schluchzen zuordnen konnte.

Ob alles in Ordnung war?

Nein, bei den verdammten Göttern! Nichts war in Ordnung.

„Du wolltest mich nie töten“, stellte sie blinzelnd fest und zog ihre Hände so weit wie möglich zurück in ihren Schoß. „Du bist mein Verlobter. Du liebst mich. Ich … habe die Göttliche Garde nie verraten. Ich wurde nicht verstoßen.“

Ihr Kopf begann sich zu drehen. Und mit jedem Satz, den sie wiederholt laut aussprach, formten ihre Worte eine neue Realität. Da waren Emotionen, die sie überfluteten, Erinnerungen, die sie nicht zuordnen konnte, von denen sie nicht wusste, ob es ihre eigenen waren, Gerüche, Berührungen, Stimmen … ihr wurde schwindelig.

„Salia …“

Er sollte aufhören, sie so zu nennen! Sie war nicht Salia, wusste nicht, wie sie Salia sein konnte … sie war Nym! Sie hatte doch gerade erst angefangen, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass sie Nym war. Sie wollte diese neugewonnen Sicherheit nicht wieder verlieren!

Unruhig drängte sie sich mit dem Rücken gegen den Bettkopf. Sie starrte auf ihre Hände, die sich zu Fäusten ballten, sich wieder flach auf ihre Knie legten, sich zu Fäusten ballten …

Sie hasste die Götter … oder?

Sie hasste die Göttliche Garde … oder?

Levis Gesicht blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Liri und Vea. Filia, die vor der Garde hatte fliehen müssen. Ro. Und dann … dann war da Jeki.

Jeki, der sie anstarrte, als sei er jahrelang durch die Wüste gelaufen und sie ein Glas Wasser. Jeki Tujan, der geduldig darauf wartete, dass sie wieder sprach. Dessen Liebe, die sie in seinen eigenen Erinnerungen gesehen und gespürt hatte, auf ihrer Haut brannte. Die so greifbar war, dass ihre Brust schmerzte.

Aber es war seine Liebe, die sie spürte. Nicht ihre eigene. Sie wusste, dass er ihr Verlobter war, konnte sich daran erinnern, aber dann … dann hörte die Erinnerung auch schon auf. Oder war sie es selbst, die ihre Erinnerung an dem Punkt abbrechen ließ?

Denn wenn alles zurückkam … was würde dann mit ihr passieren?

„Ich verstehe das nicht“, murmelte sie und schloss die Augen. „Ich …“

Doch sie belog sich selbst. Sie verstand. Sie brauchte weder Jekis Erinnerungen noch ihre eigenen, um zu verstehen.

„Du bist kurz davor, durchzudrehen, oder?“

Nym lachte heiser und blickte auf. „Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.“

Jeki hob einen Mundwinkel, und dieses halbe Lächeln war ihr so vertraut, dass es sich anfühlte, als würde eine kalte Faust in ihre Magengegend gestoßen. Sie wandte den Blick hab und ließ ihn durch den Raum schweifen, aus dem Fenster, wo sie den nur noch schwach von der untergehenden Sonne beleuchteten Götterdom erkennen konnte. Wieder blitzten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Wieder folgte eine Emotion der nächsten – und ließ sie verwirrt zurück. Sie verlor den Überblick, wusste nicht mehr, welches Gefühl, welche Erinnerung zu wem gehörte und welchem Bild sie trauen konnte.

Es war, als würde ihr Geist nach allem greifen, was sie sah, und es mit Assoziationen in ihrem Kopf verknüpfen. Da waren Worte, Unterhaltungsfetzen, Gelächter, Hände, Gesichter.

Sie presste die Fäuste auf ihre Augenlider und wiegte sich vor und zurück. Die Bilder verschwammen und ein pochender Schmerz dehnte sich über ihre Kopfhaut aus.

Was passierte mit ihr?

