Leseprobe Ein Winterkuss in London

Prolog

Als Kind liebte ich das Märchen von Aschenputtel. Nie hätte ich gedacht, dass sich diese Geschichte auch in Wirklichkeit ereignen könnte, doch das tat sie – jedenfalls in gewissen Zügen. Und zwar in meinem Leben.

Das Schlimmste daran war der Tod meiner Mutter Adrienne. Vor genau drei Jahren, sechs Monaten und dreiunddreißig Tagen verlor sie den Kampf gegen den Lymphdrüsenkrebs. Bis zum Schluss war Mum tapfer. Ich habe sie bewundert, bewunderte sie noch heute, würde das immer tun und sie nie, niemals vergessen. Ich vermisste sie schrecklich. Unsere gegenseitige Liebe war echt, das Vertrauen auch. Einige Stunden vor ihrem Tod gab sie mir eine zarte Kette mit einem Medaillon daran. Es war ein ovaler, goldener Anhänger mit einem eingravierten Adler auf der Vorderseite. Darin ruhte eine ihrer blonden Locken. Sie hat gesagt, ich solle immer meinen Träumen folgen, sie leben und auf mein Herz hören, um eines Tages frei fliegen zu können, wie die Adler es taten. Sie hat diese Vögel immer geliebt. Ihre Kraft, ihre Schönheit, ihren scharfen Blick, ihre Schwingen, mit denen sie weit über allem schweben konnten, entschweben konnten. Ich wünschte, ich könnte das auch so einfach. Mum hat es zwar nie gesagt, aber nun im Nachhinein glaubte ich, sie hat sich danach gesehnt. Seit ihrem Tod hat sich vieles verändert.

Ich umfasste das Medaillon mit einer Hand und besah mir das neueste Graffiti dieses mysteriösen Streetartkünstlers, der plötzlich aus dem Untergrund Londons aufgetaucht war und im East End Wände besprühte. Niemand kannte ihn. Auf seinem Profilbild trug er eine schneeweiße Maske, die seine Augenpartie und einen Teil der Nase bedeckte, in Höhe der rechten Schläfe war eine Rabenfeder angebracht. Seine bisherigen Werke galten einer persönlichen Mission. Er suchte eine junge Frau, die er nur wenige Sekunden in den Straßen Londons gesehen hatte, die aber weitergeeilt war, bevor er sie ansprechen konnte. Auf magische Weise hatte sie sein Herz berührt. Seelenverwandte nannte er sie. Als ich davon hörte, dachte ich erst, dass der Typ sicher nur Aufmerksamkeit will. Aber die Mädels und vor allem auch meine beste Freundin Shirley standen auf die Liebesgeschichte und sein Talent. Zweifellos – das hatte er. Und er schien sich alle Freiheiten zu nehmen, etwas zu wagen. Das musste ich noch lernen.

Beginnen wir nun am Anfang, aber nicht mit es war einmal …

Kapitel 1 – Mr. Poem

Ich richtete den Blick auf das Handy in meinem Schoß und ignorierte die zeternde Stimme meiner Stiefmutter Abigail, die ihrer Tochter Kimberly das Essen mit Stäbchen beibrachte. Wir saßen in einem ultraschicken Roof-Top-Restaurant, von dem aus man einen Wahnsinnsblick auf London hatte. Die Lichter der Stadt funkelten und erinnerten mich an das Diadem, das Paps seiner neuen Frau vor Kurzem geschenkt hatte. Eine kleine Aufmerksamkeit für zwischendurch. Einfach so! Seit Mums Tod vor über drei Jahren wirkte mein Vater endlich wieder glücklich. Ich gönnte es ihm, wenngleich ich Abigail nicht traute und sie genauso wenig mochte wie sie mich. Wann immer sie konnte, stellte sie mich ihren beiden Kindern aus erster Ehe, Kimi und Taylor, und ihrem Ziehsohn Brandon hinten an. Kimi war wie ich siebzehn, Taylor sechzehn. Ihr Vater war ein Basketballspieler, von dessen Talent Abigail sich eine Menge versprochen hatte. Leider wurde nie etwas daraus, aber wenn es ihr um den Lebensstandard gegangen war, war sie bei meinem Vater ohnehin besser aufgehoben. Er war ein bekannter und sehr erfolgreicher Makler von Luxusimmobilien, Maxwell Luxury Estate. Das Geschäft boomte trotz Wirtschaftskrise. Mein Vater hatte es von seinem Vater übernommen, nachdem dieser in den Ruhestand getreten war. Zwei Jahre danach verstarben meine Großeltern bei einem Schiffsunglück in der Karibik. Die letzten zehn Jahre hatten es in sich gehabt.

