Leseprobe Dorfklatsch und Mordsgerüchte

Dienstag, 07.Mai

„Auf geht’s, meine Damen!“

Heike Rickmann führte die kleine Gruppe sportlich gekleideter Frauen energisch an. Mit ihren dreiundfünfzig Jahren war sie die Jüngste unter den sechs, die sich, mit Nordic-Walking-Stöcken bewehrt, in Bewegung setzten. Körperliche Fitness war beileibe nicht der einzige Grund, weshalb sie sich immer dienstags und donnerstags um halb neun vor der Apotheke in Sommerstorf trafen. Es war natürlich die Geselligkeit, die im Mittelpunkt all ihrer Aktivitäten stand, wobei das Straffen von Bauch, Beinen und Po allzeit willkommener Nebeneffekt war.

„Schaffst du heute die große Runde, Marianne?“, fragte Heike Rickmann.

Die achtundsiebzigjährige Marianne Wiechert war die Älteste in der Runde. Sie litt unter fortgeschrittener Kniearthrose und gab aufgrund ihrer Einschränkung das Tempo an.

„Doch, doch, mir geht es heute gut. Ich trage ja außerdem meinen Angorawärmer. Der hilft mir mehr als die verdammten Kortisonspritzen ins Knie.“

„Das ist schön, dass es dir wieder besser geht, Marianne. Ich gehe so gerne am Holmbach entlang“, meinte Elke Pitzkow, eine kleine, beleibte Frau mit Apfelbäckchen und immer guter Laune. Sie setzte zu einer Erklärung für ihre Vorliebe an, aber Marlies Weber schnitt ihr das Wort ab.

„Nun stellt euch vor, mir sind doch glatt die frisch gepflanzten Blumen auf der Terrasse erfroren. Zwei Nächte hintereinander solcher Frost!“

„Es soll die nächsten Tage so biestig kalt bleiben“, bemerkte Heike Rickmann über ihre Schulter und jemand fügte hinzu: „Ich bepflanze meine Kästen erst Ende nächster Woche, nach den Eisheiligen.“

Nachdem das Damengrüppchen von der Dorfstraße in den Eichenwinkel abgebogen war, entspann sich eine lebhafte Diskussion darüber, ob die Eisheiligen schon mit den vergangenen Frostnächten abgetan waren, und inwiefern man angesichts des Klimawandels den kalendarischen Berechnungen noch Glauben schenken konnte.

Als sie das letzte der kleinen Siedlungshäuschen hinter sich gelassen hatten, mündete der Eichenwinkel in einen Forstweg, der sie eine Weile dicht am Holmbach entlangführte. Auf diesem Weg begegneten ihnen normalerweise keine Autos, und selbst Radfahrer waren hier um diese Zeit sehr selten unterwegs. Nur die älteren Schulkinder aus Gulsdorf, Nordtorf und Rullingsbeck nutzten ihn morgens zwischen sieben und halb acht und dann wieder am Nachmittag nach Schulschluss. Hier konnten sie also getrost zu dritt oder viert nebeneinander gehen und plaudern. Nach ungefähr einem Kilometer begann der Weg anzusteigen. Auf der rechten Seite fiel die Böschung immer steiler ab und der Abstand zum Holmbach vergrößerte sich. Zu ihrer Linken säumten mächtige Eichen den Forstweg und überspannten ihn mit ihren ausladenden Ästen. Dahinter leuchtete ein Rapsfeld. Wie immer an dieser Stelle des Weges erstarb ein Großteil der Gespräche. Einige der Frauen waren nun mehr mit sich selbst beschäftigt, mit dem eigenen Atem, schmerzenden Gelenken oder ziehenden Muskeln. Nach wenigen hundert Metern würde sich der Weg gabeln. Die rechte Gabelung, der sie folgen wollten, flachte in einem sanften Bogen ab und näherte sich dem Holmbach, um ihn schließlich irgendwann zu überqueren, während die linke Abzweigung, beinahe rechtwinklig zum Hauptweg und weiter ansteigend, im Abstand von vielleicht zwanzig Metern am Mertenshof vorbei in Richtung der Gemeindestraße führte. Von dort aus gelangte man bequem und in kurzer Zeit entweder nach Sommerstorf zurück, oder weiter nach Gulsdorf und Nordtorf.