Wieso fühlte es sich so an, als wäre sie nicht mehr in ihrem eigenen Kopf?

„Salia? Was ist los?“ Eine Hand berührte sie sanft an der Schulter und sie zuckte zusammen.

 

Sie lachte. „Hattest du wirklich Angst, dass ich Nein sage, Jeki?“

„Na ja, nein, aber –“

Sie verdrehte die Augen, während das Lächeln beinahe ihr Gesicht sprengte. „Natürlich heirate ich dich, du Blödi! Solange deine Mutter nicht im selben Haus wohnt … dafür sind die Wände leider nicht dick genug.“

 

Das Bild verschwand, wurde von einem neuen überdeckt.

 

Sie drehte eine Münze in ihren Händen und lächelte. Alles entwickelte sich nach ihren Wünschen. Sie konnte es kaum erwarten, den Gesichtsausdruck der anderen zu sehen … 

„Du siehst sehr selbstzufrieden aus, mein Lieber.“

Sie blickte auf. Valeras Augen blitzten spöttisch, doch das kümmerte sie nicht. „Oh, das bin ich. Das bin ich.“ Ihre Finger glitten über die rauen Einbände der Bücher, die in einem Regal zu ihrer Rechten standen. „Sie ist der Schlüssel.“

„Du urteilst zu schnell.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich tue nichts dergleichen.“

 

Sie riss ihre Augen auf und ihr Kopf prallte hart gegen das Holzgestell hinter ihr.

„Salia, was ist los?“ Jekis Stimme war unruhig und sein Blick mehr als nur besorgt.

„Ich …“

Doch sie wusste es nicht. Sie presste beide Hände über ihre Ohren und versuchte ihre Atmung zu regulieren. Es war ihr Kopf. Sie hatte die Macht über ihn. Niemand anderes!

Sie ließ ihre Hände sinken, schloss sie zu Fäusten und zwang sich zur Ruhe. Die Bilder ebbten ab und nichts als ein fahler bitterer Geschmack in ihrem Mund blieb zurück, doch ihr Herz pochte weiterhin hastig in ihrer Brust.

„Erzähl mir etwas“, murmelte sie und schloss die Augen. „Etwas über mich. Etwas, das … zu mir gehört.“

Sie brauchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Von dem sie sicher sein konnte, dass es die Wahrheit war. Dass es ihre Wahrheit war. Jeki würde sie nicht anlügen.

Eine Weile herrschte Stille und sie glaubte schon, dass Jeki nicht antworten würde, als er murmelte: „Du kannst nicht schwimmen. Du hasst es, dass du nicht schwimmen kannst, aber hast zu große Angst, es zu lernen. Natürlich würdest du nie zugeben, dass du Angst hast, weswegen du mir verboten hast, es irgendwem zu sagen.“

Sie nickte und ihr Puls verlangsamte sich. Ja, das wusste sie. Daran erinnerte sie sich.

„Du bist die beste Kämpferin der Göttlichen Garde – und das ist dir vollauf bewusst. Dennoch tust du bescheiden und erklärst jedem, dass es eine Menge anderer begabter Soldaten gäbe.“

Ihre Mundwinkel zuckten und eine beruhigende Wärme legte sich über ihre Haut. „Ich bin insgesamt der beste Kämpfer“, murmelte sie. „Mit Ausnahme von dir vielleicht.“

Sie hörte Jeki leise lachen und der raue Ton kroch unter ihre Haut, flüsterte ihr liebliche Dinge zu.

„Du bist selbstsicher in allem, was nicht deine Familie betrifft. Du bist stolz, loyal, du magst kein Gemüse, das unter der Erde wächst – du behauptest, du würdest den Dreck schmecken. Du bist die mutigste Frau, die ich kenne … und alles, was du tust, tust du mit deiner gesamten Energie. Ach ja, und du erzählst gerne Lügen über die Göttliche Garde, um zu sehen, welche Gerüchte sich durchsetzen.“

Aus dem letzten Satz hörte sie sein Lächeln heraus und auch ihre Mundwinkel zogen sich erneut nach oben.

