Leseprobe Eine gefährliche Sehnsucht

1. Kapitel

Warwickshire, England, April 1822

Die Countess von Marwood konnte eine formidable Gegnerin sein, wenn sie es nur wollte. Ihr bloßes Aussehen ließ einen im Glauben schwelgen, dass sie bei dem leisesten Hauch der Provokation einen Grund hätte, Tod und Verderben auf einen herabregnen zu lassen, und das einzig und alleine zu ihrer eigenen Belustigung.

Adam Penrose, der Duke von Stratton, wusste sofort, woran er bei ihr war. Er hatte dem Anwesen ihres Enkels, dem des jetzigen Dukes, auf ihren Wunsch einen Besuch abgestattet. Lasst uns versuchen, das, was zwischen unseren beiden Familien geschah, zu vergessen, hatte sie ihm geschrieben, und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen.

Er war angereist, weil er neugierig war, wie sie das bewerkstelligen wollte, denn seiner Ansicht nach war das Geschehene noch nicht vergangen und konnte deshalb auch nicht vergessen werden. Aber ihm reichte ein Blick auf die alte Countess aus, um zu verstehen, dass ihr Plan, so gerissen er auch sein mochte, für ihn keinen Vorteil bringen würde.

Die gute Frau ließ ihn eine halbe Stunde allein vor ihren Gemächern warten, ehe sie eintrat. Sie segelte mit erhobenem Kopf und leicht vorgeneigt ins Zimmer wie eine waschechte Gallionsfigur. Die Trauer um den Tod ihres Sohnes, des alten Earls von Marwood, verlangte ihr ab, Schwarz zu tragen, aber ihr prächtiges Gewand aus feinstem Krepp musste ein Vermögen gekostet haben. Üppige graue Locken zierten ihr Haupt und suggerierten, dass sie auch um die verlorene Tradition der Perücken trauerte. Große, wässrige und blasse blaue Augen begutachteten ihren Besucher mit einem kritischen Ausdruck, während ein gestelltes Lächeln die Falten ihres Gesichts vertiefte.

„So seid Ihr tatsächlich wiedergekehrt“, stellte sie das Offensichtliche fest, als sie nach seiner knappen Verbeugung und ihrem noch knapperen Knicks auf zwei massigen Stühlen Platz nahmen.

„Es war an der Zeit.“

„Man könnte fast meinen, die Zeit war eher vor drei Jahren, oder zwei, oder doch viele Jahre zuvor.“

„Das könnte man, doch ich tat es nicht.“

Sie gluckste. Ihr ganzes Gesicht schürzte sich, nicht nur ihre Lippen. „Ihr wart lange in Frankreich. Ihr seht sogar aus wie ein Franzose.“

„Ich würde annehmen, wenigstens zur Hälfte, wenn man meine Abstammung bedenkt.“

„Und wie ergeht es Eurer lieben Mutter?“

„Glücklich in Paris. Sie hat dort viele Freunde.“

Die Augenbrauen der Countess hoben sich nur, um ihre hämische Belustigung auszudrücken, „Ja, ich schätze, das hat sie. Es ist ein Wunder, dass sie Euch nicht mit jemandem ihrer eigenen Gattung verheiratet hat.“

„Ich denke, eine Britin wäre mir ebenbürtiger, findet Ihr nicht auch?“

„Das finde ich in der Tat. Es würde Euch enorm helfen.“

Er wollte nicht über seine Mutter sprechen, oder die Gründe, warum eine Verkupplung ihm helfen würde. „Ihr spracht davon, das Vergangene ruhen zu lassen. Womöglich wollt Ihr mich darüber aufklären?“

Sie öffnete die Hände, Innenflächen nach oben, in einem Ausdruck der Verwirrung. „Die Feindseligkeit zwischen unseren Familien ist so alt, dass man sich fragen muss, was überhaupt dazu geführt haben konnte. Es ist so fürchterlich unnötig. So schade. Wir sind immerhin Nachbarn. Sicherlich können wir über die Dinge hinwegsehen, wenn wir es wünschen.“

Unfähig, ihre Anspielungen auf die Vergangenheit im Sitzen über sich ergehen zu lassen, erhob er sich und schritt zu den hohen Fenstern. Von hier aus überblickte man einen herrlichen Garten und nicht allzu weit entfernte Hügel. Ein Großteil des Anwesens befand sich in einem seichten Tal.

„Und was schlagt Ihr vor, wie wir das erreichen?“, fragte er, während er gegen die Bitterkeit in seinen Gedanken ankämpfte.
Die Countess wusste sehr wohl, wie die jüngste Feindseligkeit ihren Anfang gefunden hatte und wahrscheinlich auch von dem, was zuvor gewesen war. Das jedoch zuzugeben, würde ihr Friedensangebot seltsam anmuten lassen. Wir haben dein Land gestohlen, deine Mutter überfallen und geholfen, deinen Vater in den Tod zu treiben, aber davon sollst du nun absehen.

Er blickte zurück und bemerkte, dass sie ihn beobachtete. Sie sah verwundert aus, als hätte er unerwartet reagiert und sie nicht feststellen könnte, ob er sich eben einen kleinen Sieg erkämpft hatte, ohne, dass sie es bemerkte. Er zog die Augenbrauen auffordernd hoch.

