Leseprobe Es bleibt die Schuld

Prolog

Erinnerungen. Sie können schön sein. Sie können quälen. Sie können verloren gehen.

Aus verquollenen Augen fleht ihr Blick ihn an, ihr die Erinnerungen zurückzugeben.

Sein Blick ist starr. Hilfe suchend streckt sie ihm die Hand entgegen. Keine Reaktion.

Er sieht nur emotionslos zu, wie sie ermattet ihre Hand wieder sinken lässt. Mühsam, kaum vernehmbar formen ihre Lippen drei Worte. „Was ist passiert?“

Kurz flackert Hoffnung in seinen Augen auf, Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist.

Zögernd tritt er an sie heran und setzt sich neben sie. Er will, nein er muss wissen, wie viel Erinnerung ihr noch geblieben ist.

Nach einigen Fragen, die sie mit verzweifeltem Kopfschütteln beantwortet, lehnt er sich im Stuhl zurück. Dabei lässt er sie keine Sekunde aus den Augen.

Irritiert bemerkt sie, wie sich sein Gesichtsausdruck ändert. Er wirkt jetzt plötzlich entspannter, fast erleichtert. Sie findet keine Erklärung für diesen rätselhaften Wandel.

Angst beschleicht sie, eine Angst, die sie ebenfalls nicht einordnen kann. Entmutigt wendet sie sich ab und schließt erschöpft die Augen, bis er nach einiger Zeit ihre Hand nimmt.

Und dann beantwortet er ihre, zum zweiten Mal mühsam formulierte Frage nach dem Geschehenen. Ihr Blick ist auf sein Gesicht fixiert. Während er redet, wächst ihr Unbehagen. Das Gehörte lässt ihre Augen immer weiter werden. Als er mit seinen Ausführungen am Ende ist, beobachtet er neugierig ihre Reaktion.

In ihren Augen spiegelt sich nur ein einziger Wunsch wider. Der Wunsch, dass er ihr niemals eine Antwort gegeben hätte.

1 – Der Blick zurück

Eigentlich widerstrebte es Svenja, zu diesem Treffen zu gehen. 10-jähriges Abiturjubiläum!

Vor zwei Monaten hatte sie die Einladungsmail des Stufensprechers erhalten und ihr erster Gedanke war gewesen, auf keinen Fall daran teilzunehmen. Nicht die zu erwartenden unzähligen Smalltalks mit Leuten, die sie damals schon nicht hatte leiden können, waren es, die ihren Widerwillen erregten. Es war vielmehr die Erinnerung an das Geschehen in jener Nacht, die sich mit aller Macht Bahn brach. Sie schmerzte, sie machte ihr Angst. Wie sollte sie den anderen gegenübertreten? Einsam würde sie sich fühlen, reden und doch sprachlos sein.

Nur noch eine Station mit der Straßenbahn. Noch kann ich es mir ja überlegen, dachte sie, verwarf diese Überlegung jedoch sofort wieder. Ihr Fernbleiben wäre auch keine Lösung. Also entschloss sie sich, sich der Situation zu stellen, ganz gleich was kommen würde.

Der Bus fuhr mit Schwung an die Haltestelle und bremste so scharf, dass sie sich an der Stange festhalten musste, um nicht hinzufallen. Sie stieg mit ein paar anderen Fahrgästen aus und machte sich auf den Weg in die Augsburger Innenstadt zum vereinbarten Lokal.

Je näher sie ihrem Ziel kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Wie sollte sie die obligatorische Frage „Und, was machst du?“ beantworten? Am liebsten gar nicht.

Sie müsste nämlich sagen, dass sie zwar auf Lehramt für Gymnasium studiert hatte, aber nicht gut genug gewesen war, um in absehbarer Zeit eine Anstellung zu bekommen. Sie müsste erzählen, dass sie sich als Lehrerin in einer Nachhilfeorganisation ein Jahr lang knapp über Wasser gehalten hatte, bis sie es schließlich geschafft hatte, mit einer ehemaligen Kommilitonin eine eigene Nachhilfeschule, inklusive Hausaufgabenbetreuung, zu eröffnen. Dafür muss ich mich nicht schämen. Schließlich habe ich ein Unternehmen gegründet und durchgehalten, dachte sie trotzig. Die massiven Anlaufschwierigkeiten ihres Lernclubs „Funny Learning“ waren inzwischen überwunden und sie konnte sich sogar über allmählich steigende Nachfrage freuen. Svenja bog in die Gasse ein, in der sich das Lokal befand. Sie trat in einen Hauseingang, zog einen Spiegel, Kamm und Lippenstift aus ihrer grauen Ledertasche und kämmte die kinnlangen, schwarzen, in Bobform geschnittenen Haare.

Nervös zog sie sich die vollen Lippen mit karminrotem Lippenstift nach und überprüfte noch mal das Make-up ihrer mandelförmigen, braunen Augen. Ihre kleine Narbe am Kinn, die sie sich als Kind bei einem Sturz zugezogen hatte, war ein kleiner Makel in ihrem ansonsten als schön zu bezeichnendem Gesicht. Doch mithilfe eines hautfarbenen Abdeckstiftes gelang es ihr immer, diese beinahe unsichtbar werden zu lassen. Ein mulmiges Gefühl begleitete sie auf den restlichen Metern bis zum Lokal.

Es war zwar Anfang Mai, aber wie üblich viel zu kühl für diese Jahreszeit, weshalb die Veranstaltung nicht im angrenzenden gemütlichen Wirtsgarten stattfinden konnte. Im Gastraum hatten sich schon etliche Klassenkameraden eingefunden, die sich angeregt unterhielten. Sie atmete einmal tief durch und steuerte dann auf eine Gruppe zu.