Heike Rickmann marschierte zwischen Marianne Wiechert und Elke Pitzkow. Sie hatten die Gabelung beinahe erreicht. Alle drei hörten Marlies Weber zu, die hinter ihnen gerade schnaufend vom Discounter in Süderingen berichtete, wo es Markenwaschmittel zum Sonderpreis gab. Hätte sie nicht über ihre Schulter gesehen, um Marlies nach dem Preis des Waschpulvers zu fragen, hätte Heike das niedergedrückte Buschwerk wohl gar nicht bemerkt. So jedoch stutzte sie, wurde langsamer und ließ Elke, die neben ihr schwer atmete, zwei Schritte vorgehen, um zu der Stelle zu gelangen, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass jemand seinen Abfall hier im Wald abgeladen hatte, und in so einem Fall würde sie sofort die Polizei benachrichtigen, in der Hoffnung, dass diese den Übeltäter endlich erwischte.

Als Heike die Böschung hinunterblickte, sah sie sofort, dass hier kein Müll entsorgt worden war.

„Was ist da?“, fragte jemand.

Marlies, die sich neugierig zu Heike gesellt hatte, rief: „Da unten liegt einer!“

Schlagartig verstummte die Gruppe und alle sahen Heike an, Heike Rickmann, die nicht nur den Nordic-Walking-Treff organisierte, sondern auch die Frau des Bürgermeisters der Samtgemeinde Moorheide war.

Sich ihrer besonderen Stellung und der damit verbundenen Erwartungen an sie bewusst, reichte Heike ihre Walking-Stöcke an Marlies weiter und atmete tief durch, bevor sie seitwärts den steilen Hang hinabstieg. Zwei magere Männerbeine, die in einer langen, schwarzen Radlerhose steckten, ragten aus dem Gestrüpp am Fuß des mächtigen Stamms der Fichte hervor, die die Weggabelung markierte. Unter der Person lag ein verbogenes, silbernes Rennrad. Er muss geradewegs gegen die Fichte geprallt sein, dachte Heike und sie fühlte, wie ihr dieses Bild den Magen zusammenzog. Als Heike die letzten Meter auf dem feuchten Gras hinabrutschte und neben dem Verunglückten zu stehen kam, bemerkte sie, dass der Kopf des Mannes tiefer auf die Brust geneigt war, als ihr gesund erschien. Mit zitternden Knien ließ sie sich nieder und versuchte, an seinem Hals den Puls zu ertasten. Heike schauderte, als sie die kalte, feuchte Haut berührte. Nichts. Sie tastete weiter, vergeblich. Dann versuchte sie, den Mann ein wenig zur Seite zu drehen, um sein Gesicht zu sehen. Als der Kopf in seiner unnatürlichen Position verharrte, während der Körper vom Fahrradlenker rutschte, dehnte sich ein Feuerball in Heikes Magen aus.

„Wer ist es denn?“, fragte Marlies.

Heike schluckte. Sie stützte sich gegen den Fichtenstamm, um wieder auf die Beine zu kommen.

„Hat eine von euch ihr Handy dabei?“ Sie wandte sich von dem Verunglückten ab. „Wir brauchen einen Krankenwagen. Oder besser noch die Polizei.“

Keine zehn Minuten später hörten die Damen das Knirschen von Reifen auf dem Forstweg. Ein Notarztwagen kam, Staub aufwirbelnd und mit rotierendem Blaulicht, heran und hielt unmittelbar vor den Frauen, die dicht gedrängt beieinanderstanden. Ihm folgte ein Rettungswagen, ebenfalls mit Blaulicht, der hinter dem Notarzt zum Stehen kam.

Der Notarzt sprang aus seinem Auto. Heike Rickmann deutete stumm auf die Stelle, an der sie selbst wenige Minuten zuvor die Böschung hinabgestiegen war. Der Arzt rutschte im Stehen den Abhang hinunter, dicht gefolgt von den zwei Sanitätern aus dem Rettungswagen, die allerlei Gerätschaften zur Wiederbelebung mit sich trugen. Die beiden hatten wegen ihres Gepäcks wesentlich mehr Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten als der Arzt. In diesem Moment fuhr auch ein Polizeiwagen heran, der ein Stück vor dem Notarztwagen hielt. Polizeihauptmeister Olaf Dietrichs stieg zusammen mit einem jungen, im Gesicht mit Pickeln übersäten Polizeianwärter aus.

