Leseprobe Entführung auf der Lower East Side

Eins

New York City, Juli 1904

Müßiggang ist des Teufels Ruhebank. Das war eines der Lieblingssprichworte meiner Mutter, wenn sie mich beim Tagträumen erwischte oder wenn ich auf dem Rücken im Gras lag und zu den Wolken hinaufblickte, die über den Himmel rasten. Ich konnte beinahe ihre Stimme hören, mit dem starken, irischen Akzent, als ich an diesem heißen Julitag auf dem Sofa saß und an einem Glas Limonade nippte.

Tatsächlich wäre es mir lieber gewesen, der Teufel hätte mir statt der Ruhebank etwas zu tun gegeben, da ich vor Langeweile zugrunde ging. Ich hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, da ich meinen Vater und drei jüngere Brüder versorgen musste, nachdem meine Mutter in ihre himmlische Ruhestätte eingezogen war. (Zumindest nehme ich an, dass sie dort gelandet ist. Sie ging definitiv davon aus, dass sie es verdient hatte.) Und jetzt, zum ersten Mal in meinem Leben, war ich eine Dame des Müßiggangs. Seit ich im Februar herausgefunden hatte, dass ich in anderen Umständen war, hatte Daniel mich behandelt, als wäre ich aus feinstem Porzellan. In den ersten Monaten freute ich mich über seine beflissene Sorge um mich, da ich mit schrecklicher Übelkeit zu kämpfen hatte. Tatsächlich entwickelte ich mehr Mitgefühl für meine Mutter, die das Ganze mindestens viermal durchgemacht hatte. Doch zu Beginn des vierten Monats vollzog sich eine wundersame Wandlung. Ich erwachte eines Morgens und stellte fest, dass ich hungrig und voller Energie war. Daniel beharrte allerdings immer noch darauf, dass ich so wenig wie möglich tat, mich nicht anstrengte, keine Risiken einging und mich im Allgemeinen so verhielt wie diese hilflosen Weibchen, die ich so verachtete.

Er wollte, dass ich mich aufs Sofa legte, die Füße hochlegte und meine Tage damit verbrachte, winzige Kleidungsstücke zu produzieren. Ich hatte es versucht und meine Näh- und Strickkünste verbessert, doch meine Arbeit ließ noch sehr zu wünschen übrig. Außerdem wusste ich, dass meine Schwiegermutter fleißig vor sich hin nähte und meine Nachbarinnen Sid und Gus das Kind mit teuren Geschenken überschütten würden.

Also blieben jeden Tag lange Stunden, die gefüllt werden mussten. Unser kleines Haus im Patchin Place war in wenigen Stunden geputzt. Ich machte kleinere Einkäufe, aber Daniels Arbeit als Polizist bedeutete, dass er selten zum Mittagessen zu Hause war und manchmal nicht einmal zum Abendessen, also musste ich kaum kochen. Ich war froh darüber, als das Wetter Ende Juni besonders warm wurde, da ich mit meiner wachsenden Kugel die Hitze besonders stark zu spüren bekam. Daniel schlug vor, dass er sich selbst versorgen und ich zu seiner Mutter nach Westchester County gehen könnte, wo ich es kühler hätte und versorgt werden würde. Ich sprach es nicht laut aus, doch ich hätte lieber die Hitze in einem Ofen erduldet, als einen längeren Aufenthalt bei Daniels Mutter. Nicht dass sie ein Unmensch wäre, doch mit ihren Ansprüchen an Perfektion und ihren Kontakten zu Mitgliedern der High Society, fühlte ich mich immer hoffnungslos unzulänglich. Ich wusste, dass sie es missbilligte, dass Daniel keine bessere Partie gemacht hatte als eine junge Irin ohne Geld und Namen.

Sie hatte das nie laut ausgesprochen, doch sie machte es mehr als deutlich. „Ich saß gestern beim Tee mit den Harpers“, sagte sie dann. „Ich meine mich zu erinnern, dass eines der Harper-Mädchen mal ein Auge auf dich geworfen hatte. Sie ist eine exzellente Ehe mit einem van Baaren eingegangen. Ihre Eltern könnten nicht glücklicher sein.“ Und dann schaute sie mich an.

Ich war also eher bereit, jegliche Hitze zu ertragen, als Daniels Mutter. Ich wünschte mir bloß, diese letzten Monate würden schneller vorübergehen. Ich stellte meine Limonade ab und nahm mir wieder das Unterhemd, das ich zu nähen versucht hatte. Ich konnte schweißige Fingerabdrücke auf dem feinen, weißen Baumwollstoff sehen und mehrere Stellen, an denen die Naht wieder aufgegangen war. Ich seufzte. Ich war einfach nicht zur Schneiderin gemacht. Als Detektivin hatte ich mich gar nicht schlecht angestellt, aber dieser Beruf war für mich jetzt beendet. Daniel hatte mir das Versprechen abgenommen, dass ich meine Detektei aufgeben würde, wenn wir verheiratet waren. Ich hatte gehofft, dass Daniel mich an seinen Fällen teilhaben lassen würde, dass wir am Küchentisch sitzen würden und er mich nach meiner Meinung fragte. Doch er hatte behauptet, dass seine jüngsten Fälle zu banal gewesen seien, um sie zu besprechen, oder so geheim, dass er Stillschweigen bewahren musste.

Ich hob den Blick, als die Sonne plötzlich durch die Fenster des hinteren Wohnzimmers hereinfiel. Ein Sonnenstrahl beleuchtete die Staubpartikel in der Luft und malte einen hellen Streifen auf die Tapete. Jetzt würde dieser Raum zu heiß werden und ich wäre bis zum Sonnenuntergang in das vordere Wohnzimmer verbannt, das düster und bedrückend wirkte. Ich stand auf, um die schweren Samtvorhänge zuzuziehen, und bemerkte, dass die Gardinen recht schmuddelig wirkten. Das ging so nicht. Da ich zum ersten Mal in meinem Leben Gardinen besaß, sollte ich auch dafür sorgen, dass sie strahlend weiß blieben. Ich ging in die Küche und holte einen Holzstuhl. Ich stieg unter einigen Schwierigkeiten darauf und griff nach oben, um die erste Gardine abzuhängen.

Ich stand gerade voll ausgestreckt auf meinen Zehenspitzen, als hinter mir eine Stimme dröhnte: „Molly! Was in Gottes Namen tust du da?“

„Jesus, Maria und Josef“, rief ich. Ich taumelte und wäre gestürzt, wenn ich mich nicht an dem Samtvorhang festgehalten hätte, der zum Glück gut befestigt war. Ich blickte nach unten und sah Daniel dort stehen, wie vom Donner gerührt.

„Die Gardinen müssen gewaschen werden.“ Ich funkelte ihn herausfordernd an.