„Hallo Svenja. Mann, du bist keinen Tag älter geworden!“, rief Hannes, ihr ehemaliger Sitznachbar im Französischleistungskurs.

„Ich nehme das mal als Kompliment, Hannes. Dann wird die Veranstaltung erträglicher“, meinte sie lachend und begrüßte dann die anderen reihum. Leider bemerkte sie zu spät, dass sich auch Mark in dieser Gruppe befand. Er sieht aus wie damals. Immer noch die gleiche halblange Lockenfrisur, immer noch dieselbe schlaksige Figur, dachte sie, als er auf sie zuging. Er reichte ihr die Hand und zeigte sein typisch schiefes Lächeln.

„Na, wie geht es dir?“, kam auch gleich darauf die Frage.

Und immer noch dieses Spöttische in seiner Stimme und in den Augen, stellte sie ernüchtert fest. Obwohl er damals augenfällig Interesse für sie gezeigt hatte, war er ihr dennoch immer mit überlegenem Gehabe begegnet, hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie ob ihrer nicht immer glänzenden Leistungen mit beißendem Spott zu überziehen. Er war ihr mit seiner überheblichen, besserwisserischen Art so zuwider gewesen, dass sie ihm, so gut es ihr eben gelang, immer aus dem Weg gegangen war. Und ausgerechnet er sollte hier einer der ersten sein, mit dem sie Smalltalk führen würde? Und womöglich noch ihre Lebensgeschichte unterbreiten sollte?

„Man lebt.“

„Wow, sehr informativ! Noch genauso gesprächig wie damals!“, meinte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

Das fängt ja schlimmer an als befürchtet , dachte sie und zuckte nur kurz mit den Schultern. „Svenja?!“, rief eine männliche Stimme und erlöste sie aus der misslichen Lage. Sie drehte sich um und sah in ein lachendes, immer noch jugendliches Gesicht.

„Hey Philipp! Das ist ja toll, dass du auch kommen konntest!“, rief sie ehrlich erfreut und umarmte ihn spontan.

„Hallo! Mensch, wie schön dich zu sehen! Zehn Jahre sind ja eine halbe Ewigkeit.“

Er hob sie in die Höhe, und drehte sich einmal um die eigene Achse, bevor er sie wieder absetzte.

„Pfff, alte Liebe rostet nicht, was?“, schnaubte Mark verächtlich.

„Hey Mark, alter Kumpel!“, rief Philipp und boxte ihn leicht auf den Oberarm. „Bist wohl immer noch neidisch, dass ich damals das Rennen gemacht habe, bei der heißesten Frau im ganzen Umkreis.“

„Die dich aber nicht geheiratet hat, sondern gleich nach dem Abi das Weite suchte!“, meinte Mark und grinste dabei hämisch.

Philipps Blick verdüsterte sich.

„Du bist doch das gleiche arrogante, sarkastische Ar…“

Svenja zog ihn schnell an seinem Jackenärmel ein Stück beiseite.

„Komm schon, du wirst dich doch nicht nach zehn Jahren immer noch von ihm provozieren lassen“, wisperte sie und bugsierte ihn schnell zu einer anderen Gruppe, mit hohem weiblichen Anteil. Im Gespräch mit den wesentlich netteren Exemplaren aus dem Kreise der Ehemaligen, entspannte er sich bald. Während er Anekdoten aus der Schulzeit zum Besten gab und die weibliche Anhängerschaft damit zum Lachen brachte, betrachtete sie ihn verstohlen von der Seite. Er hatte sich nicht viel verändert. Die Gesichtszüge waren zwar männlicher geworden, bargen aber dennoch eine gewisse Lausbubenhaftigkeit in sich. Von seiner dunkelblonden Lockenpracht hatte er bisher nicht viele Haare eingebüßt und in puncto Figur hatte sich auch nichts geändert. Immer noch diese groß gewachsene, schlanke Erscheinung, mit relativ schmalen Schultern und flachem Bauch. Damals hatte sie ihn attraktiv gefunden, war verliebt gewesen, doch wenn sie ihn jetzt betrachtete, konnte sie diese Empfindungen nicht mehr nachvollziehen. Jene Nacht hatte alles verändert. Sie hatte sich verändert. Svenja fragte sich, wie es Philipp seither ergangen war. Nach der Trennung hatten beide den Kontakt abgebrochen und keiner hatte je den ersten Schritt gewagt, ihn wieder aufzunehmen. Als könnte er ihre Blicke spüren, wandte er sich plötzlich zu ihr und zog sie lachend an der Hand zu sich heran.

„Komm Svenja-Schatz, jetzt wird Wiedersehen gefeiert!“

Er winkte einem Kellner und bestellte eine Runde Sekt. Sie bemühte sich zu lächeln und verfluchte Philipp gleichzeitig. Jetzt würden sich die ehemaligen Klassenkameradinnen gleich wie die Hyänen mit Fragen, was sie denn in den letzten zehn Jahren gemacht hatte, auf sie stürzen. Und genau so kam es.

So selbstbewusst wie möglich, stillte sie deren Neugier. An den zurückhaltenden Reaktionen konnte sie erkennen, wie sich die meisten insgeheim daran ergötzten, dass sie nicht die große Karriere aufzuweisen hatte. Anja, die Staatsanwältin geworden war und noch vorhatte zu promovieren, verpasste ihr den größten Dämpfer.