Ja, auch das wusste sie.

Die Bilder in ihrem Kopf waren nun vollkommen zum Erliegen gekommen und der Schmerz nur noch ein leises Stechen in ihrem Hinterkopf.

Sie öffnete die Augen und blickte in Jekis. „Danke“, flüsterte sie. „Ich –“

„Jeki! Mach die Tür auf!“

Nym zuckte zusammen.

„Jeki! Ich weiß, dass du mich hören kannst.“

Ein konsequentes Hämmern auf Holz und eine Stimme drangen durch das offene Fenster zu ihnen herauf.

„Jeki!“

Fluchend schüttelte Jeki den Kopf. „Ignorier ihn.“

„Jeki, es ist wichtig!“, brüllte die Stimme erneut.

Arcal. Das ist Arcals Stimme. Arcal ist Jekis bester Freund, schoss es Nym durch den Kopf.

„Es geht um Janon!“

Jekis Gesicht verhärtete sich und er stand vom Bett auf, um zum Fenster hinüberzuschlendern.

„Arcal“, sagte er ruhig, den Kopf durch den Rahmen gesteckt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich auf seiner goldenen Rüstung wider und warfen gelbe Muster an die weiße Zimmerdecke. „Wenn du nicht einen grausamen Tod sterben willst, dann –“

„Janon wurde festgenommen, Jeki.“ Arcals Stimme war nun leiser, doch Nym hatte keine Probleme damit, ihn zu verstehen.

„Janon wird fast jede Woche festgenommen, Arcal. Ich bin beschäftigt und ich –“

Doch erneut unterbrach Arcal ihn. „Jeki. Diesmal ist es anders. Er steckt in echten Schwierigkeiten.“

Nym sah, wie sich Jekis Rücken versteifte, dann fluchte er, bevor er ruckartig seinen Kopf zurück ins Zimmer zog.

Sein Blick traf ihren und er sah auf einmal so erschöpft aus, dass Nym den Drang verspürte, seine gerunzelte Stirn mit ihrer Hand glatt zu streichen. Zuneigung durchflutete sie … und sie hatte keine Ahnung, was sie mit diesen Gefühlen anfangen sollte.

„Ist in Ordnung“, murmelte sie. „Dein Bruder hat Vorrang.“

Überrascht flogen Jekis Augenbrauen in die Höhe. „Du weißt, dass er mein Bruder ist?“

Sie nickte und nachdenklich drehte sie ihren Kopf, um noch einmal einen Blick auf den gelben Teller zu werfen, der über dem Bett hing. „Ja. Ich weiß, dass er dein Bruder ist. Also … geh. Ich werde, denke ich, nicht weglaufen.“

Sie hatte die letzten Wochen über Informationen gewollt und die würde sie nur hier bekommen. Sie würde nicht gehen, ehe sie wusste, wer sie war – ehe sie sich entschieden hatte, wer sie sein wollte.

Jeki sah sie lange an, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Doch er schien keinen Erfolg damit zu haben.

„Ich möchte nicht gehen“, stellte er schließlich leise fest. „Ich … habe dich doch gerade erst wiederbekommen.“

„Ich bleibe hier, Jeki.“ Fürs Erste.

Er nickte ein letztes Mal und verschwand im nächsten Moment aus der Tür.

Nyms Herz zog sich zusammen und sie lauschte der Tür, die mit einem dumpfen Schlag zurück in den Rahmen fiel.

Er liebte sie.

Wie hatte sie das vergessen können? Wie hatte sie den besten Teil ihres alten Lebens vergessen können? Wie hatte sie vergessen können, dass sie geliebt worden war?