„Du riskierst die Sicherheit unseres Kindes für saubere Vorhänge?“, fragte er. Er kam herüber und half mir vom Stuhl herunter. „Du wärst beinahe gefallen, und was wäre denn passiert?“
„Es war nur der plötzliche Schrei hinter mir, der mich aus dem Gleichgewicht gebracht hat“, sagte ich. „Bis du aufgetaucht bist, war alles gut.“

Er blickte mich jetzt zärtlicher an. „Molly, wie oft muss ich dich noch bitten, es langsam anzugehen? Du bist in einer empfindlichen Situation, meine Liebste.“

„Unsinn. In Irland bekommen Frauen ihre Kinder und am Ende der Woche helfen sie den Männern schon wieder auf dem Feld.“

„Und wie viele dieser Kinder sterben? Deine Mutter ist selbst nicht sehr alt geworden, oder?“

Ich beschloss, die Wahrheit in dieser Aussage nicht zu würdigen. Stattdessen sagte ich kess: „Daniel, es geht mir gut und ich langweile mich hier zu Tode.“

Er nahm meinen Arm und führte mich zum Sofa zurück. „Dann lad Freundinnen zum Tee ein. Ich habe dir die Ehefrauen einiger meiner Kollegen vorgestellt, oder? Es ist an der Zeit, dass du ein paar soziale Kontakte aufbaust. Und du hast auch immer noch deine Freundinnen von gegenüber“, fügte er widerwillig hinzu, da er nicht allzu begeistert von meinen unkonventionellen Nachbarinnen war.

Ich seufzte. „Sie sind zu Gus’ Verwandten in Newport, Rhode Island gefahren, um der Hitze zu entfliehen“, sagte ich. „Du erinnerst dich an die Villa mit den römischen Säulen?“

„Sehr gut.“ Wir hatten unsere Flitterwochen in Newport verbracht, und sie waren nicht annähernd so verlaufen, wie geplant. Daniel holte sich einen Küchenstuhl und setzte sich zu mir. „Warum gehst du dann nicht zu meiner Mutter, wie ich es vorgeschlagen habe? Du weißt, dass sie sich gern um dich kümmert und dich gut versorgt. Da draußen ist es so viel kühler.“

„Daniel, ich bin deine Ehefrau. Mein Platz ist hier, wo ich mich um dich kümmern kann“, entgegnete ich, da ich ihm nicht den tatsächlichen Grund nennen wollte. Ist es nicht beeindruckend, was die Ehe aus einer Frau macht? Ich lernte endlich, diplomatisch zu sein. Ich war nur noch einen Schritt davon entfernt, einfältig zu kichern.

„Ich kann mich ganz gut selbst versorgen. Das habe ich jahrelang getan.“

„Aber du arbeitest lange, Daniel. Es ist nicht richtig, wenn du nach Hause kommst und kein Essen oder saubere Kleidung vorfindest.“

Er wedelte mit einem Finger vor meinem Gesicht. „Was sage ich dir seit Monaten? Das ist der perfekte Zeitpunkt für ein Dienstmädchen.“
Ich seufzte. „Daniel, lass uns das nicht schon wieder durchdiskutieren. Wir brauchen wirklich kein Dienstmädchen. Das hier ist ein kleines Haus. Ich bin harte Arbeit gewohnt. Ich koche und putze gern für dich, und auch für unser Kind. Wenn noch ein paar Kinder dazukommen, brauche ich vielleicht Hilfe, aber im Moment ...“

„Es geht nicht nur um die Menge der Arbeit, Molly. Es geht ums Prinzip. Ein Mann in meiner Stellung sollte ein Dienstmädchen haben. Wenn wir häufiger Besuch empfangen, wäre es nicht richtig, wenn du immer wieder in die Küche verschwinden musst, um nach dem Essen zu sehen. Ich möchte, dass du die anmutige Gastgeberin bist.“

„Oh, ich verstehe“, sagte ich, während mein wachsender Ärger über meine neu entdeckte Sanftmut siegte. „Es ist gar keine Sorge um mich, oder? Du bist nur darum besorgt, wie du in den Augen der Gesellschaft wirkst.“

Er blickte mir ins Gesicht und nahm meine Hand. „Molly, es geht nicht um mich, sondern um uns. Alles, was ich von jetzt an mache, mache ich für meine Familie. Ich möchte das Beste für uns und unsere Kinder. Ich wollte in der Welt aufsteigen, das ist wahr, und man wird mich an meinem Haus messen, und an den Menschen, mit denen ich mich umgebe.“ Er hielt inne. „Und ich möchte der Welt zeigen, dass ich eine wunderschöne Frau geheiratet habe.“

Bei diesen Worten musste ich lächeln. „Du magst in Amerika geboren sein, Daniel Sullivan“, sagte ich, „aber du hast definitiv etwas von der irischen Schmeichelei geerbt!“

Er lächelte ebenfalls. „Ich denke dabei an dich, Molly. Wenn ein schreiendes Kind dich die ganze Nacht wachhält, wirst du es zu schätzen wissen, wenn dir ein Mädchen Arbeit abnimmt, damit du dich ausruhen kannst. Du sagst, du seist gelangweilt und hättest nichts zu tun – nun, welchen besseren Zeitpunkt gäbe es, um ein Dienstmädchen anzulernen, damit sie deine Wünsche kennt und weiß, wie dieser Haushalt funktioniert, bis das Kind kommt?“

Ich zögerte, dann sagte ich: „Nun, ich schätze, ich könnte mich mal umhören.“

Er sprang auf. „Ich weiß was“, sagte er. „Warum schreibe ich nicht meiner Mutter und bitte sie um Hilfe?“

Das brachte mich wirklich auf die Palme. „Warum muss deine Mutter bei jedem Aspekt unseres Lebens eine Rolle spielen?“, wollte ich wissen. „Traust du mir nicht zu, selbst ein Dienstmädchen zu finden?“

„Doch, natürlich. Ich versuche bloß, dir zusätzliche Mühen zu ersparen. Ich möchte nicht, dass du zu dieser Jahreszeit in der Stadt herumlatschen musst. Es heißt, in Brooklyn sei diesen Sommer Typhus ausgebrochen, und wer weiß, wann sich das über den East River ausbreitet. Wir können in deinem aktuellen Zustand nicht vorsichtig genug sein.“

„Nicht alle Arbeitsvermittlungen sind in schlechten Gegenden“, sagte ich „Ich war selbst bei einer recht noblen, als ich neu hier war.“

Er runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Honorare einer noblen Agentur zahlen können. Und ich befürchte, dass günstigere Agenturen ihre Mädchen nicht gründlich genug überprüfen. Mir gefällt die Vorstellung nicht, eine junge Frau anzustellen, die frisch vom Schiff kommt. Woher sollen wir wissen, ob sie vertrauenswürdig ist?“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Meine Mutter kennt die richtigen Leute, Molly. Sie kann herumfragen und Empfehlungen einholen. New York ist eine große Stadt voller Gauner und Schwindler, wie du selbst nur zu gut weißt. Wir müssen besonders gut aufpassen, wen wir in unser Haus lassen. Eine der Gangs würde sicher liebend gern eine Informantin in meinem Haus platzieren, um mein Kommen und Gehen zu überwachen.“