„Moin, Heike, moin, Marlies.“ Dietrichs tippte an seine Mütze und nickte den anderen Frauen mit dienstlich-ernster Miene zu. Dann sah er die Böschung hinunter, wo sich der Notarzt gerade zusammen mit den Sanitätern an dem Verunglückten zu schaffen machte.

„Moin, Doktor Jordan“, rief Dietrichs nach unten und wandte sich dann an Heike.

„Du hast den Notruf abgesetzt?“, fragte er.

Heike nickte. „Ich habe Petras Handy benutzt.“

„Habt ihr beobachtet, was genau passiert ist?“ Polizeihauptmeister Dietrichs schaute in die Runde und zückte sein Notizbuch.

Heike antwortete wiederum: „Nein, mir sind nur die niedergedrückten Zweige am Wegesrand aufgefallen. Ich dachte erst, es hätte wieder einer seinen Müll hierhergebracht. Und dann habe ich ihn da unten liegen sehen.“

Marlies tätschelte ihr die Schulter und die anderen stimmten ihr murmelnd zu. „Ich hatte vor, ihn wiederzubeleben“, fuhr sie fort.

„Als ich keinen Puls fühlen konnte, habe ich versucht, ihn umzudrehen, aber sein Kopf …“

Heike brach ab. Sie presste sich das mit Kölnisch Wasser getränkte Taschentuch vor den Mund, das sie die ganze Zeit über geknetet und mit dem sie sich zuvor die Hände abgerieben hatte, die Hände, die wahrscheinlich einen Toten berührt hatten. Schnell nahm sie das Tuch wieder fort und verschränkte fröstelnd die Arme.

„Da ist nichts mehr zu machen“, rief Doktor Jordan nach oben, wie um Heike Rickmanns Vermutung zu bestätigen.

„Eindeutig Genickbruch. Ist noch nicht lange her, eine halbe Stunde vielleicht.“

Die beiden Sanitäter kletterten unverrichteter Dinge wieder nach oben und brachten ihre Rettungsutensilien in den Krankenwagen, um gleich darauf den Rückweg anzutreten. Da es keine Möglichkeit gab, das Fahrzeug zu wenden, nahmen sie den Weg am Mertenshof vorbei. Der Polizeihauptmeister betrachtete den ausgespülten Weg, der in einer steil ansteigenden Kurve vom Forstweg abzweigte. Dann blickte er nach rechts, wo der Fahrradfahrer die Böschung hinuntergesaust sein musste.

„Ich denke mir, dass er mit reichlich Tempo von dort oben gekommen und aus der Kurve geflogen ist“, meinte der Anwärter, der dem Blick seines Chefs gefolgt war und kratzte an seinem entzündeten Kinn herum.

„Hm“, brummte Dietrichs, und nickte dazu, was einem Lob gleichkam. Er verstaute sein Notizbuch wieder in der Brusttasche seiner Uniform.

„Dann lass uns mal nach unten schauen, Sebastian. Ist das deine erste Leiche?“

Sebastian nickte sichtlich beklommen. Unter seinen rot leuchtenden Pickeln wurde er eine Spur blasser, doch er stapfte seinem Vorgesetzten tapfer hinterher.

An der Unglücksstelle angekommen, begrüßte Dietrichs zuerst Doktor Jordan mit Handschlag. Dann deutete er auf die frischen Spuren am Stamm der Fichte, die das Fahrrad beim Aufprall hinterlassen hatte.

„Davon mach mal ein Foto. Und auch vom Fahrrad“, befahl er seinem jungen Kollegen und wandte sich dann wieder an den Notarzt.

„Heimerle“, konstatierte der Polizeihauptmeister und deutete auf den Toten.

Der Heimerle?“, fragte Jordan mit hochgezogenen Brauen.

Dietrichs nickte mit ernster Miene.

„Hm“, machte der Arzt. „Wie gesagt, ich bin hier überflüssig. Für den hier brauchen Sie nur noch einen Leichenwagen.“

„Den werde ich gleich bestellen. Einen Totenschein brauche ich von Ihnen, damit alles seine Ordnung hat“, sagte Dietrichs, bevor alle drei die Böschung wieder hinaufkletterten. Bei seinem Wagen holte der Notarzt ein Klemmbrett und ein Formular aus dem Handschuhfach und füllte das gewünschte Dokument aus, das er sogleich Dietrichs überreichte. Der Polizeihauptmeister nickte ihm zu, als Doktor Jordan den Motor anließ und auf demselben Weg wie der Krankenwagen in Richtung Mertenshof davonfuhr.