So heimlich wie möglich strich ich über das Display meines Handys und schrieb Shirley, der besten Freundin der Welt.

Ich: Langweile mich hier zu Tode! Ich wäre lieber mit dir und Mel beim Tower of London eislaufen. Wie ist es dort?

Die Antwort ließ nicht mal eine Minute auf sich warten.

Shirley: Mel und ich sind noch bis 21 Uhr da. Es schneit leicht und ist irre kalt. Ich glaube, der Winter kommt dieses Jahr schon viel früher. Wir könnten danach noch in die Bar. Also – beeil dich. Warum sagst du nicht, dir ist schlecht?

Ich: Das glaubt Abigail mir nie. Ich schaue, was sich machen lässt.

Ich liebte die Pop-up-Bar, die an die Schlittschuhbahn anschloss und vollkommen aus Eis bestand. Wenn ich könnte, würde ich sofort gehen.

Shirley schickte mir ein Foto von sich und Mel, das mich beinahe rückwärts vom Stuhl kippen ließ. Mel auf einmal mit pinken Haaren zu sehen, hätte ich nun wirklich nicht erwartet.

Shirley: Cool, oder? Vielleicht würde mir das auch stehen.

Ich: Gewöhnungsbedürftig trifft es eher. Bleib bloß, wie du bist.

 

 

 

 

 

 

Ich sah vom Handy auf. Niemand beachtete mich, nur Kimi schielte argwöhnisch in meine Richtung und fuhr sich dabei mit den dürren Fingern durch die fuchsroten, schulterlangen Haare. Die pink lackierten, langen Nägel glänzten im Licht der Deckenlampen. Auch Kimis graublaue Augen funkelten, als überlege sie sich gerade den nächsten Streich gegen mich.

„Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten, Liebes?“, fragte mein Vater seine Frau und lächelte ihr über den Tisch hinweg zu. Abigail spitzte die schmalen Lippen und überlegte angestrengt. Dieser Abend kostete mich wirklich einiges an Kraft und Nerven. Zum Glück verkündete mein Handy eine weitere Nachricht.

Shirley: Hast du es schon gesehen? Ist das nicht klasse? Es ist schon das Zweite von ihm. Sieh dir mal sein Profil Mr. Poem auf Instagram an.

Es dauerte einige Sekunden, bis das mitgeschickte Bild scharf wurde. Ich lehnte mich gerade vor, um es genauer zu betrachten, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte und ein „Puhhh“ in mein rechtes Ohr pustete. Ich zuckte heftig zusammen, das Handy rutschte mir vom Schoss und fiel auf den Boden.

„Sehr witzig, Brandon“, murmelte ich und beugte mich nach unten, um es aufzuheben.

„Was soll das?“, fuhr Abigail mich sofort an. „Warum maulst du Brandon so an? Er wollte dich nur begrüßen.“

Brandon Unschuldslamm nickte fromm und setzte sich auf seinen reservierten Platz, direkt neben mich. Er war der Sohn von Abigails zweitem Ehemann Charles, der an Krebs gestorben war. In seinem Testament hatte er verfügt, Abigail würde sein Erbe nur bekommen und behalten dürfen, wenn sie sich um Brandon kümmerte. Inzwischen war dieser zwanzig und arbeitete in der Firma meines Vaters. Sein gutes Aussehen – markante Gesichtszüge, schwarzes Haar, grüne Augen, sportlich und groß – ermattete, wenn man seinen kalten Charakter kannte. Ich hatte mich noch nie mit ihm verstanden und er interessierte sich auch nicht weiter für mich. Von Abigails drei Kindern verstand ich mich definitiv mit Taylor am besten. Vom Aussehen her glich er seiner Schwester sehr, aber im Gegensatz zu ihr war er eher schüchtern und traute sich oft nicht, seine wahre Meinung zu sagen.