„Aber wenn ich zu einer angesehenen Agentur gehe, könnte ich doch bestimmt ...“, hob ich an, doch er schnitt mir das Wort ab. „Lass es uns zuerst mit meiner Mutter versuchen, und sehen, wen sie auftreiben kann, ja? Dann kannst du zu ihr rausfahren um in Frage kommende Dienstmädchen kennenzulernen und eine auszusuchen, die dir gefällt.“

Ich war ganz und gar nicht zufrieden damit. So gerne die Gangs vielleicht eine Spionin in unserem Haus platzieren würden, um Daniels Bewegungen zu überwachen, hätte Daniels Mutter gewiss ebenso gern eine Spionin für meine. Doch dieses Gefühl konnte ich Daniel gegenüber kaum zum Ausdruck bringen. Männer sind seltsam, wenn es um ihre Mütter geht, und sehen sie als nur einen Schritt von der Heiligsprechung entfernt. Also sagte ich mir im Stillen, dass ich keine junge Frau wählen musste, die ich nicht wollte, und währenddessen selbst herumfragen konnte.

„Ich werde gleich den Brief schreiben“, sagte Daniel. „Wärst du so gut, mir einen schnellen Happen zu machen, bevor ich wieder an die Arbeit muss?“

Damit ging er zu seinem Schreibtisch im vorderen Wohnzimmer, das jetzt sein Arbeitszimmer geworden war, und ich begab mich an meinen angestammten Platz in der Küche, und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass das Los einer Frau im Leben kein gerechtes war. Ich machte ihm ein Sandwich mit kaltem Rindfleisch und Sauerkraut, und goss ihm gerade ein Glas Limonade ein, als er mit dem Brief zurückkehrte.

„Der geht noch mit der Drei-Uhr-Post raus, wenn du ihn für mich wegbringst.“ Er setzte sich und schlang das Sandwich herunter. „Ich komme heute Abend vielleicht erst spät zurück“, sagte er.

Ich setzte mich ihm gegenüber. „Schwieriger Fall?“, fragte ich und versuchte, zwanglos zu klingen.

„Mehrere gleichzeitig, das ist das Problem. Ich widme mich gern mit all meiner Energie einer Sache und mag es nicht, hierhin und dorthin zu hetzen. Doch diejenigen, die die Entscheidungen treffen, haben mich in eine Situation gezwungen, die ich lieber vermieden hätte.“

„Vielleicht kann ich helfen“, schlug ich vor. „Wenn du die Fälle mit mir besprechen möchtest.“

Er schüttelte den Kopf. „Da gibt es nichts zu besprechen. Keine cleveren Mörder, die überlistet werden müssen. Nur verschiedene Missetäter, die der Bevölkerung das Leben schwer machen.“ Er schob seinen Teller von sich. „Sehr lecker. Vielen Dank, Liebste. Und du wirst sicherstellen, dass der Brief zur Post kommt, ja?“ Er küsste mich auf die Stirn und war verschwunden.

Ich räumte die Reste des Essens weg und sah den Brief an, der auf dem Tisch lag. Ich musste ihn nicht aufgeben, oder? Doch dann ging mir auf, dass ich es sehr wohl tun musste. Eheleute müssen sich vertrauen können, egal wie abscheulich ich es auch finden mochte, dass die Suche nach einer Bediensteten seiner Mutter überlassen bliebe. Ich blickte zur Obstschale und sah, dass wir nur noch eine Pflaume hatten. Früchte waren eine der Sachen, auf die ich in jüngster Zeit Heißhunger hatte, also beschloss ich, mir ein paar Pfirsiche zu gönnen, wenn ich schon ausgehen musste. Ich setzte einen Strohhut auf mein schwer zu bändigendes Haar, zog Baumwollhandschuhe an und verließ das Haus.

Die Hitze schlug mir von den Pflastersteinen entgegen, als hätte ich eine Backofentür geöffnet. Ich hielt mich an der Seite der Gasse, sodass ich im Schatten blieb, und lief langsam zur 6th Avenue. Ich ging zum Postamt und warf den Brief in den Schlitz für abgehende Post. Ich wollte gerade gehen, als sich ein dicker, rotgesichtiger Mann über den Schalter zu mir lehnte.

„Entschuldigung, Ma’am“, sagte er, „aber waren Sie nicht die junge Dame, die immer die Post für P. Riley Associates abgeholt hat?“

„Ganz recht“, sagte ich. P. Riley Associates war der Name meiner kleinen Detektei gewesen, die ich nach dem Mord an Paddy Riley übernommen hatte. „Aber die Detektei gibt es nicht mehr und das Postfach wurde geschlossen.“

„Das weiß ich“, sagte er. „Doch vor etwa einer Woche kam ein Brief an das Unternehmen und ich wusste nicht, was ich damit machen sollte, da uns keine Nachsendeanschrift hinterlassen wurde. Daher liegt er noch immer hier und ich dachte, Sie wüssten vielleicht, wo Sie ihn hinbringen können. Einen Moment, ich werde ihn holen.“

Er verschwand in einem Hinterzimmer und kehrte keuchend und mit rotem Gesicht zurück, wedelte aber triumphierend mit dem Umschlag. „Bitte schön. Vielleicht können Sie dafür sorgen, dass dieser Brief in die richtigen Hände findet.“

„Das werde ich“, sagte ich. „Vielen Dank.“

Mit dem Brief in der behandschuhten Hand trat ich wieder in die Hitze der 6th Avenue hinaus. Ich lief los, erreichte den Schatten eines Ahornbaums und blieb stehen, um den Brief zu untersuchen. Natürlich wusste ich, dass P. Riley Associates nicht mehr existierte, und dass ich Daniel versprochen hatte, ich würde all den Unsinn aufgeben, wenn ich ihn heirate. Das bedeutete, dass ich den Brief sofort in den nächstbesten Mülleimer werfen sollte. Doch dann sagte ich mir, dass es eine verspätete Bezahlung für einen längst vergangenen Auftrag sein könnte und ich es nicht riskieren dürfte, gutes Geld wergzuwerfen. Ich betrachtete den Umschlag und sah die Briefmarke mit König Edwards Konterfei darauf. Aus England also. Ich öffnete den Umschlag und fand kein Geld, sondern ein einzelnes, billiges, liniertes Blatt, wie man es in einem Schulheft finden würde. Anhand des Absenders erkannte ich zudem, dass der Brief nicht aus England kam, sondern aus Irland, aus der Grafschaft Cork.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir sind nur einfache Leute und können Ihnen nicht viel Geld zahlen; wenn Sie also einer dieser großen, protzigen Privatdetektive sind, wollen Sie sich wahrscheinlich nicht mit unsereins abgeben. Doch wir machen uns große Sorgen um unsere Nichte, Maureen O’Byrne. Sie fuhr vor einem knappen Jahr von Queenstown aus auf der Majestic nach New York, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, als sie es in unserem Land erwartet hätte. Sie schien es auch augenblicklich gut getroffen zu haben. Sie war nicht länger als eine oder zwei Wochen dort, als sie uns schrieb, dass sie eine gute Anstellung als zweites Zimmermädchen bei einer Mrs. Mainwaring gefunden habe und hoffe, uns bald Geld nach Hause schicken zu können, nachdem sie ihre Überfahrt abbezahlt hätte.