Sie stand vom Bett auf und schlenderte zum Fenster. Sie sah zwei Männer in goldener Rüstung in Richtung des Turmes gehen und als sie ihren Kopf nach unten neigte, konnte sie zwei Wachen erkennen, die mit den Händen auf ihren Schwertknäufen vor der Eingangstür standen.

Die Garde vertraute ihr also nicht.

Gut. Denn das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Sie tastete mit ihren Händen ihre Seiten und ihren Gürtel ab. Ihr war wieder einmal der Dolch abgenommen worden. Dennoch war sie nicht beunruhigt. Die Wachen könnte sie mit zwei Handgriffen töten.

Wieder schweiften ihre Gedanken zu all dem, was Jeki ihr erzählt hatte, und zu dem, was sie sich selbst zusammengereimt hatte.

„Es … ist kompliziert. Ich sollte dir das nicht erklären. Api wird das tun wollen.“

Sie lief zurück zum Bett und ließ sich erneut auf die weiche Matratze nieder. Sie war unglaublich müde und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie Angst.

Sie konnte nicht ganz benennen, wovor sie Angst hatte. Vielleicht vor dem, was sie zu wissen glaubte, und vor der Person, zu der es sie machte.

Sie schluckte und konzentrierte sich eine Weile nur auf ihren ruhigen Atem. Nym war keine dieser Frauen, die andauernd Trost brauchten. Sie benötigte die Arme eines Mannes nicht, um sich sicher und verstanden zu fühlen. Aber jetzt gerade? In dem Moment, als sie ihre Arme um die Beine legte, die Wange auf ihre Knie presste und versuchte, ihren Kopf zu leeren … da hätte sie nichts gegen eine Umarmung gehabt.

Eine Umarmung von Levi.

Sie lachte bitter auf und rieb sich mit der flachen Hand übers Gesicht.

Sie steckte in großen, großen Schwierigkeiten.

 

***

 

„Von was für Schwierigkeiten sprichst du?“

„Das fragst du Janon am besten selbst.“

Staub wirbelte unter ihren Stiefeln auf und ungeduldig knackte Jeki mit seinem Kiefer.

„Arcal“, knurrte er. „Erzähl mir, was los ist. Wenn du keinen verdammt guten Grund dafür hast, mich von Salia wegzuholen, will ich das wissen – jetzt.“

Arcal wich seinem Blick aus. „Es ist ein guter Grund.“

Arcal!“ Jekis Geduldsfaden bekam einen weiteren Riss und Salias Dolch, der an seinem Gürtel hing, schien mit jedem seiner Schritte schwerer zu werden. Es war ihm falsch vorgekommen, ihn ihr wegzunehmen, aber was für eine Wahl hatte er gehabt? Er hatte keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging. Nach allem, was er über seine Verlobte wusste, könnte sie ihn nach Strich und Faden belogen haben. Salia war eine ausgezeichnete Schauspielerin. Er selbst hatte immer geglaubt, er sei der Einzige, der ihre Lügen von der Wahrheit unterscheiden konnte. Aber angesichts der Umstände war er sich dessen nicht mehr so sicher.

Ihre Miene war kontrolliert gewesen. Bis auf die kurzen Momente, in denen sie geistig nicht anwesend gewesen zu sein schien.

Kopfschüttelnd beschleunigte er seinen Schritt. Bei den Göttern, sein Herz war stehengeblieben, als sie sich offensichtlich vor Schmerzen an den Kopf gegriffen hatte, und er hatte sich stark am Riemen reißen müssen, sie nicht direkt in seine Arme zu schließen. Aber sie war noch nicht so weit.

Nur, warum hatte sie Schmerzen gehabt? War es eine Nachwirkung der Akupressurtaktik, die er verwendet hatte, um ihr das Bewusstsein zu nehmen?

„Mir wurde gesagt, ich solle Schweigen bewahren“, murmelte Arcal, die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen. „Ich glaube, eigentlich hätte ich dich nicht einmal benachrichtigen dürfen, aber … es erscheint mir richtig. Außerdem habe ich keinen direkten Befehl bekommen.“

Na klasse.