„Willst du dich nicht doch noch für den Schuldienst bewerben? Ist auf Dauer bestimmt sicherer als Selbstständigkeit.“

Schon in Schulzeiten war Anja ihr zuwider gewesen. Immer strebsam, immer Bestnoten, immer Lehrerliebling und immer im Clinch mit ihr, der lebenslustigen und beim männlichen Volk beliebten Svenja.

„Ach wieso, ich bin mein eigener Herr und es läuft inzwischen prima. Schuldienst! Das ist bei näherer Betrachtung auch nicht optimal. Du strampelst wie blöde, kommst aber kaum vom Fleck. Bei mir ist das anders. Je mehr Energie ich reinhänge, desto mehr Erfolg sehe ich“, antwortete sie selbstbewusst.

„Aha. Na ja, ist wohl Ansichtssache“, meinte Anja etwas von oben herab und wandte sich dann demonstrativ von ihr ab, um sich mit Simone zu unterhalten. Svenja musste mühsam den aufkeimenden Ärger unterdrücken und hätte am liebsten Stufensprecher Stefan dafür geküsst, dass er alle mit lauter Stimme aufforderte, sich einen Platz zu suchen.

Philipp wich nicht von ihrer Seite und setzte sich, ohne zu fragen, neben sie. Es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Philipp gehörte zu jenen, mit denen sie heute Abend gerne zusammen war. In der Art wie sie miteinander redeten und lachten, war deutlich die alte Verbundenheit spürbar.

„Ist hier noch frei?“, unterbrach eine Männerstimme ihr tiefer gehendes Gespräch. Es war Mark, der ohne eine Antwort abzuwarten, einen Stuhl nach hinten schob und sich darauf setzte. Svenja verdrehte innerlich die Augen, sagte aber nichts, sondern nickte nur mit gezwungenem Lächeln. Sie verspürte wenig Lust, den gesamten Abend mit jemandem zu verbringen, den sie nicht leiden konnte und um des lieben Friedens willen ständig Freundlichkeit heucheln zu müssen.

„Ich störe hoffentlich nicht eure traute Zweisamkeit“, sagte er in seiner unnachahmlich ironischen Art. Bevor einer der beiden eine passende Antwort geben konnte, ertönte das laute klingelnde Geräusch einer an ein Glas klopfenden Gabel, das alle im Raum schnell zum Verstummen brachte. Stefan hatte sich für seine Begrüßungsrede Gehör verschafft.

„Guten Abend, ich heiße euch ganz herzlich willkommen zu unserem zehnjährigen Jubiläum. Wenn ich mich so umsehe, haben es die meisten von euch geschafft zu kommen, was mich wirklich sehr freut! Herzlich begrüßen darf ich auch unseren damaligen Rektor Herrn Hummel und Herrn Seitz vom Matheleistungskurs.“

Lautes Gejohle und Klatschen brandete auf, als sich die Genannten kurz erhoben und „Guten Abend“ in die Runde nickten.

Stefan fuhr schließlich mit seiner Rede fort, in die er ein paar lustige Anekdoten eingeflickt hatte und erntete dafür großen Beifall. Doch dann kam der Moment, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Stefans Lächeln erstarb. Mit belegter Stimme erinnerte er an das Unglück, das einen Schatten über die eigentlich glückliche Abiturzeit der Anwesenden gelegt hatte. „Aber bei allem Spaß, den wir hier haben, möchte ich auch an unsere liebe Klassenkameradin Maren erinnern, die leider nicht mehr bei uns sein kann.“ Er hielt kurz inne. „Lasst uns mit einer Schweigeminute ihrer gedenken.“

Er senkte den Kopf und alle taten es ihm gleich. Bedrückende Stille breitete sich im Raum aus, nur das Gemurmel der Gäste und das Geräusch von klapperndem Geschirr und Besteck drangen aus dem Nebenraum herüber.

Philipp nahm Svenjas Hand und drückte sie sachte. Das Unaussprechliche war gesagt worden. Erdrückend, schmerzend war die Erinnerung an das tragische Ereignis, an den Schockmoment, als sie von dem Unfall erfahren hatten. So spürbar waren jetzt die Gefühle, als wäre es gestern geschehen. Einen Abend lang hatte man sich zusammen gefunden, um den Schulabschluss fröhlich zu feiern und auf eine chancenreiche Zukunft anzustoßen. Ein unbedachter Moment hatte die Katastrophe ausgelöst. Keiner hatte je begreifen können, warum dieses hoffnungsvolle, junge Leben jäh an einem Baum enden musste.

Dankbar für sein Mitgefühl, drückte sie ebenfalls seine Hand. Ihre Blicke trafen sich und sie verstanden einander.

2 – Begegnungen

Mark wischte sich mit der Serviette über den Mund, nahm einen kräftigen Schluck von seinem Weizenbier und hatte danach sichtbar Mühe, einen lauten Rülpser zu unterdrücken.

„Aaah! Es geht doch nichts über einen original bayerischen Schweinebraten! Immer wieder gut!“, sagte er.

„Sprach der Arzt! Deine Cholesterinwerte freuen sich bestimmt auch …“, stichelte Svenja. Mark gab ein Stöhnen von sich.

„Die Spaßbremse hat gesprochen! Ärzte sind auch nur Menschen und Männer werden nun mal nicht satt von ein paar Salatblättchen, zwischen denen sich – ,Ei, wo sind sie denn?‘ – Putenstreifen verstecken. Wir haben nicht so ein kleines Piepmatzmägelchen vom Grünfutter wie du, liebste Svenja!“

Eigentlich sollte es lustig klingen, doch so sehr sich Mark auch bemühte witzig zu sein, es kam beim Gegenüber dennoch als Spott an.

