Leseprobe Wie entkommt man einem Lord?

Kapitel 1

Der Landsitz der Familie Darlington unterschied sich äußerlich kaum von anderen Herrenhäusern, die die sanften, sattgrünen Hügel Essex zieren. Ein stattliches Anwesen des Kleinadels mit weitläufiger Anfahrt und einem Garten, der an ein Wäldchen grenzt. Von fleißigen Gärtnern gepflegte Büsche, nach der Mode zurechtgestutzt, ein englischer Rasen und große Blumenbeete sowie breite Schotterwege und ein Teepavillon nach viktorianischer Art nannte Lady Amanda Darlington of Yorkester ihren ganzen Stolz. War sie doch die Letzte in ihrem Freundeskreis gewesen, die einen solchen erworben hatte. Auch, weil ihr Mann strikt gegen dessen Erbauung war. Doch wie jede gute englische Ehefrau hatte sie tagelang auf Lord Alexander Darlington I eingeredet, bis er eingewilligt hatte. Nun jedoch stand der Pavillon unbenutzt im Garten. Bis auf ein paar Finken, die gerne auf den filigran gearbeiteten Stühlen saßen, genoss noch nie jemand längere Zeit darin.

So dachte zumindest Lady Amanda Darlington of Yorkester, denn sie selbst hatte nie die Absicht verspürt, hier ihren Tee zu sich zu nehmen. Sie verabscheute die teatime im Freien. Die Bienen und Fliegen, die sich für gewöhnlich über die angerichteten Törtchen hermachen wollten, und der Wind, der ihre Frisur durcheinanderbrachte, waren ihr bei solchen Anlässen ein Ärgernis. Lord Darlington teilte ihre Mentalität. Die Sticheleien ihrer Freundinnen hatten ihr aber zu sehr zugesetzt, als dass sie noch länger ohne Pavillon ihr Dasein hätte fristen können. Schließlich war Lady Darlington eine Dame des Kleinadels, die nach Tradition und Etikette lebte und deren größtes Anliegen es war, sich nahtlos in die Gesellschaft einzufügen.

Niemand sollte schlecht über sie und ihre Familie reden können, ohne dass sich zahlreiche Verteidiger ihres Namens fanden. Ihre Kleider waren modern, ihre Ehe galt als harmonisch und ihre Kinder, zumindest ihren Sohn Lord Alexander Bruce Darlington of Yorkester, hatte sie vorbildlich erzogen. Ein junger Mann, der sich bei Galas, Bällen und Tanzveranstaltungen zu benehmen wusste und dessen politisches Engagement einzigartig war – wäre es nicht für die falsche Überzeugung gewesen. Nicht nur hatte er sich eingebildet, die Labour Party und die englische Unterschicht zu unterstützen, nein, Alexander war auch ein flammender Befürworter dieser unansehnlichen Suffragettenbewegung. Diese setzte jungen Mädchen nur Flausen in den Kopf, die alles andere als gut waren. Diese Frauen hatten doch nur eins im Sinn: Die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören und die einfältigen Dinger zu Männern zu machen, damit das Königreich zusammenbrach. Denn wer sollte dann an der Front kämpfen, wenn die Grenze zwischen Gut und Böse derart verschwamm? Die anständigen Damen der High Society hatten doch alles, was man sich wünschen konnte: schöne Kleider, liebevolle Ehemänner und ansehnliche Kinder. Wenn man sich diesen Vorgaben nicht widersetzte, hatte man auch keine Probleme. Diese Ansicht vertrat zumindest Lady Darlington und hielt sie auch für die einzig Richtige, wenn man sie fragte. Warum also dieser Terz? Diese Suffragetten wollten rauchen, Universitäten besuchen und Politikerinnen werden? Dann sollten sie sich darauf einstellen, niemals zu heiraten. Kein rechtschaffener Mann würde eine Frau zur Gattin nehmen, die ihm seine Männlichkeit streitig machte. Zurecht. Den Frauen war die Weiblichkeit geschenkt. Sie sollten in dieser aufgehen, sie in vollen Zügen genießen und umarmen, so wie es Männern untersagt sein sollte, gegen die ihnen gegebene Natur zu handeln. Ein schwächlicher Mann war ebenso zu verachten wie eine dominante Frau. Sie, so glaubte Lady Darlington, hatte alles getan, um ihren Kindern dies klar zu machen. Auch hatte sie ihre Tochter Mary-Anne immer vor Alexanders politischer Agenda beschützt, sodass das Mädchen nicht auf dumme Gedanken kommen und von der Gesellschaft ausgestoßen würde. Wäre sie doch nicht mit dem Starrsinn ihres Vaters geboren worden! Denn obwohl man ihr die Anstandsdame hinterhergejagt hatte, war es Mary-Anne gelungen, ihrem Bruder spät nachts beim Diktieren seiner Briefe an seinen Diener zu lauschen. Und sie hatte diese fixen Ideen aufgesogen wie ein Schwamm. Es war, als hätten sie ihren Kopf ausschließlich damit gefüllt, sodass sie alsbald kein Interesse mehr an den anständigen weiblichen Dingen gehabt hatte. Kaum war sie zur Schülerin Alexanders geworden, vertauschte sie die Reifröcke zunächst gegen Unterbrustkorsette und schließlich gegen die Jagdhosen ihres Bruders. Mary-Anne weigerte sich, die hohen Strümpfe anzulegen und teure Seidenjäckchen zu tragen. Die Haare trug sie unbedeckt, wenn sie das Haus verließ. Die filigran gestickten Häubchen blieben unberührt in den Laden. Wie auf einen störrischen Esel hatte Lady Amanda auf ihre Tochter eingeredet. Das Kind angefleht, sie möge doch nicht immer diese scheußlichen Reithosen im Garten tragen, wo die Dienerschaft sie sehen konnte. Wenigstens einmal das wunderschöne maßgeschneiderte Kleid austragen, das man ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Die Haare könnte sie modisch hochgesteckt tragen und das Rauchen möge sie einstellen. So fände sie nie einen Mann, der sie ehelichen wollte. Vergebens. Lady Mary-Anne war nicht wie ihre Mutter und sie setzte alles daran, dass sich daran nichts änderte. Auch wenn ihre Mutter den Stillstand und die Konformität über alles schätzte, Mary-Anne wusste, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten war und dass man nur so eine bessere Welt für all ihre Bewohner formen und bauen konnte.

 

Der so sehr herbeigesehnte Teepavillon war Lady Amandas Wissen nach also gänzlich unbenützt. Doch war sie eine viel beschäftigte Frau und konnte nicht zu jeder Stunde auf dem Balkon stehen und dessen Anblick genießen. Daher wusste sie nicht, dass er zum Rückzugsort ihrer Tochter geworden war, die ihn nur allzu gerne dazu verwendete, um mit ihrer reizenden und Lady Amanda um einiges besser zu Gesicht stehenden Cousine Harriet Hamilton zu rauchen. Mary-Anne hatte Tee und Küchlein servieren lassen; daneben lag eine Zeitung, deren Headline:

„Feierliche Eröffnung des norwegischen Telemarkkanals findet am zwanzigsten September dieses Jahres statt“, keine der beiden Ladys interessierte.

„Mutter war am Morgen schon wieder in meinem Zimmer. Bereits vor dem Frühstück wollte sie mir noch einmal einbläuen, dass ich mich nicht blamieren darf.“ Mary-Anne ließ die rehbraunen Augen über die weiß-rosafarbenen Chrysanthemen schweifen, schlug die Beine übereinander, so wie es für die Männer der Oberschicht gerade Mode war, und seufzte.

