Leseprobe Eiskalt das Schweigen

Selbstsucht – Tag 1: Montag, 18. Januar

Meldung MDR AKTUELL
08:00 Uhr

Bis zum gestrigen Abend gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig konnte kein Kontakt zu einer Gruppe von sieben Personen aus dem Gymnasium Kloster Eichenburg hergestellt werden, die sich nach Angaben der Schulleitung für eine Silentiumfahrt im Oberharz aufgehalten hatte. Die sechs Schülerinnen und deren Tutor waren bereits gestern Mittag zurückerwartet worden. Innerhalb der letzten sechsunddreißig Stunden fielen in der Region bei Temperaturen unter minus zehn Grad etwa sechzig Zentimeter Neuschnee. Erwartungsgemäß werden Bergungsmannschaften die Hütte im Laufe des Vormittags erreichen.

 

Bei Erzhütte

09:14 Uhr

»Einen solchen Temperatursturz hatten wir seit über zwanzig Jahren nicht«, sagte Markus Grünwald zu seinem Fahrer. »Minus fünfzehn Grad, und das Thermometer fällt weiter. Ich habe Besseres zu tun, als nach ein paar verwöhnten Gören zu suchen.«

Sein Fahrer konnte da nur zustimmen. »Die sitzen gemütlich in der Hütte und führen sich ihre neueste Kaschmirkollektion vor. Wieso betreiben wir so einen Aufwand?«

»Weil ein Anruf von der Schule Gesetzescharakter hat. Wehe, Sie widersprechen, dann werden höhere Stellen bemüht. Sitzen Sie mal auf meinem Stuhl, Henneberg … Wie weit ist es eigentlich noch?« In diesem Augenblick kam das vorausfahrende Räumfahrzeug zum Stillstand. »Aufs Stichwort.«

»Also, Chef, ich befürchte, mit warmer Hütte ist da nicht viel.«

Die Hütte lag völlig eingeschneit und wie ausgestorben da. Aus dem Schornstein drang kein Rauch.

»Dann haben sie sich wohl den Arsch abgefroren. Schauen wir mal nach.«

Sie stiegen aus dem Streifenwagen. Nachdem sich Grünwald beim Winterdienst bedankt hatte, setzte dieser zurück und fuhr davon.

»Den Spuren im Schnee nach zu urteilen, waren sie wenigstens so vernünftig, im Haus zu bleiben. Es gibt nämlich keine«, stellte Henneberg fest.

»Na, nun haben wir’s gleich.« Grünwald klopfte an die Tür. »Hier ist die Polizei, Ihr Freund und Helfer!«

Nichts passierte.

»Vielleicht müssen Sie Ihre Visitenkarte unter der Tür durchschieben, auf dem Gymnasium Eichenburg redet man nicht mit jedem.«

»Sehr komisch!« Er klopfte erneut. »Polizeirat Grünwald, Revierkommissariatsleiter von Altenrode. Bitte öffnen Sie die Tür!« Wieder passierte nichts. »Also, ich habe es auch nach so vielen Jahren immer noch nicht gern, wenn man mich verarscht … Hier ist die Polizei, öffnen Sie jetzt die Tür!«

Es blieb still.

»Vielleicht sind sie ja doch längst abgereist«, sagte Henneberg.

Grünwald schaute auf sein Handy, ob ihm in der Zwischenzeit irgendein Anruf entgangen war – Fehlanzeige. Etwas machte ihn stutzig. »Henneberg, haben die nicht gesagt, sie hätten ihre Leute nicht erreichen können? Ich habe hier Empfang. Wie ist es bei Ihnen?«

»Ebenso.«

»Fragen Sie mal bei der Taxizentrale nach, ob die in letzter Zeit eine Schülergruppe gefahren haben. Ich rufe in der Schule an. Wenn die uns zum Narren halten wollen, wird es diesmal richtig teuer.« Er wählte die Nummer. »Grünwald, Revierkommissariat Altenrode. Sind Ihre Leute denn mittlerweile wohlbehalten angekommen? Uns frieren hier die Zehen ab wegen eines Fehlalarms! – Wie? Immer noch nichts? – Auch nicht telefonisch? – Bei den Eltern und Freunden auch niemand? – Hm, danke. Ja, ich melde mich.«

»Chef? Die Taxizentrale hat niemanden von hier abgeholt, verständlich.«

Grünwald legte die Stirn in Falten, schaute sich ungläubig auf der abschüssigen Lichtung um. »Hier stimmt doch was nicht. Gehen wir mal eine Runde um die Hütte.«

Nachdem sie die Rückseite mit dem aufgeschichteten Kaminholz erreicht hatten, mussten sie feststellen, dass dieses schon länger nicht mehr angerührt worden war, so eingeschneit, wie es war. Vor einem Fenster blieben sie stehen.

»Geben Sie mir mal Räuberleiter, ich werfe einen Blick durch.« Was Grünwald dort sah, schockierte ihn nicht, denn dafür hatte er zu viel erlebt, überrascht war er trotzdem. »Da ist ja noch alles da. Die Hütte ist nicht verlassen.«

Nachdem Grünwald abgestiegen war, fragte Henneberg: »Verschaffen wir uns Zugang?«

»Das lassen wir schön bleiben. Ich habe ein ganz mieses Gefühl. Warum konnten die trotz vorhandenen Funknetzes nicht erreicht werden? Die Hütte ist belegt, und doch sieht es so aus, als wäre seit Tagen keiner mehr hier gewesen. Henneberg, fordern Sie per Funk Verstärkung an und geben Sie an die Kollegen der Kripo die Vermisstenmeldung weiter. Wir haben eine Situation!«

 

Landtag von Sachsen-Anhalt

Domplatz 6-9
Magdeburg
10:46 Uhr

Anninka Kresch war ihrer Ansicht nach kein »politisches Tier«. Eine solche Bewertung ihrer Person lehnte sie entschieden ab, ganz besonders in Anbetracht des Jahrmarkts der Eitelkeiten, mit dem sie sich gerade konfrontiert sah.

Abgeordnete! Diese jämmerlichen Gestalten, die in der Regel drei Probleme hatten: Drogen, Alkohol, unangemessene Liebschaften. Ihr direkter Vorgesetzter zum Beispiel, Landesinnenminister Frank Schulze, hatte ein äußerst spezifisches Problem. Er vögelte die Frau des Ministerpräsidenten. Es schien lediglich eine Frage der Zeit, bis der betrogene Ehemann seinen Kronprinzen vor die Tür setzen würde. Überhaupt, die Ministerriege: ein heruntergekommener Altherrenklub.

Als Direktorin des Landeskriminalamts wusste sie nur zu gut, welche »Vorkommnisse« bei gewissen »politischen Tieren« vertuscht werden mussten. Und was war der Dank dafür? Sie wurde hier gegrillt!

Nein, Politik war nicht ihr Ding. Es hatte ihr jedoch nicht geschadet, Mitglied der Regierungspartei zu sein. Ideen oder gar politische Visionen waren ihrer Meinung nach völlig überbewertet. Auf das Netzwerk aus Beziehungen und Gefälligkeiten kam es an!

Ihr Juraprofessor und Doktorvater Björn Jochimsen hatte ihr Talent erkannt und sie mit sich nach Magdeburg genommen, als er zum Justizminister ernannt worden war. Dort machte sie sich schnell einen Namen. Vergessen die Zeiten, in denen sie sich während des Studiums als »Fleißmeise« hatte demütigen lassen müssen. Als dann ihr Vorgänger über eine unschöne Geschichte mit Statistikfälschungen stolperte, fiel die Wahl sofort auf sie. Fünfunddreißig Jahre alt und Herrin über die Kriminalpolizei! Ihren ehemaligen Studienkollegen dürfte das Lachen inzwischen vergangen sein.

Doch ihre Karriere trat etwas auf der Stelle, seit sich Jochimsen aus der Politik zurückgezogen hatte. Aber es gab ja noch den Ministerpräsidenten, dem sie nun ihre Zuneigung zuteilwerden ließ. Eigentlich war der Mann ein ekliger Spießer, der sich nicht wundern musste, wenn ihm seine Gattin von der Stange ging. Anninka Kresch ahnte, dass er ihr noch nützlich sein würde. Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.

»Frau Doktor Kresch, Sie haben meine Frage nicht beantwortet!« Der Abgeordnete Meyer. Drei Probleme: Drogen, Alkohol, unangemessene Liebschaften – nicht mit Frauen.

»Verzeihung, Herr Abgeordneter? Ihre Fragestellung erschien mir unklar.«

Dem Mann riss langsam, aber sicher der Geduldsfaden. »Das neue Gesetz erlaubt Ihrer Behörde, Wohnungen zu belauschen, Telefone abzuhören und den Mobilfunkbetrieb zu stören. Weiterhin gestattet es die Internetüberwachung mit Staatstrojanern und eine Sicherheitsüberprüfung aller im Land tätigen Richter! Diese Eingriffe sollen bereits im Gefahrenvorfeld stattfinden. Es ist möglich, dass mir da etwas entgangen ist, aber seit wann betrachtet die Landesregierung ihre Bürgerinnen und Bürger als Sicherheitsrisiko?«

»Herr Abgeordneter Meyer, Ihre Frage richtet sich an die falsche Adresse. Ich bin nicht die Regierung! Aus Sicht meiner Behörde habe ich den ganzen Vormittag über dargelegt, warum eine Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung sinnvoll erscheint.«

»Sie als Juristin sollten doch die Tücken in diesem Gesetz erkennen. Es ist schwammig formuliert. Sie haben sich Freiräume gelassen, um im Notfall hart durchgreifen zu können. Wo kein Kläger, da kein Richter. Letztere möchten Sie im Land anscheinend an die Kette legen.«

In diesem Moment erschien eine Nachricht auf ihrem Handy.

Unklare Situation im Polizeirevier Harz. Stehe vor dem Saal B.
10:51, 18. Jan.

»Halten wir Sie von irgendetwas ab?«, ätzte Meyer.

»In der Frage der Sicherheitsüberprüfung von Richtern müssen Sie sich an den Verfassungsschutz wenden«, antwortete sie süffisant und wandte sich an den Ausschussvorsitzenden. »Wenn das alles wäre, Herr Vorsitzender, würden Sie mich entschuldigen?«

Der quittierte es mit einem kurzen Nicken, und sie verließ rasch den Saal.