Sie hatte uns keine Adresse gegeben, an die wir schreiben konnten, also mussten wir auf weitere Neuigkeiten warten. Doch wir warteten und warteten und hörten nichts mehr von ihr. Jetzt ist das bald ein Jahr her und wir machen uns große Sorgen um ihr Wohlergehen. Sie war immer ein gutes Mädchen und ihrem Onkel und mir sehr zugetan. Wir waren die engsten Verwandten, die sie seit dem Tod ihrer armen Eltern hatte. Ihr muss irgendetwas zugestoßen sein, sonst hätte sie geschrieben, da bin ich mir absolut sicher. Selbst wenn sie doch kein Geld hätte schicken können, hätte sie zur Weihnachtszeit wenigstens eine Nachricht geschrieben.

Wie ich schon erwähnt habe, sind wir keine reichen Leute, und wissen nicht, was Ihr übliches Honorar ist, aber wir haben ein wenig für unsere Beerdigungen beiseitegelegt und sind bereit, alles Nötige zu tun, um etwas von unserer Maureen zu hören. Was immer Sie tun können, um uns zu helfen, wüssten wir sehr zu schätzen. Bitte antworten Sie an die obengenannte Adresse und Gottes Segen für Ihre Mühen.

Mit freundlichen Grüßen,

E. M. O’Byrne (Mrs.)

P.S. Ich habe ein Bild von Maureen beigelegt, um Ihnen bei der Suche zu helfen. Wie Sie sehen können, ist sie ein hübsches Mädchen; anmutig, beinahe feenhaft. Wir haben sie immer damit aufgezogen, dass sie ein Wechselbalg sei, da in der Familie alle außer ihr stämmig und dunkelhaarig sind.

Zwei

Ich stand da und starrte auf das Bild von Maureen hinab. Es war offensichtlich aus einem Familienfoto ausgeschnitten worden und zeigte sie in steifer, unbehaglicher Pose ohne Lächeln; die Hände hatte sie in unnatürlicher Haltung gefaltet. Ihr Haar war hell, aber es war unmöglich, die echte Farbe zu bestimmen. Ich ließ das Bild wieder in den Umschlag gleiten und las den Brief erneut. Als ich damit fertig war, schwirrte mein Kopf vor Ideen. Die vermisste junge Frau hatte etwas getan, wofür sie sich schämte, und wollte nicht, dass die Familie davon erfuhr. Sie war mit einem unangemessenen Mann durchgebrannt oder war aus ihrer Anstellung in Mrs. Mainwarings Haushalt entlassen worden und wollte erst wieder schreiben, wenn sie eine neue Stelle gefunden hatte. Wenn ich Mrs. Mainwaring ausfindig machen könnte, hätte ich den Fall zweifellos rasch aufgeklärt. Das sollte nicht allzu schwer sein – Mrs. Mainwaring musste eine rechte bedeutende Dame sein, wenn sie einen Haushalt führte, der groß genug für mehrere Zimmermädchen war. Und ich kannte Menschen, die in diesen Kreisen verkehrten. Zuerst sollte ich es wohl bei meiner alten Freundin Miss van Woekem probieren – sie kannte die Vierhundert persönlich. Oder vielleicht bei ein paar der Vassar-Kommilitoninnen meiner Freundin Emily, und natürlich stammte Gus aus einer der nobelsten Familien Bostons, die auch Verbindungen nach New York hatte. Es stand nicht fest, dass diese Dame in New York lebte, aber da die junge Frau hier angelandet war und augenblicklich eine Anstellung gefunden hatte, konnte man wohl annehmen ...

Ein Fuhrwerk rumpelte vorüber. Das arme Pferd reckte den Kopf nach vorn und atmete schwer, während es versuchte, eine hoch beladene Bierkutsche zu ziehen. Das Klappern der Hufe und das Rumpeln und Rattern des Karrens unterbrachen meine Gedanken und ließen mich hastig vom Bordstein zurücktreten. Dann ging mir auf, dass es keinen Zweck hatte, Mutmaßungen anzustellen. Ich würde den Fall nicht übernehmen. Ich hatte meine Detektei aufgegeben und Daniel versprochen, dass ich mich nie wieder in unnötig gefährliche Situationen begeben würde. So schwer es mir auch fiel, ich konnte seinen Gesichtspunkt verstehen: Ich war mehrfach knapp dem Tod entronnen. Ich hatte sogar eine Fehlgeburt erlitten und nie den Mut gefunden, ihm davon zu erzählen. Er hatte damals zu Unrecht im Gefängnis gesessen und wäre nicht in der Lage gewesen, mich zu heiraten. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, musste ich einräumen, dass ich einige dunkle Momente durchlebt hatte. Ich war törichte Risiken eingegangen. Ich hatte großes Glück, noch am Leben zu sein, den Mann geheiratet zu haben, den ich liebte, und einer strahlenden Zukunft entgegenzublicken.

Ich würde den Brief mit nach Hause nehmen, ihn Daniel zeigen und ihn fragen, ob er einen seriösen Privatdetektiv kannte, der den Fall übernehmen würde. Ich machte bei meinem Lieblingslebensmittelhändler an der Ecke zur 9th Street halt und kaufte ein Pfund Pfirsiche und etwas Salat für Daniels Abendessen, da es zu heiß sein würde, um groß zu kochen. Ich blickte sehnsüchtig auf die Pfirsiche in meinem Korb und war versucht, auf der Stelle einen zu essen. Doch ich rief mir in Erinnerung, dass ich die respektable Ehefrau eines bekannten Police Captains war und mich nicht wie ein Straßenkind verhalten konnte. Stattdessen schloss ich mich dem Gedränge im Schatten unter der Hochbahnstrecke an und versuchte, Stöße und Rempler zu vermeiden, als ich meinen Namen hörte.