Kimi zwinkerte Brandon zu und formte dabei einen Kussmund. Er schmunzelte und verdrehte die Augen, als er merkte, dass ich es gesehen hatte. Es war ein offenes Geheimnis, zumindest für Taylor und mich, dass die beiden mehr als geschwisterliche Gefühle füreinander hegten.

„Haley, pack das Handy weg“, mahnte Paps. „Du kennst die Regeln.“

Natürlich hielt er mal wieder zu Abigail. Seit er ihr vor wenigen Wochen bestätigt hatte, dass sie der ach so stressige Bankjob fast ins Burnout geführt hätte und sie eine berufliche Auszeit brauchte, wunderte mich gar nichts mehr. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mir auch sein heutiges Verhalten wehtat. Stumm verstaute ich das Handy in meinem Rucksack und stocherte weiter in meinem Krabbensalat.

„Stell dir vor, Kimi hat die Bestbewertung in einer Matheklausur erhalten“, flötete Abigail vergnügt. Ihre Tochter nickte stolz.

„Sehr schön, sehr schön“, kommentierte mein Vater und tupfte sich die Mundwinkel mit einer Stoffserviette ab.

„Die private Hochschule ist wundervoll. Die Lehrer sind einfach klasse und ich finde Wirtschaft so interessant“, erklärte Kimi. Ein weiterer Seitenhieb. Schließlich ging ich auf keine Eliteschule wie sie und Taylor, seit Abigail mit meinem Vater liiert war. Mum hatte mir diesen Wunsch erfüllt und in ihrem Testament vermerkt. Ich fühlte mich auf einer „normalen“ staatlichen Schule einfach wohl. Zudem war diese auf Kunst spezialisiert. Gegen den Wunsch meines Vaters wollte ich später als Designerin arbeiten, denn ich liebte es, mit Stoffen zu hantieren und Klamotten zu entwerfen.

„Die Investition lohnt sich, außerdem ist der Name wichtig. Je angesagter, desto besser für spätere Bewerbungen. Ich sehe rosige Zeiten auf dich zukommen.“ Abigail blinzelte ihrer Tochter zu.

„Es freut mich, wenn es dir besser gefällt und du so gut vorankommst, Kimi“, stellte auch mein Vater fest. „Du hast völlig recht, Abigail.“

Kimi erhob sich kurz und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke, Paps.“

„Ach, nicht der Rede wert.“ Er winkte ab und wandte sich an mich. „Vielleicht solltest du es dir doch noch einmal überlegen, Haley. Es ist wirklich egal, wie viel es kostet.“

Ich zuckte die Schultern. „Warum? Meine Noten sind gut und ich fühle, dass ich richtig entschieden habe. Nach wie vor.“

„Für Kunst! Na ja. Und wie kann man sich bitte im East End wohlfühlen?“, fragte Kimi angewidert.

„Lass sie doch. Das muss jeder selbst wissen“, entgegnete Abigail und räusperte sich.

„Nun ist es aber gut. Anderes Thema“, bat mein Vater.

„Du bist doch selbst nicht davon begeistert, Paps.“ Kimi stützte ihr spitzes Kinn mit einer Hand und sah ihn auffordernd an. Sie liebte es, uns gegeneinander aufzusticheln. Außerdem klang es immer noch seltsam, wenn Taylor und Kimi meinen Vater Paps oder Dad nannten.

„Adrienne hat ihr diesen Wunsch erfüllt“, sagte er leise, was Abigail seufzen ließ. Täuschte ich mich oder schwang in seiner Stimme tatsächlich ein trauriger Unterton mit? Vermisste er meine Mutter doch, wenigstens ein Stück weit?

Mir jedenfalls fehlte sie schrecklich. Mit ihr zu lachen, zu reden, sie zu umarmen.

„Es würde mich nur wirklich interessieren, warum du gerade diese Schule dort gewählt hast. Es gibt viele, die besser sind“, bohrte Kimi weiter.

In welchem Jahrhundert hinkten sie und ihre Mutter da eigentlich noch herum? Das East End war längst nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Viele bezeichneten es inzwischen sogar als das coolste Viertel Londons.