„Ich weiß gar nicht, was du dich so anstellst!“, rief ihre Cousine. Sie trug ein violettes Sommerkleid, das Mary-Anne überhaupt nicht gefiel. Die erdbeerblonden Haare waren kunstvoll geflochten, zusammengehalten von ebenso hellblauen Schleifen. „Ich würde gerne heiraten. Stell dir doch nur vor: Du siehst ihm in die Augen und weißt, das ist der Mann, den ich für immer lieben werde! Und er schenkt dir Perlen und Seide und im Gegensatz schenkst du ihm Kinder. Dein Herz schlägt schneller, ja überschlägt sich beinahe, wenn du ihn zum ersten Mal siehst. Er ergreift deine Hand und dann … so wie Duke Wellington beim letzten Wohltätigkeitsball für die Waisenhäuser … und dann …“

Mary-Anne warf Harriet einen abschätzigen Blick zu. „Der Duke war doch der dritte in diesem Monat, von dem du wusstest, dass er der Einzige ist. Du liest zu viel! Sieh dir doch an, was in der Welt vorgeht. Wie kannst du da ans Heiraten denken? Wir Frauen haben keine Rechte. Alles wird von Männern gelenkt und bestimmt, dabei machen wir mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung aus.“

„Und du liest nicht die richtigen Bücher!“ Beleidigt verschränkte das blonde Mädchen die Arme vor der Brust und trat mit der Spitze ihres Seidenschühchens einen Kieselstein aus dem Pavillon. „Gib Lord Reginald doch wenigstens eine Chance! Womöglich ist er ganz nett. Außerdem war Duke Wellington außerordentlich charmant und zuvorkommend. Er wäre der perfekte Ehemann.“

„Es gibt nur eine Art Mann, die charmant und zuvorkommend ist und das sind jene, die wohl perfekte Ehemänner wären – doch eher für Alexander!“ Mary-Anne grinste.

Harriets Augen weiteten sich. Die Empörung war ihr ins Gesicht geschrieben, als wäre sie sich nicht sicher, ob ihre Cousine nun wirklich ausgesprochen hatte, was sie meinte gehört zu haben. „Em! Was redest du da?“, hauchte sie, ehe sie in schallendes Gelächter ausbrach. Sie kippte vornüber und presste ihre Brust gegen die Tischplatte, was diese derart in Bewegung versetzte, dass der erkaltete Tee über den Rand der Tasse schwappte und den teuren Stoff ihrer Ärmel benetzte. „Ihhh!“, kreischte sie laut genug, um die Aufmerksamkeit eines Gärtners auf sich zu ziehen. Er blickte besorgt zu den Damen hinüber.

„Wäre der nicht was für dich?“, stichelte Mary-Anne, die sich eine weitere Zigarette ansteckte.

Harriet sah auf und folgte dem Blick ihrer Cousine, der auf den jungen Diener gerichtet war. Ein eher grobschlächtiger Mensch, knallrote Haare und Sommersprossen. Sein Nasenrücken trug einen Sonnenbrand zur Schau, der vermutlich den gesamten Sommer dort verweilen sollte. Denn auch der Strohhut mit der breiten Krempe schützte den Arbeiter nicht vor den unbarmherzigen Strahlen.

Lady Hamilton verzog beleidigt das Gesicht: „Also wirklich, Em. Ein Gärtner? Und nicht einmal ein Hübscher! Es wäre wohl überaus romantisch, mit einem Mann aus der Unterschicht eine geheime Liebesaffäre zu haben. Allerdings müsste er um einiges besser aussehen als der hier.“

„War ein Scherz! Sei nicht immer so ernst, Harriet!“

„Ernst? DU bist der ernsteste Mensch, den ich kenne! Immer nur am Lesen und Proklamieren und diese fürchterlichen Veranstaltungen und Proteste, die du immer besuchst! Dabei könntest du doch mit mir und dem Monatssteekränzchen Badminton spielen.“ Harriet ergriff das Zigarettenetui und fummelte es auf. Sie rauchte nicht viel, aber gerne, hatte jedoch die größte Angst, ihre Tante könnte den kalten Rauch an ihren Kleidern riechen.

„Wie langweilig. Ihr spielt überhaupt nicht Badminton. Und Tee trinkt ihr auch nicht. Ihr stopft euch mit Kuchen voll, spült ihn mit Wein hinunter und gackert über die anderen Damen der Gesellschaft.“

„Siehst du! Also echt spaßig. Alles zwanglos. Du könntest auch in deinen geliebten Hosen kommen“, Harriet blickte an ihrer Cousine herab. Ein Hemd und ein sommerlicher Gehrock, der wohl Alexander gehören musste oder gehört hat, dazu eine Jagdhose und Stiefeletten ohne Strümpfe. Es fehlte nur noch, dass sich Mary-Anne die rotbraunen Locken abschnitt und endgültig zu Alexanders Spiegelbild verkam. Doch diese waren wohl selbstständig in einen schlampigen Dutt zusammengesteckt und mit einer viel zu langen Haarnadel fixiert worden. Wäre Lady Hamilton nicht an einen solchen Anblick ihrer Tochter gewöhnt, wäre ihr vermutlich längst das Herz vor Schock stehen geblieben. Von einer Dame, die sich so kleidete, hatte man noch nie gehört. „Deine armen Haare!“, beschwerte sie sich augenblicklich. „Es ist ein Wunder, dass sie dir noch nicht ausgefallen sind, so wie du sie behandelst. Ich selbst bin ja von den meinen verwöhnt, aber ich bin halt auch ein Glückskind.“

„Erst vor zwei Tagen war der Friseur hier, der dir die Verlängerungen eingenäht hat. Die Hälfte davon sind nicht einmal deine eigenen Haare.“

„Em!“, Harriet, bei ihrer Lüge ertappt, errötete. Ihre Wangen nahmen die Farbe frischer Erdbeermarmelade an, sie schlug die Augen zu Boden. Mary-Anne wusste, dass ihre Cousine das Gefühl hatte, mit ihrem Aussehen nicht in der Upper Class mithalten zu können. Auch wenn sie es ungern zugab, beneidete sie die Ältere des Öfteren um ihre Schönheit. Schon öfter hatte Harriet erwähnt, hätte sie ihr Gesicht, würde sie es nicht so wegwerfen und das Beste aus sich machen.

Mary-Anne berührte Harriet mit ihren zarten Fingern am Oberarm. Diese blickte auf und sah in die warmen Augen ihres Gegenübers. Mary-Anne lehnte sich über den Tisch und lächelte das blonde Mädchen aufmunternd an: „Harriet, du bist wunderschön! Du bist das süßeste Mädchen, das ich kenne, immer positiv und so herzlich. Sieh dir doch nur all deine Verehrer an, die dir zu Füßen liegen. Würdest du nur Fetzen tragen und dir alle Haare ausfallen, wärst du immer noch das schönste Mädchen Englands.“

Augenblicklich füllten sich die himmelblauen Augen der Jüngeren mit heißen Tränen, die jeden Moment über ihre Wangen zu rollen drohten. Sie unterdrückte ein Schluchzen, verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln, ehe sie die Hand ihrer Cousine ergriff und hervorpresste: „Es muss dich alle Überwindung gekostet haben, mir so ein oberflächliches Kompliment zu machen.“

Andächtig sog ihr Gegenüber den Atem ein. Mary-Anne roch den süßen Duft der Rosen und der halb aufgegessenen Törtchen, die auf gold-umrandeten Porzellantellerchen neben ihnen standen. „Und wie.“

„Ich kenn’ dich viel zu gut!“, lachte Harriet und lehnte sich zurück, um ganz und gar nicht damenhaft die Beine breit gespreizt von sich zu strecken. Genussvoll sog sie an ihrer Zigarette. „Wann kommt Lord Reginald an?“

„Keine Ahnung. Heute oder morgen soll er kommen. Meine Mutter wird wohl noch wie ein aufgeschrecktes Huhn herumrennen und die Dienstmädchen nach mir schicken, dass sie mich in irgendein im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubendes Kleid pressen. Ich hoffe, er kommt niemals an. Mutters Ultimatum für eine Verlobung war schon überzogen genug, aber dass ich diesen kränklichen Herrn heiraten muss, grenzt doch an Hass mir gegenüber“, schnaubte die braunhaarige Lady. Sie griff nach einem der übrig gebliebenen Scones, bestrich ihn dick mit Butter und nahm einen viel zu großen Bissen, sodass trockene Krümel an ihren vollen Lippen kleben blieben.