***

»Dich schickt der Himmel!«

Ihr Stellvertreter Lorenz Behrendt sah betreten aus. »Na, mal sehen, ob du das gleich immer noch sagst.«

»Was ist los?«

»Das Revierkommissariat Altenrode hat um exakt neun Uhr dreißig Vermisstenmeldung gemacht. Eine Gruppe von Schülerinnen samt Tutor aus Eichenburg ist gestern Abend nicht wie vereinbart dorthin zurückgekehrt. In Anbetracht der momentanen Witterungsbedingungen hat sich der Revierkommissariatsleiter persönlich auf den Weg gemacht, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Eichenburg! Was haben diese Biester jetzt wieder ausgefressen? Sind es Abiturientinnen?«

»Sieht wohl so aus. Spurlos vom Erdboden verschluckt. Die Hütte war allerdings noch von ihnen belegt. Das Polizeirevier Harz ist mit dem Winterchaos beschäftigt, und deren Revierkriminaldienst verfügt derzeit nicht über die nötigen Kapazitäten. Also haben sie es direkt an uns weitergeleitet.«

»Revierkommissariatsleiter ist doch dieser Grünwald, nicht? Ein erfahrener Mann. Der würde nicht mir nichts, dir nichts die Leute verrückt machen. Wen hast du mit dem Fall betraut?«

»Den Neuen. Kriminalrat Tinus Geving.«

»Den von Europol? Geving war für Terrorismusbekämpfung zuständig. Findest du deine Wahl nicht ein wenig ungewöhnlich?«

»Das vielleicht schon. Aber auch uns fehlen die Leute.«

»Na gut. Er kommt von außen. Vielleicht ist er der Richtige für diese delikate Situation. Ich wage gar nicht, daran zu denken. Etliche Minister schicken ihre Töchter nach Eichenburg.«

»Wie sollen wir weiter vorgehen?«

»Informiere alle relevanten Abteilungen, die sollen sich bereithalten. Sicher ist sicher. Ich gehe davon aus, dass Kriminalrat Geving schon auf dem Weg ist.«

»Er müsste innerhalb der nächsten Minuten dort eintreffen. Auf unser Ersuchen hat die Bereitschaftspolizei die Zweite Einsatzhundertschaft in den Harz geschickt. Wir sollten bald mehr wissen.«

»Sehr unschön das Ganze. Wenn die Presse davon Wind bekommt, sind wir erledigt. Die Koalition steht seit Monaten vor dem Zusammenbruch. Geht etwas schief, heißt es, wir könnten nicht mal die Sicherheit von Ministertöchtern gewährleisten. Dann fliegt uns der ganze Laden um die Ohren. Der Tag wird heiß …«

 

Bei Erzhütte

11:35 Uhr

Tinus Geving war gebürtiger Westfale. Wortkarg, eisiger Blick, nahezu zwei Meter groß. Seine persönliche Erscheinung passte zu seiner Arbeit. Denn das, was Menschen in der Vernehmung zur Verzweiflung – und letztendlich zum Reden – brachte, war ein Bulle, der eisern schwieg und dessen Blicke Stahl durchbohren konnten. Damit kam er auf eine beachtliche Erfolgsquote.

Ganz so furchtlos, wie er erscheinen mochte, war er nicht. Auf der Fahrt ins Gebirge starb Geving innerlich tausend Tode. Enge Straßen, die sich in Haarnadelkurven an steilen Felsabgründen entlangschlängelten, dazu Glätte und immer noch starker Schneefall. Obwohl sich Geving berufsbedingt für einen guten Fahrer hielt, war er sich bis eben nicht im Klaren, wer hier wen im Griff hatte: er die Straße oder die Straße ihn.

Und natürlich war da jener Vorfall, der ihn bis heute nicht loslassen wollte, sondern tagtäglich mit seinen inneren Ängsten konfrontierte. Durchwachte, durchschwitzte Nächte. Ständig diese Träume, die ihn in Geiselhaft zu umklammern, ja, manchmal zu erdrücken schienen. Er hatte Angst vor dem Einschlafen. Er hatte Angst vor großen Menschenansammlungen. Psychologen halfen da nicht. Posttraumatische Belastungsstörung. Er solle es ruhig angehen lassen, sich auf sich konzentrieren, hatte man ihm geraten. Er konnte es nicht. Geving brauchte seine Arbeit, um irgendwie über den Tag zu kommen.

Europol hatte er verlassen, nachdem er die ständigen Erinnerungen an sein Versagen nicht mehr hatte ertragen können. Doch wohin? Zurück in die kleine, beengte Welt seiner Heimat? Ständig wäre er dort mit einem Leben konfrontiert worden, das er zugunsten seiner Karriere zurückgelassen hatte. Dazu die besorgten, gramvollen Blicke seiner Eltern. Nach einer gewissen »Abkühlphase« fiel Gevings Wahl auf den aus seiner Sicht unspektakulärsten Posten.

So war er – im Prinzip völlig überqualifiziert – im »Land der Frühaufsteher« gelandet, wie sich Sachsen-Anhalt um Werbung bemüht nennen ließ. In der kurzen Zeit, die er hier war, hatte er eher den Eindruck eines Landes der Zu-spät-Gekommenen gewonnen. Egal, er brauchte Abstand. Hier hatte er größtmöglichen Abstand. Tinus Geving war dankbar für die Ablenkung. Trotzdem fragte er sich ernsthaft, ob er als potenzieller Babysitter für eine Mädchenclique nicht doch ein wenig zu überqualifiziert war.

In diese Gedankengänge versunken, erreichte er die Hütte im Wald.

Er stieg aus dem Wagen und ging auf die kleine Menschenansammlung zu. Sie bestand aus fünf Uniformierten, offenkundig von der nächstgelegenen Revierstation, die ungebetene Zaungäste vertreiben sollten. Ein sinnloses Unterfangen. Erstens, bei dieser Eiseskälte begab sich niemand freiwillig vor die Tür, geschweige denn in einen Wald. Und zweitens, zu sichern gab es hier nicht allzu viel. Also standen sich die Beamten die Beine in den Bauch. Dann waren da zwei weitere, ein etwas untersetzter stämmiger Mann, wacher Blick in Uniform, und ein hagerer, blässlich wirkender Mann in Zivil. Beide sahen interessiert in seine Richtung. Geving erkannte, wen er ansprechen musste.

»Kriminalrat Geving, LKA«, stellte er sich vor.

»Polizeirat Grünwald, Revierkommissariatsleiter«, begrüßte ihn der Untersetzte mit einem flüchtigen Gruß an seine Mütze.

»Werner Vogel, Staatsanwaltschaft«, sekundierte der Blässliche etwas devot.

»Wie war die Fahrt?«, erkundigte sich Grünwald.

»Gab schon bessere«, antwortete Geving knapp.

»Flachlandtiroler, wie?« Grünwald zeigte ein verschmitztes Lächeln. Unsympathisch war er jedenfalls nicht.

»Westfalen. Aus Gütersloh.«

»Na ja, nobody’s perfect.«

Geving konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Sie wurden informiert?«

»Eher kurz und knapp. Gibt’s schon was Neues?«

Der Staatsanwalt mischte sich ein. »Meine Herren, ich weiß nicht, was ich hier soll. Die Ermittlungen sind Ihre Sache.«

Grünwald reagierte genervt. »Herr Vogel, ich hab’s Ihnen doch erklärt. Sieben Personen können sich nicht einfach in Luft auflösen. Seit über vierundzwanzig Stunden hat man nichts von ihnen gehört oder gesehen. Das ist in unserer Zeit selbst bei diesem Wetter doch zumindest ungewöhnlich.«

Geving deutete auf die Hütte. »Müssen wir da rein?«

»Jop«, sagte Grünwald.

»Herr Polizeirat, Sie wissen ganz genau, dass dafür ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss nötig ist«, bemerkte Vogel. »Wie soll ich den, bitte schön, begründen?«

»Ich muss dem Kollegen Grünwald zustimmen«, erwiderte Geving. »Wenn ich mich hier so umschaue, erscheint auch mir die Sache merkwürdig.«

Der Staatsanwalt zog ein schmerzerfülltes Gesicht. »Ihr Bauchgefühl genügt mir nicht.«

»Mein Bauchgefühl – genauso wie das des Revierkommissariatsleiters – sagt mir: Gefahr im Verzug«, konterte er. »So lange können Menschen hier nicht von der Bildfläche verschwinden. Wenn sie sich in dieser Gegend in einer unkontrollierten Lage befinden, stehen Leben auf dem Spiel. Wir müssen da rein!« Geving zeigte erneut auf die Hütte. »Sie sind formell die höchste Ermittlungsperson. Ihre Entscheidung.«

Vogel überlegte einen Moment und gab schließlich nach. »Also gut, Gefahr im Verzug. Ich werde das regeln. Was gedenken Sie, dort drin vorzufinden?«

»Alles, was uns Hinweise auf einen eventuellen momentanen Aufenthaltsort gibt. Vorzugsweise Handys, Computer, Wanderkarten.«

Der Staatsanwalt hob ablehnend die Hand. »Von elektronischen Geräten lassen Sie bei der momentan nicht abzuschätzenden Sachlage vorerst die Finger. Anderenfalls verbrenne ich mir dieselben, so ohne richterliche Genehmigung. Wir gehen rein, aber ich schaue Ihnen über die Schulter!«

Grünwald winkte einen jüngeren Beamten, dem Dienstgrad nach zu urteilen, sein Stellvertreter, heran. »Henneberg, lassen Sie die Tür öffnen.«

 

11:41 Uhr

Das Gesetz?
11:41, 18. Jan

Alles läuft wie geplant. Das Übliche von der Opposition.
11:42, 18. Jan.

Und Schulze?
11:42, 18. Jan.

Stellt sich quer.
11:42, 18. Jan.

Muss er motiviert werden?
11:43, 18. Jan.

Nichts zu machen.
11:43, 18. Jan.

Dann muss er weg.
11:44, 18. Jan.

Keine Sorge. Ist in Arbeit ;-) Wir sprechen uns bald.
11:45, 18. Jan.

 

Bei Erzhütte

11:57 Uhr

»Chef, die Hütte ist offen«, meldete Henneberg.

Mit einladender Geste wies Grünwald ins Innere. »Nur herein.«

Geving, Grünwald und Vogel betraten die Hütte.

»Ich behalte Sie im Auge«, ermahnte der Staatsanwalt wiederholt, »wir bewegen uns auf dünnem Eis. Also bauen Sie bitte keinen Mist.«

Die Hütte selbst besaß zwei Etagen und wirkte entgegen ihrem äußeren Erscheinungsbild im Inneren recht geräumig. Sie standen sofort nach Betreten im Wohn- und Essbereich, in dessen Mitte eine Treppe in die Gästezimmer der zweiten Etage führte. Rechts die Küche, auf der linken Seite die Essecke. Im vorderen Bereich waren um den Kaminofen, der sich von der Eingangstür aus in der linken Ecke befand, gemütliche Polstermöbel angeordnet.

»Ganz schön kalt«, stellte Polizeirat Grünwald fest. »Sonst fällt mir nichts auf. Ihnen, Geving?«

»Bis jetzt nicht. Ordentlich scheinen sie ja zu sein. Der Abwasch steht gespült im Becken.«

Staatsanwalt Vogel stand unschlüssig in der Mitte des Raums, sah sich nach allen Ecken um, fragte schließlich: »Wie kalt mag es hier drin sein?«

Geving kam eine Idee. »Eine Frage, die wir rasch klären können. Das sollte uns auch einen Anhaltspunkt geben, seit wann die Hütte verlassen ist.« Er bog in die Küche ab, Grünwald und Vogel folgten ihm.

»Moment, was machen Sie da?«, rief Vogel panisch.

»Keine Angst«, sagte Geving. »Eine volle und ungeöffnete Flasche Mineralwasser.« Er öffnete die Flasche. Zum Erstaunen von Grünwald und Vogel gefror das Wasser in Sekundenschnelle zu Eis.

