Leseprobe Ein zauberhafter Sommer in der Bretagne

Kapitel 1

Geschafft!

Mit einem erleichterten Kribbeln im Bauch betrat Camille den Bahnsteig im Gare Montparnasse. In der letzten halben Stunde hatte sie sich durch den Metrodschungel in Paris schlagen müssen, immer in der Angst, den Anschlusszug nach Quimper nicht rechtzeitig zu erwischen. Aber jetzt stand sie hier, vor dem Zug, der sie in die Bretagne bringen würde. Penmarch, der Zielort ihrer Reise, lag wortwörtlich am Ende der Welt, im Finistère.

Camille freute sich auf ihre drei Freunde, die Gewinner dieser Urlaubswoche, und auf das Meer und den weiten Himmel darüber, nachdem der Sommer in Saarbrücken launisch verlaufen war. An den sonnigen Tagen hatte sie meistens lang arbeiten müssen und an ihren freien Tagen war es trüb gewesen. Höchste Zeit also, Sonne zu tanken, bevor der Winter nahte. Der Atlantik würde ihr genau das bieten, denn man sagte, dass sich Schlechtwetterwolken an der bretonischen Küste nie lange hielten.

In diesem Moment, wo der Wind, der jeden einfahrenden Zug begleitete, ihre Locken tanzen ließ, fiel die Enttäuschung über das saarländische Sommerwetter von ihr ab. Plötzlich fühlte Camille sich lebendig, fast quirlig. Die Zugtüren öffneten sich mit einem Fauchen und sie stieg durch die nächstgelegene Tür ein. Die Bahn hatte ihr bei der Online-Buchung empfohlen, für die gesamte Fahrt Sitzplätze zu reservieren, also zog sie nun ihren Trolley auf der Suche nach dem richtigen Platz durch die Waggons hinter sich her. Jedes Mal, wenn sie den Wagen wechseln musste, bockte das unhandliche Ding auf den Übergängen und verursachte auf den klappernden Blechen einen Höllenlärm. Bis heute hatte Camille nicht kapiert, wo sie sich vor der Abfahrt den Wagenstand des Zugs heraussuchen konnte. Nun war es ihr peinlich, dass alle Passagiere sich zu ihr umdrehten, sobald sie einen Waggon betrat. Wahrscheinlich sah man ihr sofort an, dass sie Deutsche war. Ihr Gesicht brannte vor Hitze und Schweißtropfen liefen die feinen Härchen an ihren Schläfen entlang. Aber in Saarbrücken war es an diesem Morgen schon so herbstlich kühl gewesen. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass es in Paris noch sommerlich heiß sein würde.

Nervös pustete sie sich die widerspenstige Locke aus dem Gesicht, die wie ein dunkler Schatten immer wieder über ihr rechtes Auge rutschte. Mit ihrer kleinen Handtasche, Rucksack, Trolley und der blöden Softshelljacke war sie hoffnungslos überladen.

Endlich erreichte sie den richtigen Wagen. Sie checkte die Sitznummern – ihr Platz musste sich an diesem Ende des Waggons befinden. Erleichtert atmete sie auf und entdeckte hinter dem letzten Sitz eine Stellfläche für Gepäck, in die ihr Trolley locker noch passen würde. Sie klickte auf den Knopf am Griff, mit dem sie die Doppelstangen einfahren konnte, dann schob sie das Teil in die Lücke hinter dem Sitz. Der Trolley verkantete sich, ragte in den Durchgang hinein und ließ sich nicht mehr bewegen.

„Cavolo“, stieß sie leise aus. Das italienische Schimpfwort würde hier hoffentlich niemand verstehen. Sie bemühte sich, den Trolley mit ihrer freien Hand in die Aufrechte zu bringen. Hinter ihr wartete bereits eine ältere Dame und warf ihr unter einem silbergrauen, streng geschnittenen Pagenkopf ungeduldige Blicke zu. Mit einem weiteren Schnaufen legte Camille ihre Jacke kurzerhand auf dem Schoß des Passagiers ab, der auf dem letzten Sitz saß, und murmelte ihm ein hoffnungsvolles „Pardon“ entgegen. Dessen Haare waren genauso grau wie die der Dame, doch seine Augen strahlten ihr freundlich entgegen, er legte eine Hand auf die Jacke und sagte Camille, sie solle sich Zeit lassen.

Nachdem sie den Trolley mit zwei Händen in der Ecke verstaut hatte, griff sie nach ihrer Jacke, hauchte dem Mann ein „Merci“ entgegen und der Ungnädigen hinter ihr ein „Pardon, Madame“, dann eilte sie davon.

Nur drei Reihen weiter entdeckte sie ihren Platz in einer Vierergruppe mit Tischchen dazwischen. Ihr gegenüber saßen zwei Jugendliche, Kopfhörer auf den Ohren, Smartphones vor den Augen. Sie blickten kurz auf und deuteten ein Nicken an. Irgendwie wirkten sie erleichtert, als sie Camille sahen. Der Platz neben ihr war nicht reserviert. Mit einem Stoßgebet, dass er frei bleiben würde, setzte sie sich ans Fenster, legte ihren Rucksack und die Jacke auf den freien Platz, und schon fuhr der Zug an.

Camille brauchte ein paar Minuten, bis sie sich abgekühlt hatte. Dann stand sie auf, froh und erleichtert, weil sie am richtigen Platz gelandet war, und schob die Jacke in das Gepäckfach über sich. Bestimmt würde sie jetzt auch dazu kommen, die Geschichte aufzuschreiben, die ihr seit Beginn des Jahres im Kopf herumspukte. Jetzt, da sie das Umsteigen und den Wechsel der Bahnhöfe in Paris hinter sich gebracht hatte, begann für sie der Urlaub.

Nachdem sie ihren Laptop aus dem Rucksack gezogen und aufgeklappt hatte, tippte sie die Worte ein, die sich auf der Metrofahrt in ihrem Kopf geformt hatten – nachdem sie seit Wochen vergeblich nach dem ersten Satz für ihren Roman geangelt hatte. Sie wusste, der erste Satz war extrem wichtig. Aber vielleicht war gerade dieses Wissen der Grund, weshalb sie einfach nicht die richtigen Worte fand? Kurzgeschichten schrieb Camille schon seit Anfang des Jahres. Komischerweise hatte die Hochzeitsrede, die sie spontan bei der Trauung ihrer Cousine Mia an Weihnachten hatte halten müssen, etwas in ihr ausgelöst. Seitdem flossen ihr die Geschichten nur so aus den Fingern. Ihrem Traum vom eigenen Roman war sie allerdings noch keinen Schritt näher gekommen. Im Kopf hatte sich längst die gesamte Geschichte geformt, aber es waren wohl die berühmten ersten Worte, die ihr partout nicht einfallen wollten und die sie seitdem blockierten.

Erst vor einer halben Stunde – in der Metro eingeklemmt zwischen einer dunkelhäutigen jungen Frau und einem alten weißen Mann – war ihr dann endlich ein Gedanke gekommen, von dem sie hoffte, dass er ihr aus der Misere helfen konnte. Sie tippte den Satz ein und spürte, wie die Sorge darum, ihre Geschichte mit den perfekten Worten zu beginnen, sie verließ. Hauptsache, der erste Satz, diese große Klippe, war genommen. Ändern konnte sie ihn ja immer noch. Zufrieden lehnte sie sich zurück und las ihn noch einmal.

Ich lasse den ersten Satz weg, vielleicht klappt es dann endlich mit dem Schreiben.

Sie wollte den Roman in der Ich-Form schreiben, aus der Perspektive einer jungen Frau, die für ein Jahr aussteigen wollte. Sie verschränkte ihre Hände und streckte die Arme aus, um ihre Knöchel knacken zu lassen. Sie spürte das Kribbeln in den Fingerspitzen und wusste, jetzt würde sie nichts mehr aufhalten.