„Ich schlage vor, dass wir das auf altertümliche Weise klären. Auf die Art, wie viele politische Dynastien es über die Zeit hinweg getan haben“, sagte sie. „Ich bin überzeugt davon, dass unsere Familien durch die Ehe miteinander verbunden werden sollten.“

Er schaffte es kaum, seine Überraschung zu verstecken. Das hatte er nicht erwartet, nicht von all den anderen Möglichkeiten. Sie schlug also nicht nur Waffenruhe vor, nein, sondern sogar eine Allianz der innigsten Form. Die Art von Allianz, die ihn womöglich davon abhalten würde, die Wahrheit über die tatsächliche Rolle dieser Familie beim Tod seines Vaters aufzudecken, oder gar Rache auszuüben, wenn er erfahren sollte, dass seine Annahmen über den verstorbenen Duke korrekt waren.

„Da ich keine Schwester für Euren Enkel habe, gehe ich davon aus, dass Ihr Euren Blick auf mich gerichtet habt.“

„Mein Enkel hat eine Schwester, die Euch ebenbürtig ist. Emilia ist alles, was ein Mann von Stand verlangen könnte und wäre Euch eine fabelhafte Duchess.“

„Ihr sprecht mit großer Überzeugung, ohne zu wissen, was dieser Mann von Stand verlangen könnte.“

„Weiß ich das wirklich nicht? Als hätte ich gelebt und nichts gelernt? Schönheit, Anmut, sittsamer Gehorsam und eine stattliche Mitgift. Diese Punkte sind auf Eurer Liste der Anforderungen, wie sie auf der Liste von jedem Bräutigam sind.“

Die Versuchung, ihr genau zu sagen, was er von seiner Ehefrau verlangen würde, wurde nur durch seine Selbstbeherrschung kontrolliert. Er gewann bloß, weil er gelernt hatte, dem Feind nie seine wahren Gedanken zu verraten.

„Das finde ich alles bei vielen jungen Frauen. Sollten wir nicht ehrlich miteinander sein? Welchen Vorteil hätte ich durch diese Partie?“

„Eine dreiste Frage, aber vermutlich angemessen. Wir werden Verbündete statt Feinde sein. Ihr werdet ebenso daraus profitieren wie wir.“

„Nun aber, werte Countess, wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ich wurde hierher eingeladen, um Frieden zu verhandeln, ganz im Gegensatz zu meinem Vater früher. Ich wäre ein Narr, wenn ich mich nicht fragen würde, warum Ihr plötzlich der Meinung seid, dass ich annehmbar wäre. Wenn ich über die Gerüchte über mein Treiben in Frankreich nachdenke, so kann ich nur zum Schluss kommen, dass Ihr glaubt, dass es Euren Enkel schützen würde, aber darin sehe ich keinen Vorteil für mich.“

Ihre Augen verengten sich. Die vielen Falten ihrer Haut erstarrten zu steinernen Zeichen. Sie zeigte keine Angst. Adam erkannte diese starke Haltung an, andererseits glaubte sie auch nicht, diejenige zu sein, die gerade in Gefahr schwebte.

Sie erhob sich. „Kommt auf die Terrasse. Ich werde Euch meine Enkelin zeigen. Wenn Ihr sie seht, werdet Ihr verstehen, was an Ihr zu Eurem Nutzen wäre.“

Er folgte ihr hinaus in die kalte Aprilluft. Der Garten erstreckte sich unter ihnen wie ein braunrotes Gemälde, von kleinen grünen Knospen und gelben, rosa- und lilafarbenen Blüten unterbrochen. Tulpen, nahm er an. Als er Paris verlassen hatte, hatten sie noch nicht geblüht.

Ein Mädchen saß inmitten des erwachenden Gartens, keine dreißig Fuß weit weg auf einer steinernen Bank. Sie hielt ein Buch hoch, sodass sie den Kopf nicht nach unten senken musste. Die Countess musste sie von der Trauerzeit ausgenommen haben, denn die junge Frau trug ein blassblaues Kleid. Sie war hübsch, vielleicht sechzehn Jahre alt. Ihre blonden Haare schimmerten im Sonnenlicht und ihre helle Haut und die anmutigen Gesichtszüge würden jedem Mann zusprechen. Mit einer großzügigen Mitgift würde sie ihm tatsächlich ausreichen.

Die Countess stand neben ihm, einen Ausdruck unerschütterlichen Selbstsicherheit tragend. Er vertraute ihr nicht, aber er schätzte ihr Talent bei diesem Spiel. Ihr Angebot hatte tatsächlich Vorzüge, nicht nur, weil das Mädchen hübsch war, gestand er sich.

Der Name seines Vaters und seine Familienehre waren in den besten Kreisen beschmutzt worden und wenn er diesen Fluch jemals besiegen wollte, würde diese Ehe ihm sicherlich dabei helfen.

Es würde jedoch auch bedeuten, dass er die Gründe vergessen musste, warum er England den Rücken zugekehrt hatte und somit auch den Grund für seine Rückkehr. Genau deshalb hatte die Matrone ihn überhaupt hierher eingeladen, nahm er an.

„Emilia hat einen angenehmen Charakter, angenehmer vielleicht als der vieler anderer Mädchen, die ich gekannt habe. Sie hat Humor und eine Prise Scharfsinnigkeit, falls Ihr Euch sorgt, dass sie dümmlich sein könnte“, sagte die Countess.

Die hübsche Emilia tat weiterhin so, als würde sie sie nicht sehen, genau so wie sie tat, als würde sie lesen, perfekt gestellt, dass er ihr Gesicht und ihre Körperform begutachten konnte.

Kein Umhang wärmte sie, keine Haube schützte ihre blasse Haut vor der Sonne. Er fragte sich, wie lange sie schon so da saß und darauf wartete, dass er sie betrachtete und über ihre Zukunft entschied.

Er wusste nicht, warum sie ihm nicht zusprach. Vielleicht weil sie, obwohl sie ansehnlich und angeblich scharfsinnig, doch zu jung war, und sie, wenn man bedachte, wie sie ihrer Großmutter gehorchen musste, wahrscheinlich kein Temperament hatte.