Grünwald ließ ein leises Pfeifen der Anerkennung vernehmen. »Na, das nenne ich mal ’nen Zaubertrick!«

»Physik, meine Herren, Physik«, entgegnete Geving. Er erklärte, dass das Wasser in der Flasche bereits eine Temperatur von unter null Grad gehabt habe. Als er die Flasche geöffnet habe, habe die Kohlensäure Gasbläschen freigesetzt, wodurch es zum Druckabfall gekommen sei. Dadurch sei dem Wasser erneut Wärme entzogen worden. Zusammengenommen habe das die schlagartige Kristallisation ausgelöst. Er führte seine Überlegungen weiter aus. »Wir verzeichnen seit Tagen Außentemperaturen von unter minus zehn Grad. Wenn wir davon ausgehen, dass die Hütte bei normaler Zimmertemperatur verlassen wurde und diese Temperatur auf einen Wert gefallen ist, der sogar Mineralwasser zum Gefrieren bringt, müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass die Gruppe seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr da war. Eher sechsunddreißig Stunden. Müsste ich eine pessimistische Schätzung abgeben, würde ich sogar auf achtundvierzig Stunden gehen.«

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Grünwald.

Im Anschluss nahmen sie sich die obere Etage vor: vier kleine Zimmer mit Etagenbetten und einem Gemeinschaftsbad. Doch auch hier wurden sie nicht fündig. Mit Ausnahme eines Laptops im Zimmer des Tutors, der tabu war.

Ratlos ging Geving im Mittelflur auf den Polizeirat zu. »Nichts. Bei Ihnen?«

»Negativ.« Grünwald zuckte mit den Schultern. »Die Damen sind mit leichtem Gepäck gereist. Es hängen nirgendwo Jacken, und Winterschuhe habe ich auch keine stehen sehen. Zumindest wissen wir, dass sie nicht überstürzt aufgebrochen sind.«

In diesem Moment kam Henneberg die Treppe hochgelaufen. »Die Bereitschaftspolizei ist gerade eingetroffen.«

Geving seufzte. »Gehen wir runter. Hier können wir doch nichts erreichen.«

***

Das Bild, das sich Tinus Geving beim Verlassen der Hütte bot, war durchaus beeindruckend. Achtzig Mann, verteilt auf vier Züge, standen bereit wie zum Fahnenappell. Er ging auf den Hundertschaftsführer zu, der korrekt Meldung machte.

»Zweite Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei angetreten. Wir erwarten Ihre Anordnungen.«

Geving positionierte sich etwa in der Mitte zwischen den Zügen. »Ich mache es kurz. Sie alle wissen, warum wir hier sind. Seit über vierundzwanzig Stunden werden sechs Schülerinnen aus dem Gymnasium Kloster Eichenburg und ein Lehrer vermisst. Noch sind uns die Personalien der infrage stehenden vermissten Personen unbekannt. Gehen Sie aber davon aus, dass es sich um junge Frauen im Alter zwischen siebzehn und achtzehn Jahren handelt. Gehen Sie weiter davon aus, dass die vermissten Personen in der Gruppe unterwegs waren. Viele von Ihnen kennen dieses Gebiet genauso gut wie ich, nämlich gar nicht. Polizeirat Grünwald wird daher jedem Zug einen ortskundigen Beamten der Revierstation Erzhütte zur Seite stellen. Das sollte Ihnen die Suche etwas erleichtern. Sie sollten noch etwas wissen. Die Schätzung von vierundzwanzig Stunden ist optimistisch, rechnen Sie mit bis zu achtundvierzig Stunden. Wir sind also zwei volle Tage im Rückstand. Was bedeutet das für die vermissten Personen? Bei diesen Witterungsbedingungen kann ein Mensch nach drei bis vier Tagen verdursten, nach acht Tagen verhungern. Treten Hunger und Durst gemeinsam auf, droht nach ebenfalls drei bis vier Tagen der Tod durch Erfrieren. Zeit ist ein Luxus, den wir nicht haben. Gehen Sie aufmerksam vor. Melden Sie jedes kleine Detail, so unwichtig es vielleicht erscheinen mag. An die Arbeit!«

Sie setzten sich in Bewegung.

Geving wandte sich an den Revierkommissariatsleiter. »Grünwald, übernehmen Sie bitte die Suchaktion. Ich möchte mal diesem Kloster Eichenburg ein wenig auf den Zahn fühlen.«

Vogel lachte zynisch. »Eichenburg. Ganz heißes Pflaster. Ohne amtliches Schreiben erreichen Sie da gar nichts. Ich werde mit dem Ermittlungsrichter telefonieren, doch ich befürchte, für das gute Stück müssen wir uns direkt nach Kreisstadt bemühen. Wir sollten nicht länger rumstehen, ich erkläre es Ihnen unterwegs.«

Geving nickte. »Dann mal los. Ich möchte Namen, Gesichter, Hintergründe. Alles, was uns irgendwie weiterbringt. Grünwald, Sie kommen klar?«

»Wünsche viel Glück. Brauchen wir auch. Der Wald ist groß. Im Umkreis gibt es mehrere Höhlen und Hochmoore. Wenn sie da reingeraten sind, dann gute Nacht! Hier oben schlägt das Wetter manchmal schnell um. Wären nicht die Ersten. Was sich der Berg erst einmal nimmt, gibt er so schnell nicht wieder raus.«

 

12:01 Uhr

Judith Metzger
Hey ihr Süßen! :-)
12:01

Carolin Aschenbach
Huhi ^^
12:01

Jasmin Roth
Hi, Sweeties
12:01

Sarah Trautvetter

12:02

Carolin Aschenbach
Sarah, was los!
12:02

Sarah Trautvetter
Ach…
12:02

Judith Metzger
Mach dich nicht fertig. Die kommen schon wieder ;-)
12:03

Jasmin Roth
Die brauchten bestimmt ‘nen ungestörten Platz
12:03

Judith Metzger
????
12:03

Carolin Aschenbach
Stehen bestimmt alle Schlange bei Matthes. Der Stecher!
12:04

Jasmin Roth
Boah, Caro! Bäh… :-(( Jetzt hab ich Kopfkino!!!
12:05

Carolin Aschenbach
Was denn? Ist halt ein Circle of Bitches
12:06

 

Bundesstraße zwischen Altenrode und Kreisstadt

12:28 Uhr

»Ich wiederhole: An alle Einheiten. Mehrere Explosionen in der Metrostation Stadhuis. Polizeikräfte vor Ort außer Gefecht. Es gibt Berichte über Dutzende Tote und Verletzte. Lage völlig außer Kontrolle. Alle verfügbaren Kräfte sind dort umgehend zusammenzuziehen. Großalarm! Ich wiederhole. An alle Einheiten …«

 

»Herr Geving, alles in Ordnung mit Ihnen? Sie wirken so abwesend«, erkundigte sich Staatsanwalt Werner Vogel.

Verdammt, Tinus Geving fühlte sich ertappt. Immer wieder überkamen ihn diese Flashbacks. Warum nur hatte er das Gefühl, erneut einer Katastrophe ins Auge zu blicken und nichts dagegen tun zu können?

»Mich ärgert, dass die in Eichenburg bisher so mauern. Sagen Sie, was hat es mit denen ganz genau auf sich? Alle scheinen die lediglich mit der Zange anfassen zu wollen.« Gerade noch so die Kurve gekriegt.

»Ja, das Gymnasium Kloster Eichenburg … Ein Internatsgymnasium für Mädchen.«

»Kann mir denken, dass die bei der Jugend in einer kleinen Stadt wie Altenrode für Aufsehen sorgen.«

»Eichenburg wird, nun ja … besonders gepflegt. Das Kultusministerium schmückt sich mit dieser Schule.« Vogel vertraute ihm an, dass Sachsen-Anhalt nicht allzu viel habe, womit es sich schmücken könne. Viele Schülerinnen in Eichenburg kämen aus einflussreichen Elternhäusern. Bankiers, Größen aus Industrie, Wirtschaft, Politik. Was seiner Meinung nach erkläre, warum die Schulleitung so »diskret« im Umgang mit Informationen sei. Die Schule stehe unter Druck. »Die Landesregierung befürchtet einen medialen Aufschrei, den sie in ihrer jetzigen Lage nicht gebrauchen kann.«

»Das Klischee einer höheren Töchterbildungsanstalt«, fasste Geving die Lage zusammen.

»Nicht annähernd. Die Eltern zahlen viel Geld, um ihre Problemtöchter verwahrt zu wissen. Viele von denen frühläufig, und das ist noch höflich ausgedrückt! Der Schulleiter führt dort einen regelrechten Amüsierbetrieb. Fragen Sie mal Grünwald.«

»Wie meinen Sie das?«

»In Eichenburg finden Sie alles an Unappetitlichkeiten und schmutziger Wäsche, was Sie sich nur vorstellen können. Alkoholeskapaden, Drogen, Gewalt, ominöse Initiationsrituale, Lehrer mit Schülerinnen. Die Hölle!«

»Ein Einschreiten ist nicht gewollt, nehme ich mal an.«

»Es wurde nie etwas Beweiserhebliches gefunden. Jetzt können Sie vielleicht verstehen, warum die so ›diskret‹ sind. Leichen sind dort nicht besonders tief vergraben. Rechnen Sie also nicht mit einem freudigen Empfang. Die haben Schiss, Sie könnten über eine Leiche stolpern, die die noch nicht vergraben haben.«

»Wieso kann sich die Landesregierung keinen Aufschrei leisten?«

»Richtig, Sie sind ja nicht von hier. Die Koalition steht davor, eines der größten Gesetzesvorhaben in der Landesgeschichte umzusetzen, eine umfassende Neuregelung zur Sicherheit und öffentlichen Ordnung, mit weitreichenden Befugnissen für die entsprechenden Behörden.« So wie der Staatsanwalt es sah, konnte die Politik nicht glaubhaft die Daumenschrauben anziehen, wenn sie gleichzeitig nicht in der Lage war, die Sicherheit von Schülern zu gewährleisten. »Da wir unter uns sind: Die wollen das möglichst geräuschlos durchziehen. Ein Teil des Gesetzes ist dazu da, die Justiz an die Kette zu legen. Ich sage Ihnen, manche Dinge sind so widerlich, man kommt sich schon selbst vor wie ’ne Hure.«

Bisher hatte Geving kein klares Bild vom Staatsanwalt gehabt. In diesem Moment beschloss er, ihn zu mögen.