Nur mit halbem Ohr hörte sie die Bleche zwischen ihrem und dem nächsten Waggon klappern, dann setzte ein aufgeregtes, helles Bellen ein, und eine dunkle Stimme rief „Banou!“ Noch bevor Camille registrierte, dass diese Stimme in ihr etwas auslöste, sah sie einen schwarzen Schatten durch den Waggon huschen, aufgeregt kläffend und eine Leine hinter sich her ziehend. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, und das schwarze Etwas kam abrupt zum Stehen. Ein lustig aussehender Hund stemmte sich gegen sein Halsband und bellte aufgeregt. Die Schnauze wirkte eingedrückt, die Zähne im Maul waren winzig und minderten den Eindruck einer wütenden und gefährlichen Bestie. Wieso trug dieser Hund keinen Maulkorb? Das war doch Pflicht in Frankreich.

Eine Sekunde blitzte eine Erinnerung in Camilles Kopf auf: sie und Samir Faure als Kinder an einer Bushaltestelle. Sie waren vom Fahrer vor die Tür gesetzt worden, weil sein Hund seinen Maulkorb abgestreift hatte. Wie lange war das her, bald zwanzig Jahre? Sie hatten ein paar Besorgungen in Dijon erledigen sollen. Samirs damaliger Hund, ein weißbrauner Terrier, war daran gewöhnt gewesen, mit in die Stadt zu fahren. Aber den Maulkorb hatte er verabscheut.

Noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, glitt Camille aus dem Sitz und ging vor dem schwarzen Hund in die Hocke. Der sah jetzt eher verwirrt als gefährlich aus, und sie ließ ihn an ihrer Hand schnuppern. Seine samtig weiche Schnauze kitzelte Camilles Haut. Seine großen braunen Augen nahmen sie sofort für sich ein, und die Fledermausohren über dem bulligen Körper und dem putzigen Gesicht entlockten ihr ein Schmunzeln. Eine französische Bulldogge, fast noch ein Welpe. Jetzt sah Camille auch, wer den Lärm zwischen den Waggons verursacht hatte: Eine Servicekraft schob einen Wagen mit Getränken und Snacks vor sich her. Sie blickte an der Karre vorbei und verdrehte die Augen.

„Der Hund muss festgebunden werden. Was denken Sie sich denn?“, schimpfte sie. „Und wo ist sein Maulkorb?“

Camille hatte unter dem Kinn des Hundes ein weiches, schwarzes Stoffteil entdeckt, das wohl der Maulkorb sein musste, und mühte sich, es dem Hund über die Schnauze zu ziehen. Ihr war sofort klar, dass dieses Teil nicht lange dort bleiben würde, denn die Schnauze des Hundes war dafür zu kurz. Camille versuchte, die Leine zu sich zu ziehen, doch die hatte sich an einem der Sitze verhakt – hinter der Kaffeekarre. Sie sah eine kleine Hand, die sich an der Schlaufe zu schaffen machte, dann erkannte sie das Gesicht eines Jungen, der die Lage offensichtlich richtig interpretierte und helfen wollte. Er ließ die Leine los, nachdem er sie gelöst hatte, und Camille zog sie vorsichtig zwischen den Sitzen und dem Kaffeewagen zu sich heran, um den Hund mit sich zu ihrem Platz zu nehmen. Dort hob sie ihn auf den Schoß und streichelte ihm über den Rücken.

„Binden Sie ihn bitte fest, damit das nicht noch einmal passiert. Möchten Sie einen Kaffee?“

Leicht verschüchtert nickte Camille. „Oui, un café au lait, s’il vous plaît.“ Sie bereute ihre Bestellung, als sie sah, wie die Frau einen dünn aussehenden Kaffee aus einer Thermoskanne in einen Pappbecher kippte, um ihn ihr anschließend mit zwei Milchdöschen zu reichen.

„Ich zahle den Kaffee“, erklang da eine dunkle, etwas raue Stimme, die bewirkte, dass sich Camilles Haare im Nacken aufstellten. Samir? Nicht jetzt schon, bitte! Sie hatte gehofft, noch eine Weile allein zu reisen, doch da sah sie ihn auch schon hinter der Servicekraft, die sich zu ihm umgewandt hatte. Seine Haut schimmerte in diesem Bronzeton, den sie schon als Kind so bewundert hatte. Die dunklen Haare auf seinem Kopf waren allerdings verschwunden, was auf sie jedoch kein bisschen unattraktiv wirkte. Im Gegenteil, so konnten seine Augen umso stärker strahlen. Deren Blau, das Camille immer an den Ferienhimmel in der sommerlichen Bourgogne erinnerte, wurde durch die dunkle Hornbrille kaum abgemildert. Eine Gänsehaut lief über Camilles Rücken, als ihr klar wurde, dass aus dem kleinen Samir ein erwachsener Mann geworden war. Ein dunkler Bartschatten unterstrich die Form seines kantigen Gesichts, und die lange Nase gab ihm etwas Irritierendes, umso mehr, als seine weichen Lippen noch immer die des fröhlichen, liebenswerten Jungen waren. Des Jungen, mit dem sie hätte Pferde stehlen wollen, am liebsten ihr ganzes Leben lang. Ein Stich bohrte sich in Camilles Brust und dehnte sich sofort zu einem unangenehmen Ziehen aus, das auch ihren Magen erreichte.

„Nein, ich zahle selbst“, sagte sie schärfer als beabsichtigt. Doch bis sie mit einer Hand – mit der anderen hielt sie noch immer den Hund auf ihrem Schoß – ihren Geldbeutel aus der Tasche gefriemelt hatte, hatte Samir der Schaffnerin längst die Münzen in die Hand gezählt. Diese zog weiter, anscheinend besänftigt, weil Samir ihr nicht nur ein Trinkgeld, sondern auch sein Lächeln geschenkt hatte. Dieses Lächeln, das Camilles Gehirn im Teenageralter zu einer zuckrigen, geleeartigen Masse hatte werden lassen. Aber das war längst Geschichte. Nur wenig später hatte Samir sie einfach vergessen. Er hatte ihr das Herz gebrochen, noch lange bevor sie erwachsen war. Und das würde sie ihm niemals verzeihen.

Natürlich wusste Camille schon seit Monaten, dass sie gemeinsam eine Woche in der Bretagne verbringen würden, schließlich hatte Mias Freundin Sophie Thielen, die wie Camille eine der „berüchtigten Brautjungfern“ gewesen war, ihnen bereits kurz nach Silvester mitgeteilt, dass sie im September auf Hawaii sein würde und deshalb in der letzten Augustwoche nicht mit nach Penmarch kommen konnte. Natürlich gönnte Camille Sophie und ihrem Freund und Chef, Yannis Jouvet, den gemeinsamen Traumurlaub, aber als Sophie ihr mitgeteilt hatte, dass sie ihren guten Freund Samir Faure fragen würde, ob er die Reise an ihrer Stelle antreten wolle, hatte Camille gehofft, er würde Nein sagen.

Tat er aber nicht.

Immerhin, hatte Camille sich dann gesagt, würden auch Greta und Falko mit von der Partie sein, die sie bei Mias Hochzeit als Freunde gewonnen hatte. Alles halb so schlimm. Außerdem war diese Kindheitsliebe inzwischen schon so lange her … Sie hatte sich längst damit abgefunden. Umso unangenehmer war ihr die Nervosität, die sie befiel, als Samir Anstalten machte, sich auf den freien Platz neben sie zu setzen.

„Äh, Sekunde, ich muss erst den Besitzer dieses Hundes suchen“, beeilte Camille sich zu sagen und rutschte auf dem Sitz zum Gang, damit Samir sich nicht setzen konnte. Der Hund auf ihrem Schoß hatte sich auf seine Pfoten gestellt, was nicht gerade gemütlich war, denn er rutschte immer wieder mit der einen Vorderpfote ab, und Camille war froh, dass sie eine robuste Jeans trug, auch wenn die viel zu warm für diesen Tag war.