Ich trat ins Sonnenlicht, blickte nach oben und entdeckte eine zarte Gestalt in Blasslila, die mir zuwinkte. Sie wirkte beinahe unwirklich; völlig fehl am Platz zwischen den tristen Farben der stämmigen Hausfrauen und Arbeiter, sodass ich zweimal hinsehen musste, bis ich sie erkannte. Es war Sarah Lindley, eine Suffragetten-Freundin von Sid und Gus. Obwohl sie aus einer reichen Oberschichtfamilie stammte, engagierte sie sich nicht nur leidenschaftlich für die Suffragetten-Bewegung, sondern hatte auch noch freiwillig in einem Settlement-Haus in den Armenvierteln der Lower East Side gearbeitet. Sie blickte nach links und rechts und sprang zwischen einem Hansom-Taxi und einer großen, schwarzen Kutsche hindurch, um zu mir zu gelangen.

„Molly, wie schön, Sie zu sehen“, sagte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. „Und wie gut Sie aussehen. Sie strahlen geradezu. Wie viele Monate haben Sie noch vor sich?“

„Zweieinhalb“, sagte ich, „Und sie können nicht schnell genug vorüber sein. Ich finde diese Hitze unerträglich.“

„Ich weiß. Einfach furchtbar.“ Sie schob sich eine imaginäre Haarsträhne unter ihren fliederfarbenen Strohhut.

„Sie könnten der Hitze doch bestimmt entkommen“, sagte ich. „Besitzt Ihre Familie nicht einen Landsitz? Oder wollten Sie nicht eine große Europareise machen?“

„Schon erledigt, meine Liebe“, sagte Sarah, hakte sich bei mir unter und lief mit mir los. „Wir waren im Mai dort. Frankreich, Italien, Deutschland. Suchen Sie sich etwas aus, wir waren dort. In jeder Kunstgalerie und jedem Schloss auf Gottes Erde. Alles sehr hübsch, doch nicht ein einziger Prinz oder Graf hat um meine Hand angehalten, daher ist Mama recht enttäuscht nach Hause zurückgekehrt.“

Ich sah sie an und wir tauschten ein Grinsen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie es, nach allem was Sie im vergangenen Jahr durchmachen mussten, eilig haben zu heiraten, oder?“, fragte ich. Ihr letzter Verlobter hatte sich als Schuft herausgestellt und ein schlimmes Ende gefunden.

„Exakt“, sagte sie. „Und ich möchte es Ihnen gleichtun. Ich möchte aus Liebe heiraten. Mama wünscht sich eine gute Partie, aber ich sehe nicht ein, warum man sein ganzes Leben lang unglücklich sein soll, nur um einen Titel oder ein Schloss oder so etwas zu bekommen.“

„Und was tun Sie in diesem Teil der Stadt?“, fragte ich.

„Ich bin gekommen, um Ihren lieben Nachbarinnen einen Besuch abzustatten“, sagte sie. „Ich habe sie noch nicht gesehen, seit ich aus Europa zurückgekehrt bin, und sehne mich danach, sie mit meinen Erlebnissen zu unterhalten. Ich weiß, dass sie nur zu gern von dem dicken, deutschen Grafen hören wollen, der mich in Berlin in einem Hotelaufzug festgesetzt und versucht hat, mich zu küssen.“

„Wie abscheulich. Was haben Sie getan? Um Hilfe geschrien?“

„Ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich habe im mit der Spitze meines Sonnenschirms in den Fuß gestochen. Mit einiger Kraft. Sie hätten sehen müssen, wie er heulte und herumhüpfte.“

Ich lachte. „Sid und Gus wären sehr stolz auf Sie“, sagte ich, „aber ich fürchte, Sie haben den Weg umsonst angetreten. Sie sind nicht zu Hause. Sie sind bei Gus’ Cousin in Newport untergekommen.“

„Oh, die gefürchtete römische Villa.“ Sie lachte. „Ich frage mich, warum Gus das noch einmal erduldet. Ich dachte, sie könnte diesen Cousin nicht ausstehen.“

„Ich hörte, dass sie für frische Seeluft bereit sind, den Cousin zu ertragen“, sagte ich. „Es ist wirklich teuflisch heiß in der Stadt. Wie gesagt, ich bin überrascht, dass Sie nicht geflohen sind.“

„Pflichteifer“, sagte Sarah. „Eine unserer Freiwilligen im Settlement-Haus heiratet, deshalb habe ich versprochen, ihre Schichten zu übernehmen.“

„Sie arbeiten immer noch in dem Settlement-Haus?“

„Ja. Es ist anstrengende Arbeit, aber es verschafft mir große Befriedigung, etwas im Leben dieser Menschen zu bewirken. Wir erweitern unser Lehrprogramm und klären viele mittellose Mütter über Hygiene und gute Ernährung auf. Das ist sogar zu meinem Lieblingsprojekt geworden. Ich liebe es, in die Wohnungen zu gehen und Menschen zu helfen. Sie wären erstaunt, wie viele Mütter nicht die geringste Ahnung haben, wie sie sich um ihre Neugeborenen kümmern sollten – sie lassen die Kleinen auf absolut verdreckten Böden herumkrabbeln und sich alles in den Mund stecken, was sie finden. Sie geben ihnen sogar in Gin getränkte Lappen, damit sie ruhig bleiben.“

„Sie machen wundervolle Arbeit“, sagte ich.

Sie rümpfte ihre kleine Stupsnase. „Mama sieht das anders. Ich muss einen andauernden Strom von Bemerkungen über mich ergehen lassen: Meine Heiratschancen würden schwinden, die Blüte der Rose verwelken und Ehelosigkeit drohen. Aber ganz ehrlich, Molly, ich wäre recht zufrieden damit, nicht zu heiraten und mein ganzes Leben lang solche Arbeit zu machen. Was ist so falsch daran?“

„Es ist nicht das, was Ihre Mutter für Sie im Sinn hatte, das ist es“, sagte ich. „Jede Mutter wünscht sich, dass ihre Tochter glücklich verheiratet ist und ihr viele Enkelkinder schenkt. Sie müssten erleben, wie sehr sich Daniels Mutter auf das Kind freut.“

„Und Ihre Mutter? Ich nehme an, sie ist immer noch in Irland?“

Ich schüttelte den Kopf. „Meine Mutter starb, als ich vierzehn war. Mein Vater ist ebenfalls tot. Ich habe einen Bruder, der Teil der Irisch-Republikanischen Bruderschaft ist und sich irgendwo in Frankreich versteckt, und einen jüngeren Bruder, der noch in Irland ist, aber das ist alles. Keine echte Familie mehr.“

Sie berührte mich am Arm. „Oh je, Molly. Das ist traurig.“

„Es macht mir nichts aus“, sagte ich. „Ich habe Daniel, und Sid und Gus sind für mich wie eine Familie geworden. Es tut mir so leid, dass sie nicht zu Hause sind. Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen wollen. Möchten Sie vielleicht auf eine Tasse Tee oder einen Schluck Limonade zu mir kommen, da Sie schon in der Gegend sind?“

„Wie freundlich. Sehr gern.“

Wir bogen Arm in Arm von der 6th in die Greenwich Avenue ein und von dort in den Patchin Place, wo wir in unseren eleganten Schuhen über die Pflastersteine stolperten. Im Haus war es mittlerweile unangenehm warm, daher führte ich Sarah in unseren winzigen Garten, wo ich im Schatten eines Fliederbaums einen schmiedeeisernen Tisch und zwei Stühle aufgestellt hatte. Dann holte ich einen Krug Limonade und einen Teller mit Keksen, die ich einige Tage zuvor gebacken hatte. Sarah klatschte in die Hände und lachte begeistert.