 

Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt

Lübecker Straße 53-63
Magdeburg
Büro der Direktorin
13:03 Uhr

»Frau Doktor Kresch, Ihre Verbindung mit Kriminalrat Geving steht.«

»Danke, verbinden Sie«, sagte Anninka Kresch zu ihrer Sekretärin. »Geving, wie ist die Lage bei Ihnen?«

»Ich komme gerade mit Staatsanwalt Vogel vom Ermittlungsrichter. Es sollte jetzt möglich sein, an die Infos heranzukommen, die man uns bisher vorenthält.«

»Gut. Wie gehen Sie weiter vor?«

»Ich fahre hin, natürlich.«

»Ich brauche Ihnen, glaube ich, nicht zu sagen, dass Sie feinfühlig agieren sollten. Die Schülerinnen wissen von nichts und sind wahrscheinlich sogar verängstigt. Allzu offensives Auftreten könnte die ohnehin schon nervöse Situation zusätzlich aufheizen. Viele Eltern reagieren nicht sehr gut darauf. Die stehen dann nicht bei der Schulleitung auf der Matte, sondern beim Kultusministerium. Das ruft beim Innenministerium an, bei denen ich mich wiederum zu rechtfertigen habe. Sie haben eine ungefähre Ahnung?«

»Herr Vogel hat mich ins Bild gesetzt.«

»Wie kommt die Suche voran?«

»Polizeirat Grünwald leitet die Aktion. Bisher noch nichts. Kurz nach achtzehn Uhr wird es dunkel, wir sollten uns Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Da die Zeit drängt, empfehle ich, die Nacht über weitersuchen zu lassen. Irgendwelche Einwände?«

»Nein, bin ganz Ihrer Meinung. Ich habe bei der Bereitschaftspolizei die Hubschrauberstaffel angefordert. Die momentanen Witterungsbedingungen lassen einen Einsatz jedoch nicht zu. Vorerst müssen Sie ohne auskommen.«

»Da wäre noch eine Sache. Ich habe mir vom Richter eine weitere Verfügung ausstellen lassen, bezüglich Handyortung.«

»Heikel.«

»Mag sein. Da aber im Umkreis der Hütte Empfang möglich ist, wäre es hilfreich zu wissen, wann sich die infrage kommenden Handys aus den Funknetzen ausgeloggt haben. Wir könnten so Rückschlüsse ziehen, wie weit die vermissten Personen bis zu dem Zeitpunkt gekommen sind, und den Radius entsprechend eingrenzen. Ist bisher eher eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«

»Akzeptiert.«

»Wollen Sie Kollegen darauf ansetzen? Momentan bin ich auf mich gestellt.«

»Ich habe eine bessere Idee. Der Revierkriminaldienst in Kreisstadt ist bestens ausgestattet und steht zu Ihrer vollen Verfügung. Schicken Sie so viele Leute ins Feld wie nötig, delegieren Sie Aufgaben. Die Koordination mit uns sollte von dort aus besser klappen. Übrigens, der Chefposten in Kreisstadt ist momentan unbesetzt. Gute Behörde, technisch auf dem neuesten Stand, die Beamten sind auf Zack. Wäre vielleicht was für Sie.«

»Nun ja, erledigen wir erst mal unsere Arbeit. Sobald es neue Erkenntnisse gibt, melde ich mich.«

»Viel Erfolg, Herr Kriminalrat.«

Damit war das Gespräch beendet.

Anninka Kresch fragte sich, wie ein Spitzenermittler von Europol beim LKA landen konnte. Sie hatte ihm gerade die Leitung des RKD Kreisstadt förmlich auf dem Silbertablett angetragen, und er reagierte so reserviert. Ehrgeizige Kriminalbeamte, damit kam sie klar. Aber Kriminalbeamte, die nur ihren Job machen wollten, machten sie stutzig.

 

Kloster Eichenburg

14:07 Uhr

Das Gymnasium Kloster Eichenburg befand sich nicht einmal zehn Autominuten entfernt vor den Toren Altenrodes. Es lag tief verschneit in einem breiten, ruhigen Flusstal. Die Schule wirkte eher wie ein englisches Internat. Sie war so anders als das, was Tinus Geving kannte – einschließlich seiner eigenen Schule, einem trostlosen Neubau aus dem NRW der 1970er-Jahre, in dem er sein Abitur abgelegt hatte. Hier roch es gewollt nach Elite, ein Gedanke, mit dem sich Geving nicht anfreunden mochte.

Das Schulgelände als solches konnte nur zu Fuß durch ein Torhaus betreten werden. Dahinter erstreckte sich eine von außen nicht einsehbare, weitläufige parkähnliche Anlage. Vereinzelt standen Gebäude aus der Zeit der Renaissance bis hinein ins neunzehnte Jahrhundert, Internatsgebäude, in denen die Schülerinnen untergebracht waren. Stallungen, eine alte Post und eine Mühle rundeten das Ensemble ab. Alle Wege waren auf das herrschaftliche Hauptgebäude mit Aulaflügel ausgerichtet, in dem sich die Unterrichtsräume befanden. Dem schloss sich ein Kreuzgang zur gotischen Klosterkirche an, deren Turm das gesamte Ensemble krönte.

Auf dem Gelände herrschte reges Treiben. Schülerinnen kamen vom Unterricht oder gingen zu ihren diversen Nachmittagsveranstaltungen.

Im Hauptgebäude fand Geving nach einigem Nachfragen das Büro des Schulleiters. Er ahnte, dass es nötig sein würde, hier etwas offensiver aufzutreten. Ohne zu klopfen und ein »Herein« abzuwarten, öffnete er die Tür und stand im Sekretariat.

Empört schreckte eine dünne Blondierte in den Fünfzigern auf, die ihr Alter durch einen gewagten Modestil zu kaschieren suchte. Dadurch erschien sie doppelt grotesk.

»Was erlauben Sie sich?«, fuhr die Sekretärin ihn schrill an. »Einfach hereinzuplatzen! Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie einen Termin mit Herrn Doktor Berghausen haben.«

Demonstrativ beiläufig zog Geving seinen Dienstausweis, den er der Sekretärin in ihr verdutztes fischartiges Gesicht hielt. »Oh, ich denke, er wird alle Zeit der Welt für mich haben. Wenn Sie ihm jetzt also Bescheid geben würden.«

Nicht einmal zehn Sekunden später öffnete sich die Tür zum Büro des Schulleiters. Heraus trat ein blasierter Mittfünfziger mit Pomade im Haar, Nickelbrille und feinem Zwirn, der wie die Karikatur des Schulmeisters aus der Feuerzangenbowle schien.

Mit aufgesetztem Grinsen im Gesicht hielt er Geving die Hand entgegen. »Julius Berghausen, Direktor des Gymnasiums Kloster Eichenburg. Sie sind?«

Der hat vielleicht Nerven, dachte Geving. Sechs Schülerinnen verschwunden und er hält immer noch Hof.

»Kriminalrat Geving, LKA. Ich denke, Sie wissen, warum ich hier bin.«

Berghausen tat nichts, seine selbstgefällige Art abzulegen. »Kommen Sie doch herein. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

Das hier wird hart. »Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Wie schnell Sie Ihre Schülerinnen wiederhaben möchten. Ich gehe davon aus, dass die Eltern bereits etwas in Sorge sind.«

So langsam begann Berghausens Fassade zu bröckeln. »Ja … Aber ich begreife immer noch nicht, was Sie eigentlich von mir wollen.«

Geving entschied, seinen Ton zu verschärfen. »Es ist etwas mühevoll, nach sechs unbekannten jungen Frauen und einem namenlosen Lehrer zu suchen. Ich möchte Informationen!«

Noch sah es nicht danach aus, als wäre der Schulleiter bereit einzulenken. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er Geving mit einem Blick bedachte, der sonst vermutlich seinen aufsässigen Schülerinnen vorbehalten war, wenn sie in sein Büro zitiert wurden.

»Wie Sie sich denken können, unterliegen unsere Schülerakten dem Datenschutz. Vorsicht ist angesichts der Prominenz einiger – wenn nicht vieler – Schülerinnen durchaus angebracht.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.« Geving zückte den richterlichen Beschluss und legte ihn auf Berghausens Schreibtisch.

Der nahm ihn, las ihn. So langsam entglitten ihm die Gesichtszüge. Mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme antwortete er: »Sie werden verstehen, dass ich das abklären muss.«

Jetzt hatte Geving ihn da, wo er ihn haben wollte. Die Nuss war bereit, geknackt zu werden.

»Sicher. Sie haben Ihre Vorschriften, ich meine. Bisher haben Sie lediglich das Vergnügen meiner Bekanntschaft aus Rücksichtnahme auf Ihre etwas delikate Situation. Wir können das gerne ändern. Es kostet mich einen Anruf und in nicht einmal einer halben Stunde steht im Büro Ihrer Sekretärin ein Dutzend Beamte, die Informationen sehen wollen. Ich mache mir allerdings Sorgen, welchen Eindruck das auf, nun ja … wie soll ich sagen? … einige – wenn nicht viele – Ihrer prominenten Schülerinnen und deren Eltern macht, ganz zu schweigen von Ihrem Vorgesetzten. Wenn die herausbekommen, dass Sie Polizeiarbeit blockieren …«

Dem Mann wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Er rang nach Atem. Schließlich griff er zum Telefonhörer.

»Die Schülerakten aller Teilnehmer der Silentiumfahrt«, befahl er seiner Sekretärin. »Unverzüglich!«

 

14:11 Uhr

Panik. Angst! Ist das ein schlechter Traum? Und wenn ja, warum wacht sie nicht endlich auf aus diesem Horror? Wer ist sie? Wo ist sie? Welcher Tag ist es? Sie weiß nicht, wie lange sie schon herumirrt. Es kann sie nicht kümmern. Ihr ist kalt, und sie hat Hunger, doch auch das berührt sie nicht. Laufen, laufen, laufen. Fort von hier. Fliehen! Aber wovor? Und warum? Irgendwo muss sie auf Menschen stoßen, es muss einen Ausweg geben! Sie ist verzweifelt, ihre Kräfte schwinden. Sie muss durchhalten, rennen, fliehen. Fort von hier. Aber wovor und wieso? Wie spät ist es? Wer ist sie? Wo ist sie? Hunger, Durst. Schlaf … Nein, nicht einschlafen. N-i-c-h-t e-i-n-s-c-h-l-a-f-e-n! Rennen …

 

Kloster Eichenburg

Büro des Schulleiters
14:30 Uhr

Sophia Dibelius

Alter: 18 Jahre

Geburtsort: Dessau

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Singen, Lesen, Schülerzeitung

Vater: Konrad Dibelius, Synodalpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts

 

Johanna von Kleeberg

Alter: 18 Jahre

Geburtsort: Kapstadt, Südafrika

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Reiten, Fechten

Vater: Ansgar von Kleeberg, Diplomat im Auswärtigen Dienst, Deutscher Botschafter in Kasachstan

 

Mia Kolberg

Alter: 18 Jahre

Geburtsort: Halle (Saale)

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Theater, Schwimmen, Wintersport

Vater: unbekannt

Mutter: Josephine Kolberg, Krankenschwester am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara Halle (Saale)

 

Alisah ter Hoorst

Alter: 17 Jahre

Geburtsort: Essen

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Singen, Lesen, Theater

Vater: Jonas ter Hoorst, Eigentümer und Vorstand der Deutsch-Niederländischen Privatbank ter Hoorst

 

Marie Jannings

Alter: 17 Jahre

Geburtsort: Berlin

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Reiten, Kampfsport, Theater

Eltern: Marc und Anna Jannings, Teilhaber der Kanzlei für Wirtschaftsrecht Jannings & Röhler

 

Stephanie Pousset

Alter: 17 Jahre

Geburtsort: Koblenz

Hobbys und Arbeitsgemeinschaften: Schwimmen, Schülerzeitung

Vater: Anton Pousset, Inhaber und Geschäftsführer der Sektkellerei Pousset

 

Das sind ja ganz schöne Kaliber, mit denen hier geschossen wird, dachte Tinus Geving. Kein Wunder, dass seine Behördenleitung unter Strom stand.