„Das wird nicht nötig sein“, sagte Samir und kraulte den Hund unterhalb des Maulkorbs am Hals. „Darf ich vorstellen – Banou, meine Hündin. Banou, das ist Camille, eine liebe Freundin von mir.“

Eine liebe Freundin? Was fiel ihm ein?

Kapitel 2

Überrumpelt rutschte Camille zum Fenster, wo ihr Rucksack jedoch ein Drittel des Platzes belegte, sodass der nach einem dezenten Aftershave duftende Samir ihr viel zu nah kam. Seine Oberschenkel berührten ihre, was sofort eine unangenehm warme Empfindung in ihr auslöste. Doch sie konnte nicht weiter rücken, solange dieser Hund auf ihrem Schoß balancierte. Dazu noch das Tischchen – sie fühlte sich arg beengt. Der Bulldogge schien die Nähe dagegen nichts auszumachen, obwohl sie mit ihren Pfoten auf dem glatten Jeansstoff keinen Halt fand. Sie wackelte mit ihrem Hinterteil hin und her, was lustig aussah, weil sie keinen Schwanz besaß, mit dem sie hätte wedeln können, und beschnupperte Samir, als wolle sie ihn willkommen heißen.

Camille fühlte sich hoffnungslos überfordert von den vielen Eindrücken, die auf sie einprasselten. Da war Samirs Geruch, der unter dem Aftershave lag und sofort Bilder in ihren Kopf zauberte. Endlose Sonnenblumenfelder der Bourgogne, hellblauer Himmel, flirrende Luft über dörrendem Gras, bunte Blumenmeere, aber auch der Geruch nach den berühmten Caves, den Weinkellern der Bourgogne. Und natürlich die heiße Schokolade, die Samirs Mutter für die deutschen Kinder, sie und ihren Bruder Julien, immer gezaubert hatte. Auch die Berührung seiner Schenkel, die in Bermudas steckten und deren kräftige Muskeln sie sah und deutlich spürte, verwirrte sie. Dazu dieser charmante Hund, dessen Gesicht das Kindchenschema voll erfüllte und so herzerweichend gucken konnte, dass sie ihn sofort ins Herz schloss. Das alles ließ keine klaren Gedanken mehr zu. Der heftige Fluchtimpuls, den Camille zunächst gespürt hatte, löste sich auf. Immerhin. Stattdessen setzte sich ein eigenartiges Wohlgefühl durch. Hey, das ist Samir, dein Kindheitsfreund, sagte Camille sich selbst.

„Komm, Banou, du nimmst Camille ja jeden Platz weg.“ Bei seinen Worten tapste die Hündin von ihrem Schoß auf den von Samir. Er schob die Beine auseinander – wodurch ihr Körperkontakt noch intensiver wurde – und setzte den Hund unter das Tischchen zwischen seine Füße, die ohne Socken in Vans steckten, bevor er die Leine um seinen Oberschenkel wickelte und Camille angrinste.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

In jenen Sommerferien in der Bourgogne hatte sie sich endgültig in ihn verliebt, und ihre Gedanken waren nur noch um ihn gekreist, unaufhörlich. Seine kurze Mail im Herbst desselben Jahres war zugleich die letzte gewesen. Und das, obwohl er sich nach dem Urlaub noch mit einem zärtlichen Kuss von ihr verabschiedet hatte, als er ihr erzählte, dass er zum Studieren von Dijon weggehen werde. Dass er ihr, seiner „kleinen deutschen Freundin“ schreiben werde. Hatte er geahnt, wie weh ihr diese Worte taten? Selbst danach hatte sie nicht aufhören können, an ihn zu denken.

Camille erwiderte sein Lächeln nicht, doch er schien es nicht zu bemerken.

„Ich kann es nicht glauben, du bist es wirklich, Camille!“ Und damit beugte er sich vor, um ihr die Begrüßungsbises zu geben, zuerst links, dann rechts, dann noch mal links.

Ohne es wirklich zu wollen, erwiderte Camille den Gruß automatisch. Er kam ihr viel zu nah! Sein Geruch löste in ihr Dinge aus, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, und gleichzeitig wurde ihr klar, wie wütend sie noch immer war. Wütend und verletzt. Samir hatte ihr Leben geprägt, er hatte die absolute Einsamkeit hineingebracht. Einsamkeit inmitten ihrer Familie, inmitten ihrer Freunde. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die erneute Begegnung sie so aufwühlen würde, dass er diese Art von Gefühlen in ihr auslösen würde. Wortlos griff sie nach ihrem Rucksack und ließ ihn unter den Tisch gleiten, neben Banou, die ihn interessiert beschnupperte. Die Hündin hatte sich zusammengerollt und legte nun den Kopf auf eine der kleinen Außentaschen. Wäre sie nicht so wütend gewesen, hätte Camille bei diesem Anblick gelächelt. Der Hund schien sie zu mögen.

Rasch rutschte Camille von Samir weg, um so viel Abstand wie möglich zwischen sie beide zu bringen. Wie gern wäre sie seinem Blick ausgewichen, aber das war unmöglich. Sein Grinsen verwandelte sich in ein warmherziges Lächeln, während er sie musterte. Sie erinnerte sich, dass sie früher oft gewettet hatten, wer zuerst wegschaut. Samir hatte immer gewonnen.

Sein Blick tastete ihr Gesicht ab, ihre ungezähmten dunklen Locken, haftete dann einen Moment auf ihrem Mund, den sie unwillkürlich ein winziges bisschen zusammenkniff. Wenigstens schien er nicht wie die meisten Männer auf ihre Brust zu schielen, obwohl sie bei ihrer letzten Begegnung in dieser Hinsicht noch weitaus kindlicher gewesen war. Ihre inzwischen sehr weiblichen Formen mussten für Samir jedenfalls genauso neu sein wie seine männliche Statur für sie.

Sie musterte ihn ihrerseits, wobei auch sie darauf achtete, nur sein Gesicht anzuschauen, nicht den leicht gedrungenen, muskulösen Körper, der sie an die Kraft eines Bären denken ließ. Sein Mund war sinnlich und voll, die Zähne strahlten, während er unverwandt lächelte. Sie erkannte, dass er gut rasiert war, und doch verursachten seine schwarzen Bartstoppeln einen dunklen Schatten auf seinen Wangen, der ihn, zusammen mit der Glatze, auf den ersten Blick älter wirken ließ, als er war. Um seine Augen lag ein Zug, den sie früher nie an ihm wahrgenommen hatte. Anscheinend kannte auch Samir sich mit Einsamkeit aus, konnte das sein?

„Du wusstest aber schon, dass ich dabei bin, oder?“ Camille bemühte sich erst gar nicht, herzlicher zu wirken. Dieser Mann hatte in ihr so vieles zerstört, er brauchte nicht zu denken, dass sie ihm verziehen hatte. Und in dieser Sekunde wurde ihr klar, dass es tatsächlich so war. Sie straffte die Schultern und zwang ihren Blick nach unten, wo er mit der Hand die Leine auf seinem Bein festhielt. Seine Unterarme waren mit feinen dunklen Härchen überzogen, die samtig glänzten. Er trug ein schlichtes Poloshirt zu karierten Bermudas. Auch seine Beine schimmerten dunkel von einem zarten Haarflaum. Camille schüttelte den ungebetenen Gedanken ab, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie keine Jeans, sondern eines ihrer Sommerkleider tragen würde und ihre Beine sich berührten.

„Ja“, sagte er schlicht. „Ich habe mich darauf gefreut, dich wiederzusehen. Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?“

Nun gut, Small Talk, das konnte sie auch. In ihrem Kopf sang Roger Cicero: „Und du so?“ Sie berichtete von ihrer Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Assistentin und dass sie nun schon seit einigen Jahren in einer Apotheke in Saarbrücken arbeitete. Ja, sie mochte ihren Beruf. Und er so?