Die Türen gingen auf und der Duke stolzierte nach draußen. Groß und blond war er der jugendlichen Schlaksigkeit noch nicht ganz entwachsen. Er warf seiner Großmutter einen bösen Blick zu, während er an ihr vorbeiging. Sie schürzte die Lippen. Sein Erscheinen hatte offenbar nicht zu ihrem Plan gezählt.

Er ging auf Adam zu, als würde er einen Freund begrüßen, aber seine überstürzte Begrüßung und der Schweiß auf seiner Oberlippe straften ihn Lügen. Theobald, der Earl von Marwood, hatte Angst vor seinem Gast. Viele Männer hatten Adam seit seiner Rückkehr eine ähnliche Reaktion präsentiert, seit er vor zwei Wochen wieder in England angekommen war.

Sein Ruf war ihm vorausgeeilt und die feine Gesellschaft erwartete wohl von ihm, dass er links und rechts Herausforderungen ausspuckte, sobald er auch nur die leiseste Provokation wahrnahm.

Adam hatte nichts getan, um diese Annahme aus der Welt zu schaffen. Zum einen konnte es gut sein, dass er tatsächlich tun würde, je nach dem, was er darüber erfuhr, was vor fünf Jahren stattgefunden hatte. Zum anderen gab es Männer wie Marwood, die einfach viel umgänglicher waren, wenn sie sich fürchteten.

„Ich sehe, meine Großmutter hat Euch meine Schwester bereits zum Angebot gemacht“, sagte Marwood überfreundlich. Er sah auf Emilia hinab, die weiterhin im Garten ihre Pose übte. Sie sahen einander wirklich ähnlich – blass, blond, ansehnlich und jung. Der Duke konnte nicht älter als einundzwanzig sein. Adam fragte sich, ob Marwood von dem Gerücht wusste, welches Adams Vater bis ins Grab heimgesucht hatte. Marwoods Angst ließ vermuten, dass Adams Befürchtung über die alte Feindschaft wahr sein könnte.

„Wärt Ihr mit der Partie einverstanden?“, fragte Marwood.

Seine Großmutter kam näher. „Verzeiht meinem Enkel. Er ist noch jung genug zu glauben, dass unhöfliche Ungeduld eine männliche Tugend sei.“

Marwood blickte zum Himmel, als würde er nach der notwendigen Geduld bitten. „Er weiß doch bis jetzt sicher, ob ihm die ganze Sache zuspricht oder nicht.“

„Es spricht mir im Allgemeinen zu“, sagte Adam. Er log nicht. Er wog die Implikationen des Plans der Countess immer noch ab. Dieses Angebot, die Vergangenheit einfach zu vergessen, verlockte ihn mehr, als er gedacht hätte.

Der junge Duke warf seiner Großmutter einen Blick voll hoffnungsvollem Optimismus zu. Die Witwe schaffte es, mehr Bedacht zu demonstrieren.

Adam fokussierte seinen Blick auf das Mädchen. Die Matrone wich wieder davon, der Duke schlängelte sich näher. Er schien die Verhandlungen zu einem raschen Schluss bringen zu wollen, indem er die vielen Vorzüge seiner Schwester anpries, von Mann zu Mann, verstand sich.

Aus seinem Augenwinkel konnte Adam sehen, wie die alte Matrone über den Mangel an Raffinesse ihres Enkels den Kopf schüttelte.

Eine Bewegung auf einem der Hügel hinter dem Garten erhaschte seinen Blick. Ein schwarzer Blitz riss über den Bergrücken, sprang über einen großen, gefallenen Baum und blieb dann abrupt stehen. Eine Frau, komplett in Schwarz gekleidet und auf einem schwarzen Pferd, sah auf das Haus herab.

„Wer ist das?“, fragte er.

Marwood kniff die Augen zusammen und spielte mit einem Ausdruck des Unwissens. Dann sah er seitwärts zu Adam und überlegte es sich wohl anders. „Meine Halbschwester Clara. Sie ist die Tochter der ersten Frau meines Vaters.“

Der schwarze Fleck namens Clara schaffte es, selbst auf diese Distanz eine beeindruckende Überheblichkeit zu demonstrieren. Sie ließ ihr Pferd auf dem kleinen Gipfel hin und her laufen und sah auf das Theater zu ihnen herab, als würde es einzig und allein zu ihrer Belustigung aufgeführt werden.

Er erinnerte sich an Lady Clara Cheswick, auch wenn sie einander nie vorgestellt worden waren. Sie war aber in der Gesellschaft erschienen, bevor er England verlassen hatte. Helläugig und temperamentvoll. Und das war nur das, was er im Vorbeigehen aufgeschnappt hatte.

„Sie lässt wohl nicht zu, dass die Trauer sie von ihrem Spaß am Reiten abhält“, bemerkte Adam.