„Kränklich? Ich muss sagen, ich weiß nicht viel über Lord Reginald.“

„Das grenzt ja beinahe an ein Wunder. Normalerweise ist dir ja alles über jeden Menschen bekannt, da deine Freundinnen besser spionieren können als Scotland Yard“, Mary-Anne verschlang die Süßspeise und schüttete die Tasse Tee hinten nach. Allein bei dem Gedanken an ihren Zukünftigen wurde ihr schlecht. Sie fühlte sich nicht in der Lage, ihrer Zukunft ein anderes Gefühl als Verachtung und Hass entgegen zu bringen, sollte ihre Mutter den Plan der arrangierten Ehe in die Tat umsetzen. Es war ihr wohl bewusst, dass all die anderen Mädchen so zu ihren Gatten gekommen waren. Doch auch ihre Mutter hatte zumindest die Gelegenheit gehabt, aus mehreren Männern zu wählen, die zu einer kleinen Tanzveranstaltung geschleppt worden waren, aus dem einzigen Grund, die Tochter des Lords von Darlington zu ehelichen. Mary-Anne war nicht einmal dies gestattet. Sie musste nehmen, wen man ihr vor die Nase setzte. Alexander hatte sein Lebtag noch keine Frau mit nach Hause gebracht oder überhaupt je ein Mädchen erwähnt, dennoch hing ihm keiner wegen einer Heirat in den Haaren. Ihr Bruder war der große Politiker, der machen konnte, was er wollte, solange er sich in den nächsten zehn Jahren um einen Erben kümmerte. Mary-Anne konnte sich ihren Bruder weder als Gatten noch als Vater vorstellen. Schon gar nicht, dass er seine Klubaktivitäten wegen solcher in seinen Augen Banalitäten je aufgeben sollte. Aber sie musste heiraten, noch dazu einen Kasper, den ihre Eltern für sie erwählt hatten. Bald schon würde Lord Reginald anreisen, ihr einen Ring an den Finger stecken und sie für immer an ein Leben in den eigenen vier Wänden binden, die sie ohne seine Erlaubnis nicht mehr verlassen durfte. Wie würde dies ihrer Mutter gefallen! Endlich brachte das missratene Gör keine Schande mehr über den Familiennamen.

„Hast du ihn schon einmal getroffen?“, fragte Harriet.

Mary-Anne schüttelte so heftig den Kopf, dass die Haarnadel drohte gen Boden zu segeln. „Ich nicht, aber Alexander. Er sagt, dass er ein ängstliches Männchen ist, der am Rockzipfel seiner Mutter hängt. Er hält sich für einen Schriftsteller oder Poeten oder so etwas in der Art. Seine Kurzgeschichten wurden ein paar Mal in der lokalen Zeitung veröffentlicht. Ich habe ein paar davon gelesen: Grauenhaft, kann ich dir nur sagen. Ohne Spannung, ohne Handlung, nur ein Liebespärchen, das sich seitenlang anschmachtet. Obwohl, dir würden sie gefallen.“

Harriet streckte ihr die Zunge entgegen.

„Jedenfalls“, fuhr ihre Cousine unberührt dessen fort. „Er soll sich immer danach richten, was Frau Mutter ihm sagt. Er besucht keine Klubs, begeistert sich nicht für Politik, ja er geht nicht einmal ins Theater. Die Herren der Upper Class zerreißen sich das Maul über ihn und selbst jene, die üblich belächelt werden, verlieren kein gutes Wort über ihn. Selbst Alexander, der sich auf solche Lästereien selten einlässt, hat ihn schon verspottet.“ Sie lächelte ihr Gegenüber schief an. „Und Harriet, du kennst meinen Bruder, der versucht immer das Gute im Menschen zu sehen, und wenn er so etwas behauptet, dann stimmt das. Darauf kannst du dich verlassen.“ Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette und drückte sie in der kleinen Porzellanschale aus, die sie als Aschenbecher mit aus dem Anwesen genommen hatte.

In dem Moment erblickte sie Lady Amanda, die aufgeregt zu ihnen hinüberkam. „Mist …“, fluchte sie.

„EM!“, kreischte Harriet, ehe sie bemerkte, dass auch sie noch ihre Zigarette zwischen den Fingern hielt. Nun warf sie diese panisch auf den Boden und trat sie aus. Als zöge man eine Feder in ihrem Rückgrat stramm, setzte sich Harriet kerzengerade und winkte ihrer Tante, die sich schnellen Schrittes näherte.

Das Kleid bauschte sich hinter ihr auf und verlieh ihr den Anblick einer Truthenne, die vor einer Jagdgesellschaft auf der Flucht war. „Mary-Anne!“, rief sie schon von Weitem und die Angesprochene ahnte nichts Gutes. „Mary-Anne, sie sind hier! Rasch! Geh auf dein Zimmer, die Mädchen sollen dir beim Ankleiden helfen. Ich habe bereits alles bereitlegen lassen. So wirst du deinem zukünftigen Gatten nicht unter die Augen treten!“

Connors, der Butler, ein Mann mittleren Alters, dessen Haaransatz seit vielen Jahren immer weiter vor seiner Stirn floh, trat hinter Lady Darlington hervor. Er gab den beiden jüngeren Hausdienern ein Zeichen, dass sie das Geschirr abräumen sollten.

Lady Amanda baute sich vor ihrer Tochter auf und bedachte sie mit einem strengen Blick: „Du wirst einen guten Eindruck machen und diesen Mann ehelichen, ob du das möchtest oder nicht. Deine Scharade hat hier und heute ein Ende. Mach dich zurecht und wirf diese Hosen mitsamt den anderen aus deiner Garderobe. Ich habe mir dieses Spiel lange genug angesehen und nichts gesagt. Jetzt ist es aus. Du wirst mir eine gute Tochter und Lord Harrison eine gute Ehefrau sein. Abmarsch!“, dirigierte sie im Befehlston, ergriff ihrer Tochter am Handgelenk und zog sie auf die Füße. Dann übergab sie Mary-Anne der Hausdame, die sie zum Anwesen begleiten sollte. Doch nach wenigen Metern blieb Mary-Anne stehen und blickte zum Pavillon zurück.

„Harriet …“, seufzte Lady Amanda, die augenscheinlich erschöpft auf jenem Stuhl zusammenbrach, auf dem bis zuvor noch ihre Tochter gesessen hatte. Sie vergrub das Gesicht in den Händen, die erstaunlich glatt für eine Frau ihres Alters waren. Auch ihre Haare waren kaum von den silbernen Fäden durchzogen, die sich bereits durch das von Harriets Mutter webten. „Harriet, ich weiß nicht, was ich mit dem Mädchen machen soll. Wieso fällt es ihr so schwer, sich in die Gesellschaft einzufügen? Wieso kann sie nicht normal sein, so wie du?“

Es schmerzte Mary-Anne ihre Mutter so von ihr reden zu hören.