„Sag, Olaf, hab ich richtig gehört? Ist das da unten wirklich der Heimerle aus Heidenbeck?“, wollte Marlies Weber wissen und auch Heike musterte ihn neugierig.

Olaf Dietrichs fuhr sich mit dem Zeigefinger in den Kragen, als wäre ihm sein Hemd plötzlich zu eng am Hals. Er kannte die meisten Leute aus Sommerstorf und den umliegenden Ortschaften, und mit vielen war er sogar verwandt. Er war nicht nur ein guter Freund des Bürgermeisters, seine Frau Inge war auch Heikes Cousine. Marlies Weber kannte ihn schon, seit er Windeln getragen hatte, denn sie war die jüngste Schwester seiner Mutter. Doch vor dem jungen Anwärter waren ihm diese selbstverständlichen Vertraulichkeiten unangenehm. Sebastian Meyermann war schließlich einer aus Bresinghausen, und in Gegenwart eines Bresinghauseners oder gar Horstorfers legte er großen Wert auf Respekt vor seiner Person und dem Amt, das er bekleidete. Die Überlegenheit, die ihm seine Stellung verlieh, legte er in seine Miene. Natürlich war er nicht verpflichtet, den Frauen Auskunft zu erteilen. Dennoch antwortete er seiner Tante jovial: „Genau der ist es, ja.“

Dann, als er sich mit einem Seitenblick versichert hatte, dass der Anwärter gerade gedankenverloren an einem Pickel puhlte, raunte er: „Aber behalte es vorerst für dich, Marlies, zumindest, bis seine Frau offiziell Bescheid weiß.“

Beim Gedanken an Heimerles Frau, der er noch heute die Todesnachricht würde überbringen müssen, graute es dem Polizeihauptmeister. Was für ein Tag, dachte er.

***

Es war kurz nach halb neun, als Agnes Plietsch ihr Frühstück beendet hatte. Sie hatte schon immer großen Wert auf einen regelmäßigen Tagesrhythmus gelegt, und an gewissen Regelmäßigkeiten hielt sie auch seit ihrer Pensionierung im letzten Sommer fest. Dreißig Jahre hatte sie in Süderingen als Grundschullehrerin gearbeitet, und sie fürchtete, sie würde schneller altern und geistig verschleißen, wenn sie sich dem Schlendrian hingab. Agnes war eine kleine, zierliche Frau, deren aschblonder Pagenkopf sich im Laufe der Jahre silbern gefärbt hatte. Die vielen kleinen Lachfältchen um die hellblauen Augen unterstrichen ihr freundliches Wesen, das sie bei den Kindern und ihren Eltern so beliebt gemacht hatte.

Als sie ihr Geschirr in die Spüle stellte und dabei aus dem Küchenfenster blickte, sah sie einen Krankenwagen mit Blaulicht an ihrem Haus vorbeifahren. Nachdem gleich darauf ein Polizeiauto folgte, begann sie sich Sorgen zu machen. Um diese Zeit waren üblicherweise eine Gruppe fitnessbegeisterter Hausfrauen und Rentnerinnen unterwegs, deren Nordic-Walking-Parcours sie in den Holmbachwald führte. Auch ihre viel jüngere Freundin Heike Rickmann gehörte dazu. Agnes hoffte, keiner von ihnen möge etwas zugestoßen sein und beschloss, einkaufen zu gehen, sobald sie ihr Frühstücksgeschirr gespült und die Wäsche aufgehängt hatte. Dann würde sie sicher erfahren, wem der Rettungseinsatz gegolten hatte.

Zwei Stunden Später machte sich Agnes auf den Weg ins Dorf. Der kleine Supermarkt in der Dorfstraße war der einzige Laden, in dem man sich in Sommerstorf mit Lebensmitteln eindecken konnte, wenn man kein Auto besaß. Es war außerdem der Ort, an dem Nachrichten ausgetauscht wurden, die es nicht wert waren, in der Zeitung abgedruckt zu werden, die für die Dorfbewohner dennoch von Interesse und Wichtigkeit waren. Man erfuhr, wer gerade die Grippe hatte, und wer im Begriff war, sich von einer längeren Krankheitsphase zu erholen, wer wen zum Geburtstag einlud und welches Paar gerade Streit hatte, wer sich die Haare hatte färben lassen und welche Kleider anlässlich einer Konfirmation oder Hochzeit getragen wurden. Mit etwas Glück erfuhr man aber auch von Dingen, die erst am nächsten oder übernächsten Tag im Lokalteil der Zeitung stehen würden.