„Sie würde wahrscheinlich sagen, dass sie unseren Vater auf diese Weise ehrt. Sie ritten gerne zusammen aus.“

„Wenn sie die Älteste ist, würde ich doch gerne wissen, warum ihre Hand mir nicht angeboten wird.“

Marwood wechselte mit der Countess einen Blick aus und grinste dann leicht. „Das Ziel dieser Ehe ist es doch, Euch davon abzuhalten, mich umzubringen, nicht?“, sagte er mit leiser Stimme und unerwarteter Ehrlichkeit. „Ich würde Euch ungerne einen weiteren Grund dazu geben.“

Adam entschied sich, nicht darauf einzugehen. Sollte dieser Welpen-Duke sich darüber im Unklaren bleiben und sich Sorgen machen. „Statt mich abzuschrecken, erregt Ihr bloß mein Interesse.“

Marwood neigte den Kopf und sprach vertraulich. „Ich tue Euch einen Gefallen, indem ich offen mit Euch bin. Mein Vater hat sie stets bevorzugt und zugelassen, dass ihr Kopf sich mit undamenhaften Ideen und Vorstellungen füllt. Er schrieb ihr nichts vor, nicht einmal eine Ehe und nun glaubt sie, dass ein Gatte unter ihrer Würde ist. Er hinterließ ihr ein großzügiges Stück Land mit wohlhabenden Bauernhöfen.“ Seine Stimme wurde mit dem letzten Satz bitter. „Sie ist meine Schwester, aber ich wäre Euch kein Freund, wenn ich von ihr lobsingen würde. Sie ist eine Schreckschraube.“

Clara war also offensichtlich der Liebling des alten Duke gewesen. Adam fragte sich, ob es möglich war, dass er sich im Grab umdrehte. Womöglich. Mit etwas Hilfe.

„Wie alt ist sie?“

„Zu alt für die Ehe. Vierundzwanzig.“

Alt genug, um sich zu erinnern. Sie wusste in dem Fall sogar vielleicht eine Menge, wenn ihr Vater sich ihr anvertraut hatte. „Lasst doch bitte nach ihr rufen, ich würde sie gerne kennenlernen.“

„Wirklich, Sir, Ihr würdet sie nicht treffen wollen, wenn Ihr …“

„Ruft nach ihr. Und sagt Eurer anderen Schwester, sie kann das Buch ablegen. Ihre Arme müssen sich wie Blei anfühlen.“

Marwood hastete zu seiner Großmutter, um die Bitte weiterzugeben. Kurz darauf segelte die Countess auf Adam zu, während sie offensichtlich alles tat, um Ruhe zu demonstrieren. „Ich fürchte, Ihr habt missverstanden. Damit unsere Allianz für beide Seiten zufriedenstellend ist, muss Emilia die Braut sein. Claras Charakter ist makellos, aber sie ist nicht für jemand geschaffen, der sich eine glückliche Ehe wünscht.“

„Ich fragte bloß nach einem Treffen mit Lady Clara. Noch habe ich keiner Ehe zugestimmt.“

„Ehe er starb, hat sich mein Sohn ausdrücklich darüber geäußert. Ich führe nur seinen Willen aus. Er sagte, es sollte Emilia sein …“

„Er will sie nur treffen, Großmutter“, entwich es Marwood aufgeregt. Er winkte seiner Schwester Clara, dass sie kommen sollte.

Das Pferd hörte auf zu laufen. Die Frau hatte das Winken gesehen und verstanden. Sie blieb auf dem Hügel, das Reittier im Profil und blickte auf sie herab. Dann riss sie heftig an den Zügeln. Ihr Pferd stieg auf die Hinterbeine, dass Adam befürchtete, dass sie aus dem Seitensattel rutschen würde, aber sie blieb ordentlich sitzen, während sie ihr Ross umherriss. Sie zeigte ihnen allen den Rücken und galoppierte davon.

Die Lady hatte ihm soeben auf eine Distanz von sechshundert Yards eine Backpfeife verpasst.

Der Ausdruck der alten Matrone zeigte selbstgefälligen Triumph, den sie als Missfallen zu verstecken versuchte. „Sie hat meinen Enkel bestimmt nicht gesehen.“

„Sie hat ihn sehr wohl gesehen.“

„Sie hat ihren eigenen Kopf, das gebe ich zu. Aber ich habe Euch gewarnt“, sagte Marwood.

„Ihr habt nicht erwähnt, dass sie unhöflich, ungehorsam und unflätig ist.“

„Ich bin sicher, sie wollte Euch nicht beleidigen.“ Er blickte seine Großmutter flehend an.

„Seid Ihr Euch so sicher? Dann sagt dem Stallknecht, er soll sofort mein Pferd bringen. Ich werde mich ihr selber vorstellen, damit ich mit ihrem unbeabsichtigten Frevel abschließen und mich voll und ganz auf die geplante Partnerschaft unserer Familien konzentrieren kann.“ Adam verbeugte sich. „Bitte richtet Lady Emilia meinen Gruß aus. Ich bin mir sicher, dass wir uns beide sehr bald treffen werden.“

2. Kapitel

Clara brachte gute zwei Meilen zwischen sich und das Haus.

Was dachte sich Theo nur dabei, sie derart herumzukommandieren und dazu zu drängen, nach Hause zurückzukehren? Sie war wohl kaum angemessen gekleidet, um seinen Besuch anzutreffen. Und außerdem, wenn man die steife Pose ihrer Großmutter bedachte, war es nur Theo, der dachte, dass das eine gute Idee wäre.

Sie zog an den Zügeln und hielt mit ihrem Pferd auf ein kleines Wäldchen zu. Sie drängte Theo aus ihren Gedanken, rutschte herunter, warf den Sattel über einen Baumstumpf und holte ein Bündel Papier aus der Satteltasche. An einem geeigneten Plätzchen ließ sie sich nieder und widmete ihre Aufmerksamkeit den Seiten. Ihre Freundin Althea hatte ihr diese gestern zugesandt, damit Clara sie durchlas und ihre Meinung dazu kundtat.