Ich holte tief Luft, nahm meinen Mut zusammen und erwiderte: „Vielleicht, weil ich mich unter Normalsterblichen und in künstlerischer Umgebung einfach wohler fühle? Außerdem war Mum früher auch dort. Es ist ordentlich und modern, nicht versifft oder so. Die Zeiten sind längst vorbei, das weiß doch jeder. Mum ist dort glücklich gewesen. Aber das zählt ja nicht an erster Stelle, nicht wahr?“

Kimi, Brandon und Abigail blieb der Mund offen stehen. Taylor kicherte. Erst als Abigail ihm einen mehr als eindeutigen Blick zuwarf, verstummte er.

„Es reicht“, donnerte mein Vater, was ihm auch die Aufmerksamkeit der meisten anderen Gäste einbrachte.

„Wir fallen schon auf. Wie peinlich“, kommentierte Kimi.

„Das aus deinem Mund, Kimi. Sonst gefällt dir das doch“, sagte Taylor, wenn auch leise, und erntete dafür eine Kopfnuss von Brandon. Dieses Mal war ich es, die kurz kichern musste.

„Opfer“, flüsterte Kimi. Das galt wohl für uns beide.

Taylor und ich taten, als hätten wir es nicht gehört, und lächelten uns zu. Zum ersten Mal war ich richtig stolz auf meinen neuen Bruder.

„Noch eine Äußerung diesbezüglich und das Taschengeld wird gestrichen. Verstanden? Für alle“, sagte Dad. „Es war Haleys Entscheidung. Punkt!“

Das, was er Taschengeld nannte, nannte Shirley ein kleines Vermögen.

„Bei der Entscheidung hättest du vielleicht nicht so nachsichtig sein sollen, Donald“, entgegnete Abigail seufzend. „Aber gut, gut. Du hast recht, Schwamm drüber. Genießt den Abend.“

Von Genießen konnte bei diesem Zwangstreffen keine Rede sein. Brandon und Kimi begannen zu flirten, sobald Abigail und mein Vater wegschauten. Ich brachte keinen Bissen hinunter und meine Gedanken schweiften wieder zu Mum. Sie hatte Paps wirklich geliebt. Ich konnte nur hoffen, dass es umgekehrt auch so war, zweifelte aber so manches Mal, denn er hatte sie oft herablassend behandelt. Paps’ Eltern hatten sie nie gemocht. Einerseits hatten sie es lobenswert gefunden, dass er sie heiratete, weil sie schwanger war, andererseits bedauernswert. Sie war eben nur Kunststudentin gewesen. Allerdings eine, deren Ölbilder sich sehen lassen konnten und bei vielen Leuten begehrt waren.

Ich liebte die Ausflüge mit Mum ins East End, wenn sie mich mit zu ihren Eltern genommen hatte. Dort war alles irgendwie lebendiger. In der Welt, in der ich aufgewachsen war, blinkte es an jeder Ecke. Es schien, als würde sich nicht einmal ein Staubkorn in diese oft nur oberflächlich glitzernde Welt wagen. Natürlich war es toll, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Denn Luxus konnte auf lange Sicht auch blind machen für die wirklich schönen Dinge. Das hatte Mum mir beigebracht und ich hatte mir selbst versprochen, es nie zu vergessen.

Zum Glück fuhren wir bald nach Hause. Für einen Abstecher zur Eisbar war es zu spät, aber ich freute mich darauf, noch mit Shirley zu telefonieren und mich in mein eigenes Reich zurückziehen, das ich vor ein paar Monaten bezogen hatte. Es war ein gemütliches, apartmentähnliches Zimmer mit abgetrenntem Bad, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. In meinem vorherigen Zimmer wohnte inzwischen Taylor. Daneben gab es noch eines, das seiner Schwester Kimi gehörte. Beide lagen im Westflügel unseres Stadthauses in Mayfair. Das von Kimi hatte ich damals sozusagen als Atelier benutzt. Früher war es Mums. Kimi hatte so lange darum gebettelt, bis Paps schließlich nachgegeben hatte. Mich hatte man nicht großartig gefragt, dennoch merkte ich, dass es Paps unangenehm war. Ich wusste, dass er letztendlich nur Abigail gefallen wollte. Brandon hatte bereits ein eigenes Apartment in Kensington durchgesetzt und fuhr einen schicken roten Mercedes, den er von meinem Vater zum letzten Geburtstag bekommen hatte.