„Molly, Sie sind ja richtig häuslich geworden. Schauen Sie sich nur an, eine Dame des Hauses und werdende Mutter. Hätten Sie je geglaubt, dass sich Ihr Leben so drastisch ändern könnte, als wir uns vor einem Jahr kennenlernten?“

„Es hat sich definitiv verändert“, stimmte ich zu, während ich die Limonade ausschenkte.

„Wie erleichtert Sie sein müssen, weil Sie sich nicht mehr in Gefahr begeben und nicht länger unter so unangenehmen Umständen arbeiten müssen“, sagte sie.

Ich zögerte. „Manchmal ist es so, aber ich bin an harte Arbeit gewöhnt und habe die Aufregung meines Berufs durchaus auch genossen. Meinen aktuellen Zustand finde ich recht langweilig. Ich wurde nicht zur Muße erzogen wie Sie, daher habe ich keine Ahnung, wie ich freie Stunden füllen soll.“

Sie trank einen Schluck Limonade. „Ich wurde zur Muße erzogen, wie Sie sagen, habe mich aber immer dagegen aufgelehnt. Häkeltreffen und Vormittage bei Kaffee und Kuchen sind mir schon immer wie Zeitverschwendung vorgekommen. Und all diese Unterhaltungen über neue Hüte oder Schneider. Die konnte ich nie ertragen. Deshalb habe ich mit der Arbeit im Settlement-Haus angefangen und dort Gleichgesinnte getroffen.“ Sie blickte plötzlich von ihrem Glas auf. „Sie könnten jederzeit vorbeikommen und mir helfen, wenn Ihnen langweilig ist“, sagte sie. „Sie wären bestimmt ausgezeichnet darin, den Familien in unseren Wohnungen Hygiene beizubringen, und ich wüsste die Gesellschaft definitiv zu schätzen.“

„Ich würde diese Chance nur zu gern ergreifen, aber ich fürchte, Daniel würde dem nicht zustimmen. Er behandelt mich im Moment wie ein rohes Ei und fürchtet, dass ich mir irgendeine furchtbare Krankheit einfange, wenn ich mich in die Armenviertel hinauswage.“

Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Nun, da hat er durchaus recht. Erinnern Sie sich an diesen schrecklichen Typhus-Ausbruch vor einigen Jahren? Es heißt, dass es diesen Sommer bereits Typhus in Brooklyn gibt und dass er sich leicht über den Fluss hinweg ausbreiten könnte. Und bei dem heißen Wetter gibt es auch immer Cholera. Also wäre es vielleicht doch keine so gute Idee, wenn Sie mir helfen, Molly.“

„Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre eigene Gesundheit?“
Sie lachte. „Ich? Ich sehe vielleicht zierlich aus, aber ich bin stark wie ein Ochse. Meine Brüder haben sich sämtliche Kinderkrankheiten eingefangen, als wir noch klein waren, aber ich nicht.“

„So war es in meiner Kindheit auch, aber ich gebe zu, dass mich in den ersten Monaten der Schwangerschaft eine schreckliche Übelkeit plagte und ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe fühlte, die besondere Aufmerksamkeit braucht. Das ist zum Glück vorüber und ich bin erpicht darauf, wieder etwas zu tun. Daniel hat mich vorhin gescholten, weil ich auf einem Stuhl stand, um die Gardinen zum Waschen abzunehmen.“

„Ich glaube, da hätte ich Sie vielleicht auch getadelt“, sagte sie.

„Ich brauche Beschäftigung, Sarah.“

Sie blickte mich nachdenklich an. „Wenn Sie Zeit haben ... könnten Sie etwas für die Anliegen der Suffragetten tun. Ich weiß, dass Sie auch eine Unterstützerin sind.“
„Das bin ich definitiv, aber ich glaube nicht, dass ich im Augenblick mit Bannern herummarschieren kann.“

„Natürlich nicht. Aber wir brauchen immer Hilfe bei den Flugblättern und Broschüren, die ausgegeben werden sollen. Bei solchen Sachen könnten Sie bestimmt helfen, oder?“

„Ja, durchaus“, sagte ich.

„Wir halten nächste Woche ein Treffen ab, um unsere Strategie zu planen. Wollen Sie sich anschließen?“

Ich wollte erst antworten, dass ich mich erst mit Daniel besprechen müsste, doch dann kam die alte Molly wieder zum Vorschein. „Ja, sehr gern“, sagte ich. „Solange es nicht zu einer Zeit ist, in der ich für Daniel Abendessen kochen sollte.“ Ich sah ihren Gesichtsausdruck und fügte rasch hinzu: „Er arbeitet so lange, dass ich ihm gern ein vernünftiges Essen mache, wenn er nach Hause kommt.“

Sie nickte, schien das zu akzeptieren und stellte ihr Glas ab. „Ich sollte zum Settlement-Haus gehen“, sagte sie. „Wir haben zwei neue Freiwillige und ich fürchte, sie lassen sich beide mit ‚Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach‘ beschreiben. Ihnen gefällt die Vorstellung, den Armen zu helfen, doch sie sind nicht wirklich bereit, Böden zu schrubben oder Betten zu machen.“

Wir lachten beide, während sie sich erhob.

„Ich schätze, es fällt Menschen von Ihrem Stand schwer, wenn sie sich zum ersten Mal in einer solchen Situation wiederfinden“, sagte ich. „Ich nehme an, sie haben noch nie zuvor einen Boden geschrubbt.“

Sie nickte zustimmend. „Es ist ein Schock, wenn man dort anfängt und sich Bettwäsche voller Flöhe und Läuse gegenübersieht. Aber man gewöhnt sich daran. Und es lohnt sich, wenn man die Fortschritte der jungen Frauen sieht, die zu uns kommen.“

„Wohin gehen sie, wenn sie das Settlement-Haus verlassen?“, fragte ich.