Harriet nahm die Hand ihrer Tante in die eigenen zarten Finger. „Ach Tantchen, das weiß ich doch. Sie hängt einfach zu sehr an ihrem Bruder. Alexander ist ihr Idol und Mary-Anne möchte um alles in der Welt von ihm geliebt werden. Wenn Alexander ihr seine Liebe nur ein wenig mehr zeigen würde, hätte dieses Spiel ein Ende, das ist gewiss. Leider ist er sehr beschäftigt und findet kaum Zeit für sie. Natürlich will sie mit ihm nach London fahren, bei seinen Runden dabei sein und mit seinen Freunden und Bekannten Zeit verbringen.“

„Denkst du?“, Lady Amanda blickte auf. Ihre grauen Augen glänzten feucht.

Harriet nickte. „So, wie sie sich jetzt gibt, das ist sie nicht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie gerne wir Hochzeit und Mutter gespielt haben als Kinder. Sie wollte doch auch immer einen lieben Mann.“

„Wir können nur hoffen, dass du recht behältst“, ihre Tante erhob sich und sah den Dienern nach, die angeführt von Connors, bereits wieder diensteifrig das Anwesen betraten. „Glaub mir, das werde ich“, verkündete Lady Hamilton. Auch sie stand auf, streckte den Rücken durch und strich ihre Röcke zurecht. „Ich werde mich nun auch ankleiden, ich möchte das um nichts in der Welt verpassen.“

„Ach, Harriet, wie gerne hätte ich dich als Tochter“, seufzte Lady Amanda. Ihre Augen weiteten sich, als sie die ausgetretene Zigarette neben dem Schuh ihrer Nichte und die dazugehörige Asche auf diesem erblickte. „Harriet!“, schimpfte sie sogleich. „Harriet, ich fasse es einfach nicht! Rauchst du?“

Panisch schüttelte die junge Frau den Kopf, eine seidene Strähne löste sich aus dem Haargeflecht und umspielte ihre schmalen Schultern. „Nein, Tantchen, ich schwör’s! Noch nie in meinem Leben hab’ ich überhaupt daran gedacht! Das ist doch unschicklich.“

Der strenge Blick ihrer Tante verriet, dass sie ihr diese kleine Notlüge nicht glaubte. Dennoch folgte nicht der gefürchtete Tadel. Sie sagte lediglich: „Nun gut. Zieh dich rasch um, Lord und Lady Harrison warten schon im Blauen Salon und ich möchte sie ungern noch länger hinhalten.“

 

Lord und Lady Harrison of Greenwich sahen schon von Weitem wie Menschen aus, um die sie am liebsten einen weiten Bogen gemacht hätte. Seit beinahe zehn Minuten stand Mary-Anne mit dem Rücken gegen die Wand gepresst im Gang und beobachtete den Besuch durch einen runden Spiegel hing. Goldene Vögel zierten den Rahmen und flatterten über die Zweige eines Baumes. Man hatte sie in ein hässliches, viel zu pompöses olivgrünes Kleid gesteckt. Der Rock war von einem Muster überzogen, das wohl ihrer Großmutter gefallen hätte, wäre sie nicht schon halb erblindet oder vielleicht gerade deshalb. Die Schuhe waren zu eng und zu hoch. Überhaupt nicht dafür gemacht, darin zu gehen, sondern eher dafür gut auszusehen, wenn man sich nicht bewegte. Der unansehnliche Schmuck hing ihr schwer um den Hals. Auch wenn die Hausdame darauf bestand, dass sie überaus hinreißend aussah, konnte Mary-Anne dieser Aufmachung nichts Gutes abgewinnen.

Lord Reginald wirkte blass. Er machte den Eindruck, als übergebe er sich wohl jeden Moment, sollte er sein Gewicht zu schnell von einem Schenkel auf den anderen verlagern. Seine Mutter redete unaufhörlich auf ihn ein, während sie mit ihren Fingern durch die in Form gekämmten dunkelblonden Haare fuhr. Sie zupfte am Backenbart, der Lord Reginalds Wangen noch eingefallener wirken ließ. Er hätte diesem Modetrend nicht unbedingt folgen müssen. Mary-Anne hätte ihm zweifelsohne davon abgeraten. In seinen dünnen Fingern hielt er zitternd eine Teetasse, deren Inhalt aufgrund der Erschütterungen immer wieder auf der Untertasse landete und von dort auf seine rot-karierte Hose tropfte.

Die junge Frau legte den Kopf an die Wand, presste die Lider zusammen und atmete tief durch. Ihre Finger krallten sich in die gelbliche Stofftapete, als wäre sie das Einzige, das Mary-Anne noch Halt gab. Die Seidenhandschuhe kratzten gegen ihre Fingerkuppen. Mit einem Mal spürte sie die Schwere des Kleides, das auf ihre Schultern presste. Das Korsett presste ihre Brüste zusammen, bohrte sich in ihre Seiten und verschmälerte ihre Taille, die sie nie versucht hatte zu schrumpfen, drastisch. Seit Monaten schon hatte sie keines dieser einschnürenden Kleider mehr getragen. Nun fühlte sie sich, als könnte sie keinen richtigen Atemzug tun. Die Welt begann sich um sie herum zu drehen, Sterne explodierten einem chinesischen Feuerwerk gleich vor ihrem Sichtfeld, ihr Kopf wurde schwer. Sie kannte dieses Gefühl. Sie würde jeden Moment ihr Bewusstsein verlieren. Mit viel Glück würde ihre Mutter beschließen, dass sie nicht in der Lage war, Lord Reginald zu treffen und ihr strenge Bettruhe verordnen. „Bitte, lieber Gott, lass mich umfallen …“, murmelte sie, als ein Windstoß ihre erhitzten Wangen streichelte. Mühevoll öffnete sie die Augen und erblickte ihre Cousine liebreizend gekleidet, die ihr mit ihrem Fächer vor dem Gesicht herumfuchtelte. Harriet trug tieftürkisfarbene Seide. Der Rock, der sich über einen weitläufigen Reifrock spannte, war von einem an Pfauenfedern erinnernden Muster überzogen, das unter dem gleichfarbigen Jäckchen wie Regentropfen an einem Schirm herablief. Ihre Haare waren schön zurechtgemacht worden. Wie die meisten Mädchen hatte sie sich Rouge auf die Wangen gelegt, um keck zu wirken. Obgleich ihre Tante dies nicht gerne sah, da es diese an „Schauspielerinnen und Damen des Nachtlebens“ erinnerte, hatte sie nie etwas einzuwenden. Hauptsache, die eigene Tochter durfte nicht mit ihrem Bruder auf die Jagd gehen.

„Em, du siehst fürchterlich aus. Bekommst du keine Luft?“, sie ergriff Mary-Annes Schultern, um sie vor einem Sturz zu bewahren, doch Mary-Anne schüttelte ihre Cousine lediglich ab und drückte sich von der Wand. „Es geht schon. Lass uns diese Unannehmlichkeit nur schnell hinter uns bringen.“

Harriet lachte auf: „Hoffentlich sagst du ihm das nicht in der Hochzeitsnacht.“

Mary-Anne verzog das Gesicht. Daran wollte sie überhaupt nicht denken. Sie hoffte, heute noch etwas Zeit heraus zu handeln und die Verlobung aufschieben zu können. Diesen Mann zu brüskieren dürfte ein Leichtes sein und sie hatte vor, ihr Bestes zu geben.