Sie tauchte völlig in die Prosa ein, kommentierte hier und da mit einem Stift, den sie in ihrem Mieder versteckt hatte, und sah mindestens eine halbe Stunde nicht mehr auf. Als sie schließlich den Kopf hob, stellte sie fest, dass sie nicht mehr allein war. Ein Mann beobachtete sie aus sicher hundert Schritten Entfernung. Das weiße Pferd stand in hartem Kontrast zu seinem dunklen Mantel und den dunklen Haaren. Letztere endeten unter seinem Kragen und machten nicht den Eindruck, als seien sie von jemandem frisiert worden, der Ahnung von der aktuellen Londoner Mode hatte.

Sie erkannte ihn als den Mann von der Terrasse. Außerdem beschlich sie die Ahnung, ihn davor bereits gesehen zu haben.

Theos Besuch war ihr also gefolgt. Sehr kühn. Vor allem die Art, wie er dort im Sattel saß und sie einfach nur beobachtete, zeugte von schlechten Manieren.

Clara überlegte kurz, ob sie einfach weiterlesen sollte, empfand es dann jedoch als keine gute Idee. Es war eine Sache, so zu tun, als hätte sie die Geste ihres Bruders, hereinzukommen, nicht gesehen, eine ganz andere, den Mann vor sich zu ignorieren.

Er gab seinem Pferd die Sporen und kam näher, sodass sie ihn besser erkennen konnte. Der harte Zug um seinen Mund hob seine vollen Lippen nur hervor. Dunkle Augen taxierten sie von oben bis unten. Der Schnitt seines schwarzen Mantels wäre in London unpassend gewesen, doch sie kannte sich gut genug mit französischer Mode aus, um zu erkennen, dass er mehr als angemessen für Paris war. Seine Erscheinung wurde von einer leger geknoteten Krawatte abgerundet.

Alles in allem war er durchaus gut aussehend, in einer denkwürdigen, fast schon poetischen Art und Weise. Da sie bereits einige Bekanntschaften mit Männern mit düsterem Humor gemacht hatte, war ihr Interesse an einer weiteren äußerst gering, ganz egal, wie attraktiv dieser auch sein mochte.

Er hielt sein Pferd zehn Schritte von ihr entfernt an, stieg jedoch nicht ab, sodass sie überlegte, aufzustehen, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken, entschied sich aber dagegen.

„Guten Tag, Sir“, begrüßte sie ihn in einem Tonfall, der ihm vermitteln sollte, wie unwillkommen sein Eindringen war.

Endlich schwang er sich von seinem Pferd. „Verzeiht meinen Mangel an formaler Vorstellung. Ich bezweifle jedoch, dass es Euch viel ausmacht, seid Ihr doch eine Dame, die selbst nicht sonderlich viel davon hält.“

„Ich bin mir sicher, dass ich nicht verstehe, was Ihr damit meint.“

Seine Mundwinkel zogen sich diese Winzigkeit nach oben, um klarzumachen, dass er wusste, dass sie log. Tatsächlich implizierte dieses halbe Lächeln, dass er alles über sie wusste.

„Ihr habt mich absichtlich übersehen, Lady Clara, das meine ich damit.“

„Wie kann man jemanden absichtlich übersehen, den man nicht kennt?“

„Ihr habt es geschafft.“

Selbstherrlich wäre noch eine zu nette Beschreibung für ihn.

„Ihr habt eine Vorstellung erwähnt“, presste sie zwischen einem harten Lächeln hervor.

Er deutete eine Verbeugung an. „Stratton, sehr erfreut.“

Stratton? Der Duke von Stratton? Hier? War Theo verrückt geworden?

Kein Wunder, dass er entfernt bekannt aussah. Sie hatte ihn Jahre zuvor gesehen, am anderen Ende eines Ballsaales, bevor ihr Vater starb und der Duke England verließ. Als sie vor zehn Tagen in London war, hatte sie Gerüchte über seine Rückkehr vernommen, doch es war ihr unbegreiflich, warum Theo ihn auf das Anwesen gelassen hatte.

Er kam näher und bemühte sich um eine lässige Haltung direkt neben ihr, indem er sich gegen einen Baum lehnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Mann, der sich auf ein längeres Gespräch einstellte.

Sie kämpfte sich auf die Füße und presste den Blätterstapel an ihre Brust, damit er nicht vom Wind fortgerissen wurde.

„Ich hatte keine Ahnung, wer Ihr seid. Selbst wenn ich geraten hätte, wäre mir Euer Name niemals in den Kopf gekommen.“

„Sicher nicht. Unsere Familien sind seit Jahrzehnten verfeindet.“

„Der Titel des Earls steigt Theo wohl zu Kopf, wenn er Euch empfangen hat. Meine Großmutter muss rasen vor Wut.“

„Im Gegenteil, sie war es, die mich eingeladen hat.“

„Das ist unmöglich.“

„Der Brief trägt ihre Handschrift. Glaubt mir, er kam höchst unerwartet“, gab er hämisch zurück.

Sie verengte die Augen. „Dennoch habt ihr die Einladung angenommen.“

„Eure Großmutter ist länger ein Bollwerk unserer Gesellschaft als ich lebe. Die Gönnerinnen Almack’s erzittern in ihrer Anwesenheit. Ich würde jemanden mit solchem Einfluss niemals beleidigen.“

Er machte sich über sie lustig. Sie bezweifelte stark, dass er sich auch nur einen Deut um Großmutters Einfluss scherte. Er sah nicht wie jemand aus, der seinen Familienstolz einfach außer Acht ließ, um sich stattdessen ein gutes Wort bei ihr abzuholen.

Sie sollte einfach mit Altheas Artikel verschwinden, allerdings war ihre Neugier größer.