„Wir versuchen, für diejenigen eine häusliche Anstellung zu suchen, die dafür angemessen sind. Das trifft natürlich nicht auf alle zu. Diejenigen, die Prostituierte oder Drogensüchtige waren, können unsere Fürsorge nicht besonders gut annehmen.“

„Und was wird aus ihnen?“

„Ich fürchte, sie landen wieder auf der Straße und werden vermutlich eines Tages im East River treiben.“

Ich starrte sie an und fragte mich, wie eine so grazile Gestalt derart entspannt über solche Angelegenheiten sprechen konnte. Die meisten jungen Frauen ihres Standes wären bei dem Wort „Drogensüchtige“ in Ohnmacht gefallen. Doch während ich ihr zusah, wie sie die Hintertür öffnete und ins Haus trat, formte sich eine Idee in meinem Kopf. „Dann gehen manche dieser jungen Frauen in häusliche Anstellung?“, fragte ich und folgte ihr den schmalen Flur entlang. „Vermitteln Sie sie selbst?“

„Wir schicken sie üblicherweise zu einer Agentur“, sagte sie. „Wir haben einfach nicht die Zeit, uns um diese Angelegenheiten zu kümmern.“

Meine Augen leuchteten. „Dann könnten wir vielleicht einander helfen. Daniel besteht hartnäckig darauf, dass wir ein Dienstmädchen anstellen – ich vermute, mehr für seinen Status als für mich.“ Ich lächelte. „Er hat gerade seiner Mutter geschrieben und sie um Empfehlungen gebeten, aber ich würde die junge Frau, die in meinem Haus leben und für mich arbeiten wird, lieber selbst aussuchen. Haben Sie im Augenblick jemanden, der geeignet wäre?“

Sie hielt inne, mit der Hand auf dem Türknauf der Haustür, und dachte nach. „Nicht wirklich“, sagte sie. „Aber die Agentur, mit der wir zusammenarbeiten, kann Ihnen vielleicht eine junge Frau empfehlen. Man arbeitet dort verlässlich und gründlich. Ich könnte Sie vorstellen, wenn Sie möchten.“

„Das wäre wundervoll“, sagte ich. „Wo ist diese Agentur?“

„In der Broome Street, unweit der Bowery. Wenn Sie gerade nichts zu tun haben, könnte ich Sie gleich auf dem Weg zur Arbeit dort vorstellen.“

Sosehr es mir zuwider war, wieder in die Hitze hinauszugehen, diese Chance würde ich mir nicht entgehen lassen. „Wirklich sehr freundlich“, sagte ich. „Ich hole Hut und Handschuhe.“

„Was meinen Sie?“, fragte ich, als wir den Eingang zum Patchin Place erreichten. „Sollen wir unser Glück mit der Hochbahn über der 6th Avenue versuchen und den Rest laufen oder zum Broadway rübergehen und mit der Straßenbahn fahren?“

„Zu dieser Tageszeit ist vermutlich beides überfüllt“, sagte Sarah. „Keine gute Idee in Ihrer empfindlichen Situation. Wir werden eine Droschke brauchen.“

„Eine Droschke? Aber ...“, hob ich an, doch sie trat bereits auf die Straße hinaus und wedelte gebieterisch mit einem behandschuhten Finger.

„Es gibt manche Privilegien der Reichen, die ich immer noch genieße“, sagte sie. „Und eines davon ist es, eine Droschke zu nehmen, wann immer das nötig ist. Papa besteht sogar darauf, dass ich Droschken nehme, wenn ich in einen unschönen Teil der Stadt muss. Er glaubt, dass ich ständig in Gefahr schwebe, entführt und im Mädchenhandel verkauft zu werden.“ Sie lachte fröhlich, während eine Droschke neben uns zum Stehen kam. Ich musste gestehen, dass ich froh war, mich nicht überfüllten Waggons und dem Geruch schwitzender Körper stellen zu müssen, da meine Nase in jüngster Zeit recht empfindlich geworden war.

Der Kutscher wirkte überrascht, als Sarah ihm die Adresse nannte. „Sind Sie sich sicher, dass Sie dort hinwollen, Miss?“ fragte er.

„Durchaus, vielen Dank“, entgegnete Sarah knapp.

Wir fuhren in lebhaftem Tempo los. Ich suchte in meiner Handtasche nach einem Taschentuch und meine Finger schlossen sich um den Brief. Ich zog ihn heraus. „Sagen Sie mal“, sagte ich. „Sie kennen nicht zufällig eine Mrs. Mainwaring, oder?“

„Mainwaring? Ich glaube nicht. Ist das eine New Yorker Familie?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe bloß den hier bekommen“, sagte ich und reichte ihr den Brief. Sie las ihn. „Ich dachte, Sie hätten die Detektivarbeit aufgegeben“, sagte sie.

„Habe ich, aber es kann nicht schaden, neugierig zu sein. Wären die Mainwarings eine bekannte New Yorker Familie gewesen, hätte ich mich bei ihnen erkundigen und dieser irischen Familie vielleicht auf ihre Sorgen antworten können.“

„Die Tatsache, dass ich sie nicht kenne, bedeutet nicht, dass sie keine New Yorker sind“, sagte Sarah. „Wir sind nicht Teil der Vierhundert, müssen Sie wissen. Daddy hat im Handel angefangen, was unseren sozialen Aufstieg beschränkt, sehr zu Mamas Ärger. Und diese Mainwarings könnten ebenfalls Teil der Mittelschicht sein und jetzt genug Geld verdient haben, um sich ein großes Haus und viele Bedienstete leisten zu können. Außerdem“, sie reichte mir den Brief zurück, „wissen Sie nicht, ob diese Mrs. Mainwaring in der Stadt lebt, oder? Sie könnte überall wohnen.“

„Die Tatsache, dass diese Maureen so schnell nach ihrer Ankunft in New York eine Anstellung gefunden hat, heißt für mich, dass die Familie aus der Gegend sein muss. Sie hat entweder eine Anzeige gesehen oder eine hier ansässige Agentur besucht, wie die, zu der Sie mich bringen.“

Sarah nickte. „Natürlich schalten Menschen aus dem ganzen Land ihre Anzeigen in New Yorker Zeitungen. Sie könnte ein Angebot für eine Anstellung in Pennsylvania oder Kalifornien gesehen haben.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine junge Irin, die gerade vom Schiff kommt, bereit wäre, nach Kalifornien aufzubrechen, ohne die Menschen zu kennen, zu denen sie geht.“

„Das ist ein aussichtsloses Unterfangen, Molly.“

„Ich weiß, und ich sollte es nicht angehen. Ich dachte nur, falls die Sache leicht aufzuklären ist, mache ich das, damit die arme Frau beruhigt sein kann.“

„Ihrem Ehemann würde es nicht gefallen, wenn Sie in New York herumschlendern, fürchte ich.“

Ich kicherte. „Gewiss nicht. Aber wenn diese Agentur ein gutes Dienstmädchen für mich findet, habe ich noch mehr Freizeit, oder?“

Sie erwiderte mein Lächeln. „Molly, Sie sind unverbesserlich. Kein Wunder, dass Sid und Gus Sie so sehr mögen.“