»Sehen Sie, Herr Doktor Berghausen, warum nicht gleich so?«, sagte er gönnerhaft.

Der Schulleiter hingegen sah so aus, als hätte man ihm gerade seine Hose heruntergezogen. »Da haben Sie Ihre Informationen und alle Handynummern. Ich verstehe nach wie vor nicht, wozu Sie das alles brauchen.«

»Darin bestand Ihr Problem von Anfang an.«

»Was wollen Sie? Erklären Sie mal!«, fuhr ihn Berghausen schroff an.

Geving fiel es schwer sich einzugestehen, dass hinter der arroganten Fassade des Schulleiters tatsächlich nur ein Mensch steckte. Und der zeigte so langsam Nerven. Verständlich, denn immer noch hatte Grünwald keine Erfolge aus Erzhütte zu vermelden.

Geving bemühte sich, die angespannte Atmosphäre etwas zu beruhigen. »Die Handynummern sind für uns von Bedeutung, weil sie hilfreich sein könnten, die Vermissten mittels Handyortung aufzuspüren oder ihren Bewegungsradius nachzuvollziehen. Und wir müssen möglichst viel über die Personen erfahren. Vorlieben, Hobbys, Neigungen. Damit können wir Profile erstellen und vielleicht herausbekommen, wohin und warum sie verschwunden sind. Ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber Sie sollten mir vertrauen.«

»Versuche ich doch«, erwiderte Berghausen sichtlich verzweifelt. »Sie können sich kaum vorstellen, unter welchem Druck ich stehe. So etwas ist noch nie passiert!«

Zum ersten Mal hatte Geving das Gefühl, es mit dem Menschen Berghausen zu tun zu haben, nicht mit dem gleichnamigen Kunstgebilde der vergangenen halben Stunde. Er sah davon ab, den Direktor von Kloster Eichenburg auf die diversen »Vorkommnisse« in Altenrode zu verweisen. Momentan brauchte er ihn als Verbündeten.

»Was können Sie mir aus fachlicher Sicht zu Ihren Schülerinnen erzählen?«

»Rein von den Interessenlagen handelt es sich um eine recht homogene Gruppe. Sie sind allesamt angehende Abiturientinnen.«

»Und menschlich?«

»Tja. Die Damen haben unterschiedliche Temperamente. Die einen sind aufbrausende Energiebündel wie Johanna von Kleeberg, andere, wie Alisah ter Hoorst, sind sensibel und introvertiert.« Berghausen konnte aber nicht behaupten, dass es zu Konflikten gekommen sei, die über das Normalmaß hinausgingen. In einem Internat sei es schließlich nicht einfach, vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen die Woche miteinander leben zu müssen. Da blieben Reibereien nicht aus. »Hinzu kommt, dass man in der Abiturstufe dem normalen Schulalltag bereits entwachsen scheint. Viele planen Studium und Karriere. Unsere kleine Welt kann da oft nicht mithalten.«

»Wie läuft so eine Silentiumfahrt überhaupt ab?«, wollte Geving wissen.

»Die Schülerinnen sollen vor dem Stress der Abschlussprüfungen Gelegenheit haben, tief durchzuatmen und herauszufinden, wie sie sich gegenseitig über die letzten Hürden helfen können.« Der Schulleiter beschrieb ihm die Fahrt als eine Art Zuspitzung von persönlicher Konfrontation. Alle Welt verlange Sozialkompetenz, doch die Schule stehe in der Pflicht, diese ihren Schützlingen beizubringen. Berghausen sagte es offen heraus: Viele Mädchen in Eichenburg seien Einzelkinder oder »lediglich« die Töchter. In Elternhäusern mit extrem karriereorientiertem Hintergrund fehle in der Erziehung oftmals der Platz für menschliche Wärme. »Unsere Schützlinge erreichen uns teilweise als gezeichnete oder gebrochene Menschen. Ich bin auch nicht blind und merke, was sich in den umliegenden Orten ereignet, wenn die jungen Damen Freizeit haben«, rechtfertigte er sich. »Wie soll ich ihnen aber einen Vorwurf machen, wenn sie nie gelernt haben, Richtig von Falsch zu unterscheiden? Wir können uns nur bemühen, ihnen das Maß an Mitmenschlichkeit zukommen zu lassen, das ihnen aus unterschiedlichsten Gründen bisher versagt blieb.«

»Da Sie von karriereorientierten Elternhäusern sprechen, eine Person fällt da raus, wie ich sehe.«

»Sie meinen Mia Kolberg?«

»Ja.«

»Noch so ein Mythos, mit dem aufgeräumt werden muss. Kloster Eichenburg ist kein Elfenbeinturm.« Berghausen erkannte an, eine in großen Teilen äußerst privilegierte Schülerschaft zu haben, die die raue Wirklichkeit allenfalls aus dem Internet oder den Nachrichten kenne. »Daher betrachten wir es als ehrenvolle Aufgabe, solche Mädchen aufzunehmen, denen das Schicksal in der Vergangenheit nicht gut mitgespielt hat. Zerrüttete Elternhäuser, häusliche Gewalt, Probleme mit der Polizei … Auch jenen müssen wir Orientierung geben.«

»So eine ist Mia Kolberg?«

»Mias Mutter ist eine alleinerziehende Frau, der Vater unbekannt. Auf diese Schülerin bin ich sehr stolz. Überhaupt entsinne ich mich nicht, jemals eine bessere Schülerin gehabt zu haben. Sie weiß, wie hart es ist, sich Chancen zu erarbeiten.«

»Führte das denn zu Problemen mit ihren bessergestellten Mitschülerinnen?«

»Anfangs, sicher. Es ist nicht unerheblich, wenn zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen. Mit der Zeit gab sich das bei Mia. Ihre Klassenkameradinnen haben ebenfalls viel von ihr gelernt.«

»Wie können sich solche Schülerinnen das Schulgeld leisten?«

»Ganz einfach. Wir leben in einem Sozialstaat, und das ist immer noch eine staatliche Schule.«

»Also kommen die Ämter dafür auf?«

»So ist es.«

Geving war überrascht, wie freigiebig Berghausen mit Informationen sein konnte. Dennoch mahnte ihn sein Instinkt, nicht alles zu glauben. Zu widersprüchlich war das Gesagte im Vergleich zu dem, was ihm Staatsanwalt Vogel erzählt hatte. Es schien nicht gänzlich abwegig zu sein, dass der Schuldirektor ihm hier lediglich sein Bild vermitteln wollte. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen.

Ein Punkt war für ihn noch von Interesse: »Was können Sie mir zu diesem Tutor berichten? Herrn Matthes, wenn ich nicht irre.«

Berghausen rutschte scheinbar unangenehm berührt auf seinem Stuhl hin und her. »Alexander Matthes, Fachlehrer für Sport und Biologie, fünfunddreißig Jahre alt. Studium in Jena. Er kam über Umwege zu uns. Früher war er als Sportsoldat im Kader der Biathlon-Nationalmannschaft. Nach Karriereende sattelte er um und wechselte in den Schuldienst. Seit fast drei Jahren ist er nun bei uns.«

»Ein beliebter Lehrer?«

»Die einen vergöttern ihn, die anderen haben ihre Probleme mit ihm. Dürfte jedem Lehrer so gehen.«

»Welchen Ruf genießt er im Kollegium?«

Berghausen begann zu mauern. »Mir sind keine Probleme bekannt.«

Geving beschlich das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben. Es war nicht normal, dass sich ein Schulleiter in einem Hohelied auf seine Pädagogik erging, zu seinem Kollegen dagegen kaum zehn Sätze zu sagen wusste. Wie dem auch sei, Tinus Geving ließ es sich nicht anmerken. Er hatte ausdrückliche Order, sensibel vorzugehen.

»Danke, das wäre vorerst alles. Sollte ich weitere Fragen haben …«

»… stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Gerne, Herr Kriminalrat.«

Da war er wieder, der Schulmeister aus der Feuerzangenbowle.

***

Geving wollte nach Kreisstadt zurückkehren, um die Handyortung einzuleiten. Vielleicht konnte das die zähe Suche endlich beschleunigen und voranbringen. Er wollte die Geschichte vom Tisch haben. Der ganze Fall war gespickt mit potenziellen Sprengfallen, die für einen Mann in seiner momentanen Verfassung nichts waren.

Ihm entging nicht, dass er auf dem Rückweg Richtung Torhaus von einer Schülerin etwas unbeholfen verfolgt wurde. Klein, zierlich, dunkle Haare, dunkle Augen. Eher der schüchterne Typ. Er blieb stehen, drehte sich um, wartete. Sie tat es auch, überlegte einen Moment, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Schließlich fasste sie sich ein Herz, ging auf ihn zu und sprach ihn an.

»Entschuldigung, sind Sie vielleicht von der Polizei?«

Sie klang ein wenig ängstlich. Geving wollte sie nicht noch mehr entmutigen. »Klar, Tinus Geving mein Name. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Sie wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. »Sarah. Sarah Trautvetter.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Sarah?«

»Du. Mir wär’s lieb, wenn Sie mich duzen.«

»Okay. Also, was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte nur fragen …« Gespräche mit Fremden waren wohl nicht so ihr Ding. »Gibt’s schon was Neues?«

»Da muss ich dich leider enttäuschen, aber wir sind dran. Bist du mit den Vermissten befreundet?«

»Mia ist meine beste Freundin. Mia Kolberg.«

»Und du machst dir Sorgen?«

»Ja … Es gibt da Dinge … Ist vielleicht unwichtig.«

In dem Moment wusste Geving, dass hier mehr vor sich ging, als Berghausen zuzugeben bereit war. Diese Sarah hatte offenbar Gesprächsbedarf, traute sich aber nicht. Dafür hatte er Verständnis.

Er versuchte es mit einem Lächeln, griff in seine Mantelinnentasche nach einer Visitenkarte und reichte sie ihr. »Finde ich nett, dass du dir um deine Freundin Sorgen machst, Sarah. Falls dir was einfällt, das uns weiterhilft, oder du sonst über irgendetwas sprechen möchtest, melde dich einfach. Wir können dann gerne dort reden, wo es dir leichter fällt, okay?«

Sie lächelte traurig und nahm die Karte entgegen. »Danke schön. Drücke fest die Daumen.«

Es schnürte ihm die Kehle zu, ein plötzliches Frösteln durchfuhr seinen Körper.

Verdammt, diese Erinnerungen!

Er musste sofort hier raus.