„Weshalb hat sie Euch eingeladen?“

„Sie schlug mir eine Ehe mit Eurer Schwester vor, um die Feindlichkeiten zu beseitigen. Um die Vergangenheit zu begraben.“ Wieder dieses halbe Lächeln. „Ihr könnt Euch meine Verwunderung sicherlich vorstellen. Sie war Eurer jetzigen ganz ähnlich.“

Verwunderung war eine absolute Untertreibung für das, was sie gerade fühlte. Das hier wurde immer seltsamer. Und immer nerviger. Sie verspürte ein doppeltes Gefühl des Verrats. Zum Ersten, weil ihr Vater dieser Idee niemals zugestimmt hätte, zum Anderen, weil niemand sie darüber informiert, geschweige denn nach ihrer Meinung gefragt hatte. Großmutter musste ihre ganze Willenskraft aufgebracht haben, nichts zu verraten, selbst wenn Emilia nicht eingeweiht gewesen war.

„Nun, wann wird die Verlobung verkündet?“ Sie achtete auf eine gute Portion Skepsis in ihrem ohnehin sarkastischen Ton.

„Ich habe der Verbindung noch nicht zugestimmt.“

„Meine Schwester ist liebevoll wie auch aufgeweckt. Sie würde eine wunderbare Duchess abgeben, außer natürlich für Euch. Ich bin froh über Eure Unfähigkeit, Euch zu entscheiden.“

„Macht mich nicht für die Verspätung meines Entschlusses verantwortlich. Da stand ich, dachte über eine liebliche Taube nach, als eine schwarze Krähe an mir vorbeiflog und mich ablenkte.“

Krähe? Was zum T…

„Dann schlug die Krähe mir die Flügel ins Gesicht, drehte mir den Schwanz zu und flog davon.“ Er kam zu ihr, bis er über ihr auftürmte. „Ich habe mich bisher vor keiner Herausforderung gescheut, Lady Clara.“

Wenn er dachte, sie würde erzittern und vielleicht sogar erröten, lag er falsch. Nun, obwohl sie zugegebenermaßen etwas erzitterte, als sie feststellte, dass sein Auftreten etwas Mysteriöses und Aufregendes an sich hatte. Und dass seine dunklen, tiefgründigen Augen Wellen schlugen, die sie beinahe darin ertrinken ließen. Seine Nähe und sein Blick verschlugen ihr für einen beschämend langen Moment die Sprache. Vielleicht wurde sie doch ein wenig rot.

„Ihr hättet die Taube einfangen sollen, als Ihr die Möglichkeit dazu hattet“, gab sie zurück. „Denn nun werde ich meine Großmutter davon überzeugen, Euch Emilia niemals zu überlassen.“

„Ich werde sie für meine Zwecke einzusetzen wissen.“

„Und welche Zwecke wären das?“

„Wisst Ihr es denn nicht?“ Er legte den Kopf schief. „Vielleicht wisst Ihr es tatsächlich nicht.“

Es wurde peinlich, ihm so nah zu sein. Sie erkannte eine Mischung aus Misstrauen und … einem verwirrenden Rausch. Sie machte einen Schritt zurück, spielte mit dem Stapel Blätter in ihren Armen. „Entschuldigt mich.“

Sie ging in Richtung ihres Pferdes. Die hohe, schlanke Gestalt des Duke erschien an ihrer Seite.

„Ihr geht, ohne mir einen guten Tag zu wünschen? Ich fürchte, ihr habt es Euch zur Aufgabe gemacht, mich zu beleidigen.“

„Es wäre mein Recht, Euch zu erschießen, von Beleidigungen ganz abgesehen. Ihr seid in diese Ländereien eingedrungen, ganz gleich, was meine von Trauer verwirrte Großmutter gesagt haben mag. Ihr habt die Grenze zum Land meines Bruders und mir vor einer Viertelmeile überschritten.“

„Und es wäre mein Recht, als Antwort darauf meine Gerte auf Euer hübsches Hinterteil klatschen zu lassen.“

Sie blieb abrupt stehen und starrte ihn an. „Diese Drohung geht eindeutig zu weit! Versucht das, und ich werde Euch erschießen, darauf könnt Ihr Gift nehmen. Ich bin keine Frau, die vor dummer, männlicher Angeberei erschaudert. Ein Gentleman hätte das Missverständnis, das ich mit meinem Bruder hatte, auf sich beruhen lassen. Es ist ungeheuerlich, dass Ihr Euch stattdessen dazu aufgefordert gefühlt habt, mir zu folgen und mich zu beleidigen. Ich gehe nun meines Weges, und Ihr solltet Eurem folgen.“

Sie ging zu ihrem Pferd. Er folgte ihr wieder auf Schritt und Tritt. Oh, sie wollte ihn mit Altheas Manuskript verhauen, so sehr ging er ihr auf die Nerven.

„Seid Ihr Schriftstellerin?“ Er streckte die Hand aus und schnickte gegen die Ecke der Seiten. Das brachte seinen Arm nah an ihren Körper. Fast wäre sie zurückgewichen.

„Eine Freundin hat das verfasst. Es ist ein Essay über …“ Sie unterbrach sich selbst. „Ich bin sicher, es interessiert Euch nicht.“

„Vielleicht tut es das.“

„Dann geht es Euch eben nichts an.“

„Keine Schriftstellerin, dafür ein Blaustrumpf.“

„Oh, wie ich dieses Wort hasse.“ Sie stopfte die Seiten in die Satteltasche. „Ihr habt doch in Frankreich gelebt. Die Franzosen sind bekannt dafür, an Kultur interessierte Frauen zu feiern. Wenn Ihr mir diesen Spitznamen also allein aufgrund der Tatsache verpasst, dass ich gelesen hab, habt Ihr wohl nichts im Ausland gelernt, außer höchst irritierend zu sein.“

Sie ergriff die Zügel und positionierte ihr Pferd, um besser aufsteigen zu können.