Als Agnes an der Kasse stand und ihre Einkäufe aufs Band legte, tippte sie jemand von hinten an.

„Guten Morgen, Agnes!“

Erfreut wandte sich Agnes der kleinen, runden Frau mit der eisengrauen Dauerwelle zu. Ihren glänzenden Augen sah man sofort an, dass sie Neuigkeiten loswerden wollte.

„Marlies, dir auch einen guten Morgen. Gibt es etwas Neues?“

„Hast du es schon gehört, Agnes?“, raunte Marlies Weber, begierig, von ihrem außerordentlichen Erlebnis berichten zu können.

„Ach, du meinst sicher den Unfall von heute Morgen.“

Enttäuscht darüber, dass ihr offenbar jemand mit der Neuigkeit zuvorgekommen war, presste Marlies Weber die Lippen zusammen.

„Ich habe den Rettungswagen und das Polizeiauto gesehen, als sie an meinem Küchenfenster vorbeigefahren sind und mich natürlich gefragt, was da wohl passiert ist“, erklärte Agnes ihre Vermutung. „Ich hoffe, niemand aus eurer Walkinggruppe hat sich ernstlich verletzt.“

Marlies Weber, zufrieden, dass ihr niemand die Rolle als Nachrichtenübermittlerin streitig gemacht hatte, vollführte eine wegwerfende Handbewegung.

„Der Heimerle ist mit dem Fahrrad verunglückt. Unten am Holmbach. Er hat sich das Genick gebrochen.“ Nachdem sie sich auch der Aufmerksamkeit der jungen Kassiererin sicher war, fuhr sie fort: „Wir haben ihn gefunden, wohl kurz nachdem es passiert war. Heike hat versucht, ihn wiederzubeleben, aber da war nichts mehr zu machen. Mausetot der Mann!“

„Na, das ist ja gruselig“, rief das Mädchen an der Kasse und nannte Agnes den Preis. „Letztes Wochenende war ich da mit meinem Freund spazieren“, erzählte sie, während Agnes ihr das Geld in die ausgestreckte Hand zählte.

„Ab jetzt werden wir uns einen anderen Weg suchen müssen. Da, wo einer gestorben ist, gehe ich bestimmt nicht mehr lang. Hinterher bringt das Unglück.“

Agnes schmunzelte über den Aberglauben des Mädchens. Während sie ihre Einkäufe aus dem Wagen in ihre Tasche packte, hatte Marlies bereits ihr nächstes Opfer gefunden. Es war Sven Thomsen, der Inhaber des Lebensmittelgeschäftes. Er setzte eine angemessen betroffene Miene auf, als Marlies ihn über den Unglücksfall in Kenntnis setzte. Eine Nachbarin gesellte sich zu ihnen und lauschte begierig Marlies’ ausschweifendem Bericht.

„Na, dann können Sie ja die Unterschriftenlisten getrost ins Altpapier werfen“, meinte die Nachbarin.

Zufrieden, dass sie mit ihrer Sensation zum Zuge gekommen war, stimmte Marlies ihr zu. Herr Thomsen aber legte die hohe Stirn in Falten.

„Das erschiene mir doch recht pietätlos“, entgegnete er. „Ich werde sie wohl liegen lassen, bis Frau Heimerle entschieden hat, was damit geschehen soll.“

Einer seiner Mitarbeiter kam hinzu. Er hatte eine Frage an seinen Chef, der sich bei den Damen entschuldigte.

Die Nachbarin schob ihren Einkaufswagen in den Verkaufsraum, während Agnes und Marlies mit ihren vollen Taschen nach draußen auf den Parkplatz gingen.

„Ich glaube ja nicht, dass die Heimerle so bald zu Thomsen einkaufen kommt“, meinte Marlies trocken. „Die hat sich hier doch noch nie blicken lassen.“

„Wo kauft sie denn ein?“, wollte Agnes wissen.