Seine Verlobte hatte gerade mit einem Fragezeichen am Ende des Satzes festgestellt, dass er sie liebte, sein Bruder saß im Gefängnis und Arcal wollte ihm nicht erzählen, was los war. Wahrscheinlich war Janon wieder einmal dabei erwischt worden, wie er illegal den göttlichen Turm erklomm. Dieser Tag wurde immer besser.

„Willst du mir erzählen, was es mit Salia auf sich hat?“, fragte sein Freund beiläufig, als besagter Turm vor ihnen aufragte.

„Nein.“

Jeki bog nach rechts in Richtung des viereckigen Gebäudes, in dem er vor ein paar Tagen schon Nikana Halks vernommen hatte.

„Du wirkst angespannt, Jeki.“

Für diesen Kommentar allein hätte Jeki Arcal bereits gerne in den Boden gestampft.

Angespannt war die Untertreibung des Jahrtausends. Er war verwirrt, müde, rastlos und auf eine sehr männliche Art und Weise verletzt. Er konnte den Ausdruck auf Salias Gesicht nicht vergessen, als sie erkannte, dass er tatsächlich ihr Verlobter war. Sie hatte so verdammt verletzlich gewirkt. So verletzlich und … entsetzt.

Es gab da einige Emotionen, die ein Mann nicht bei seiner Verlobten sehen wollte, und Jeki war sich ziemlich sicher, dass Entsetzen sehr weit oben auf der Liste stand.

„Arcal, ich sage das jetzt nur einmal: Wenn du mir nichts zu dem Grund sagen kannst, warum Janon in einer Zelle ist, rate ich dir, deinen Mund zu halten.“

Jeki konnte das würfelförmige Gebäude, in dem unter anderem die Gewahrsamszellen untergebracht waren, jetzt sehen. Zwei Wachen standen davor.

Er runzelte die Stirn. Sonst hatte die Göttliche Garde immer auf Wachen verzichtet. Allein aus dem Grund, dass niemand lebensmüde genug war, aus dem Göttlichen Gefängnis auszubrechen.

Die Furchen in Jekis Stirn vertieften sich noch, als die Tür sich öffnete und er Thaka, den Gott der Gerechtigkeit, aus dem grauen Gebäude kommen sah.

Jeki wurde nervös. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Thaka war Leiter des Göttlichen Tribunals. Er kümmerte sich um schwere rechtliche Vergehen. Was zum Teufel war hier los?

Er wandte sich ruckartig zu seinem Freund um. „Arcal. Was ist passiert?“

Doch Arcal kam nicht dazu, ihm zu antworten. Thaka hatte sie entdeckt und schlenderte auf sie zu, eine Augenbraue leicht angehoben. Ansonsten war sein Gesicht so glatt und ausdruckslos, wie Jeki es bereits von dem Gott der Gerechtigkeit kannte.

„Es überrascht mich, dich hier zu sehen, Jeki“, sagte er, nicht ohne eine gewisse Schärfe in seiner Stimme. „Api berichtete mir, du hättest alle Hände voll zu tun.“

Thakas kurzgeschorenen hellblonden Haare leuchteten rot in der untergehenden Sonne auf, und Jeki entging die Härte in dem Blick des Gottes keineswegs. Salia war seit jeher Thakas rechte Hand gewesen und natürlich sorgte er sich um sie. Doch da war noch etwas anderes, viel Verbisseneres in dem Ausdruck des Gottes, das Jeki entgegensprang. Er hatte das vage Gefühl, dass Thakas Sorge sich keineswegs um Salias Wohlergehen drehte.