„Mensch Mark, kannst du eigentlich auch mal was Nettes zu deinen Artgenossen sagen?“, schnauzte Philipp ihn an und stand gleichzeitig auf. „Ich hole kurz Zigaretten und gehe dann eine rauchen. Kommst du auch nach draußen, Svenja?“

„Ja, ich komme gleich nach.“

Als Philipp verschwunden war, beugte sich Mark zu Svenja hinüber. „Sag mal, welche Laus ist denn dem über die Leber gelaufen?! Versteht auch gar keinen Spaß.“

„Deine sogenannten Späße sind auch schwer verdaulich, mein Lieber. Deine Galle produziert eindeutig zu viel Gift. Lass sie dir am besten entfernen. Obwohl, du als Chirurg kannst das ja im Do-it-yourself-Verfahren machen.“

Mark klatschte in die Hände, während Svenja sich erhob.

„Respekt! Auf den Mund gefallen bist du jedenfalls nicht. Da fällt sogar mir Schandmaul nichts mehr ein.“

Sie nickte ihm mit triumphierendem Grinsen zu, schnappte ihren Mantel und begab sich dann nach draußen. Einige Gäste standen in Grüppchen herum. Auf der Suche nach Philipp ließ Svenja ihren Blick über sie hinwegschweifen. Er war noch nicht hier.

„Entschuldigung, darf ich bitte vorbei?“, erklang eine tiefe Männerstimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und blickte in zwei braun-grüne Augen.

„Natürlich, Entschuldigung.“

Svenja trat einen Schritt beiseite ohne den Blick abzuwenden. Ein dunkel gelockter, großer, schlanker Mann schob sich an ihr vorbei und auch er ließ sie dabei nicht aus den Augen. Beide lächelten sich an und keiner wusste warum.

„Von so einer hübschen Dame wird man allerdings gerne blockiert“, meinte er galant und blieb stehen. Svenja hatte keine Chance ihm zu antworten, denn irgendjemand rief: „Dennis, wir sind hier hinten!“

Er drehte sich um. „Komme gleich zu euch!“, rief er und sagte an Svenja gewandt: „Gehören Sie zu dem Klassentreffen?“

„Ja, zehnjähriges Jubiläum.“

„Tja, dann wünsche ich noch einen schönen Abend.“

„Gleichfalls!“

Neugierig sah sie ihm nach, wie er sich an den Grüppchen vorbei zu seinen Bekannten schlängelte. Die dunklen, in Stufen geschnittenen Locken reichten ihm bis in den Nacken und bedeckten den Kragen seiner dunkelgrauen Lederjacke, die er zu einer schwarzen Jeans trug. Er schien beliebt zu sein, denn er wurde mit großem Hallo und Gelächter empfangen.

Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern.

„Jetzt musst du keine Löcher mehr in die Luft starren. Ich bin wieder da.“

Philipp trat neben Svenja und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger zitterten ein wenig.

„Rauchst du immer noch oder wieder?“

„Letzteres. Wenn man Stress hat, ist man dafür sehr anfällig.“

„Womit hast du denn Stress?“, fragte sie, während sie Ausschau nach Dennis hielt.

„Mit meiner Softwarefirma.“ Er fing an, seine Lebensgeschichte zu erzählen und gewann damit Svenjas uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Anfangs war es mit der Firma einigermaßen gut gelaufen, bis sein Partner wegen Unstimmigkeiten aussteigen wollte und dies in kürzester Zeit in die Tat umsetzte. Daraufhin ging es bergab. Philipp kaufte ihm seine Anteile ab, war aber alleine überfordert. Sein Partner hatte immer erfolgreich die Aufträge an Land gezogen, jedoch gehörte dies nicht gerade zu Philipps Stärken. Deshalb beauftragte er in seiner Not einen Unternehmensberater, um ihm und seiner Firma wieder auf die Beine zu helfen, doch dessen Arbeit brachte nicht den gewünschten Erfolg.

„Viel investiert, wenig gewonnen. Jetzt halte ich mich gerade so über Wasser.“

Er warf den glimmenden Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn mit der Fußspitze aus. Die vehemente Art, in der er dies tat, zeugte für Svenja von mühsam unterdrückter Wut. Es war sichtlich schwer für ihn, sich sein Beinahe-Scheitern einzugestehen.

Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor ihr auf; Bilder, in denen sie zusammen Händchen haltend auf dem Rasen im Augsburger Freibad nebeneinander lagen, in den strahlend blauen Himmel schauten und sich in Zukunftsszenarien verloren. Alles erschien möglich damals, ein knappes Jahr vor dem Abitur.

Sie wollten die weite Welt jenseits des Elternhauses erobern. Philipp träumte von einer Karriere à la Bill Gates. Er hatte in scherzhaften Fantasien davon gesprochen, dass Svenja mit dem riesigen Vermögen ihres Gatten Philipp eine eigene Privatschule, für gut Betuchte natürlich, gründen könnte. Als Schulleiterin würde sie sich die Freiheit nehmen, nur exklusive Stunden in Kunst zu geben. Viel gelacht hatten sie über diese Visionen und doch hatte jeder insgeheim den Traum vom großen Erfolg geträumt.