„In der Stadt natürlich, oder im Discounter. Und im Reformhaus. Das weiß ich, weil meine Schwester sie in der Stadt gesehen hat. Sie ist da mit vollgepackten Taschen rausgekommen. Außerdem sieht man ja, was die Leute so in ihren gelben Säcken haben.“

„Ich habe gehört, sie kauft auch bei Ute im Hofladen ein“, meinte Agnes, und fragte sich im Stillen, ob Marlies den Müll all ihrer Nachbarn begutachtete.

„Ja, aber nur, wenn sie etwas vergessen hat, das sie auch bei Ute auf dem Hof bekommt.“

In Marlies’ Stimme schwang die übliche Missbilligung, die sie für Leute übrig hatte, die zugezogen waren und den Alteingesessenen zeigen wollten, wie richtiges Landleben funktionierte. Diese Ökos, wie sie sie nannte, die die Nase über den Schützenverein rümpften und die beim Feuerwehrfest vegane Würstchen verlangten, sollten nach Marlies’ Dafürhalten bleiben, wo der Pfeffer wächst.

„Soll ich dich mit dem Auto mitnehmen, Agnes?“, bot sie an.

Agnes lehnte dankend ab. „Ich bin mit dem Fahrrad da. Kommst du morgen zum Kaffee ins Pfarrhaus?“

Bedauernd schüttelte Marlies den Kopf. „Ich bin morgen in Brietze zum Geburtstag eingeladen.“

Sie kramte aus ihrer Handtasche den Autoschlüssel hervor. „Die Schwiegermutter meiner Ältesten wird siebzig.“

„Oh, dann wünsche ich dir viel Spaß. Und grüß deine Töchter von mir.“

Mittwoch, 08. Mai

Am darauffolgenden Nachmittag machte sich Agnes Plietsch zur Kaffeezeit auf den Weg ins alte Pfarrhaus, wie das Gemeindehaus genannt wurde. Dort fand jeden zweiten Mittwoch im Monat das Literaturcafé statt.

Diese Bezeichnung war genau genommen etwas hochtrabend gewählt, und niemand konnte sich mehr erinnern, wer die Idee zu diesem Namen gehabt hatte. Im Wesentlichen trafen sich bis zu acht Damen mittleren Alters und Enno Fritjoff, ein pensionierter Kriminalbeamter, um sich bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen über die zuletzt gelesenen Bücher zu unterhalten. Als Agnes Plietsch das alte Fachwerkhaus betrat, empfing sie bereits der Duft frisch gebrühten Kaffees. Aus der offen stehenden Küchentür klang das Schwatzen mehrerer Frauen. Agnes rief ihnen einen Gruß zu und brachte ihren Marmorkuchen in den Salon, wie die gute Stube des ehemaligen Pfarrhauses seit seiner Umgestaltung durch den Dorfverein genannt wurde.

Heike Rickmann deckte gerade die Kaffeetafel. Auf dem soliden Eichentisch, der samt seiner zwölf Stühle in der Mitte des lichtdurchfluteten Raumes stand, waren bereits dunkelgrüne Platzsets und weiße Teller verteilt. In der Mitte des Tisches lag ein farblich passender Läufer, auf dem, von Maiglöckchensträußen flankiert, Hildes Käsesahne thronte. Agnes stellte ihren Kuchen daneben ab.

„Hallo, Agnes!“ Heike hob lächelnd den Kopf. Ihre glühenden Wangen zeigten, dass sie ganz in ihrem Element war.

„Lass dir helfen, meine Liebe.“ Agnes nahm ihr die Untertassen ab.

„Wie schön du den Tisch wieder dekoriert hast. Ich sehe, du hast sogar passende Servietten zu den Blumen gefunden.“

Doch statt sich wie sonst über dieses Kompliment zu freuen, wirkte Heike an diesem Tag ein wenig abwesend. Sie streifte sich mit dem Handrücken eine blonde Strähne aus dem Gesicht und zählte die Teller, die sie platziert hatte. „Ein Gedeck zu wenig“, murmelte sie.

„Ich glaube, die Anzahl stimmt. Marlies hat doch abgesagt“, entgegnete Agnes.