„Erlaubt mir, Euch behilflich zu sein.“ Er kam näher.

„Bitte, geht einfach.“ Sie stieg rasch auf den Baumstumpf. Mit einem Hüpfer war sie bereits im Sattel.

„Bezaubernd, Lady Clara. Ich sehe, Ihr seid in allen Hinsichten höchst unabhängig.“

Sie schluckte den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, herunter. „Haltet Ihr mich wirklich für so einfältig, vom Pferd zu steigen, wenn ich nicht wüsste, wie ich wieder heraufkomme?“

Als sie das Ross drehte, um davonzureiten, erhaschte sie einen kurzen Blick auf die Züge des Duke. Belustigung ließ sie weicher erscheinen, wenngleich nichts als Berechnung in seinen dunklen Augen lag.

Adam sah Lady Clara hinterher.

Was für eine provokante Frau. Helläugig und quirlig, aber auch wunderschön mit cremefarbener Haut und feuerroten Strähnen in ihrem braunen Haar.

Und temperamentvoll. Für viele Männer sicherlich zu temperamentvoll. Er hingegen mochte derart selbstbewusste Frauen. Andererseits bevorzugte er es, wenn man ihn nicht so abblitzen ließ. Aber er würde es ihr verzeihen. Dieses eine Mal. Die Pläne der Countess hatten Lady Clara überrumpelt – wie ihn selbst auch – und die Feindseligkeit zwischen ihren Familien machte ihre Unhöflichkeit verständlich.

Er würde es ihr auch deshalb verzeihen, weil er sie von dem Augenblick gewollt hatte, als er sie unter dem Baum sitzen gesehen hatte. Dieses Verlangen war seither nur gewachsen. Sehnsucht machte einen stets großzügig.

Er stieg aufs Pferd, ritt allerdings ostwärts, nicht zurück zum Anwesen der Marwoods im Westen. Es gab keinen Grund, dorthin zurückzukehren. Wenn er seine Richtung beibehielt, würde er nach wenigen Meilen auf seinem eigenen Grundstück sein.

Sein Weg führte ihn an kleinen Bauernhöfen und einem kleinen Dörfchen vorbei. Gehörte das alles noch immer zu Lady Claras Eigentum? Wenn ja, war das Erbe ihres Vaters mehr als ordentlich gewesen. Kein Wunder, dass Duke Marwood so abfällig darüber gesprochen hatte.

Erst als er über den Gipfel eines flachen Hügels ritt, realisierte er, wo er war. Er erkannte die Stadt, auf die er zuritt, vom Anblick seiner großen Mühle. Wenn er sich anstrengte, konnte er den breiten Fluss ausmachen, dessen Ufer sein Land von dem Marwoods trennte.

Er lenkte sein Pferd vorwärts, die Gedanken noch immer mit dem Angebot der Countess beschäftigt, so, wie es wohl vom alten Duke kam. Er hatte Gründe gehabt, nach Frieden zu streben. Adam gedachte, sie zu kennen. Es schien, dass der Charakter eines Mannes wohl selbst im Angesicht des Todes seine Essenz beibehielt.

Der alte Earl hatte Intrigen gesponnen, um einen alten Streit zu gewinnen, und es trotzdem geschafft, dass seine Mutter ihn, Adam, als Friedensangebot darreichte in der Hoffnung, dass es seinen Sohn beschützen würde.

***

Clara verschnürte Altheas Essay und schob ihre Notizen unter das Band. Ihre Freundin war eine begnadete Schriftstellerin. Wenn sie sich jedoch zu sehr in etwas hineinsteigerte, verlor sie rasch jegliche Sachlichkeit und wurde polemisch. Diese Problematik würde aber leicht zu beheben sein.

Sie legte den Stapel in die untere Schublade ihres Schreibtisches in der Bibliothek. Währenddessen kam ihr Bruder Theo herein, starrte sie kurz an und schritt zu den Dekantern, um sich Brandy einzuschenken.

„Du hast es ruiniert“, presste er hervor. „Alles war perfekt vorbereitet, aber du musstest ihn ja derart beleidigen, dass er darüber alles andere vergessen hat.“

Sie hatte weder Theo noch ihre Großmutter seit ihrer Rückkehr getroffen, also war das hier die erste Gelegenheit für ihren Bruder, sie zu rügen. Nicht, dass sie das erlauben würde.

„Wenn du mich gewarnt hättest, dass du Stratton zu empfangen gedenkst, hätte ich mich ferngehalten, glaub mir.“

„Das war Großmutters Idee.“

„Vater wäre niemals damit einverstanden gewesen. Wenn sich unsere Familien einander annähern sollen, lass das doch die Strattons tun!“

Er verzog den Mund, blickte in sein Brandyglas und dann zu ihr. „Du warst im letzten halben Jahr nicht oft in London und hast deswegen wohl nichts von den Gerüchten mitbekommen, stimmt’s?“

„Es hätte mich sowieso nicht interessiert, schließlich habe ich nichts mit ihm zu tun. Und er hat nichts mit uns zu tun. Das ist seit Großvaters Tod so.“ Ihr Vater – Gott sei seiner Seele gnädig – hatte nicht viel darüber erzählen müssen, um die Bitterkeit, die in ihrer Familie vorherrschte, an sie weiterzugeben.

„Leider ist Stratton nicht wie sein Vater. Oder die anderen Strattons. Er ist … gefährlich.“

Sie lachte auf. „Er machte keinen sonderlich gefährlichen Eindruck auf mich.“ Nur, dass er das sehr wohl getan hatte. Sein grüblerischer Gesichtsausdruck … Wenn sie ihm jemals wieder begegnen sollte, würde sie ich so lange kitzeln, bis er wie ein Idiot lachte, einzig und allein, um die düstere Aura um ihn herum zu vertreiben.