Sich wieder daran erinnernd, dass er dem Gott noch keinen Respekt gezollt hatte, neigte er kurz den Kopf, bevor er den Blick erwiderte. „Das habe ich. Und ich weiß, wo meine Prioritäten liegen. Dennoch wurde ich davon unterrichtet, dass mein Bruder wohl … Probleme hat.“

„Wurdest du das?“ Thakas bernsteinfarbene Augen fanden für einen Augenblick die Arcals, dann jedoch wandte er sich wieder an Jeki. „Es stimmt. Auch wenn Problem vielleicht nicht das richtige Wort ist.“

Hätte Jeki es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dass es Angst war, die sich langsam um sein Herz schloss. „Es würde mir sehr helfen, wenn mir jemand erklären würde, was ihm vorgeworfen wird. Es erscheint mir doch etwas unangemessen, aufgrund eines kleinen Vergehens direkt den Großmeister des Göttlichen Tribunals zu benachrichtigen“, stieß er gepresst hervor.

„Ein kleines Vergehen?“ Die Worte des Gottes waren so kalt und hart, dass Jeki sich zusammenreißen musste, um keinen Schritt nach hinten zu machen. „Janon hat einer Rebellin zur Flucht verholfen, Jeki.“

„Er hat was?“ Das Blut wich aus Jekis Gesicht und eine unsichtbare Hand schien sich eng um seinen Hals zu legen. Das war unmöglich. Janon nahm Regeln nicht allzu ernst, das wusste er, aber er würde doch nie …

„Er hat sich gegen sein Land gestellt. Er wird des Hochverrats angeklagt.“ Thakas Blick blieb kühl und nichtssagend, doch hinter seinem Ausdruck meinte Jeki verhohlene Neugier zu entdecken. Als interessiere es den Gott der Gerechtigkeit sehr, wie Jeki auf diese Nachricht reagierte.

Er schluckte und schüttelte den Kopf. Wenn Janon des Hochverrats angeklagt und für schuldig befunden würde, dann … 

„Das muss ein Missverständnis sein. Janon würde sich nicht gegen sein Land stellen. Er ist –“

„Bei deinem Bruder haben sich in den letzten Monaten eine Menge Missverständnisse angehäuft, Jeki“, unterbrach Thaka ihn scharf. „Glaube nicht, dass das dem göttlichen Auge entgangen ist. Wir haben ihn gewähren lassen – deinetwegen. Dieses Mal jedoch können wir nicht über sein Verhalten hinwegsehen. Ich denke, das verstehst du. Und jetzt entschuldigt mich, es gibt dringendere Angelegenheiten als diese kleine Lappalie, um die ich mich zu kümmern habe.“

Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich um und verschwand in die Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht.

Der Griff um Jekis Hals schien sich noch zu verstärken, und als er sah, dass Arcal seinem Blick auswich, wusste er, dass der Gott die Wahrheit gesagt hatte.

„Scheiße. Scheiße!

Das konnte nicht passieren. Das durfte nicht passieren. Er hatte genug Sorgen. Er hatte genug Probleme. Er brauchte nicht noch mehr Dinge, die sein Leben verkomplizierten!

Er überwand die letzten Meter zu dem Gebäude und als die Wachen Anstalten machten, ihm den Weg zu versperren, stieß er sie einfach beiseite.

„Wo ist er?“, knurrte er Arcal zu, der ihm stumm gefolgt war. Die schwere Holztür fiel hinter Jeki zu und der Gang vor ihnen wurde nur von spärlich gesetzten Laternen erhellt.

„Jeki, beruhige dich. Nur weil er angeklagt wird, heißt das nicht, dass sie ihn auch verurteilen werden.“

Wo ist er, Arcal?

Arcal seufzte, blieb stehen und nickte nach vorne. „Hinterste Tür. Aber –“

Jeki wartete nicht darauf, dass sein Freund zu Ende sprach. Er legte die letzten Meter mit langen Schritten zurück, warf den zwei Wachen, die neben der Zellentür postiert waren, einen wütenden Blick zu und wurde im nächsten Moment eingelassen.