Heike seufzte. „Du hast recht. Wo habe ich heute nur meinen Kopf?“

Noch bevor sich Agnes nach dem Grund ihrer Zerstreutheit erkundigen konnte, klapperten die Schuhe der übrigen Frauen über das Parkett und der Kaffee wurde in den Salon gebracht. Alle waren dem Anlass ihres Zusammentreffens entsprechend gekleidet. Und schließlich tauchte die große, schlanke Gestalt von Enno Fritjoff auf, wie immer zum Literaturcafé tadellos in Tweedanzug und Krawatte.

Enno Fritjoff war ein Neuling im Dorf. Er hatte sich nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor zweieinhalb Jahren in Sommerstorf niedergelassen, um unter der Wirkung des entschleunigten Landlebens seine aufreibenden Berufserlebnisse in schriftlicher Form aufzuarbeiten. Damit meinte er die Arbeit an seinem großen Kriminalroman. Wann immer er sich in vagen Andeutungen zum Fortschritt seines Manuskriptes erging, hingen die Frauen an seinen Lippen.

„Meine Damen“, begrüßte er die sieben mit einer galanten Verbeugung. Er hatte die Ehre, am Kopf der Tafel Platz nehmen zu dürfen und wurde von seinen Verehrerinnen emsig bedient.

Kaum hatten alle ihr erstes Stückchen Kuchen auf dem Teller liegen, begann Sanne Peters, die jüngste der Anwesenden: „Habt ihr schon mitbekommen, was Heike gestern passiert ist?“ Sie sah ihre Freundin auffordernd an.

„Wir haben gestern Heribert Heimerle tot im Wald gefunden“, erklärte Heike schließlich und errötete leicht. „Ihr wisst schon, den Heimerle.“

Es stellte sich heraus, dass alle bis auf Enno Fritjoff dank Marlies Weber bereits im Bilde waren. Dennoch schilderte Heike ihr Erlebnis erneut in allen Einzelheiten.

Beim Gedanken an den Toten bekam sie Gänsehaut, was sie allerdings nicht daran hinderte, die Käsesahne zu kosten.

„Morgen wird darüber in der Zeitung berichtet“, wusste Inge Dietrichs, die Frau des Polizeihauptmeisters.

„Sicher steht dann wieder allerhand Lobhudelei über seine Bürgerinitiative drin“, meinte Sanne.

„Wie hat es denn seine Frau aufgenommen?“, fragte Sanne. „Hat Olaf dir etwas davon erzählt?“

„Du weißt doch, dass das Dienstgeheimnisse sind“, entgegnete Inge. „Sie schien aber erstaunlich gefasst, meinte Olaf“, ergänzte sie. „Das wäre ja was geworden, wenn mein Olaf sie auch noch hätte trösten müssen.“

Enno Fritjoff sah Agnes fragend an, die an seiner rechten Seite saß.

Sie beugte sich ein wenig zu ihm hinüber. „Heribert Heimerle hat vor gut zehn Jahren die Bürgerinitiative grün statt grau gegründet“, begann sie. „Er war ein sehr engagierter Naturschützer und hat“, sie hielt einen Moment inne, um eine passende Formulierung zu finden, „Bewegung ins Dorfleben gebracht.“

„Das kann man wohl sagen“, fuhr Sanne an Enno gewandt fort. „Er hat unter anderem jahrelang einen Kleinkrieg gegen die Carstensens geführt. Denen gehört das Land hinter Heidenbeck bis zum Deich und die Carstensens wollten ein paar Windräder aufstellen. Immer wieder sammelt die Bürgerinitiative Unterschriften gegen die Verspargelung der Landschaft, wie sie es nennen, und Carstensen wartet bis heute auf seine Baugenehmigung. Hatte dein Mann nicht einen weiteren Gesprächstermin vereinbart, Heike?“

Heike Rickmann seufzte. Sie erinnerte sich mit Grauen an das letzte Zusammentreffen ihres Mannes mit Heimerle vor fast zwei Jahren, bei dem Heimerle und seine Transparente schwingenden Naturschützer versucht hatten, den Bürgermeister medienwirksam vorzuführen. Der mühsam vorbereitete Vermittlungsversuch zwischen Carstensen und den Naturschützern war beinahe zum Eklat geworden, als die Demonstranten den Bürgermeister niedergeschrien hatten und die Presse daraufhin die Autorität desselben infrage gestellt hatte.

„Nun, ich glaube nicht, dass es jetzt noch Anlass zu weiteren Gesprächen geben wird.“