Die Droschke kroch nur noch voran, als wir auf die Bowery einbogen und einer langsamen Prozession von Pferdefuhrwerken folgten, die an den Straßenrand ausweichen mussten, um einen stehenden Wagen der elektrischen Straßenbahn zu passieren. Sarah klopfte gebieterisch mit ihrem Sonnenschirm ans Dach der Droschke. „Kutscher, das ist weit genug. Sie können uns hier rauslassen. Es ist schneller, den Rest des Weges zu laufen.“

Der Kutscher sprang herunter, um uns beim Aussteigen zu helfen. „Sind Sie sich sicher, dass Sie zurechtkommen, Miss?“, fragte er erneut. „Achten Sie hier auf Taschendiebe und auf noch weniger angenehmes Volk.“

„Keine Sorge, ich komme jeden Tag in diesen Teil der Stadt“, sagte sie. „Ich arbeite im Settlement-Haus in der Elizabeth Street.“

„Ich werd’ nicht mehr“, sagte er und wischte sich mit einem großen, roten Taschentuch über die Stirn. „Dann viel Glück, Miss.“ Er blickte auf die Münze, die sie ihm gegeben hatte und tippte sich an den Hut. „Und Gottes Segen.“

Sarah hakte sich bei mir unter und lenkte mich durch den Verkehr. Wir mussten kurz lossprinten, als eine Straßenbahn in vollem Tempo und mit wütend läutender Glocke auf uns zu kam. Man vergisst leicht, wie schnell sich mechanische Fahrzeuge bewegen können. Auf dem anderen Bürgersteig waren wir im Schatten der Hochbahn und mussten uns an Hausfrauen, Kindern und Arbeitern vorbeidrängen, die Einkäufe für das heutige Abendessen erledigten, aus der Schule kamen oder gerade die Frühschicht beendet hatten. Als wir in die Broome Street einbogen, bot sich ein noch chaotischeres Bild: Handkarren säumten die Straße zu beiden Seiten und die Luft war erfüllt von einer Kakophonie aus den Geräuschen der Marktschreier, spielender Kinder und des immer präsenten, italienischen Leierkastenmanns an der Ecke, der eine lebhafte Tarantella spielte. Sarah schien immun gegen all das zu sein, da sie zügig weiterlief und dabei zerlumpte Kinder und Einkaufskörbe beiseiteschob. Sie bewegte sich so schnell, dass ich kaum mithalten konnte und beinahe mit einer Nonne zusammengestoßen wäre, die aus der Gegenrichtung kam. Sie trug ein schwarzes Ordenskleid, darüber einen Umhang und einen Korb über dem Arm. Die Tracht wurde von einer spitzen Haube vervollständigt, die hervorragte und ihr Gesicht im Schatten verbarg; abgesehen, von einer langen Nase, die herausragte und ihr Ähnlichkeit mit einer Krähe verlieh.

„Verzeihung, Schwester“, murmelte ich und erinnerte mich an den Ärger, den ich in der Schule bekommen hatte, weil ich bei einem Spiel um eine Ecke gelaufen war und eine der Nonnen umgerannt hatte.

„Nichts passiert. Gottes Segen, meine Liebe“, sagte sie sanft, überquerte dann die Straße und nickte zwei weiteren Nonnen in schwarzer Ordenstracht und weißen Bundhauben zu, die sich mit einem Priester und zwei rundlichen, älteren Frauen unterhielten.

„Ich bin froh, keine Nonne zu sein“, sagte Sarah und sprach damit meine Gedanken aus. „Bei diesem Wetter solche Kleidung zu tragen, muss unerträglich sein.“

„Sie sind vermutlich so heilig, dass sie es gar nicht bemerken“, entgegnete ich mit einem Grinsen.

Etwa einen Block entfernt läutete eine Glocke. Die kleine Gruppe löste sich auf und alle blickten nach oben. Die beiden Frauen bekreuzigten sich. Der Priester nickte ihnen zu und lief dann zügig auf das Glockenläuten zu. Die Menge auf dem Bürgersteig teilte sich wie von magischer Hand, um ihn durchzulassen. Es war eindeutig, dass in diesem Teil der Stadt die Katholiken herrschten.

Sarah zog mich aus dem Strom der Menge. „Wir sind da“, sagte sie und hielt an einem dunklen Hauseingang. „Es ist im zweiten Stock. Schaffen Sie die Treppen, Molly?“

„Ja, natürlich.“ Ich blickte die lange, schmale Treppenflucht hinauf und fügte dann hinzu: „Ich bin ja keine Invalidin.“

Wir gingen nach oben. Es war anstrengender, als ich erwartet hatte, und die lange, dunkle Treppe schien kein Ende zu nehmen, doch ich versuchte, Sarah nicht merken zu lassen, dass ich außer Atem war und schwitzte, als sie oben an eine dunkle Holztür klopfte und mich dann hineinführte.

Ich war selbst schon in solchen Agenturen gewesen, als ich bei meiner Ankunft in der Stadt nach Arbeit gesucht hatte. Sie schienen alle von arroganten Drachen geleitet zu werden, doch die Dame mit dem weißen Haar und dem sanften Gesichtsausdruck hinter dem Schreibtisch hätte freundlicher nicht sein können. Sie hörte sich meine Anfrage an und nickte. „Dann brauchen Sie jemanden mit Erfahrung mit Kleinkindern. Die meisten der Mädchen, die wir zu sehen bekommen, haben nicht viel Ahnung. Oh, sie haben gewiss auf ihre Geschwister aufgepasst, aber ihre Vorstellungen von Sicherheit und Sauberkeit lassen zu wünschen übrig. Also lassen Sie mich ein wenig darüber nachdenken. Wie bald brauchen Sie das Mädchen?“

„Es eilt nicht“, sagte ich. „Ich möchte eine junge Frau, die zu uns passt. Da warte ich lieber.“

„Natürlich.“

„Haben Sie Hettie Black schon vermittelt, Mrs. Hartmann?“, fragte Sarah.

„Oh, ja. Sie wurde uns augenblicklich weggeschnappt. Sie hätte gut gepasst“, sagte Mrs. Hartmann. Sie ließ mich meinen Namen und meine Adresse aufschreiben. „Ich werde Ihnen eine Nachricht schicken, sobald ich ein passendes Mädchen finde“, sagte sie.

Wir wollten gerade gehen, als mir aufging, dass Mrs. Hartmann die perfekte Ansprechpartnerin war, um Fragen über Maureen O’Byrne zu stellen.

„Ich nehme an, sie haben eine Liste ihrer ehemaligen Klientinnen, oder?“, setzte ich gerade zu diesem Thema an, als auf der Straße unter uns ein Schrei zu hören war.

„Mein Kind! Jemand hat mein Kind entführt!“