Als mein Handy endlich klingelte, ging ich sofort ran.

„Hey, Süße. Alles klar bei dir?“, fragte Shirley. „Hast du das Essen gut überstanden? Schade, dass du nicht mehr gekommen bist. Ich bin jetzt aber auch schon zu Hause und habe mich in mein Bettchen eingemummelt.“

Ich konnte sie mir direkt vorstellen in ihren frühlingsgrünen Laken. Sie hatte ein Faible für diese Farbe.

„Ich sage es mal so: Ich habe es mehr oder weniger gut überstanden“, gab ich zurück.

„Okay. Das sagt alles.“

„Bitte lass uns das Thema wechseln.“

„Verstehe. Hast du nun Mister Poems neues Werk gesehen? Ich meine, du hast nichts dazu geantwortet.“

Stimmt, das hatte ich total vergessen. „Warte. Ich schaue gleich mal, aber auf Insta direkt.“

„Die Zahl seiner Follower wächst. Kein Wunder. Er ist nicht nur ein Hammer-Maler, er kann auch dichten. Die Leute sind super neugierig, wer er ist.“

Ich öffnete Instagram über meinen Laptop, während Shirley via Handy vom Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn am Tower of London erzählte. Mel und sie waren zwar an die zehn Mal auf dem Po gelandet, hatten aber eine Menge Spaß.

Ich rief das Profil mit dem Text Magic Eyes. Want to see you again. Where are you? auf. Der mysteriöse Streetartkünstler Poem, der auf seinem Profilbild diese zorroähnliche, wenn auch weiße Maske trug, hatte bis jetzt zwei Fotos eingestellt. Sein erstes Werk prangte auf der Rückwand eines Cafés in Shoreditch. Welches genau es war, verriet er nicht. Shoreditch war ein hipper Stadtteil voller Bars, Cafés, Agenturen und Boutiquen, in dem besonders das Nachtleben tobte, in das ich schon mehrfach mit Shirley eingetaucht war. Poem hatte bereits fünftausend Follower. Nicht schlecht. Ich selbst hatte mich irgendwann mal bei Instagram registriert, aber noch kein Profil angelegt. Shirleys hingegen war gepflastert mit Fotografien, die sie in London und außerhalb geknipst hatte. Sie sah das Besondere in den kleinen Dingen. Das gefiel mir genauso wie ihren bisher zweitausend Followern.

Poems erstes Bild zeigte Augen, die so grün waren wie die Grasflächen des Hyde Parks im Sommer. Sie strahlten über die Hälfte der Fassade. Ich musste zugeben, dass mir der Ausdruck gefiel. Das Suchende, Geheimnisvolle, Weiche und durchaus auch Tigerhafte in ihnen. Sie zogen einen magisch an. Der Spruch darunter wirkte hingegen leicht aufgesetzt auf mich. Vielleicht lag es auch daran, dass ich befürchtete, Mr. Poem wolle sich nur Aufmerksamkeit sichern. Schließlich wimmelte es in London nur so von Graffitis. Allerdings war es schlau, seine Kunst mit einer angeblichen Liebesgeschichte zu verbinden. Zugegeben, wäre sie wahr, wäre es durchaus spannend und romantisch. Ich las noch einmal den Vers unter dem Gemälde.

Green eyes crossed my way.
What a crazy night.
Life in Londons streets stood still for a little while.
All I want is to see you again.
Where, who are you, magic eyes?

Wie er wohl aussah – ohne diese seltsame Maske? Ich klickte auf Bild Nummer zwei.

„Hallo? Bist du noch da?“, rief Shirley in ihr Handy.

„Ja. Moment“, murmelte ich, völlig geplättet von dem, was ich sah.