Aber die Widrigkeiten des Lebens hatten sie eingeholt, schneller als sie es verkraften konnten. Die Scheidung von Philipps Eltern am Beginn seines Studiums hatte ihn in Windeseile in eine Zwangslage gehievt. Alleine auf sich gestellt, weil „die Alten“ (wie er seine Eltern seitdem despektierlich nannte) zu sehr mit ihrem Zerwürfnis und neuen Liebschaften beschäftigt gewesen waren, hatte er alle Entscheidungen ohne den elterlichen Rückhalt treffen müssen. Dazu hatte sich ein finanzieller Engpass gesellt, den eine Scheidung unweigerlich mit sich brachte. Kurzum, er hatte ums nackte Überleben gekämpft, hatte sich nebenher mit Jobs in Kneipen und einer Werbefirma über Wasser gehalten. Zwangsweise war sein Studium dabei ins Hintertreffen geraten, mit dem Ergebnis eines nicht glanzvollen Abschlusses, der die Chancen auf eine feste Anstellung enorm geschmälert hatte.

„Worüber denkst du denn nach?“, fragte er.

„Über die Vergangenheit. Und die geplatzten Träume.“

„Ja, manchmal frage ich mich auch, wie das Leben wohl aussähe, wenn wir zusammen geblieben wären. Besser? Was denkst du?“

„Vermutlich nicht. Und du weißt warum.“

Er nickte nachdenklich mit dem Kopf.

„Vielleicht haben wir uns aber auch zu wenige Chancen für eine gemeinsame Zukunft gegeben.“

Der Gesprächsinhalt begann für Svenja unangenehm zu werden. Unwillkürlich wandte sie ihren Blick von Philipp ab und ließ ihn über die anderen Gäste schweifen. Sie entdeckte den Schwarzlockigen und bemerkte, dass er sie gerade interessiert ansah. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Ohne es zu wollen, verzog sie den Mund zu einem Schmunzeln und blickte dann verlegen zu Boden.

„Bist du eigentlich liiert?“, fragte Philipp.

„Nein, schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Mein Ex war ein toller Mensch, lieb und rücksichtsvoll, aber leider wollte er zu wenig vom Leben. Irgendwann hat er aufgehört sich Ziele zu setzen, hatte zuletzt das Temperament einer Schlaftablette, um es mal krass auszudrücken. Es hat einfach nicht funktioniert.“

Sie scharrte mit dem rechten Fuß imaginären Dreck beiseite. Es fiel ihr nicht leicht, über das Thema zu reden und sie hoffte, Philipp würde nicht mehr weiterfragen.

„Du hast ihn einfach so in die Wüste geschickt? Oder hast du ihm noch eine Chance gegeben, sich zu ändern?“

„Natürlich habe ich das, aber wie gesagt, es gab keine Gemeinsamkeiten mehr. Und jetzt Themawechsel, sonst frage ich dich über dein Liebesleben aus.“

„Schon gut … Schade, es hätte mich schon interessiert, schließlich bin ich auch so ein ausrangierter Lover von dir.“

„Themawechsel!“

Grinsend zog er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Svenja riskierte ihrerseits einen Blick in Richtung des Schwarzlockigen. Irritiert und erfreut zugleich registrierte sie, dass dieser sie wieder in Augenschein genommen hatte und ihre Reaktion mit einem amüsierten Lächeln quittierte. Svenja musste ebenfalls wegen ihres pubertären Verhaltens schmunzeln.

„Wem lächelst du denn zu?“

Philipp sah interessiert in Svenjas Blickrichtung und zog gleich darauf verärgert die Augenbrauen zusammen.

„Was macht der denn hier?“

„Wer?“

„Dennis Lettmann. Der Letzte, dem ich heute begegnen wollte.“

„Meinst du etwa den da vorne mit der Lederjacke?“

„Ja, verdammt. Schau nicht so auffällig hin!“

„Warum? Was hast du denn mit ihm zu tun?“, fragte Svenja neugierig.

„Das ist der Unternehmensberater, der für mich tätig war, als die Geschäfte den Bach runtergingen. Ich habe dir doch vorhin von ihm erzählt. Seine Arbeit war mies, es lief danach kaum besser, aber er behauptete natürlich, dass ich seinen Masterplan nicht richtig umgesetzt hätte, dieses Ar…!“

„Philipp, nicht schon wieder diesen netten Titel!“, unterbrach sie ihn schnell.

„Ist doch wahr. Ich bezahle einen Haufen Geld, und was kommt dabei heraus? Nichts. Und dieser Mistkerl gibt dann auch noch mir dafür die Schuld!“

Svenja wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, schließlich kannte sie die genauen Hintergründe nicht.

„Sollen wir hineingehen?“, fragte sie deshalb nur.

„Nein, ich will erst zu Ende rauchen. Weißt du, sein Dad, stinkreich, besitzt eine große Unternehmensberaterfirma, bei der er sein Söhnchen selbstverständlich in leitender Position angestellt hat, obwohl er nichts taugt. Immer dasselbe und ich muss es jetzt büßen. Fuck!“

Svenja konnte sich nicht erinnern, dass sich Philipp früher auch dieser Vulgärsprache bedient hätte. Sie sah ihm zu, wie er an seiner Zigarette zog und den Rauch nach einem tiefen Lungenzug heftig durch Mund und Nase ausstieß.

„Schone deine Lungen und lass uns hineingehen“, schlug sie vor, um ihn abzulenken.

Als er nicht gleich reagierte, nahm sie ihm kurzerhand die Zigarette weg, warf sie zu Boden und drehte den verdutzten, „Hey, was soll das?“ rufenden Philipp in Richtung Eingangstür.