Es wunderte Camille kein bisschen, dass Samir eine eigene Computerfirma gegründet hatte, die erfolgreich lief. Dass er sich in Metz niedergelassen hatte, war bei Mias Hochzeit bereits zur Sprache gekommen und keine Überraschung. Sophie und Mia hatten ihr auch erzählt, dass Samir innerhalb kurzer Zeit ein sehr guter Freund von Sophie geworden war.

„Was macht Julien, ist er verheiratet?“, wollte Samir wissen.

„Nein.“

„Warte, er muss jetzt siebenundzwanzig sein, richtig? Und du bist … vier Jahre jünger als ich, also vierundzwanzig.“

„Nicht mehr lange.“ Sie sah ihm wieder in die Augen. „Und du? Verheiratet?“

Ein schmerzlicher Zug huschte über sein Gesicht. Aha, da lag irgendwo der Grund für seine Einsamkeit. Warum sollte es ihm auch besser ergangen sein als ihr?

„Nein.“ Er straffte die Schultern. „Was ist mit deinen Eltern? Fahren sie immer noch in die Bourgogne in den Urlaub?“

„Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben. Seitdem waren wir nicht mehr dort.“

„Das tut mir leid.“

„Ja. Aber meine Mutter hat einen neuen Lebensgefährten, Roberto. Seine Eltern stammen aus Kalabrien, und jetzt fahren die beiden im Sommer immer dorthin. Er ist sehr nett, ich mag ihn.“

Das Gespräch stockte. Tausend Fragen spukten durch Camilles Kopf, doch sie wollte sie ihm nicht stellen, weil sie ihm nicht das Gefühl geben wollte, sie interessiere sich noch für ihn. Es ärgerte sie sogar, dass sie die Antworten im Grunde gern wissen wollte. Aber sie hatte sich selbst schon vor einigen Jahren geschworen, dass sie Samir Faure aus ihrem Herzen und aus ihrem Kopf streichen und ihn nie wieder dorthin vordringen lassen würde. Nicht dass sie damit gerechnet hatte, ihm überhaupt wieder zu begegnen. Aber das Schicksal hatte offenbar andere Pläne. Jetzt saß sie hier neben ihm, konnte nicht verhindern, dass sein vertrauter Geruch, der nun erwachsener war, aber sonst noch ganz nach ihrem damaligen besten Freund roch, durch ihre Nase in ihren Kopf eindrang, wo er sich sofort festsetzen würde. Das wusste sie. Sie würde ihn nie wieder vergessen, und sobald sie es zuließ, würde dieser Geruch ihr Schmerzen bereiten. Also durfte sie es nicht zulassen, so einfach war das.

 Eine leise Stimme in ihr fragte sich, ob er seinerseits ähnlich empfand. Ob auch er mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit haderte. Aber nein, wie sollte er? Ihm war das kleine Mädchen Camille ja schon nicht mehr wichtig gewesen, nachdem er mit seinem Studium an der Sorbonne begonnen hatte.

„Was ist mit deiner Freundin von damals?“ Camille hielt inne. Die Worte waren unbedacht aus ihrem Mund gefallen. Nun hatte sie ihm doch eine der verbotenen Fragen gestellt.

Sein Gesicht verschloss sich regelrecht. „Claire.“

Ja, sie meinte Claire. Die Claire, die in ihm jegliches Interesse für seine Freunde ausgelöscht hatte. Die Claire, die ihn ihr weggenommen hatte. So gründlich und endgültig, dass sie nicht nur diese Frau, sondern auch Samir eine lange Zeit geradezu gehasst hatte. Bis sie selbst erwachsen war und viele freundliche, charmante und humorvolle junge Männer ihr dabei geholfen hatten, den Franzosen mit den arabischen Wurzeln zu vergessen. Jedenfalls hatte sie geglaubt, dass sie ihn vergessen könne. Erst vor zwei Jahren hatte sie sich resignierend eingestehen müssen, dass Samir für immer ein Teil ihres Lebens sein würde. Aber verzeihen würde sie ihm nicht.

„Wolltet ihr nicht heiraten?“

„Sie ist gestorben.“ Er verstummte.

Camille erschrak, und bestürzt sah sie Samir an, dessen Miene ausdruckslos war. Plötzlich schämte sie sich ihrer hasserfüllten Gedanken der jungen Frau gegenüber, und sie begriff, dass er nicht darüber reden wollte. Anscheinend hatte er die Trauer noch nicht bewältigt. „Das tut mir leid“, flüsterte sie. Es war die Wahrheit.

Er sah ihr in die Augen, seine Pupillen wurden größer. Sie senkte den Blick und spielte mit den Fingern an dem Laptop herum, der unbenutzt auf dem Tischchen stand und sich inzwischen abgeschaltet hatte. Der Roman konnte warten.

„Es ist schon zwei Jahre her. Krebs.“

Camille nickte, ohne aufzublicken. Sie wollte nicht in seinen Verlust eintauchen. Ihre Arbeit in der Apotheke hatte sie gelehrt, den Kummer anderer Menschen nicht zu sehr an sich heranzulassen. Sie nahm einen Schluck aus dem Pappbecher.

Samir lachte. „Das Zeug kann man nicht trinken.“

Sie verzog angewidert den Mund. „Stimmt.“ Der Kaffee war ungenießbar. Kalt, dünn und bitter. Sie grinste Samir an und machte sich zugleich klar, dass sie die erste und schwierigste Begegnung überstanden hatte. Bald würden sie auf Greta und Falko treffen, dann würde es ihr leichtfallen, Samir aus dem Weg zu gehen. Und ansonsten würde sie versuchen, ihn einfach als einen Freund zu betrachten. So wie damals, als sie ihm im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal begegnet war und er sie und Julien sofort in sein Herz gelassen hatte.

Er war im Grunde nicht nur ihr bester Freund, sondern auch ihr bester Französischlehrer gewesen. Sie hatten sämtliche Sommerferien gemeinsam verbracht. Samir hatte sich ihnen angeschlossen und sie sich seiner Familie. Jedes Jahr waren die Sommerferien in der Bourgogne der Höhepunkt des Jahres gewesen. Bis Samir sein Baccalauréat in der Tasche hatte und nach Paris gegangen war.

In Gedanken wischte Camille mit der Hand durch die Luft. Das alles war längst vorbei. Jetzt waren sie erwachsen und hatten eine spätsommerliche Woche in der Bretagne vor sich. Das Finistère sollte einen ganz besonderen rauen Charme besitzen. Camille freute sich darauf. Sie war fest entschlossen, diese Zeit zu genießen. Und Samir? Der würde sie nicht daran hindern. Im Gegenteil, beschloss sie, sie würde einfach die Freundschaft mit ihm an dem Punkt wieder einsetzen lassen, an dem er noch ein Kumpel gewesen war, kein Junge, der ihr Herz hatte höherschlagen lassen. Ja, so wollte sie es machen. Sie sah ihm in die Augen. „Schön, dich wiederzusehen.“

Er nickte. „Das finde ich auch.“

Von unter dem Tisch klang tiefes, gleichmäßiges Atmen herauf. Der Bully schien fest zu schlafen. Camille deutete mit dem Kinn nach unten und lächelte. „Du hast dir wieder einen Hund zugelegt?“

Samir nickte. „Ich habe ihn von meinem besten Freund Philippe und seiner Frau Florence einfach aufs Auge gedrückt bekommen.“

Ja, Camille erinnerte sich: Florence und Philippe waren Freunde von Sophie Thielen. Die beiden hatten im letzten Frühling dafür gesorgt, dass Samir als Blind Date Sophie zu der legendären Geburtstagsparty von Yannis Jouvet, dem Chef der Galéries Jouvet in Metz, begleitet hatte.