Kälte schlug ihm aus dem fensterlosen Raum entgegen und eine einsame an der Wand hängende Fackel spendete ihm Licht.

Janon, der auf einem einzelnen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand saß, blickte auf, als Jeki die Tür hinter sich zuschlug. Ein mattes Lächeln kämpfte sich auf seine Züge.

„Ah, Bruderherz. Ich habe schon auf dich gewartet. Hast dir aber Zeit gelassen, was?“

Du hast einer Rebellin bei der Flucht verholfen?“, schrie Jeki ihn an. Seine Stimme hallte von den Wänden wider, die Erde unter seinen Füßen bebte und er hatte seine Hände so fest zu Fäusten geballt, dass es wehtat. Es gab Zeiten, in denen Soldaten ihre Emotionen unter Verschluss halten sollten. Dies war keine davon.

„Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?!?!“

Janon seufzte, schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die hinter ihm liegende Wand. „Von dir angeschrien zu werden, ist wie nach Hause zu kommen, wusstest du das? Da fühle ich mich ja fast wohl hier. Obwohl so ein bisschen Sonnenlicht nicht schlecht wäre.“

Janon!“, zischte Jeki, die Geduld verlierend. Er packte ihn an den Schultern und zerrte ihn unsanft auf die Füße, während er sich dazu zwang, seine Emotionen nicht auf den Boden zu übertragen. „Was hast du getan?“

Die Tür hinter ihnen ging auf und eine der Wachen warf einen Blick in die Zelle. „Tujan, ist alles in Ordnung, wir …“

Die Wache verstummte, als sie Jekis Blick bemerkte, und ließ prompt die Tür wieder ins Schloss fallen.

Janon hatte die Augen geöffnet und sah nun amüsiert über Jekis Schulter. „Weißt du, ihr seid nicht sehr konsequent“, stellte er fest. „Ich werde von vier Leuten bewacht, aber nicht angekettet? Welche Art von Gefängnis ist das hier? Immerhin komme ich mir sehr wichtig vor. So viele Menschen, die mich bewachen. Als wäre ich dazu in der Lage, auch nur einen von ihnen niederzuringen. Sie kennen mich wohl nicht besonders gut.“

„Das ist kein Spaß, Janon!“ Jekis Hände krallten sich in die Schultern seines Bruders und er schüttelte ihn, als könne er ihm auf diese Weise etwas Verstand einbläuen. „Du wirst hier nicht für ein paar Tage eingesperrt und dann wieder laufen gelassen, Janon! Du wirst des Hochverrats angeklagt! Weißt du, womit Hochverrat sanktioniert wird? Mit dem Tod! Was hast du dir dabei gedacht? Warum denkst du nie nach? Was zum Teufel ist nur in dich gefahren?“

Janon verengte seine Augen und jegliches Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden. „Und was willst du jetzt machen, Jeki? Mich umbringen, bevor es die Götter tun?“

Jeki ließ ihn abrupt los und Janon taumelte etwas unbeholfen gegen die Wand hinter ihm. Er fuhr sich mit der Hand in die Haare und schüttelte immer wieder den Kopf. Stille legte sich über den Raum, während Jeki ungehalten auf und ab ging. Staub wirbelte unter seinen Schritten auf, den er mit einer fahrigen Bewegung seiner Finger zurück auf den Boden zwang.

Das war zu viel. Es war … scheiße!

Das konnte nicht sein. Wie hatte sein Leben in den letzten Wochen eine solche Kehrtwende machen können?

„Es war Vea, Jeki“, hörte er seinen Bruder murmeln. Seine Stimme klang merkwürdig hohl im leeren Raum. „Sie hätten sie festgenommen. Und ihr wäre kein Tribunal gewährt worden. Sie hätten sie sofort gehängt. Ich liebe sie. Natürlich habe ich ihr geholfen. Was hättest du getan?“

Jeki blieb stehen und starrte in das Gesicht seines kleinen Bruders. Das Gesicht des einzigen Menschen, der immer auf ihn gezählt hatte. Auf den er immer hatte zählen können.