Jemand schob sich knapp an ihr vorbei und blieb vor Philipp stehen.

„Hallo, Herr Schulte! Wie geht es Ihnen denn? Sie wollten sich doch noch einmal bei mir melden.“

Es war Dennis Lettmann, der ganz offensichtlich nicht primär am Wohlergehen von Philipp interessiert war, denn er sah hauptsächlich Svenja an und lächelte dabei.

„Wie soll es mir schon gehen, nachdem ich ganz knapp einem Insolvenzantrag entgangen bin, dank Ihrer stümperhaften Arbeit!“, giftete Philipp ihn an.

„Herr Schulte, ich habe Ihnen erklärt, woran es gelegen hat. Sie hätten meinen Geschäftsplan eins zu eins umsetzen müssen und nicht noch selber herumdoktern dürfen, dann hätte es hundertprozentig funktioniert.“

„Jetzt ist der falsche Zeitpunkt das zu besprechen, denken Sie nicht auch? Ich melde mich demnächst bei Ihnen. Einen schönen Abend noch, Herr Lettmann“, blaffte Philipp zurück und wollte sich an ihm vorbeischieben.

„Wo sind Ihre guten Manieren geblieben? Sie haben mir Ihre nette Begleitung noch nicht vorgestellt.“

Ungläubig, mit zusammengekniffenen Augen, nahm Philipp ihn ins Visier. Seine Gesichtsmimik spiegelte eindeutig seinen Kampf um Beherrschung wider. Svenja beobachtete ihn mit wachsendem Unbehagen und versuchte mit einem fröhlichen „Also, das kann ich auch selbst machen. Ich bin Svenja Grothe, ehemalige Klassenkameradin und Freundin von Philipp“ die Situation zu retten.

Sie reichte ihm dabei die Hand und zauberte ihr schönstes Lächeln auf das Gesicht.

„Dennis Lettmann, angenehm. Sehr angenehm sogar!“, meinte er mit einem charmanten Lächeln.

„Bfff“, schnaubte Philipp leise. „Ich geh jetzt wieder hinein, kommst du mit, Svenja?“

Sein Blick verriet, dass die Frage rein rhetorisch war und vielmehr die Aussage Du wirst dich doch nicht ernsthaft weiterhin mit diesem Kerl unterhalten wollen enthielt.

Natürlich konnte Svenja ihn verstehen, andererseits wollte sie sich nicht vorschreiben lassen, mit wem sie sich unterhalten durfte und mit wem nicht. „Geh schon mal voraus, ich möchte noch eine rauchen.“

Philipps Augenbrauen verschwanden vor Erstaunen unter seinen Stirnfransen. Noch vor einer Stunde hatte sie ihm stolz verkündet, dass sie es vor drei Jahren geschafft hatte, damit aufzuhören.

„Du enttäuschst mich“, meinte Philipp nur und ging wieder ins Lokal hinein.

„Ihr Freund scheint …“

„Ex-Freund“, berichtigte Svenja sofort.

„Okay, Ex-Freund. Er scheint jetzt beleidigt zu sein. Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“

Svenja zögerte. Wenn sie ablehnte, wusste er, dass sie nur seinetwegen draußen geblieben war, andererseits wollte sie deswegen aber auch nicht rückfällig werden.

Schließlich wusste sie ja nicht, ob dieser Kerl es überhaupt wert sein würde. Die meisten Bekanntschaften hatten sich in letzter Zeit beim ersten Schein als prachtvolle, aber beim genaueren Abklopfen, als extrem hohle Nüsse entpuppt.

„Vielen Dank, aber Ihre Sorte ist mir zu stark. Ich rauche lieber meine eigenen.“

Sie ließ eine Hand in ihrer Tasche verschwinden und tat so, als ob sie suchen würde.

„Also so was Blödes. Ich habe sie tatsächlich vergessen. Na macht nichts, ich will sowieso aufhören.“

Ungeniert und ohne rot zu werden, lächelte sie ihn trotz dieser faustdicken Lüge an.

Er erwiderte ihr Lächeln, doch Svenja vermochte nicht zu sagen, ob er ihr glaubte. In seinen Augen lag ein rätselhaftes Funkeln, das sie nicht deuten konnte.

3 – Vergangenheit und Zukunft

Eine halbe Stunde später gab Svenja die Hoffnung auf, mit Herrn Lettmann eine tiefer gehende Konversation führen zu können. Das lag allerdings nicht daran, dass es ihnen an Gesprächsthemen gemangelt hätte, sondern vielmehr an den permanenten Unterbrechungen. Immer, kaum dass sie ein paar Sätze gewechselt hatten, kam jemand von Svenjas ehemaliger Klasse zum Rauchen oder Luftschnappen nach draußen. Und jedes Mal entdeckte dieser Jemand Svenja mit einem lauten Hallo. Natürlich freute sie sich über die Aufmerksamkeit und die netten Gespräche. Zu ihrer großen Erleichterung hatte sich ihre ursprüngliche Befürchtung, es könnte Unangenehmes zur Sprache kommen, nicht bewahrheitet. Inzwischen wurde es ihr jedoch beinahe zu viel des Guten.

Die Krönung war schließlich Katjas inquisitorische Frage: „Hast du eigentlich schon Kinder?“ So etwas konnte ja nur von ihr kommen. Nur weil diese ihren Sandkastenfreund, mit dem sie im zarten Alter von fünfzehn eine Beziehung angefangen hatte, mit einundzwanzig geheiratet und in den folgenden sechs Jahren in gleichmäßigen Abständen drei Babys bekommen hatte, berechtigte es sie noch lange nicht, so derb mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Kinder? Gott bewahre! Dafür war noch keine Zeit. Außerdem braucht man dazu erst mal den richtigen Partner. Samenbankbabys eignen sich nicht gerade für ein nettes Familienalbum.“

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, dass Dennis sie ansah. Wenigstens weiß er jetzt, dass ich noch solo bin, dachte sie nicht ohne Genugtuung.