Sie zog die Brauen hoch. „Aufs Auge gedrückt?“

„Ja, es war ein geschickter Schachzug. Sie gaben dem Hund den Namen Banou, der in der arabischen Sprache so viel wie die Angesehene oder edle Dame bedeutet.“

Camille kicherte. Was für ein lustiger Name für so einen bulligen Hund. Auch wenn sie eingestehen musste, dass Banou Charme versprühte und nicht nur wegen ihrer Knopfaugen unwiderstehlich wirkte. „Aber wieso aufs Auge gedrückt, das verstehe ich immer noch nicht ganz?“

„Florence ist vor fünf Monaten schwanger geworden und hat ziemlich unerwartet eine Allergie gegen Hunde- und Katzenhaare entwickelt“, er zögerte, blies die Wangen auf und blickte zur Seite. „Sie wollten für das Ungeborene nichts riskieren. Kann man ja verstehen.“

„Und deshalb haben sie ihn dir gegeben?“

„Sie meinten, da der Hund schon einen arabischen Namen habe, würde er perfekt zu mir passen.“

„Aber wie ist das mit deinem Job vereinbar?“

„Tja, das war ihr zweites schlagendes Argument: Ich kann sie einfach mit ins Büro nehmen. Neben meinem Schreibtisch steht ihr Körbchen. Und in dem Haus, in dem ich wohne, sind Hunde auch willkommen. Die Hausmeisterin nimmt sich meines Hundes an, wenn ich einen Außentermin habe oder auf Geschäftsreise bin.“

„Aber jetzt hast du ihn dennoch dabei?“

„Ja, sie ist erst zehn Monate alt, und länger als ein, zwei Tage waren wir noch nicht getrennt. Außerdem“, er zuckte die Schultern, „spricht nichts dagegen, sie mitzunehmen. Sie wird nicht stören. Das Meer und der Strand werden ihr gefallen.“

Camille feixte. „Allerdings hat sie Schwierigkeiten mit dem Maulkorb. Weißt du noch, wie verloren wir damals irgendwo im Nirgendwo mit deinem Terrier Luke an der Bushaltestelle standen, weil der Busfahrer uns mitsamt dem Hund vor die Tür gesetzt hatte?“

„Ja, und dann sind wir fast zehn Kilometer zu Fuß gelaufen. Aber Banou ist wenigstens nicht so hektisch wie Luke damals. Der wollte ja nicht mit Bellen aufhören, somit war er selbst schuld daran, dass wir aussteigen mussten. Banou ist ruhiger.“

„Findest du wirklich? Vorhin hat sie ziemlich hektisch gebellt.“ Beide lachten. Ja, dachte Camille, auf diesem Niveau konnte ihre gemeinsame Zeit funktionieren. Sie musste einfach an der Oberfläche bleiben. Außerdem kam sie in diesem Moment zum ersten Mal auf den Gedanken, dass sie sich womöglich all die Jahre geirrt hatte: Vielleicht ahnte Samir nicht einmal, was sie damals für ihn empfunden hatte. Sie hatte sich nie getraut, es ihm zu sagen. Und als sie endlich selbst kapiert hatte, dass sie es sagen musste, weil sie sonst platzen würde, waren seine Mails ausgeblieben. Was für ein Glück, dass sie die ehrliche Liebeserklärung niemals abgeschickt hatte, die mehrere Wochen in ihrem Ordner für Entwürfe gelagert hatte!

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das gleichmäßige Atmen des Hundes hatte eine geradezu hypnotische Wirkung auf sie. Plötzlich fiel alle Anspannung ab, und sie spürte, wie müde sie war.

„Ich glaube, ich werde ein bisschen schlafen“, murmelte sie.

„Tu das. Mal sehen, ob Greta und Falko den Mietwagen bekommen haben.“ Er zückte sein Handy und schaltete es ein.

„Mhm“, war Camilles genuschelte Antwort, dann schlief sie ein.

Kapitel 3

Camilles Schulter wurde sanft gedrückt.

„Camille, réveille-toi“, drang eine angenehm dunkle Stimme in ihr Ohr. Sie schloss den Mund und leckte über ihre trockenen Lippen. Erst dann wachte sie richtig auf und erkannte, wo sie war – in einem Zug. Ihren Kopf hatte sie im Schlaf zur Seite sinken lassen, und der wohlige Geruch, der sie so tief hatte schlafen und von Ferien in der Bourgogne träumen lassen, kam von einer breiten Schulter. Sie schreckte auf. Hatte sie an Samirs Schulter geschlafen? Und womöglich geschnarcht oder, sogar noch schlimmer, sein Poloshirt vollgesabbert? Verstohlen warf sie einen Blick auf den Stoff, doch da war alles trocken. Ein Glück.

Ihre Augen brannten ein bisschen, als sie Samir verschlafen anblinzelte. „Wie lang habe ich geschlafen? Sind wir schon da?“

Er lächelte. „In fünf Minuten fahren wir in den Bahnhof ein, deshalb habe ich dich geweckt. Und bevor du fragst: Nein, du hast nicht geschnarcht, bloß mit Banou um die Wette geatmet. Ich bin sogar selbst kurz eingenickt. Und ihr habt nicht nur mich in Narkose versetzt.“ Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, mit dem Kinn zeigte er auf die beiden Jungs ihnen gegenüber, die anscheinend auch gerade aus einem Nickerchen aufwachten. „Man sollte euch beide als Anästhetikum in Betracht ziehen – oder zumindest als zuverlässiges Beruhigungsmittel.“

Camille lachte und streckte ihre Arme über den Kopf. „Dann lass uns unser Gepäck holen. Meines ist dahinten.“ Sie deutete hinter sich.

„Gut, wir sehen uns gleich auf dem Bahnsteig. Mein Koffer steht am anderen Ende des Waggons.“

Zehn Minuten später traten sie aus dem Bahnhofsgebäude heraus und scannten den Vorplatz, auf dem geparkte Autos standen, nach Greta und Falko ab.

„Wie sehen die beiden denn aus?“ Samir warf Camille einen Blick zu, bevor er die Reihen der Autos nochmals betrachtete.

„Beide sind groß und blond.“ Camille grinste. „Sie könnten als Models durchgehen. Falko ist ein Sportfreak und Greta sieht aus wie Doutzen Kroes, falls dir das was sagt.“ Also so ziemlich das Gegenteil von mir, fügte sie in Gedanken hinzu. Es war jedenfalls wohltuend, dass Samir sie um höchstens fünf Zentimeter überragte.

Auch Camille suchte mit den Blicken den gesamten Parkplatz ab, konnte aber weder einen Avis-Mietwagen noch die beiden Freunde irgendwo entdecken. Am Straßenrand ließ sie sich auf einem der niedrigeren Poller nieder und suchte ihr Smartphone heraus, um ihre WhatsApp-Nachrichten zu checken. Niemand hatte sich gemeldet.

Sie tippte auf das Symbol für den Messenger-Dienst und suchte nach Gretas Kontakt, dann schrieb sie mit raschen Bewegungen ihrer Finger eine Nachricht.

Samir und ich sind da. Habt ihr den Mietwagen schon bekommen? Wir stehen vorm Bahnhof.

Sie blickte die Straße hinauf und hinunter, dann vibrierte das Smartphone in ihrer Hand auch schon.