Lord Reginald erhob sich augenblicklich, als die beiden Ladys den Raum betraten. Seine Mutter zog ihn am Zipfel seines Gehrockes wieder in den Ohrensessel zurück. „Reginald!“, fauchte sie.

Es war Mary-Anne unverständlich, was der junge Lord falsch gemacht haben soll. Seine jadegrünen Augen sahen Lady Harrison entschuldigend an, flehend, sie möge ihn nicht hier und jetzt rügen. Die alte Dame bedachte ihn lediglich mit einem harten Blick. Auch ihre neue Schwiegertochter schien ihr nicht gerade zu Gesicht zu stehen. Streng musterte sie die junge Lady. Schließlich erhob sie sich und trat ihr entgegen, wobei sie sich vor Harriet aufbaute und sprach: „Rouge? Es muss wohl Mode sein unter den jungen Damen der Oberschicht sich herzurichten wie die Schauspielerinnen des Royal Theatres. Und dieses Kleid? Viel zu auffällig, viel zu eng. Wenn mein Reginald dich einmal geehelicht hat, muss all das sofort verschwinden. Eine Dame des Hauses Harrison wird sich nicht so kleiden. Und diese Frisur erst!“ Harsch zog sie an einer von Lady Hamiltons Locken. Sie riss fest genug an dem die Schulter überspannenden Ärmel des Jäckchens, dass man deutlich hören konnte, wie die Fäden ein Stück weit rissen.

Mary-Anne beobachtete die Szene, die sich keine zwei Schritte neben ihr zutrug, mit zunehmender Freude. Sie spürte, wie sie jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen würde. Doch wie sie es über Jahre hinweg eingebläut bekommen hatte, hielt sie sich zurück. Ihre Mutter wirkte wie fest gefroren in ihrem Ohrensessel. Ihre Augen waren seltsam geweitet. Es war, als wagte Lady Amanda es nicht zu atmen. So schaffte sie es allerdings auch nicht, ihren Gast zu berichtigen.

„Mutter …“, ergriff Reginald das Wort. Seine Stimme war schwach, wie die einer Maus, passend zu seinem Gesicht schien es Mary-Anne.

„Nicht jetzt, Reginald“, wies ihn Lady Harrison zurecht, ehe sie sich Lady Amanda zuwandte. „Haben Sie Ihrer Tochter keine Manieren beigebracht? Dass man sich nicht derart kleidet, wenn man seinen zukünftigen Gatten empfängt? Wir sind ein christlicher Haushalt. Mein Sohn wird kein leichtes Mädchen ehelichen, dass es für nötig hält, ihr Gesicht zu bemalen.“

„Lady Harrison, dies hier ist meine Nichte“, krächzte Lady Amanda. Sie erhob sich ebenfalls und trat neben Mary-Anne, der sie die Hand auf den Oberarm legte und sie in Richtung der alten Dame drehte. „Das hier ist meine Tochter.“

„Sehr erfreut.“ Mary-Anne senkte ihren Blick, um ihr Gegenüber nicht zu blamieren und knickste höflich. Sie musste sich eingestehen, dass sie nach diesem Auftritt ihrer Schwiegermutter in spe alle Lust an einer Bloßstellung ihrer selbst oder Lord Reginalds verloren hatte. Harriet trat rasch einige Schritte zurück, sodass nicht noch der andere Ärmel Lady Harrisons Wut zum Opfer fallen würde, knickste ebenso und ließ sich neben ihrer Tante auf dem Sofa nieder. Vergebens versuchte sie, ihre Locken zurecht zu drücken.

Lord Reginald lehnte sich zu ihr herüber und flüsterte: „Ich entschuldige mich für das Verhalten meiner Mutter. Es war ungehörig und wenn es Ihnen etwas Aufmunterung bringt, ich finde Ihr Kleid sehr reizend.“

„Reginald!“, keifte seine Mutter erneut, was den schwächlichen Mann zusammenzucken ließ.

Beschämt setzte er sich auf und richtete seine Augen auf die Knie, auf denen er einem artigen Schulmädchen gleich die Hände gefaltet hatte. Nun war es nicht verwunderlich, dass auch Alexander über den armen Mann hergezogen und ihn ein Muttersöhnchen genannt hatte.

Lady Harrison schnaubte empört, beäugte Mary-Anne aber beinahe wohlwollend. „Eine wunderhübsche Tochter haben Sie, Lady Amanda. Sie wird eine wundervolle Mutter abgeben, wenn die Kinderchen nur annähernd so ein anmutiges Gesicht haben werden. Reginald, Junge, komm doch zu mir und betrachte deine Braut.“

Augenblicklich sprang Reginald auf die Füße und kam in langen, selbstbewussten Schritten, die ihm Mary-Anne überhaupt nicht zugetraut hatte, auf die Frauen zu. Es war ihm anzusehen, dass ihm die Situation mehr als unangenehm war. Scheu zuckten seine jadegrünen Augen über ihr Gesicht, ihren Hals hinab und von dort direkt auf ihre behandschuhten Finger, die den Fächer fest umklammert hielten. Röte kroch seine Wangen empor, seine Lippen waren so flach aufeinandergepresst, dass sie nur noch einen Strich bildeten. Mary-Anne wusste nicht, welchen Punkt auf dem dunklen Parkett sie fixieren sollte, um ihrem Gegenüber nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Peinlich berührt zupfte sie am Ärmel ihrer Jacke, deren sorgfältig gewebter Stoff sich viel zu dick und undurchlässig anfühlte. Auch Reginald räusperte sich um einiges zu oft, als dass es natürlich gewirkt hätte. Seine Finger vergruben sich in die Seiten seiner Hose und fummelten am Saum, während er die Ohrläppchen seiner Verlobten betrachtete, als seien sie das Herzstück einer Weltausstellung.

„Sagen Sie, Lord Reginald“, wisperte die junge Lady. „Möchten Sie nicht einige Schritte zurücktreten?“

Erschrocken blickte er sie an, tat jedoch, worum er gebeten worden war.

Lady Harrison ergriff sogleich das Wort: „Liebreizend, nicht wahr?“

„Sehr.“

„Wundervoll. Dann wäre alles geregelt. Wollen wir uns nun über die Formalitäten unterhalten?“, damit nahm sie ihren ursprünglichen Platz gegenüber Lady Amandas wieder ein und griff nach der Teetasse, die sie auf dem kleinen Beistelltischchen abgestellt hatte. Kaum hatte sie einen Schluck getan, verzog sie angeekelt das Gesicht: „Grauenhaft. Ich hasse kalten Tee. Mädchen!“ Eines der Dienstmädchen, das anständig vor dem Salon gewartet hatte, kam sofort herbei und knickste vor der Lady.

„Bring mir eine frische Tasse Tee. Dieser hier ist kalt.“

„Sehr wohl, Mylady.“

Lizzy war eines der jüngeren Mädchen, die der Haushalt beschäftigte. Sie war vor einem halben Jahr in das Anwesen gekommen. Zuvor hatte sie in einer Färberei gearbeitet, die wegen der prekären Wirtschaftslage schließen musste. Sie tat ihr Bestes, sich in den Reigen der Dienstboten einzufügen. Leider war sie schusslig und konnte kaum stillstehen, ohne sich über wunde Füße zu beklagen. Ihre dunkle Mähne war kaum zu bändigen. Auch mit Kämmen und Wachs gelang es der Hausdame nicht, sie in eine angemessene Frisur zu zwingen. Sie musste in Harriets Alter sein, wusste aber selbst nicht ihren Geburtstag, weshalb die beiden jungen Frauen schnell eine enge Beziehung aufgebaut hatten. Lady Hamilton hatte ihr kürzlich eine indische Haarnadel geschenkt, die sie bei einer ihrer Ausfahrten in die Stadt erworben hatte. Diese war Lizzys ganzer Stolz und sie trug sie beinahe täglich. So auch an diesem Nachmittag, was dem Adlerblick Lady Harrisons nicht entging.