„Ja, wie meine Mutter schon sagte, viele Verehrer, kein Bewerber!“, bemerkte Katja spitz.

Ihr begleitendes, gackerndes Lachen verlangte Svenja viel Selbstbeherrschung ab.

„Tja, nicht jeder hat eben so viel Glück in der Liebe wie du, Katja“, antwortete Svenja mit leicht bissigem Unterton.

„Du sagst es!“, entgegnete diese schnippisch und zog sich zur Freude Svenjas gleich darauf zurück.

„Die gehörte bestimmt nicht zum engeren Freundeskreis“, meinte Dennis schmunzelnd.

„Wahrlich nicht! Wahrscheinlich ist sie nur neidisch. Schließlich stelle ich es mir nicht gerade aufregend vor, in jungen Jahren nur mit Windeln wechseln, Breichen füttern und Kinderkrankheiten beschäftigt zu sein. Wenn ich da an meine wilde Studienzeit mit Reisen und vielen neuen Freunden denke … Das möchte ich nicht missen.“

„Oh ja, das stimmt“, pflichtete Dennis ihr bei und fing an, lustige Geschichten aus seinem Studium zu erzählen. Als sich Svenja gerade eine Lachträne aus dem Auge wischte, sah sie über Dennis’ Schulter hinweg Philipp und Mark in der Eingangstür stehen.

Fuchtelnd gaben sie ihr zu verstehen, sie möge zu ihnen kommen. Ausgerechnet jetzt! Svenja ignorierte sie geflissentlich. Sie würde ganz bestimmt nicht das amüsante Gespräch unterbrechen wegen zwei Männern, die ihr aus unersichtlichem Grund wie zwei Fluglotsen auf dem Flugfeld zuwinkten und sie zum Einfliegen bewegen wollten.

„Ihr Ex-Freund langweilt sich wohl ohne Sie!“, meinte Dennis mit Blick zur Eingangstür.

„Sein Problem! Es gibt ja noch mehr Klassenkameradinnen hier, mit denen man sich nett unterhalten kann, wie man in der letzten halben Stunde mitbekommen hat.“

Beide mussten lachen. Er verstand ihren versteckten Humor und das fand Svenja äußerst sympathisch. Sie musste Philipp und Mark unbedingt loswerden und gab den beiden mit einem eindeutigen Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nicht mehr belästigt werden wollte. „Wie lange waren Sie denn mit Philipp zusammen?“

„Zwei Jahre. Als wir zu studieren anfingen, trennten wir uns“, antwortete sie knapp. Es widerstrebte ihr, sich mit Dennis über ihren Ex-Freund zu unterhalten.

„Kann es sein, dass er wieder Interesse an Ihnen hat?“

„Wie kommen Sie denn darauf? Philipp freut sich nur, mich nach so langer Zeit wiederzusehen, mehr nicht“, sagte sie etwas pikiert.

Sie hoffte, dass Dennis das Signal verstand, nicht weiter zu bohren.

„Na, ich dachte nur, weil er wie ein Anhängsel an Ihnen klebt“, meinte er und verzog seinen Mund zu einem leichten Grinsen. „Übrigens ich bin Dennis, lassen wir doch das förmliche Siezen.“

„Gerne. Ich heiße Svenja.“ Sein warmer Händedruck war sanft und dennoch bestimmt. Er hielt ihre Hand ein paar Sekunden länger als nötig und sah ihr dabei lächelnd in die Augen.

Plötzlich stellte sich jemand dicht neben sie. „Sag mal Svenja, bist du jetzt zum Klassentreffen gekommen oder nicht? Jetzt komm doch endlich wieder mit rein“, riss Philipps Stimme sie erbarmungslos aus der Versunkenheit des Augenblicks.

Sie verspürte nicht die geringste Lust in den Gastraum zurückzugehen. Am liebsten hätte sie Philipp gesagt, er solle sich alleine auf der Versammlung der Altvorderen vergnügen. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Willst du etwas gelten, mach dich selten, kam es ihr in den Sinn. Ein Spruch, den ihre Omi ihr mit auf den Weg gegeben hatte, als sie dieser im zarten Teenageralter von den ersten Annäherungsversuchen des anderen Geschlechts erzählte. Sicherlich verfehlte diese Empfehlung auch in ihrem Alter nicht die Wirkung.

„Ja, gut, mir wird sowieso langsam kalt. Dennis, es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“

Es fiel ihr schwer nicht zu zeigen, wie sehr es ihr widerstrebte, sich verabschieden zu müssen. Insgeheim hoffte sie, dass er sie nach ihrer Handynummer fragte.

„Ja, hat mich auch gefreut. Dann noch viel Spaß heute Abend!“

Er legte kurz seine Hand auf ihre Schulter und ging dann zu seinen Bekannten.

„Komm endlich!“, sagte Philipp ungeduldig.

„Jetzt hör auf mich zu drängen, ich komme ja!“

Leicht zerknirscht warf sie noch einen Blick hinter Dennis her, der sich den Weg zu seinen Bekannten bahnte und folgte dann Philipp. Es wurmte sie, dass dieser aufgetaucht war und ihre Zweisamkeit gestört hatte. Vielleicht hätte sie ihn doch einfach wegschicken und sich mit Dennis weiter unterhalten sollen. Jetzt war er weg und wer weiß, ob sie ihn je wiedersehen würde.