 

Phoenix Vor Ort

15:00 Uhr

»Der Landtag von Sachsen-Anhalt berät derzeit über eine Verschärfung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Innerhalb der Regierungskoalition sorgt das Thema für Unstimmigkeiten. Insbesondere Innenminister Frank Schulze äußerte starke Bedenken zur Gesetzesvorlage aus seinem Haus. Dieser ist uns jetzt aus Magdeburg zugeschaltet. Schönen guten Tag, Herr Minister.«

»Ich grüße Sie.«

»Wie schlecht ist die Stimmung tatsächlich? Es war der Fraktionsvorsitzende Ihrer Partei, der gesagt haben soll, und ich zitiere: ›Wir befinden uns auf den letzten Metern im Endspurt, und uns wird ein Knüppel zwischen die Beine geworfen, so etwas ist Sabotage!‹ Herr Minister, sind Sie ein Saboteur?«

»Was er gesagt haben soll, kann ich nicht bewerten. Ich rate zu etwas mehr Gelassenheit.«

»Die Opposition sieht es weniger gelassen. Sie ist der Meinung, Ihre Landesregierung betrachte die eigenen Bürger als Sicherheitsrisiko.«

»Natürlich wollen die das Thema für sich ausschlachten, im kommenden Jahr stehen Landtagswahlen an. Mehr als den Versuch, sich in Stellung zu bringen, kann ich darin nicht erkennen.«

»Jetzt klingen Sie eher wie Ihr Ministerpräsident, aber nicht wie der Kritiker, als der Sie sich zu erkennen gegeben haben. Wurden Sie zurückgepfiffen? Und welche Bedenken haben Sie?«

»Die Gesetzesvorlage in ihrer aktuellen Fassung bietet zu viele gefährliche Freiräume, die keiner Erklärung bedürfen. Und ich muss hinzufügen: Ein Mehr an Überwachung führt nicht automatisch zu einem Mehr an Sicherheit, das ist ein Irrglaube! Mit Videokameras an jeder Straßenecke, umfassenden Polizeikontrollen oder digitaler Überwachung verhindern wir keinen Terrorismus oder andere Verbrechen, wir legen die Hürden nur höher. Es ist eine Frage der Zeit, bis man Schlupflöcher in diesen Mechanismen findet, und ob wir dann nicht ein viel größeres Problem haben, darüber darf gemutmaßt werden. Viele Mitglieder meiner eigenen Partei haben ähnliche Bedenken wie ich. Diese Bedenken werde ich vertreten.«

»Herr Minister, ich danke für das Gespräch.«

»Ich danke Ihnen.«

 

MDR Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt

Stadtparkstraße 8
Magdeburg
15:26 Uhr

Frank Schulze war müde, so müde. Wie konnte sein eigenes Ministerium ihm einen solchen Gesetzentwurf vorlegen! Wie konnten die ihm so etwas antun?

Er musste sich beruhigen. Ihm war bekannt, welche Kräfte an diesem Gesetz mitwirkten. Kräfte, die nicht aus dem Stamm seiner Beamten kamen. Ein wohlgehütetes Geheimnis vor dem Wähler und den Abgeordneten. Setzte er das Gesetz nicht wie gewünscht um, würde er vor den Scherbenhaufen seiner Karriere gestellt werden. Auf eine solche Gelegenheit hatte der Ministerpräsident gewartet, denn Frank Schulze hatte noch ein anderes Problem: die Frau des Ministerpräsidenten. Es war keine simple Affäre, sie liebten sich. Die Ehe des ersten Paars im Land hingegen war Fassade. Bis zum nächsten Jahr wollte sie durchhalten, dann würde sie ihren Mann für ihn verlassen. Weitere fünf Jahre in der Staatskanzlei mit ihm ertrug sie nicht.

Schulze hatte nichts mehr zu verlieren. Das Interview war eine Kriegserklärung. Politischer Selbstmord? Vielleicht. Wenn er schon gehen musste – das war unausweichlich, so viel war ihm klar –, dann zu seinen Konditionen.

 

15:34 Uhr

Sarah Trautvetter
Wir hatten heute Besuch. Polizei
15:34

Jasmin Roth
Polizei? :0
15:34

Sarah Trautvetter
Jep
15:34

Carolin Aschenbach
Männlein oder Weiblein? Süß? Steh auf beides ^^
15:35

Sarah Trautvetter
Caro! Ein Mann. Tinus Geving
15:36

Judith Metzger
What? Polizei??? Nicht gut…
15:37

Sarah Trautvetter
Mach mir Sorgen um Mia
15:38

Judith Metzger
Kann ich ja verstehen.
15:38

Jasmin Roth
Hast du mit diesem Geving geredet?
15:39

Sarah Trautvetter
Hab mich nicht getraut
15:39

Carolin Aschenbach
Sarah, du musst! Die Außenwelt soll wissen, was bei uns abgeht ;))
15:40

Jasmin Roth
Seh ich auch so
15:40

Sarah Trautvetter
Hab ja seine Nummer.
15:41

Jasmin Roth
Worauf wartest du dann noch???
15:41

Carolin Aschenbach
Leute! Wenn wir das durchziehen, dann zusammen. Wir haben nur eine Chance. Dabei?
15:43

Jasmin Roth
Klaro
15:44

Judith Metzger
Läuft
15:44

Carolin Aschenbach
Sarah?
15:44

Sarah Trautvetter
Okay, ich ruf den morgen an.
15:49

 

16:11 Uhr

Wo ist sie? Seit geraumer Zeit – Zeit? – schneit es, oder ist es Sturm? Dieser Schnee! Weißer Tod. Ist es kalt? Sie weiß es nicht. Sie fühlt nichts. Sie sieht nichts. Sie kann ihre Hand vor Augen nicht sehen. Ist es hell? Ist es dunkel? Sie kann nichts sehen! Wo ist sie? Wer ist sie? Laufen, laufen, laufen. Hunger, Durst, Schlaf. Sie ist müde. Sie kann nicht mehr. Schlaf … Nein, nicht einschlafen. N-i-c-h-t e-i-n-s-c-h-l-a-f-e-n!

Verzweiflung kriecht in ihr hoch. Sie bricht in Tränen aus. Sie heult. Offensichtlich hat sie sich gerade bepisst. Durst! Die Bäume, Bäume! Wann hört das auf? W-a-n-n h-ö-r-t d-a-s a-u-f? Fuck! Sie stolpert. Fällt und fällt und fällt. Sie hört nicht auf zu fallen. Schmerzen. Schmerzen? Sie fühlt nichts. Fühlt sie etwas? Schlaf … Nein, du musst aufstehen. S-t-e-h a-u-f!

Sie steht auf. Dieser Schnee! Sie sieht nichts. Moment, ist da etwas? Da ist etwas! Da ist es! Dort! Ein Haus! Nein, mehrere Häuser! Eine Siedlung? Laufen, laufen, laufen. Es hat ein Ende, bald! Dort, dort schleppt sie sich humpelnd hin. Nur noch wenige Meter. Sie kann nicht mehr. Schlaf. Nein, weiter! H-a-l-t-e d-u-r-c-h! Sie sieht schon die Tür, die Tür. Sie läuft. Sie rennt. Sie rennt um ihr Leben. Sie heult. Die Tür, die Tür! Sie hat es geschafft.

Klopfen, du musst klopfen!

Sie klopft, klopft, klopft, klopft. Sie schreit. Schreit sie? Sie kann sich nicht hören. Schreit sie? Sie heult. Sie schreit. Ihr wird schwarz vor Augen. Ist es schon dunkel? Nein, es ist hell. Ihr Kopf rast, saust! Sie sieht nichts mehr. Fallen. Fallen. Fallen. Fallen. Schwärze. Stille … Taubheit. Wärme. Schl…

 

Revierkriminaldienst Kreisstadt

Kurt-Weill-Straße 18
16:22 Uhr

Der Revierkriminaldienst Kreisstadt war in einem monströsen Bau aus den 1930er-Jahren untergebracht. In dem ehemaligen, von Grund auf sanierten Kasernengebäude versahen achtundsiebzig Kriminalbeamte ihren Dienst. Da war es schon ein wenig peinlich, dass unter den Mitarbeitern kein einziger Experte für Telekommunikationsüberwachung aufzutreiben war. Per Videokonferenz mit Kriminalkommissarin Sabine Jentsch in Magdeburg besprach er daher das weitere Vorgehen. Sie war die Telekommunikationsexpertin, die er in diesem Moment so dringend benötigte.

Tinus Geving betrachtete sich als Meister der kriminalwissenschaftlichen Deduktion. Es hatte ihn immer gereizt, sich in die Gedankenwelten von Tätern und Verdächtigen hineinzuversetzen, ihren dunklen Seiten, Abgründen und Geheimnissen auf die Spur zu kommen, sie durch reine Kopfarbeit und Kombination zu entlarven. So war er schon in der Schule gewesen, ein Kopfarbeiter. Eher vergeistigt und introvertiert. Ihm lagen Sprachen, Natur- und Geisteswissenschaften. Seiner Meinung nach verfügte er über selektive Intelligenz.

In der momentanen Situation half Kopfarbeit allerdings nicht weiter. Sieben Personen konnten sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Menschenleben standen auf dem Spiel, also war er gezwungen, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Der Teufel steckte im digitalen Detail seines Berufs. Ihn störte daran nicht, dass die Polizei in der Lage war, aus Verbindungsdaten Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile zu erstellen, das war ihr Job. Ihn störte, dass es Telefonkonzerne gab, die diese Daten horteten. Wofür, war ihm schleierhaft. Er hatte so etwas schon einmal erlebt. Damals …

Noch kann ich Menschenleben retten.

Geving blieb keine andere Wahl, er musste diesen unheimlichen Pakt schließen, ob er wollte oder nicht. Die Zeit lief ab!

»Wir haben die richterliche Genehmigung, also nutzen wir sie. Wie lautet Ihr Plan?«

»Wir verschicken stille SMS-Nachrichten an die vermissten Personen«, antwortete Sabine Jentsch.

»Stille SMS?«

»Ja. Subroutinen in Form einer SMS, die für den Empfänger nicht abrufbar ist.« Währenddessen, so die Kriminalkommissarin, fielen Verbindungsdaten an. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Telefon in Betrieb sei oder nicht. War es außer Betrieb, komme die Nachricht wie ein Echo zurück. Jedoch mit dem Vermerk, dass sie an einen bestimmten Ort versendet wurde.

Trotz ihrer sicherlich anschaulichen Erklärung geriet er schnell an die Grenzen seines technischen Sachverständnisses.

Hätte ich Piet nur besser zugehört …

»Wenn eine Nachricht nicht empfangen wird, wie kann sie sich dann an einem Ort befinden?«

»Ort ist kein räumliches Gebilde, eher ein Fingerabdruck.«

»Verstehe ich noch immer nicht.«

»Jedes Mobiltelefon verfügt über seinen individuellen digitalen Fingerabdruck. Haben wir den, schreiten wir zur eigentlichen Funkzellabfrage. Wir fordern die Verbindungsdaten aller Sendemasten in dem Gebiet an. So ermitteln wir die exakte Geoposition und den Zeitpunkt, an dem sich infrage stehende Telefone aus dem oder den Sendemasten und ihren Funkzellen ausgeloggt haben.«

»Die Geoposition ist die Kompassnadel, die uns verrät, in welcher Richtung und welchem Radius wir genau suchen müssen.«

»Bravo, Herr Kriminalrat. Sie haben’s!«

»Wie schnell können Sie arbeiten?«

»Wir müssen zunächst die Rohdaten der Netzbetreiber erhalten. Das Versenden der stillen SMS veranlasse ich sofort, das ist eine Sache von wenigen Minuten. Sobald wir die Verbindungsdaten der letzten achtundvierzig Stunden haben, geht der Abgleich relativ zügig. Ich kann nichts versprechen, aber drei bis fünf Stunden wird es dauern.«

So lange! Bis dahin war Geving zur Untätigkeit verdammt. Andererseits, was brachten drei bis fünf Stunden zielloser Suche? Im Harz hatte seit einiger Zeit wieder starker Schneefall eingesetzt, die Bedingungen waren alles andere als optimal, und auf die Hubschrauberstaffel musste er bereits verzichten. Alles in allem bot sich keine andere Möglichkeit.