„Mädchen, warte!“ Blitzschnell ergriff sie das Handgelenk des Dienstmädchens. „Was hast du da?“

Lizzy wandte sich erschrocken um. „Mylady?“

„In deinen Haaren! Diese Nadel! Die wird doch nicht dir gehören“, wetterte sie und griff nach dem Schmuckstück, um es dem Mädchen aus den Locken zu zerren. „Mylady! Diese Nadel wurde mir von der jungen Lady Hamilton geschenkt. Sie ist sehr wohl mein Eigentum“, stotterte Lizzy und bemühte sich, ihr Handgelenk aus dem eisernen Griff der älteren Dame zu befreien.

Mary-Anne wollte im Boden versinken, noch nie hatte sie sich derart fremdgeschämt. Sie konnte sich nur zu gut ausmalen, wie diese Frau ihr keine ruhige Minute gönnen und die zu groß geratene Nase immer in Angelegenheiten stecken würde, die sie nichts angingen. Es war grauenhaft mit anzusehen, wie Lady Harrison Lizzy des Diebstahls bezichtigte und auch nicht lockerließ, als das Mädchen sich erklärt hatte. Eigentlich wollte Mary-Anne dieses Verlobungsgespräch nicht erneut vermiesen, doch wie könnte sie bei einem derartigen Unrecht tatenlos zusehen? „Lady Harrison!“, rief sie. In ihr kochte die Wut. „Lizzy spricht die Wahrheit, Sie können das Mädchen nun getrost ihren Aufgaben nachgehen lassen.“

„Mary-Anne!“, empörte sich ihre Mutter kaum, dass die junge Lady ausgesprochen hatte. „Wie sprichst du mit deiner Schwiegermutter?“

„Noch ist sie das nicht“, erwiderte Mary-Anne und merkte erst im Nachhinein, was sie da von sich gegeben hatte. Erschrocken weiteten sich ihre Augen, sie schlug die Hände vor den Mund.

Es war, als würde der Raum auf einmal erkalten. Wie der Gartenteich, der im Winter eine Eisschicht bildet, gefror auch die Stimmung im Blauen Salon schlagartig. Keiner wagte es, sich zu bewegen oder auch nur laut zu atmen. Mary-Anne sah aus den Augenwinkeln, wie Harriet im Begriff war, sich zu entfernen und ihre Cousine ihrem Schicksal zu überlassen. Sie war sich noch nicht einmal sicher, was Harriet bei dieser Gesellschaft überhaupt zu suchen hatte. Neugier war es wohl gewesen, die ihre Cousine hierhergetrieben hatte und Scham, die sie vermutlich wieder verscheuchen würde.

„Lizzy“, sprach Lady Amanda nach einer unerträglich langen Zeit. „Bring Lady Harrison ihren Tee und sag dem Diener, er soll gleich noch den Kuchen anrichten.“

Die junge Frau wand ihr Handgelenk aus dem eisernen Griff der alten Lady und eilte rasch zur Tür hinaus.

„Eine unerträgliche Person!“, beschwerte sich Lady Harrison sogleich und Mary-Anne konnte nicht sagen, ob diese Bemerkung an sie oder das Dienstmädchen gerichtet war. „Unsere Mädchen hätten mehr Anstand, als sich derart auffälligen Firlefanz in die Haare zu stecken, nicht wahr, Reginald?“

„Ja, Mutter.“ Der junge Lord hatte eine unerträglich dünne Stimme. Immer wenn er sprach, klang er beinahe atemlos, als sei er selbst in ein viel zu enges Korsett geschnürt. Seine Fingerspitzen zuckten wieder zum Saum seiner Hose, vom nervösen Spiel ausgeleiert und angegriffen. Mary-Anne sah die Fäden, die sich aus der Naht gelöst hatten, von Weitem. Sein Blick ruhte auf den runden indischen Teppich unter dem Teetischchen.

„Wie dem auch sei. Die Landluft tut uns gut“, fuhr Lady Harrison fort, ohne näher auf Mary-Annes ungebührliches Verhalten einzugehen. „Reginalds Lungen waren von der schlechten Luft in der Stadt überaus belastet. Er hat die letzten Tage in seinem Apartment an der Carnaby Street zugebracht, da er jetzt für den Finanzminister arbeitet, nicht wahr, Reginald?“

„Ja, Mutter.“

„Oh!“, zwitscherte Lady Amanda augenblicklich. „Das ist ja wunderbar! Wie gefällt es Ihnen dort? Ich habe gehört, der Minister soll …“

„Es gefällt ihm großartig. Allerdings habe ich ihm schon öfter gesagt, dass er sich nicht so überarbeiten soll. Reginald leidet unter chronischer Erschöpfung und muss zehn Stunden am Stück schlafen. Da ist es unmöglich, dass er sich so übernimmt“, fiel ihr die alte Lady sogleich ins Wort, ihre Hand legte sich auf das Knie ihres Sohnes und tätschelte es fürsorglich. Reginald war dies offensichtlich unangenehm, doch seine Mutter ließ es sich nicht nehmen, auch noch seine Finger vom Saum seiner Hose zu nehmen.

„Lord Reginald!“, ergriff Harriet das Wort. „Das ist ja fürchterlich! Sie tun mir von ganzem Herzen leid. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie unter anderem an schwerem Asthma leiden sollen, ist das wahr?“

Mary-Anne blickte zu ihrer Cousine hinüber und beneidete sie um die Leichtigkeit, mit der sie Konversation halten konnte. Es schien sie keine große Überwindung zu kosten, mit einem beinahe Fremden zu sprechen, der es nicht einmal zustande brachte, in ihre großen blauen Augen zu blicken. Oft schon hatte sie sich Harriets unbeschwerte Art gewünscht, auch wenn sie diese insgeheim für zu unbekümmert und naiv hielt. Doch in diesem Moment war sie der Jüngeren dankbar, dass sie das Gespräch auf sich lenkte.

Reginalds Jadeaugen sahen unter seinen blonden Wimpern hindurch die junge Lady an und er öffnete die Lippen ein wenig, um zu sprechen: „Ja. Es ist ermüdend“, brachte er hervor.

Harriet lachte ehrlich auf: „Ermüdend! Weil er unter chronischer Erschöpfung leidet! Sie sind zu komisch, Lord Reginald!“

Ein warmes, einladendes Lachen, das auch Mary-Anne ein Lächeln entlockte.

„Oh, nicht doch“, Reginald sah nun auf. Er blickte ihr direkt ins Gesicht, die Wangen rot. „D … Das ist zu freundlich von Ihnen, Lady Hamilton.“

„Nein, ich wusste gleich, dass Sie Humor haben! Sie gehen wohl öfters ins Theater?“, Harriet stützte ihren Ellenbogen auf die Lehne des Sofas und legte den Kopf auf die Hand, in der sie ihren Fächer hielt. Ihre Füße waren elegant hintereinandergelegt, wie es sich für eine Lady gehörte.