Sind in fünf Minuten am Bahnhof.
Haben noch Sachen zum Essen und Trinken eingekauft. Abendessen ist gesichert. Ich hoffe, du magst Rotwein… :)

Camille lachte und zeigte Samir die Nachricht. Seine Augen blitzten vergnügt hinter den Brillengläsern. „Sehr gut! Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Wer weiß, was es in der Ferienwohnung an Vorräten gibt.“

Camille stand wieder auf und streckte sich. Die lange Zugfahrt steckte ihr in den Knochen, und Hunger hatte sie auch. Sie mussten ja noch eine Weile fahren, bis sie den kleinen Ort an der Küste erreichten. Gut, dass die abendliche Versorgung gesichert war. „Boah“, stöhnte sie und zupfte am Bund ihrer Jeans herum, die an den Beinen klebte. „Bin ich froh, wenn ich diese Klamotten endlich ausziehen kann!“

„In Saarbrücken war das Wetter wohl noch schlechter als in Metz?“

„Oh ja. Ich bin froh, dass ich noch eine Woche Sommer vor mir habe.“

Ein kleiner weißer Peugeot rollte langsam die Straße entlang, als suche er nach etwas. Camille stellte sich auf die Zehenspitzen und beschattete ihre Augen, um hinter der Frontscheibe jemanden erkennen zu können. Und tatsächlich: Hinter dem Lenkrad saß eine Person mit hellblonden Haaren – und auf dem Beifahrersitz konnte sie ebenfalls blonde Haare erkennen. Ob der Wagen groß genug für sie alle sein würde? Sie warf einen Blick auf ihren Trolley und Samirs Koffer, der ebenfalls nicht ganz klein war. Vielleicht weil sich in ihm ein ganzes Hundekörbchen versteckte?

„Da sind sie, komm!“ Camille raffte Rucksack, Jacke und Trolley zusammen und ging auf eine Parkbucht zu ihrer Rechten zu, die Greta in diesem Moment ansteuerte. Samir fasste Banous Leine kürzer und griff nach seinem Koffer, um ihr zu folgen. Im Augenwinkel meinte Camille zu erkennen, dass sein Gesicht ein bisschen unsicher wirkte.

Der Motor des Wagens – es war ein Peugeot 208, wie Camille jetzt auf der Heckklappe lesen konnte – wurde abgeschaltet, die Türen öffneten sich, und auf beiden Seiten wurden zuerst lange, wohlgeformte Beine in kurzen Hosen sichtbar. Camille musste kichern, als Falko und Greta sich aus dem kleinen Auto herausfalteten und zu ihrer vollen Größe aufrichteten. Ein beeindruckendes Bild, das musste man schon zugeben. Beide gingen hinter den Wagen, Greta öffnete den Kofferraum, dann blickten sie Camille und Samir entgegen.

Ein freudiges Kribbeln stieg in Camilles Brust auf. Sie erinnerte sich unwillkürlich an Mias Hochzeit zurück, bei der sie die beiden so gut kennengelernt hatte. Die Tänze mit Falko hatten ihr geholfen, das Chaos mit Carlo zu überstehen, dem Typ, der damals noch mit Greta liiert war und ihr, Camille, gleichzeitig heftigste Avancen gemacht hatte. Was für ein Horst! Er hatte sowohl Camilles als auch Gretas Lebenslauf um eine weitere schlechte Erfahrung mit einem Mann erweitert.

Camille zuckte innerlich mit den Achseln. Sie alle hatten das Beste daraus gemacht, und nicht zuletzt hatte sie dank Carlo eine gute neue Freundin gewonnen. Camille und Greta hatten sich in der ersten Jahreshälfte einige Male in Aachen getroffen, und einmal war Greta sogar nach Saarbrücken gekommen, um ein Stück der kleinen deutsch-französischen Theatergruppe zu sehen, bei der Camille mitspielte. Sie hatte ein paar Tage mit in ihrer kleinen Wohnung am Schloss gewohnt, von wo aus sie Ausflüge in die Umgebung gemacht hatten. Sogar ein gemeinsamer Besuch bei Sophie in Metz hatte noch geklappt.

Greta streckte ihr die Arme entgegen, und Camille ließ den Trolley los, um sich an die Freundin zu schmiegen. Sie umarmten sich fest.

„Ach ist das schön, dich zu sehen!“ Greta drückte ihr ein Küsschen auf die Wange, dann ließ sie sie los, und Falko umarmte sie ebenfalls. Er wiegte sie leicht hin und her. Camille hoffte, dass ihr Deo nicht komplett versagt hatte, genoss aber die Berührung. Falko wirkte wie jemand, bei dem man sich anlehnen konnte. Kurz flammte das Gefühl wieder in ihr auf, das sie beim Tanz auf Mias Hochzeit von ihm empfangen hatte – Nähe und Verständnis.

Greta hatte sich zu Samir umgedreht und blickte nun die Hündin an, die die Neuankömmlinge aufgeregt beschnupperte und ihre Aufmerksamkeit wie ferngesteuert zu sich herunter zog. „Du musst Samir sein“, sagte sie, obwohl ihr Blick noch immer auf dem Hund lag, der wie wild mit dem gesamten Hinterteil wackelte. Samirs Lachen klang bis in Camilles Rückenmark. Sie streckte den Rücken durch, um das eigenartige und unangenehme Gefühl zu vertreiben.

„Nein, das ist meine Hündin Banou, ich bin Samir.“ Er sprach Deutsch. Wie lange hatte Camille seinen Akzent nicht mehr gehört! Bei seiner launigen Bemerkung sah Greta auf, lächelte und streckte ihm nach deutscher Sitte die Hand hin, die er ein bisschen verdutzt entgegennahm. Nach einer Sekunde der Besinnung beugte er sich dann vor und gab Greta Bises. Auch Falko begrüßte er auf die französische Art, wobei er ihm einen Klaps auf den Rücken gab, als wären sie alte Freunde.

„Ich freue mich, dich kennenzulernen. Du trinkst hoffentlich Rotwein?“ Falko sah Samir mit einem offenen Blick an, der sowohl dessen Gesicht als auch seine Gestalt umfasste. Ein bisschen schien es, als würden die beiden einander abschätzen.

„Natürlich“, erklärte Samir. „Am liebsten einen kräftigen Bourguignon.“

 „Na so ein Zufall“, rief Greta aus, zwinkerte Camille zu und griff nach ihrem Trolley, um ihn in den Kofferraum zu heben. „Dann habe ich genau das Richtige für uns geholt. Die hatten in dem kleinen Weinladen am Ende der Straße nämlich genau die Sorte, die wir beide getrunken haben, als ich dich in Saarbrücken besucht habe.“

„Du hältst der Bourgogne also die Treue, Camille?“

Ob Samir die Doppeldeutigkeit seiner Frage bewusst war? Wohl kaum. Camille feixte. „Ja, tue ich.“ Sie reichte Greta ihre Jacke, damit diese sie auch noch in den Kofferraum stopfen konnte.

„Oh je“, Falko rieb sich den Nacken und blickte auf den Kofferraum hinab. „Nichts geht mehr. Ich schätze, wir müssen umpacken. Dein Koffer ist für einen Kerl ganz schön …“ Er hielt inne und musterte Samir, der selbstbewusst grinste.

„Ganz schön …?“

„Groß.“

Widerwillig begann Falko damit, alle Gepäckstücke wieder herauszuheben: Camilles Trolley und den von Greta, außerdem einen Trekkingrucksack, der vermutlich ihm selbst gehörte. Daneben stellte er die Einkaufstaschen eines Supermarkts und des erwähnten Weinladens. Als alles nebeneinander aufgereiht stand, reichte Samir Camille die Hundeleine, legte seinen Koffer als unterstes in den Kofferraum, wo er gerade so hineinpasste, dann stopften sie die anderen Gepäckteile wieder darüber.

Am Ende quetschten Camille und Samir sich mitsamt den Einkaufstaschen auf die Rückbank. Banou saß auf Samirs Schoß und starrte unverwandt durch die Seitenscheibe nach draußen, während Greta den überfüllten Wagen umsichtig durch Quimpers Straßen steuerte und sie bald darauf durch die Landschaft in Richtung Küste kutschierte.