»Also gut. Fangen Sie an!«

 

16:33 Uhr

»Feuerwehrrettungsdienst Altenrode. Hallo?«

»Ja, guten Tag. Ich möchte einen Notfall melden!«

»Was ist geschehen?«

»Vor wenigen Minuten hat eine junge Frau völlig panisch an meine Tür geklopft und um Hilfe geschrien.«

»Wie alt ist die Person ungefähr?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt.«

»Befindet Sie sich jetzt bei Ihnen?«

»Ja.«

»Und Sie wohnen?«

»Rosssprung. Klippenweg vier.«

»Der Name?«

»Walther, Gertrude.«

»Ist die Frau verletzt?«

»Sie ist bewusstlos, wirkt stark unterkühlt und dehydriert. Mein Mann versorgt sie notdürftig. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Wir schicken einen Rettungswagen, der in etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten bei Ihnen sein wird.«

 

MDR Sachsen-Anhalt Heute

19:00 Uhr

Herzlich willkommen zu Sachsen-Anhalt Heute!

Wir beginnen unseren Überblick mit einer aktuellen Sondermeldung. Wie die Kollegen von MDR AKTUELL bereits heute Morgen berichteten, konnte bis zu diesem Zeitpunkt kein Kontakt zu einer Gruppe von sechs Schülerinnen und einem Tutor des Gymnasiums Kloster Eichenburg hergestellt werden, die sich zu einer Fahrt im Oberharz nahe der Ortschaft Erzhütte aufhielt. Bisher ging man witterungsbedingt davon aus, die Gruppe wäre eingeschneit. Wie nun aus gut informierten Kreisen bekannt wurde, läuft derzeit eine groß angelegte polizeiliche Suchaktion. Der Verbleib der vermissten Personen ist weiterhin unbekannt. Sollte es im Lauf dieser Sendung aktuelle Entwicklungen geben, informieren wir Sie natürlich sofort.

Und nun zu unserem heutigen Thema: Haben Landesinnenminister Schulze und der Ministerpräsident ein Problem …?

 

19:12 Uhr

Schwärze. Stille. Taubheit. Wärme. Schlaf …

Kälte. Kälte? Kälte, aber kein Schnee. Licht. Gleißendes Licht! Zu hell! Kopfschmerzen. Durst.

»… noch mal Glück gehabt.«

Wo ist sie? Wer ist sie

»… ist ihr aktueller Zustand?«

Was ist passiert?

»… Umständen entsprechend …«

Hellwach? Müde? Müde. Schlaf …

»… Kochsalzlösung …«

Schlaf. Schlaf. Dunkelheit. Wärme. Stille …

 

Revierkriminaldienst Kreisstadt

Kurt-Weill-Straße 18
19:41 Uhr

Tinus Geving hatte die Nachrichtenmeldung gesehen. Wer oder was waren »die gut informierten Kreise«? Generell hatte Geving kein Problem damit, im Licht der Öffentlichkeit zu arbeiten. Er kannte das von Europol, nur war ihm dort das Terrain geläufig. Das hier, Sachsen-Anhalt, war Neuland für ihn. Er konnte seine Vorgesetzten nicht einschätzen, die Medien ebenso wenig, und er wusste nicht, wie seine Vorgesetzten mit medialem Druck umzugehen pflegten. Zu viele Unbekannte! Dabei wollte er Minenfelder bis auf Weiteres meiden. Sein Job war gerade nicht leichter geworden.

»Grünwald«, begann Geving, »gibt’s was Neues aus Erzhütte?«

Er befand sich in einer Videoschalte, auf der einen Seite Polizeirat Markus Grünwald, auf der anderen Seite Kriminalkommissarin Sabine Jentsch, seine Expertin für Telefonüberwachung in Magdeburg. Grünwald sah erschöpft und durchgefroren aus. Kein Wunder, seit Stunden schneite es wieder, und es war klirrend kalt. Daher überraschte die Antwort des Polizeirats nicht.

»Das Wetter macht uns zu schaffen, wir kommen kaum voran. Und wir müssen aufpassen, dass die Hundertschaft nicht verloren geht. Mit dem Harz ist nicht zu spaßen. Es gibt hier tatsächlich Ecken, in denen sind Sie abgeschnitten von jeder Kommunikation.«

»Von uns gibt es vielleicht bessere Neuigkeiten«, unterbrach Sabine Jentsch.

Gevings stählerner Blick wurde noch stählerner. »Das will ich hoffen. Seit knapp einer Stunde ist unsere Suchaktion den Medien bekannt. So langsam brauchen wir neue Erkenntnisse.«

»Mit den stillen SMS-Nachrichten waren wir erfolgreich.«

»Stille SMS-Nachrichten?«, entfuhr es Grünwald mit einem Ausdruck des Unverständnisses im Gesicht.

»Lassen Sie es gut sein, Grünwald«, beschwichtigte Geving. »Weitere Erklärungen führen zum Synapsenplatzen. Meine sind schon geplatzt. Weiter bitte!«

»Seit einer halben Stunde liegen uns die Rohdaten der infrage kommenden Mobilfunkstationen Erzhütte und Rosssprung vor«, fuhr die Kriminalkommissarin fort. »Wir konnten sie abgleichen.«

»Die Daten der letzten achtundvierzig Stunden?«

»Wie gewünscht«, bejahte sie.

Alle Telefone loggten sich demnach am Freitag, dem 15. Januar um 16:20 Uhr in den Sendemast Rosssprung ein und loggten sich um 16:32 Uhr wieder aus. Zum selben Zeitpunkt meldeten sich alle sieben Telefone im Sendemast Erzhütte an. Abends loggten sich drei Mobiltelefone aus, namentlich die von Alexander Matthes, Alisah ter Hoorst und Stephanie Pousset. Der Rest blieb auch am folgenden Tag noch angemeldet, bis sich alle verbliebenen Handys um 13:36 Uhr ausloggten. Seitdem befanden sie sich außer Signalreichweite.

Alisah ter Hoorst … Dieser Name. Wieso nur sagte er Geving etwas?

»Also sind wir nicht einen Deut schlauer!«, bemerkte Grünwald frustriert.

Sabine Jentsch hob mahnend die Hand. »Moment, ich bin ja noch nicht fertig! Um dreizehn Uhr vierunddreißig wurde noch versucht, Mia Kolberg auf ihrem Handy zu erreichen, daraus konnten wir eine Geoposition ermitteln. Sie befindet sich etwa drei Kilometer nordöstlich der angemieteten Hütte Richtung Altenrode.«

»Das liegt in entgegengesetzter Richtung zu unserem bisherigen Suchgebiet. Bisher sind wir davon ausgegangen, sie wären hochgegangen zum Brocken, nicht runter zur Stadt. Frau Kriminalkommissarin, könnten Sie uns eine eindeutige GPS-Position schicken?«

»Klar. Nichts einfacher als das.«

Der Revierkommissariatsleiter beugte sich vor zur Kamera. »Geving, wenn sie getan haben, was ich denke, sind sie in ein Gebiet mit mehreren weitverzweigten Höhlensystemen gekommen. Wenn sie eine davon betreten haben, dann Gnade uns Gott!«

»Ihr Vorschlag?«

»Wir formieren alle Mannschaften neu im entsprechenden Gebiet zwischen Erzhütte und Altenrode.«

»Wie schnell bekommen Sie das hin?«

»Eine knappe Stunde wird’s schon dauern. Hängt ganz davon ab, wie schnell wir unsere Leute aus dem Schnee kriegen.«

»Herr Polizeirat, ich muss Ihnen nicht sagen …«

»… Zeit ist ein Luxus, den wir nicht haben. Keine Sorge, ich trete denen in den Hintern und schiebe an, wenn es sein muss.«

»Viel Erfolg weiterhin und danke, Frau Kriminalkommissarin.«

Endlich hatten sie einen »Ausschlag der Kompassnadel«. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät.

 

20:17 Uhr

Sie ist wach. Wo ist sie? Wer ist sie? Oder träumt sie? Sie spürt ihre Kopfschmerzen und ein leichtes Stechen in ihrem rechten Unterarm. Eine Infusion. Sie liegt im Krankenhaus. Sie ist nicht allein.

»Herr Doktor, unsere Patientin ist wach!«

Also im Krankenhaus. Aber wieso? War sie nicht im Wald? Wie ist sie hierhergekommen?

»Junge Dame, Sie haben Glück gehabt. Wissen Sie, wo Sie sind?«

Kopfschütteln. Kopfschmerzen. Anstrengung. Es ist zu hell!

»Okay, wissen Sie, wie Sie heißen?«

Wie sie heißt? Diese Kopfschmerzen! Sie braucht Ruhe, Wärme, Schlaf … Mo-m-e-n-t! Krächzen ihrer Stimme.

»Herr Doktor, sie versucht zu sprechen.«

Du m-u-s-s-t es schaffen! »Höhle … Arminhöhle.«

Zu viel. Schlaf. Dunkelheit … Wärme …

 

»Arminhöhle. Wissen Sie, was sie meint?«

»Schwester, ist die Polizei noch im Haus?«

»Einer steht vor der Tür. Vermuten Sie Schlimmeres?«

»Wer rennt fast zwei Tage ununterbrochen durch den Wald ohne jegliche Orientierung? Holen Sie ihn, ich habe da eine Vermutung.«

 

Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt

Lübecker Straße 53-63
Magdeburg
Büro der Direktorin
22:11 Uhr

Muss dich sehen. Bin so geil auf dich!
22:11, 18. Jan.

Anninka Kresch wusste nur zu gut, dass der Ministerpräsident schwanzgesteuert war. Seine Ehe ging nicht völlig grundlos in die Brüche. Der Mann hatte keine Schwäche für Frauen, sondern eine Besitzsucht. Er war nicht attraktiv, sondern hässlich. Ein Mittfünfziger, aufgedunsen wie ein Kloß, schütteres Haar. Frauen besorgten es ihm nicht aus Freude. Die Angst vor seinem Einfluss war ein effektiver Motivator.

Wenn er Lust verspürte, fing er an zu stinken. Ja, man konnte sagen, dass man die geistige Verfassung des Ministerpräsidenten an dessen Körpergeruch messen konnte. In letzter Zeit stank er oft, eine Mischung aus teurem Parfüm und dem salzig modrigen Odium seines Genitalschweißes.