„Er ist Frauen gegenüber nicht gefährlich“, entgegnete Theo sarkastisch.

Nun, sie war sich auch dessen nicht sicher.

„Er duelliert sich, Clara. Er hat bereits zwei Männer getötet und fast einen dritten. In Frankreich. Er gibt sich der kleinsten Provokation hin und wird nicht ruhig bleiben. Es wird gemunkelt, dass er deshalb nach England zurückgekehrt ist, weil die französischen Behörden ihn dazu gedrängt haben, das Land zu verlassen.“ Theo kippte den Rest des Brandys einfach weg. „Er ist ein Mörder.“

Ihr Bruder schrumpfte während seiner Ansprache in sich zusammen. Seine Brauen gingen in die Höhe und seine blauen Augen starrten in die Ferne, ins Nichts. Clara war drei Jahre älter als Theo und hatte ihm beim Aufwachsen zugesehen. Es war leicht zu erkennen, dass er Angst hatte.

Sie stand auf und lief zu ihm. „Er wird wohl kaum dich töten, Theo. Nicht, solange die Fehde zwischen unseren Familien besteht, die übrigens begann, noch bevor du geboren wurdest.“

„Auf welche Weise wäre diese Fehde denn besser zu beenden? Ein falsches Wort, ein unpassender Blick und da hat er seinen Grund!“

„Jetzt bist du aber dramatisch.“

„Großmutter stimmt mir zu. Mach dich ruhig über mich lustig, aber würdest du auch ihr ins Gesicht lachen?“

Strattons Erklärung, weshalb er sie besucht hatte, ergab nun Sinn, wenn auch auf lächerliche Weise. Großmutters Trauer hatte eine bedauerliche Wendung genommen, wenn sie eine solche Bedrohung in dem Duke sah. Und Theo … Er war vielleicht mutig, wenn die Gefahr in weiter Ferne lag, weniger jedoch, wenn sie sich derart imposant präsentierte.

„Ich nehme an, die Überlegung war, dass wenn du sein Schwager wärst, er dich nie zum Duell auffordern würde? Das ist ein hoher Preis für Frieden, Bruder. Und was ist mit Emilia? Sie ist so temperamentvoll, wäre es gerecht, sie an ihn zu binden?“

„Ich sagte doch bereits, dass er Frauen nicht gefährlich wird, oder nicht?“

„Das weißt du nicht mit Sicherheit. Wenn wir es nicht einmal schaffen, mit den Strattons an einem Tisch zu sitzen, warum sollten wir dann solche Arrangements machen?“

„Großmutter …“

„Du bist jetzt der Duke, du musst deinen eigenen Kopf anstrengen!“

„Was für ein lächerlicher Rat, Clara. Er hat gerade so die Schule abgeschlossen.“ Großmutter betrat während Claras Ansprache die Bibliothek. „Ich verbitte mir eine Verkomplikation der Angelegenheit, indem du Theo dazu drängst, von meinem Rat Abstand zu nehmen.“

„Ich bin einundzwanzig“, murmelte Theo errötend.

„Tatsächlich? Nun, ein Jahr mehr oder weniger macht kaum einen Unterschied.“

„Ich verkompliziere überhaupt nichts“, gab Clara zurück.

Ihre Großmutter setzte sich. Den Rücken durchgestreckt und den Kopf auf die Art angewinkelt, als würde sie die Queen nachstellen, die ihre Untergebenen betrachtete. Zu denen Clara in diesem Moment ebenfalls zählte.

„Durch dein Verhalten heute hast du den Duke vertrieben, ehe ich … bevor wir zu einer Einigung kommen konnten. Was ist das wohl, wenn keine Verkomplikation?“

„Eine Begnadigung. Für Emilia. Für uns alle, damit du dir noch einmal überlegen kannst, ob du sie wirklich an diesen Mann verheiraten willst.“

„Er wirkte auf mich mehr als geeignet. Zu französisch, aber was kann man schon von jemandem erwarten, der eine Mutter hatte, die ständig unterwegs war? Dennoch, in ein paar Wochen wird er sich an das Leben hier angepasst haben und das tun, was nötig ist, um seinen Platz an unserer Seite zu verdienen. Er weiß, dass er heiraten muss, und deine Schwester ist von makellosem Geschlecht. Wir werden davon profitieren, ihn in unserer Nähe zu wissen, wo wir ein Auge auf ihn haben können, damit er Theo nicht gefährlich wird.“

„Du kannst nicht ebenfalls glauben, dass er eine Gefahr für meinen Bruder darstellt. Hat denn jeder hier den Verstand verloren?“

„Und wie immer glaubst du, alles zu wissen, nur weil mein Sohn dich bevorzugt hat. Es gibt so vieles, von dem du keine Ahnung hast. Ich gehe diesen Schritt nicht leichtfertig. Ich werde nicht zulassen, dass Theo etwas geschieht vor allem, solange sein unerträglicher Cousin alles erben würde. Überlass diese Angelegenheit mir, Clara. Emilia wird Stratton heiraten und alles wird wunderbar werden.

Obwohl Clara alles andere als einverstanden war, beendete ihre Großmutter das Gespräch, indem sie ein Buch herauszog, es öffnete, die Brille aufsetzte und zu lesen begann.

Clara sah zu Theo in der Hoffnung, dass er irgendwelche Einwände hatte.

Doch er drehte sich nur wortlos um und schenkte sich einen zweiten Brandy ein.