„Also ein bisschen mehr Feingefühl hättest du schon zeigen können … Hast du eigentlich nicht gesehen, wie gut wir uns gerade unterhalten haben? Und jetzt habe ich nicht einmal seine Handynummer!“, maulte sie.

Philipp drehte sich zu ihr um. „Aber hallo! Du willst doch nicht ernsthaft mit diesem Deppen etwas anfangen!“

„Warum nicht? Du musst dein persönliches Problem mit ihm nicht auf mich projizieren. Ich fand ihn sehr nett. Aber leider war das Vergnügen, dank dir, nicht von langer Dauer.“

Philipp erwiderte nichts und ging mit mürrischem Gesichtsausdruck weiter. Als sie wieder am Tisch saßen, kam auch gleich Marks unverblümte Frage, warum Svenja so schlecht gelaunt sei. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und schluckte den Ärger hinunter, um nicht das Bild eines schmachtenden Teenagers abzugeben.

„Wie kommst du darauf, dass ich schlechte Laune habe? Mir ist nur entsetzlich kalt und ich hasse es zu frieren. Wenn ich aufgetaut bin, kann ich auch wieder lachen“, sagte sie mit einem versöhnlichen Augenzwinkern.

Mark kommentierte die Erklärung mit einem gebrummten „Aha“.

Philipp hingegen schloss aus ihrem Verhalten, dass seine Störaktion keine Nachwirkungen hatte und war erleichtert. Ab diesem Zeitpunkt war er überaus liebenswürdig zu Svenja. Sie ließ es geschehen, lachte über seine Witze, schweifte aber gedanklich immer wieder zu Dennis ab.

„Ich muss mal kurz zur Toilette, aber nicht verschwinden“, sagte Philipp und stand auf.

Mark hatte sich inzwischen an einen anderen Tisch gesetzt, sodass ihr ein Gespräch mit ihm erspart blieb. Stattdessen unterhielt sie sich mit Tanja und Steffi, die vorbeikamen und an ihrem Tisch stehenblieben.

„Hey Philipp, alles gut?“, rief Tanja fröhlich, als dieser schließlich wieder zurückkam.

Scheint nicht so, dachte Svenja, denn sie sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. In seinem Blick lag Nervosität.

„Ja klar … Und? Schon genug auf das Wiedersehen angestoßen?“, erwiderte er verkrampft lächelnd. Nach ein paar belanglosen Floskeln gingen die beiden wieder an ihren Tisch zurück und Philipp setzte sich mit einem Stoßseufzer neben Svenja.

„Bist du okay?“

Er gab einen Brummlaut von sich und nuschelte etwas in der Art Ja, warum fragst du?, ohne sie dabei anzusehen.

„Nun sag schon, ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt“, drängte Svenja, unruhig geworden.

„Ich hätte zu Hause bleiben sollen“, sagte er leise, „alles kommt wieder hoch.“

Svenja nickte bestätigend. „Mir geht es genauso.“ Mitfühlend streichelte sie seinen Arm. „Gibt es einen Grund, warum es dich jetzt plötzlich so sehr belastet?“, fragte sie vorsichtig nach.

„Jetzt ist genau das passiert, was ich immer vermeiden wollte“, platzte es aus ihm heraus. Er wirkte fast verzweifelt.

„Was meinst du damit?“

„Mir ist auf der Toilette Felix gegenüber eine Bemerkung herausgerutscht, ganz ungewollt.“

„Wie bitte? Was hast du denn gesagt?“ Svenja war alarmiert.

„Nichts Konkretes, nur eine vage Andeutung. Höchstwahrscheinlich hat er gar nicht verstanden, um was es genau geht.“

„Na hoffentlich! Mensch, Philipp, das ist …“

Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn Stefan trat an ihren Tisch und setzte sich unaufgefordert an Marks frei gewordenen Platz. Man sah, dass Philipp diese Ablenkung willkommen war, ganz im Gegensatz zu Svenja. Sie hätte gerne noch mehr über Philipps Begegnung mit Felix erfahren. So musste sie sich aber geschlagen geben und sich gezwungenermaßen auf die Unterhaltung mit Stefan einlassen.

Als sie ein Kribbeln in der Nase verspürte, kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und bemerkte dabei gar nicht, dass jemand hinter sie getreten war.

„Svenja, wir gehen noch woandershin. Ich wollte mich nur verabschieden“, sagte eine dunkle Stimme. Sie drehte sich um und hatte Mühe, ihren freudigen Schreck nicht zu offen zu zeigen, als sie in Dennis’ lächelndes Gesicht sah.

„Aha, ihr stürzt euch also noch ins Augsburger Nachtleben! Viel Spaß bei der Suche nach nicht hochgeklappten Bürgersteigen.“

Er grinste. „Ja, werden wir haben. Wenn ich mal wieder in Augsburg bin, könnten wir uns ja treffen. Verrätst du mir deine Handynummer?“

Es durchströmte sie warm vor Freude. Mit aufgesetztem Pokerface kritzelte sie ihre Nummer auf einen kleinen Zettel und reichte ihn Dennis, der sich mit angedeuteter Verbeugung dafür bedankte.

Für einen seligen Moment vergaß sie alle Probleme, die ihr auf der Seele lasteten. Sie konnte ja nicht ahnen, dass heftige Stürme sie erwarteten.