„Es ist nicht wichtig, ob ich nachvollziehen kann, was du getan hast“, sagte er gepresst. „Ich … ich kann dir nicht helfen, Janon!“ Er hasste es, die eigene Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhören. „Ich kann dir hier einfach nicht helfen. Hochverrat ist keine Angelegenheit, bei der ich ein gutes Wort für dich einlegen könnte, ich –“

Janon stand auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er sah ruhig aus. Weder ängstlich noch angespannt. Er war immer noch der gelassene Kerl, den nichts herunterziehen konnte.

„Es ist nicht mehr deine Aufgabe, mich zu beschützen, Jeki“, sagte er ernst. „Es war meine Entscheidung. Ich kannte die Konsequenzen. Du trägst keine Schuld. Du trägst nicht die Verantwortung für mich.“

Jeki lachte trocken auf. „Es wird immer meine Aufgabe sein, dich zu beschützen, Janon! Egal, wie oft ich Mama gesagt habe, dass es nicht so wäre. Ich bin dein beschissener großer Bruder und du machst mir mein Leben verdammt noch mal nicht leicht!“

Da war wieder dieses matte Lächeln, das es trotz der verfahrenen Situation schaffte, Janons Augenwinkel zu erreichen. „Du lebst für Herausforderungen, Jeki. Wer wäre ich, sie dir nicht zu bieten?“

Jeki schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf, bevor er seinen Bruder in eine feste Umarmung schloss. „Mir fällt schon etwas ein. Ich … du wirst schon nicht zum Tode verurteilt.“

„Das ist die Einstellung, für die ich dich liebe.“

Jeki schnaubte. Er wünschte nur, er könnte seinen eigenen Worten Glauben schenken.

Als Jeki wieder hinaus an die Abendluft trat, hatte sich eine solche Schwere auf seine Schultern gelegt, dass er sich fragte, wie er den Weg zu seinem Haus zurückschaffen sollte. Doch seine Beine bewegten sich, ohne dass er ihnen den Befehl dazu geben musste. Sein Körper hatte schon immer besser funktioniert als sein Kopf.

Er lief nach Hause, schickte die beiden Wachen, auf die Api bestanden hatte, weg und öffnete seine Tür.

Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als er die Treppen in den ersten Stock hinaufstieg und vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Er fand Salia schlafend auf seinem Bett wieder.

Er konnte eines seiner Küchenmesser in ihrer Hand erkennen und musste lächeln. Es wunderte ihn beinahe, dass er sie nicht aufgeschreckt hatte. Salia hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, nur halb zu schlafen, um jede sich nähernde Bedrohung augenblicklich zu erkennen. Auch wenn es davon in der Dritten Mauer keine gab.

Er ließ sich vorsichtig neben sie sinken und betrachtete ihr Gesicht. Sie sah vollkommen entspannt, jung und verletzlich aus. Das war die Seite an Salia, die sie an sich selbst nie hatte zulassen wollen. Die weiche, unsichere Seite, die ein großer Teil von ihr war, die sie aber zu verstecken wusste. Sein Herz zog sich süßlich zusammen – und beantwortete ihm Janons Frage.

Ja, er hätte es genauso getan.

Er hätte die Frau, die er liebte, gerettet. Auch wenn es seinen eigenen Tod bedeutet hätte.

Der Kloß in seinem Hals wurde noch etwas größer, und sanft ließ er seine Finger über ihre Wange streichen.

Er hatte sie zurück.

Sie war hier, bei ihm. Das war es, auf das er sich jetzt konzentrieren sollte. Um den Rest – er atmete tief durch und verbarg sein Gesicht in den Händen –, um den Rest würde er sich am nächsten Tag kümmern müssen.