Lord Reginald schüttelte lediglich den Kopf und begann sofort wieder am Saum zu zupfen. „Nein, eigentlich nie. Mutter sagt, dass es sich nicht lohnt.“

„Dann müssen Sie unbedingt mit uns ins Theater kommen! Lady Darlington und ich lieben das Theater. Jede Woche müssen wir mindestens einmal eine Vorstellung besuchen. Im St. James Theatre zeigen sie gerade ‚Lady Windermeres Fächer’.“

„Auf gar keinen Fall!“ Lady Harrison hatte die Konversation wie ein scharfer Hund beobachtet und fand es dringend an der Zeit, sich endlich einzumischen. „Mein Reginald wird keine lächerlichen Stücke besuchen. Heutzutage ist alles lasterhaft, was man auf diesen Bühnen zeigt. Lächerliche Komödien, die den Ernst des Lebens nicht verstehen. Was kann mein Sohn von solchen sündigen Aufführungen lernen? Wir lehnen eine solche Unterhaltungskunst strikt ab, Lady Hamilton.“

„Mutter …“, zischte Reginald, wagte es aber nicht, seiner Mutter entgegenzuhalten, sondern senkte nur gehorsam die Augen.

 

Lord Alexander Darlington betrat in diesem Moment in Reitkleidung und mit Duke Wellington im Schlepptau den Salon. Sein ungläubiger Blick fiel auf seine Schwester. Offensichtlich kostete es ihn alle Anstrengung, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Der junge Lord schien von der Anwesenheit der Gäste überrascht und verbeugte sich rasch, um diese anständig zu begrüßen.

„Lord und Lady Harrison of Greenwich. Mein Sohn Alexander und der Duke of Wellington“, Lady Amanda hatte sich überrascht von Alexanders Erscheinen erhoben und deutete ihrer Tochter und Nichte, es ihr gleich zu tun.

Lady Harrison bedachte Alexander mit einem abschätzigen Blick. Sie rümpfte ihre Nase und machte keinen Hehl daraus, was sie von seinem Aufzug hielt. Auch Duke Wellington schien ihr unangemessen gekleidet zu sein. Alexander zog die schwarze Reitgerte, die er mit sich trug, in großen Kreisen über den Boden, während er die tiefbraunen Rehaugen über die Anwesenden schweifen ließ. „Außerordentlich erfreut“, sagte er schließlich und marschierte auf Lord Reginald zu, dem er selbstbewusst die Hand reichte. Dieser zögerte einen Moment. Die offene Art des Neuankömmlings verunsicherte ihn. Dennoch zwang er sich, Alexanders Gruß zu erwidern, wobei er seine Finger kaum um dessen legte, sondern sie lediglich berührte.

Duke Wellington stellte sich indes Lady Harrison vor und gesellte sich an Harriets Seite, die ihm einen koketten Blick zuwarf, den er allerdings nicht bemerkte. Sie verzog das Gesicht. Mary-Anne grinste triumphierend.

Der Duke musste in Alexanders Alter sein. Ein groß gewachsener Mann, dessen Augen so grau wie der regenverhangene Himmel Schottlands waren und die Haare schwarz wie Teer. Er war glattrasiert und trug den permanenten Gesichtsausdruck eines Mannes, der zu Tode gelangweilt war. Mary-Anne hatte auf einem der Wohltätigkeitsessen beobachtet, wie er sich die brennend heiße Suppe über den Schoß gekippt und dies hingenommen hatte wie ein Galan, dem eine Katze auf die Beine springt. Er hatte keinerlei Reaktion gezeigt. Der Charme, den Harriet beschrieben hatte, war ihm wohl nur eigen, besonders wenn er mehrere Gläser französischen Weins intus hatte.

Auch er war in Reithosen und -rock gekleidet und schien ungeduldig darauf zu warten, dass Alexander die Formalitäten hinter sich brachte.

„Duke Wellington. Ich wusste ja gar nicht, dass Sie hier sind“, sagte Harriet, klimperte mit den langen Wimpern und tat ihr Bestes, um ihren üppigen Busen zur Schau zu stellen.

Alexander wandte sich seiner Cousine zu: „Wir sind gestern spätabends aus London angereist. Wir haben uns dabei so gut unterhalten, dass wir nicht bemerkt haben, dass wir uns die Nacht um die Ohren geschlagen haben! Bis noch vor einer Stunde haben wir geschlafen.“ Er grinste den jungen Duke offen an und suchte mit seinen Augen die seines Gegenübers.

Lady Harrison schnaubte empört: „Was für eine unnötige Zeitverschwendung. Die Nacht ist zum Schlafen da und der Tag zur Unterhaltung, nicht wahr, Reginald?“

„Ja, Mutter.“

Alexander biss sich amüsiert auf die Unterlippe. Das Verhalten von Lord Reginald schien ihn zu erheitern. Seine braunen Augen, die denen der Schwester so sehr glichen, funkelten vergnügt. „Nun, Lord Harrison, sind Sie hier, um meinem geliebten Schwesterherz einen Antrag zu machen? Oder besser gesagt, sind Sie hierfür von der Frau Mama herbeordert worden?“

Die Wangen des Angesprochenen verfärbten sich dunkelrot. Es war offensichtlich, dass Reginalds Mutter auf die Verlobung bestanden hatte. „Es wäre mir eine Ehre, Ihre Schwester zur Frau zu nehmen“, krächzte er lediglich. Die Finger seiner rechten Hand zuckten zum Kragen und zupften nervös am Vatermörderkragen, als schnüre er ihm die Kehle zu. Alexander war kein Mann, der andere gerne verunsicherte oder einschüchterte, doch Lord Reginalds kindisches Verhalten war zu faszinierend, um den jungen Lord nicht ein wenig auf den Arm zu nehmen.

„Ja, Mary-Anne ist zweifelsohne eine wunderbar moderne Frau. Sie lehnt alles ab, was dazu führen könnte, dass die Leute sagen, sie wäre wie ihre Mutter.“

„Alexander!“, mischt sich nun Lady Amanda ein. Empört sprang sie auf und eilte zu ihrem Sohne hinüber. „Dies ist keine Art, mit unserem Gast zu sprechen. Ganz zu schweigen mit einem zukünftigen Schwager.“

Alexander lachte hell auf. Es war ein ehrliches, von Herzen kommendes Lachen. Früher hatte auch Mary-Anne so gelacht, wenn sie etwas richtig erheiterte. Etwas, das weder Harriet noch sonst jemandem in letzter Zeit gelungen war, seit Lady Amanda so auf diese Heirat drängte. Es war ihr, als blickte sie durch einen Spiegel in die Vergangenheit, als sie in Alexanders Gesicht sah. Das Herz wurde ihr schwer. Sie hoffte, dass sie selbst bald wieder so glücklich sein konnte und erneut so zu erheitern war.

„Ich wüsste nicht, was so amüsant sein soll“, tadelte die alte Lady Darlington den Sohn unentwegt und schien drauf und dran, ihn aus dem Zimmer zu schieben. Es geziemte sich vielleicht nicht, den erwachsenen Sprössling so zu behandeln, aber wenn Lady Harrison ihrem Kind auf die Finger schlagen konnte, dann sollte es kein Fauxpas sein, Alexander mit ein wenig Nachdruck aus dem Salon zu befördern. „Diese Verlobung hätte längst vorbei sein müssen. Wer hat euch denn großgezogen? Ich kann mir im Geringsten erklären, wie aus euch solche Menschen werden konnten!“, konnte Mary-Anne sie ihren Bruder leise tadeln hören.