Zugegeben, in der Bevölkerung war der Ministerpräsident beliebt – seiner zupackenden Art wegen. Auch wenn nur Frauen wussten, wie zupackend er wirklich sein konnte. Jedoch war er kein sonderlich intelligenter Mann. Er blieb abhängig von Einflüsterern. Keine politische Idee war seine eigene. Er verfügte über eine einzige Gabe – Skrupellosigkeit. Es war die Art Skrupellosigkeit, andere seine Pläne entwickeln und danach in der Versenkung verschwinden zu lassen, damit ihm niemand seinen Platz streitig machen konnte. Das war es, was man von männlichen Politikern erwartete: Eier in der Hose. Um Kompetenz ging es niemals!

Der Ministerpräsident war kein intelligenter Mann. Dies galt zugleich bezogen auf jeglichen Beischlaf. Für die Kunst des Spiels hatte er nicht den Verstand. Er musste oben liegen und als Erster zum Zug kommen. Flexibilität in den Stellungen war ihm fremd.

Anninka Kresch musste feststellen, dass sie für den Ministerpräsidenten in jenen Momenten nicht mehr gewesen war als eine Matratze mit Loch. Ekel überkam sie bei dem Gedanken, wie er sie durchrammelte. Er stieß zu mit der Wucht einer Büffelherde. Dazu sein Grunzen und sein furchtbarer Körpergeruch! Immer ergoss er sich in sie, kotzte förmlich in sie hinein. Ein Wunder, dass dieser Buhlschaft noch kein Bastard entsprungen war. Manchmal kam er zu früh, und er bespritzte sie gefühlt mit Litern milchig schaumigen Spermas. Das war jedes Mal eine Sauerei.

Sicherlich, er war skrupellos. Doch in puncto Skrupellosigkeit übertraf sie ihn um Längen. Im Bett war er ein Trottel, während sie skrupellos blieb. War sein Penis genügend durchblutet, machte sein Gehirn Pause. In diesen Momenten und eine gewisse Zeit davor und danach war er … empfänglich. Sie wusste, dass sie sich ihre Karriere nicht allein durch Arbeit, Fleiß und Kompetenz würde aufbauen können. Folgerichtig galt es, diese Momente auszudehnen. Anninka Kresch hatte ein Gespür für solche Momente und dafür, sie maximal gewinnbringend für sich zu nutzen. Ihre Antwort konnte nur lauten:

Nicht heute, mein Lieber. Morgen lasse ich dich ran. Vielleicht auch zweimal.
22:16, 18. Jan.

Harz-Klinikum Altenrode

Eichenburger Straße 15
22:41 Uhr

Schlafen. Dämmern. Wachen. Sie ist wach, zumindest für den Moment. Sie fühlt sich so schwach. Wenigstens ist es dunkel und nicht mehr so kalt. Nun ist sie allein. Allein mit sich und ihren Gedanken. Ja, sie kann wieder Gedanken fassen. Was ist passiert? Irgendetwas ist doch passiert. Ist sie nicht Ewigkeiten durch den Wald gelaufen? Sie kann immer noch nicht sagen, wie lange. Das Gefühl für Zeit ist ihr abhandengekommen. Sie kann sagen, wo sie ist. Und so langsam fällt es ihr ein. Sie kann sagen, wer sie ist. Sie weiß nun, wer sie ist!

Aber diese Kopfschmerzen. Ihre Gedanken rasen, sie kann sich nicht konzentrieren. Jetzt nicht. Sie braucht Schlaf. Schlaf …

 

23:58 Uhr

»Ich wiederhole: An alle Einheiten. Mehrere Explosionen in der Metrostation Stadhuis. Polizeikräfte vor Ort außer Gefecht. Es gibt Berichte über Dutzende Tote und Verletzte. Lage völlig außer Kontrolle. Alle verfügbaren Kräfte sind dort umgehend zusammenzuziehen. Großalarm!«

Als er den Platz endlich erreichte – zusammen mit anderen Polizei-, Feuerwehr- und Rettungseinheiten, die im selben Moment auch dort eintrafen –, bot sich ihm ein Bild der Apokalypse. Das Chaos brach sich Bahn rund um die Station, die sich unter der Coolsingel befand, einer breiten, baumgesäumten Hauptstraße durch das Stadtzentrum. Weil der Bereich bisher nicht hatte abgesperrt werden können, bildete sich ein langer Verkehrsstau, der den nahe gelegenen Hofplein innerhalb kürzester Zeit lahmzulegen drohte. Viele Fahrzeuge standen direkt auf der Straße und waren verlassen, da die Fahrer wohl selbst zu helfen versuchten. Allein das Hupkonzert der Autos war ohrenbetäubend.

Aus dem Untergrund der Station quoll dicker, öliger schwarzgrauer Rauch. Er war so dicht, dass man die leuchtend gelben Stationsschilder, die die Zugänge normalerweise weithin ersichtlich markierten, nicht erkennen konnte.

Straßen und Plätze waren übersät mit Verwundeten. Teilweise lagen oder kauerten sie, teilweise irrten sie panisch desorientiert herum, der eigenen inneren »Notbatterie« folgend. Schreiende, weinende Kinder. Schreiende, weinende Mütter. Schreiende, weinende Kinder und Mütter, die voneinander getrennt waren. Aus dem Untergrund ergoss sich eine, einem sich windenden Lindwurm ähnelnde rußverschmierte und blutüberströmte Menschenmasse.

Panik! Panik setzte jegliche Vernunft außer Kraft. Die Menschen brüllten um Hilfe oder vor Schmerzen mit angstverzerrten Blicken, fielen, krochen, trampelten übereinander her. Trampelten sich tot! Hier wollte jeder nur noch seine Haut retten.

Er stand starr vor Schreck mitten im Gewühl, hin- und hergerissen zwischen den plan- und ziellos Flüchtenden. Zu Boden geworfen und kaum wieder auf den Beinen. Er lächelte. Er hatte es kommen sehen, stand nun dabei und wusste nicht, was zu tun war. Es erschien ihm so abstrus. Doch es erging nicht nur ihm so. Die Menschenmenge drückte ihn direkt in die Arme seines Kollegen Piet Veenstra.

Der stand plötzlich vor ihm, wie zur Salzsäule erstarrt. Kam er mit ihm, oder war er schon da? Es spielte keine Rolle, jemand musste jetzt die Initiative ergreifen. Er packte ihn am Arm. Piet erschrak, wie aus einer Trance gerüttelt.

»Tinus«, sagte er leise. »Du hattest recht. O mein Gott!«

»Beruhige dich. Reiß dich zusammen und erklär mir die Situation!«

Er schluckte. »Es gab zwei Explosionen im Stationsinneren, in jeder Fahrtrichtung eine. Zumindest erzählen das hier alle.«

Langsam kroch Geving der widerliche Geruch verbrannten Fleischs und Bluts in die Nase. Ihm wurde übel, doch er konnte sich nicht gehen lassen.

»Wie viele unserer Leute sind noch da unten?«

Piet lachte völlig von Sinnen. »Du hattest die ganze Zeit recht!«

»Piet! W-i-e v-i-e-l-e?«

»Ich weiß es nicht. I-c-h w-e-i-ß e-s n-i-c-h-t!«

Es war schwer, sich bei diesem ohrenbetäubenden Lärmgemisch aus Alarmsirenen und menschlichen Schreien zu konzentrieren.

Jetzt musste sich Geving konzentrieren. »Was wurde bisher in die Wege geleitet?«

Piet schüttelte den Kopf und sagte nichts, lachte nur halb wahnsinnig.

Geving fasste ihn an die Schultern, schüttelte ihn durch. »Piet!«

Sein Kollege fing an zu heulen.

Genug! Er verpasste ihm eine Ohrfeige. »Mann, komm zu dir! Wir müssen jetzt funktionieren!«

Piet schluckte seine Verzweiflung herunter und atmete tief durch.

Wieder wurden beide zu Boden gerissen, rappelten sich wieder auf.

»Welche Maßnahmen wurden eingeleitet?«, fragte Geving noch einmal.

»Bis auf die notärztliche Versorgung der Menschen noch nichts.«

»Du koordinierst die Rettungsmaßnahmen hier oben.«

Geving und Veenstra sahen in diesem Moment emotionslos mit an, wie ein junges Mädchen – vielleicht vierzehn Jahre alt – an einem der Stationsaufgänge fiel. Niemand half ihm auf. Niemanden kümmerte es. Die Kleine wurde von der Massenpanik niedergetrampelt. Ein kurzer Schrei, ein paar Momente des erwehrenden Zuckens, keine Chance, sie blieb reglos liegen. Sie würde später dort sterben.

»Sichert die Ausgänge, und lenkt die Evakuierung in geordnete Bahnen.«

»Verstanden.«

»Es müssen Gassen gebildet werden, ich möchte …«

Eine weitere Explosion. War es eine Explosion? Eher ein dumpfes Grollen. Kam es von hier? Nein! Geving schaute sich in alle Himmelsrichtungen um und blieb an einem Punkt hängen. Es war auf der anderen Seite des Stadtzentrums, wo sich ein dunkler Rauchpilz erhob. War es das Westin oder das Beurs-World Trade Center? Nein, die Skyline schien unversehrt.

»Centraal Station«, erklärte Piet.

Bumm! Eine weitere Explosion, etwas näher, die Coolsingel runter.

»Und wo war das?«, fragte Geving.

»Lass es bitte nicht die Erasmusbrücke sein. Lass es b-i-t-t-e n-i-c-h-t die Erasmusbrücke sein!«

Da wurde es Geving schlagartig klar. Das hier war nicht die Hölle. Es war ein Vorspiel, die Vorhölle.

»Es ist eine Ablenkung!«

Geving drehte sich im Kreis, wurde angezogen von einem Punkt nahe der Einbiegung zur Kruiskade, fast hundert Meter entfernt. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Es schien, als ständen sie sich direkt gegenüber. Verdammt! Geving hatte recht. Der Mann stand mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht und hielt etwas hoch. Was war es? Es blinkte. Eine Zündfernsteuerung!

»Das kann doch nicht …«

Jetzt brach die Hölle los, der Boden unter Geving gab nach. Eins, zwei, drei, vier! Geving hob es vom Boden ab, er wurde von einer Druckwelle erfasst und rücklings mehrere Meter durch die Gegend geschleudert. Dann Schwärze. Stille …

 

Tinus Geving schreckte hoch. Einem Augenblick der Desillusionierung folgte die Erkenntnis. Er lag in einem leer stehenden Büro des Revierkriminaldienstes auf der Couch. Offenbar war er eingeschlafen. Er hatte nicht geträumt. Das war kein Traum! Er durchlebte es immer und immer wieder.

Was ihn aufschrecken ließ, war das Klingeln seines Diensthandys.

»Tinus Geving.«

»Grünwald hier. Kommen Sie schnellstmöglich ins Harz-Klinikum Altenrode. Ein junges Mädchen ist dort am frühen Abend halb erfroren, dehydriert und unter Schock stehend eingeliefert worden. Der behandelnde Arzt hatte so ein Gefühl.«

»Und das sagte ihm was?«

»Die Beschreibung passt auf eine unserer Vermissten.«

»Welche?«

»Mia Kolberg!«