Unterwegs sahen sie neben einem der Monolithen, für die die Bretagne berühmt war, ein paar verfallene, uralte Kapellen und Klöster, die wie Boten einer vergangenen Zeit in der Landschaft standen. Die Gemäuer schimmerten im Sonnenlicht in dem besonderen hellen Braun, das Camille unbewusst bereits mit der Bretagne in Verbindung brachte, vermutlich aufgrund der vielen Fotos, die sie sich vor der Reise angesehen hatte. Es schien, als würden manche der Ruinen in Schuss gehalten, denn in den Gemäuern, die großenteils keine Dächer mehr trugen, sah sie keine Bäume oder Büsche. Bei anderen wuchsen hingegen große Bäume und Sträucher im Innern über die Mauern hinaus, wie es üblich war, wenn die Natur ein verfallendes Bauwerk zurückeroberte.

Bald hatte sie das Gefühl, in einer anderen Welt und Zeit gelandet zu sein. Die Vegetation wucherte üppig, auch wenn das Gras jetzt im Spätsommer ausgetrocknet wirkte. Im Vorbeifahren entdeckte Camille Feigen- und Lorbeerbäume, Rosmarin und andere kräftig grüne und blühende Kräuter, und ganze Meere von Hortensien, die in vielen Gärten der kleineren Ortschaften, die sie durchfuhren, in allen Farbschattierungen von Rosa, Violett und Blau glühten.

Es wirkte, als saugte auch der Hund an der Fensterscheibe all das in sich auf. Camille musste lächeln bei dem Gedanken, ob Banou wohl einen Unterschied zur Flora in ihrer Heimat erkannte. Samir warf ihr einen Seitenblick zu und erwiderte ihr Lächeln. Das Gespräch war verstummt. Alle schienen müde von der Reise oder bewunderten die beinahe verwunschen wirkende Landschaft.

Nach einer guten halben Stunde passierten sie endlich das Ortsschild von Penmarch, auf dem der Name in der französischen und der bretonischen Schreibweise stand. Der Ort wirkte verschlafen, auf den Straßen war keine Menschenseele unterwegs. Auch hier tupften blühende Sträucher ganze Farbmeere in die Vorgärten, und besonders die flammend roten, hauchzarten Fäden der gefächerten Blüten der Albizia hatten es Camille angetan. An den typischen Häusern mit den breiten gemauerten Kaminen, die auf beiden Seiten an den Giebelspitzen über die Dächer hinauswuchsen, konnte sie sich einfach nicht sattsehen. Viele der Bewohner hatten die Klappläden in leuchtendem Türkis gestrichen. Camille liebte diese Farbenpracht, die dank des Lichts der dem Horizont zuwandernden Sonne geradezu überirdisch leuchtete. Sie atmete tief ein und aus und hatte das Gefühl, ihre Lungenflügel würden sich mit der klaren Luft ausdehnen. Und das, wo sie doch in einem zu kleinen, stickigen Auto saß, verschwitzt von der Reise in ihrer viel zu warmen Kleidung, neben Samir, dessen Deo so langsam ebenfalls versagte. Und dazu der schwarze Hund, dessen Fell einen süßlichen Geruch absonderte, da auch auf ihn die ganze Zeit die Sonne schien, was die Bulldogge sichtlich genoss. Sie hatte vor einer Weile die Augen geschlossen und schlief, laut und gleichmäßig atmend.

„Da wären wir“, sagte Greta, die frisch wie der Morgentau wirkte. „Jetzt müssen wir bloß noch das Haus finden.“

Falko hatte in seinem Smartphone die Navigationsapp eingeschaltet und gab ihr genaue Anweisungen, wie sie fahren sollte. Sie kamen an den Rand des Ortes und erreichten endlich die Küste.

„Seht mal, da ist der Leuchtturm!“ Camille legte den Kopf schief, damit sie einen Blick darauf erhaschen konnte. „Wie heißt er noch mal?“

„Phare d’Eckmühl“, antwortete Samir.

Camilles Augen weiteten sich vor Freude. Hinter dem Leuchtturm erstreckte sich der tiefblaue Ozean bis zum Horizont. „Können wir kurz anhalten?“, hörte Camille sich sagen, obwohl sie sich seit Stunden nichts sehnlicher wünschte, als endlich aus dieser unglaublich warmen Jeans zu kommen.

„Das hatte ich eh vor“, erklärte Greta. „Ich fahre so dicht ans Meer ran wie möglich.“

Sie parkte den Wagen am Rand der Straße, und sie stiegen aus und streckten sich. Die frische Luft überfiel Camille wie eine wohltuende Dusche. Mit zwei raschen Schritten ging sie zu der Mauer, die neben dem Bürgersteig entlanglief und ihr bis zum Bauch reichte. Sie lehnte sich gegen den warmen, hellen Stein und ließ den Blick über die flachen, zerklüfteten Felsen wandern, die aussahen, als wären sie vor Urzeiten ins Meer geflossen, um dann zu erstarren. Sie erstreckten sich unterhalb der Mauer weit in den Ozean hinein, und das Salzwasser leckte an ihnen.

Camille entdeckte unzählige winzige Muscheln in den Furchen zwischen dem Gestein und nahm sich vor, wiederzukommen und welche zu sammeln. Dann blickte sie weiter, bewunderte den Leuchtturm, der so anders aussah als die bunt gestreiften, die sie von Nord- und Ostsee kannte. Dieser war in der Naturfarbe des für die Region typischen Granitgesteins belassen. Nur die Kuppel, die auf den Turm gesetzt worden war und in der sich nachts das Licht drehte, leuchtete wie eine weiße Blüte auf einem mächtigen, nach unten immer breiter werdenden Stängel. Camille drehte sich um und betrachtete die Häuschen und das kleine Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und alles, was vom trüben Saarbrücker Sommer noch in ihr schlummern mochte, fiel restlos von ihr ab.

Ihr Magen meldete sich und sagte ihr, dass sie jetzt endlich etwas essen musste. Zumal die frische Meeresluft ihren Appetit zusätzlich anheizte. Übermütig hängte sie sich bei Greta ein, deren Blick in der Ferne auf den irrlichternden Sonnenflecken im Ozean ruhte. „Hast du auch solchen Kohldampf?“ Dann lachte Camille den beiden Jungs zu, die genauso verträumt dastanden und die frische Luft genossen. „Die Seeluft macht hungrig, findet ihr nicht auch?“ Bei ihrer Bemerkung spitzte Banou die Fledermausohren und sah Camille mit einem herzerweichenden Blick an. Samir hatte sie, nachdem sie ihr kleines Geschäft erledigt hatte, auf die Mauer gesetzt, von wo aus sie in alle Himmelsrichtungen schnuppern konnte. Jetzt stellte sie sich auf alle Viere und starrte von Camille zu Samir.

„Hat sie verstanden, was ich gesagt habe? Kann sie Deutsch?“

Samir gluckste. „Kohldampf? Wohl kaum, aber vermutlich riecht sie deinen Hunger. Oder sie hat an der Tonlage erkannt, was du willst.“

„Es ist nicht mehr weit“, erklärte Falko, während sie wieder in das Auto stiegen. „Wenn wir hier ein Stück an der Mauer entlangfahren und dann die nächste links einbiegen, stoßen wir auf die Rue de Kervily.“

„Dann wohnen wir also ganz nah beim Meer?“ Camille freute sich darauf, morgens und vielleicht auch abends dort spazieren zu gehen. Zwar hatte sie noch keinen Strand entdeckt, aber der konnte nicht weit sein.