Sie beobachtete die Personen im Raum, als wären sie Schauspieler auf einer Bühne. Dieses Theater schien ihr so absurd und unreal, dass sie nicht anders konnte, als in die Rolle einer Theaterbesucherin zu verfallen. Harriet versuchte bei einem Mann Eindruck zu machen, der vermutlich regelmäßig die Londoner East-End aufsuchte, Alexander machte sich einen Spaß daraus, ein kränkliches Muttersöhnchen aufzuziehen, ein junger Lord sollte gegen seinen Willen eine Verlobung eingehen mit einer Dame, die ebenso unwillig war und zwei Mütter, die mit aller Kraft versuchten, die verfahrene Situation zu retten. Hätte sie dafür bezahlt, wäre sie liebend gerne am nächsten Abend wiedergekommen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie gehofft, dass diese Geschichte so enden würde. Obgleich sie sich ausgemalt hatte, Alexanders Platz einzunehmen und dem jungen Lord ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Leider waren ihr die Nerven zuvorgekommen und sie hatte nicht an eine spitze Bemerkung denken können. Für ihren Bruder hingegen, den geübten Politiker und Redner, war dies ein Leichtes gewesen. Sie hoffte, eines Tages auch so ungezwungen mit anderen umgehen zu können, ohne dass ihr Verhalten als trotzig wahrgenommen würde. All die Reden, die ihr Bruder bei seinen Rallyes gehalten hatte, wirkten frei und improvisiert. Es schien, als könnte ihn nichts aus der Bahn werfen. Sein Leben behielt er fest in seinen eigenen Händen, während Mary-Anne glaubte, das ihre würde ihr entgleiten. Wie Seide floss es durch ihre Finger und ließ sich nicht ergreifen. Selbst dieses Kleid und all ihre Entscheidungen, die sie für ihre eigenen gehalten hatte, schienen ihr aufoktroyiert worden zu sein. Von ihrer Mutter, der Gesellschaft, dem Druck, dem sie nicht schaffte, standzuhalten. Alexander hingegen glitt durch das Leben wie ein Fisch durch den Strom. Auch wenn er ihm nicht stets folgte, kämpfte er doch nicht gegen den gleichen Widerstand wie sie. Mary-Anne spürte Eifersucht in sich aufkochen. Sollte Alexander sich mit irgendeiner Frau verloben, die er gerade erst kennengelernt hatte. Da verginge ihm das Lachen. Stattdessen stand er hier in Reithosen und -Rock mit seinem persönlichen Assistenten, bereit, die Zeit totzuschlagen. Es war ihr sowieso ein Rätsel, was ihr Bruder unter der Woche zu Hause zu suchen hatte. Hatte er nicht wichtigere Dinge in London zu erledigen? Normalerweise wäre sie überglücklich gewesen, Alexander zu sehen. Aber in diesem Moment konnte sie den Neid nicht runterschlucken, der ihr in der Kehle steckte. Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Der Duke Wellington räusperte sich: „Alex … Lord Darlington, ich denke, es ist an der Zeit, das glückliche Liebespaar wieder unter sich zu lassen.“ Seine Stimme war so tief wie das dunkle Wasser der Themse bei Nacht. In diesem Moment wäre es Mary-Anne sogar lieber gewesen, Wellington hätte ihr einen Antrag gemacht und sie hätten ihre Ehe in getrennten Schlafzimmern verbringen können.

Alexander lächelte ihn herzlich an: „Frau Mama, Adam hat völlig recht! Wir werden zum Abendessen zurück sein!“ Er ergriff Duke Wellingtons Ellenbogen und führte ihn aus dem Salon.

„Dein Bruder ist verrückt. Völlig verrückt!“, kicherte Harriet, schlug aber sogleich die Augen zu Boden, als ihre Tante sie streng anblickte.

„Lady Harrison, ich entschuldige mich vielmals für das Fehlverhalten meines Sohnes“, wandte sich Lady Amanda augenblicklich an ihren Gast. „Ich hoffe zutiefst, dass Ihr dennoch eine Vermählung Ihres Reginalds mit meiner Mary-Anne zustimmen werdet.“

Mary-Anne blickte ihre Mutter und dann ihre zukünftige Schwiegermutter flehend an. Diesmal war es zwar nicht sie gewesen, die die Verlobung manipuliert hatte, aber sie hatte dennoch gehofft, dass die Sache nach Alexanders Auftritt erledigt war. Lady Amanda ließ sich nicht so leicht von ihrem Vorhaben abbringen, wie es schien. Sie hatte lange genug gewartet. Lady Harrison bedachte die Schwiegertochter mit einem kühlen Blick. Es war, als kalkulierte sie ihre Entscheidung, ihre Familie durch Heirat mit dem Hause Yorkester zu verbinden. Reginald würde realistisch gesehen von keiner anderen als einer verzweifelten Mutter als Schwiegersohn akzeptiert werden, und Mary-Anne war so vermännlicht, dass auch sie es schwer haben würde, einen Mann zu finden, der sich an sie binden wollen würde. Oder besser gesagt, der es schicklich fand, sie zur Frau zu nehmen. Sie waren beide Töpfe mit verloren gegangenem Deckel, die zwar nicht aufeinanderpassten, aber für die es keine anderen Partner geben sollte. Es war das Beste für beide Parteien, in diesem Salon an jedem sonnigen Dienstagvormittag zu einer Entscheidung zu kommen.

Lady Harrison atmete tief ein. Sie schloss die Augen, ehe sie sprach: „Ja. Mein Reginald soll sich mit Eurer reizenden Tochter verloben.“

Mary-Anne sackte der Boden unter den Füßen weg. Die Standuhr tickte unerträglich laut in ihren Ohren wie die Trommeln einer Militärparade, in deren Takt ihr Herz schlug. Sie konnte nicht atmen, musste sich irgendwo festkrallen, doch sie fand keinen Halt. Alles um sie herum verlosch wie eine Kerze, die man im Dunkel der Nacht ausgeblasen hatte. Nichts schien wirklich. Die umstehenden Personen verkamen zu chinesischen Scherenschnitten, die im Schattentheater auf und ab sprangen. Es war ihr, als verließe ihr Geist ihren Körper. Ihre Gliedmaßen waren nicht die ihren, auch die Finger, die sich in ihren Rock krallten, schienen wie von einem Puppenspieler manipuliert. Ihre Sinne waren taub, sie roch nichts, spürte nichts mehr auf der Haut, existierte lediglich in einem Vakuum, das alles um sie erdrückte. Der Raum wirkte unendlich groß und zugleich so klein, dass sie Angst hatte, sie würde jeden Moment ersticken. Die Zeit verrann zäh wie Sirup. Immer noch tickte die Standuhr so laut, dass sie die Stimmen der Menschen nicht mehr wahrnehmen konnte. Dies war ihr Ende. Nun war sie keine eigenständige Person mehr. Nein, ab jetzt war sie nur noch Lady Mary-Anne Harrison of Greenwich, die Frau des kränklichen Ministerassistenten, der seine Freizeit damit zubrachte, Liebesgedichte zu schreiben und der seine Wohnung kaum verließ. Es war ein Desaster, ein absolutes Desaster. Das Ende ihres Lebens. Was unterschied dieses, ihr Schicksal, vom Freitod? Letzteres wäre wenigstens ihre Entscheidung gewesen. Eine, die man ihr niemals nehmen konnte. Mary-Anne spürte, wie das Fischbein ihres Korsetts gegen ihren Brustkorb presste. Wie schon zuvor im Flur merkte sie, wie ihr schummrig wurde.

„Mary-Anne?“, hörte sie Harriet flüstern. Es schien ganz weit weg, wie durch ein dickes Kissen.

„Em?“, schrie Harriet nun? Oder sprach sie ganz normal? Mary-Anne wurde schwarz vor Augen, Sterne explodierten in ihrem Sichtfeld.

„Em!“ Harriets Kreischen war das Letzte, das sie wahrnahm, ehe sie das Bewusstsein verlor.