Wenige Minuten später hielt Greta vor einem Haus an. Es war offenbar nicht so alt wie der Kern von Penmarch, wie Camille mit Bedauern feststellte, dabei hatte sie darauf gehofft, in einem typisch bretonischen Haus zu wohnen. Zwar war es ein hübsches Gebäude mit gemauerten kleinen Balkons auf beiden Seiten der Eingangstür, aber es erinnerte sie eher an moderne, schnell hochgezogene Ferienanlagen in Touristenregionen auf Mallorca, wo sie während ihrer Ausbildung ein paar Mal mit Freundinnen und Freunden gewesen war. Dagegen war nichts einzuwenden, aber in ihrem Wunschtraum hatte sie sich nun mal eines der uralten bretonischen Häuser aus rauem Kersantongranit mit dem breiten Kamin ausgemalt. Das Gebäude, vor dem sie standen, hatte eine glatte Fassade und war weiß gestrichen. Nicht einmal der Kamin hatte die richtige Form, sondern ragte irgendwo aus dem Dach und war quadratisch wie zu Hause. Camille riss sich zusammen. Das Haus war offensichtlich neu, sah gepflegt und einladend aus, wie konnte sie darauf mit solcher Enttäuschung reagieren?

Falko war bereits ausgestiegen und zur Tür gegangen, wo er die Klingel drückte. Die anderen folgten ihm. Aus dem Inneren erscholl Hundegebell. Banou antwortete sofort darauf und legte sich in die Leine. Samir blieb hinter den anderen, fasste die Leine kurz und versuchte die Hündin zum Schweigen zu bringen. Eine schwarz gekleidete Frau um die fünfzig öffnete die Tür und sah zu Falko auf. Sie wirkte überrascht. „Oui?“ Sie zog das kleine Wort in die Länge.

Camille sprach sie auf Französisch an. „Bonjour, wir kommen aus Deutschland. Für uns ist für eine Woche ein Appartement in diesem Ferienhaus angemietet.“

Die Frau runzelte die Stirn, dann atmete sie tief ein und aus. „Mais vous n’avez pas reçu mon message?“

Camilles Hals wurde eng. Sie sollten eine Nachricht bekommen haben? Da stimmte etwas nicht. „Non“, antwortete sie zögernd. „Quel message?“

„J’ai envoyé des e-mails à toutes les adresses que Madame Hübner m’a données. Je suis désolée, mais j’ai besoin de l’appartement moi-même pour encore deux jours.“

„Was sagt sie?“ Greta berührte Camilles Oberarm. „Stimmt etwas nicht?“

„Das kann man wohl sagen. Sie sagt, sie hätte uns allen gemailt. Sie braucht das Appartement selbst für weitere zwei Tage.“

Falko rieb seinen Nacken. „Ups“, sagte er und verzog das Gesicht. „Und jetzt?“

„Aber das geht doch nicht.“ Greta fuchtelte mit den Händen. „Wie kann sie denn das Haus einfach kurzfristig selbst nutzen wollen?“

Die Miene der Französin wirkte auf Camille so unglücklich, dass sie sich fragte, ob die schwarze Kleidung der Frau auf einen Trauerfall hindeutete. Das Gebell im Hintergrund war indessen lauter geworden, und auch Banou wurde immer nervöser, die Haare auf dem Rückgrat zu einem Kamm hochgestellt, während sie wie verrückt bellte und an der Leine zerrte. Samir hatte alle Mühe, sie festzuhalten. Erstaunlich, welche Kraft der nicht mal kniehohe Hund an den Tag legen konnte, wenn er glaubte, seine Menschen verteidigen zu müssen. Bevor Camille noch etwas sagen konnte, schoss an den Beinen der Frau ein mittelgroßer brauner Hund vorbei und rannte auf Banou zu. Er schien noch jung zu sein, Camille vermutete, dass es sich um einen Labrador handelte. Die Hunde beschnupperten sich, dann forderte der größere den kleineren mit putzigen Bewegungen zum Spielen auf, indem er den Oberkörper senkte, als wolle er sich vor Banou verbeugen, und sie mit der Schnauze anstupste. Wenigstens hatte das hektische Gebell damit aufgehört.

Camille drehte sich wieder zur Haustür, in der nun ein etwas älterer Mann aufgetaucht war, der sich neben die Vermieterin stellte. Er hatte die beiden Hunde im Blick, wandte sich dann jedoch Camille zu.

„Bonjour“, sagte er und wechselte sofort ins Bretonische, um mit der Vermieterin zu reden.

Camille verstand kein Wort und hörte fasziniert dem fremden Klang zu, der einen französischen Einschlag hatte. Sie nutzte die wenigen Momente, um den Mann genauer zu betrachten. Er war ebenfalls komplett in Schwarz gekleidet, seine weißen Haare hatte er sauber mit Gel in Form gekämmt, wobei sich vereinzelte drahtig abstehende Strähnen dagegen zu wehren versuchten und ahnen ließen, dass er Locken haben musste. Sein Gesicht war braun gebrannt, die vielen Fältchen, die vor allem um die leuchtend grauen Augen herum lagen, hoben sich hell davon ab. Er mochte um die sechzig sein. Seine Stimme klang knurrig, aber nicht unfreundlich.

Das Gespräch zwischen den beiden ging eine ganze Weile hin und her, dann legte der Mann plötzlich seine Hand an den Ellbogen seiner Gesprächspartnerin, und sofort flossen bei ihr die Tränen. Sie beugte den Kopf und hielt sich die Stirn, während ihre Trauer sie zu überfluten schien. Camille schluckte. Am liebsten hätte sie dem Paar versichert, dass es kein Problem sei, sich eine andere Unterkunft zu suchen, doch da sprach der Mann sie schon auf Hochfranzösisch an, das sie problemlos verstand.

„Hören Sie, es ist ein Unglück geschehen. Louanes Tochter Maelle ist vor wenigen Tagen bei einem schlimmen Sturm hier in der Nähe verunglückt, heute war die Beerdigung. Louanes Kinder sind mit ihren Familien zu Besuch, deshalb ist das Appartement noch belegt. In zwei Tagen können Sie es beziehen.“ Er runzelte die Stirn und sah das Grüppchen der vier an. „Aber das wird Ihnen jetzt nichts nützen …“

„Mein herzliches Beileid“, sagte Camille zu der Frau mit dem außergewöhnlichen Vornamen und streckte ihr unsicher die Hand hin. Ihr Magen verknotete sich. Wahrscheinlich war Louanes Tochter ungefähr so alt wie sie selbst gewesen, jedenfalls nicht viel älter.

Louane nahm die Hand entgegen und drückte sie sacht, dann murmelte sie eine Entschuldigung, drehte sich um, verschwand wieder im Haus und überließ es dem Mann, die Dinge zu klären. Da er von ‚Louanes Tochter‘ gesprochen hatte, vermutete Camille, dass er nicht der Ehemann und Vater ihrer Kinder war.

 „Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Erwann Guéguen. Es ist wirklich ein Unglück, wir haben so lange keinen tödlichen Unfall mehr hier in Penmarch gehabt. Maelle war bei dem schrecklichen Sturm letzte Woche am Meer spazieren. Wir wissen nicht, wie es passieren konnte, schließlich ist sie hier aufgewachsen und kannte sich aus. Sie muss ausgerutscht sein und sich an den Felsen den Kopf angeschlagen haben, dann wurde sie ins Wasser gezogen. Nicht einmal weit, die Felsen in Küstennähe haben sie festgehalten, sonst hätten wir sie wohl nie gefunden.“

Camille hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Leise übersetzte sie für die anderen, was Monsieur Guéguen ihr erzählte.

Greta zog zischend den Atem ein. „Oh Gott, was für ein Unglück! Natürlich finden wir eine andere Wohnung. Lasst uns zur Touristeninformation fahren, an der wir vorhin vorbeigekommen sind.“

„Das tut uns sehr leid“, erklärte Camille Monsieur Guéguen, „wir fragen bei der Tourist-Info nach einer freien Ferienwohnung. Bitte machen Sie sich keine Sorgen.“

„Wie furchtbar!“, sagte Greta, während sie die Fahrertür öffnete. „Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen für unseren Urlaub!“