Die Farbverläufe waren fantastisch. Mr. Poem hatte ein völlig eigenes Farbuniversum erschaffen, gesprüht auf die Mauer einer stillgelegten Fabrikhalle. Kein anderes Graffiti war darauf gesprüht worden, vermutlich wegen der vielen Löcher in den alten Wänden. Poem aber hatte diese geschickt eingesponnen, sodass sie dem Bild noch mehr Tiefe verliehen. Zwischen all den kleinen Galaxien und Sternen hatte er grüne Farbfäden gezogen. Vielleicht als Sinnbild dafür, dass alles im Grunde miteinander verbunden war. Dazwischen leuchtete das grüne Augenpaar. Am anderen Ende der Mauer, ihnen gegenüber, strahlte ein weiteres. Wohl sein eigenes. Tiefblau wie das Meer. In einem Auge spiegelten sich tosende, aufbauschende Wellen. Eine unterbrochene grüne Linie verband die beiden Paare und im unteren Drittel der Wand stand wieder ein Vers.

An endless sky, an endless universe,
but I still hope to find you
my soulmate. You touched my heart
that moment
when I saw you in Londons streets,
not alone, but loneliness in
your wonderful eyes, like in mine.

Mr. Poem suchte also seine große Liebe.

„Schon über viertausend Likes hat er dafür kassiert. Kein Wunder, es ist himmlisch!“

„Ja, es ist nicht schlecht“, spielte ich das Ganze herunter. Verdammt, Mr. Poem hatte auch mich langsam in seinem Netz. Unter sein erstes Foto hatte er geschrieben:

Ich sah sie in Londons Straßen, als der Himmel über der Stadt explodierte. Nur einige Sekunden. Begleitet von Gitarrenklängen. Sie hat in meine Richtung geschaut. In diesem Augenblick spürte ich genau, sie ist meine Seelenverwandte. Ob als gute Freundin oder mehr – ich weiß nur eins, ich muss sie finden. Grüne Augen, zartes Gesicht, volle Lippen. Kannst du dich auch an mich erinnern? Dann melde dich via PN. Ich weiß keinen anderen Weg mehr, um dich zu finden. Und eine innere Stimme sagt mir, dass du die Kunst so liebst wie ich. Vielleicht bin ich verrückt, aber ich wage es einfach und folge diesem Gefühl, dass du etwas ganz Besonderes bist.

„Loneliness in your wonderful eyes, like in mine. Das heißt doch, er ist einsam. Ein einsamer Maler und Poet. Ich wünschte, er würde mich suchen.“ Shirley seufzte am anderen Ende. Ich wollte gerade antworten, da ließ mich ein Klopfen an meiner Tür aufhorchen.

„Ich bin es“, rief mein Dad. „Hast du eine Minute für mich?“

„Wir sehen uns morgen, Shirley“, sagte ich schnell.

„Okay. Aber du gibst mir recht, oder? Mr. Poem ist klasse. Vielleicht sollten wir ihn anschreiben.“

„Vielleicht steckt da nur ein Spinner hinter, also vergiss es lieber.“

„Überlege es dir noch mal.“

„Aber klar. Bis morgen.“ Ich lachte und legte auf. „Komm rein, Dad!“

Mein Vater lugte bereits ins Zimmer. Er wirkte müde und nicht gerade so, als hätte er prima Nachrichten.

„Ich muss ein paar Tage geschäftlich nach New York“, rückte er schnell mit der Sprache heraus.

Dass er oft unterwegs war, war nichts Neues. Aber gleich ein paar Tage? Ich wollte nicht gern allein mit Abigail und ihren Lieblingen hierbleiben. Er kratzte sich am Hals, als würde er das spüren.

„Sei lieb zu Abigail und den Kindern.“

Die Worte trafen mich wie ein Hammerschlag in den Magen. Ich war so perplex, dass ich nicht einmal etwas darauf sagen konnte. War das sein Ernst? „Wann kommst du wieder?“, brachte ich hervor.

„Spätestens zum übernächsten Wochenende. Es steht einiges an.“

Ich nickte und wollte schon wieder nach meinem Handy greifen, als er sich räusperte.

„Übrigens, das heute war nicht fein, Haley.“

Ich lachte kurz, konnte es nicht unterdrücken.

„Haley, bitte! Versprich es einfach.“

„Ja, klar. Ich bin ein braves Mädchen.“ Die Ironie in meiner Stimme war ihm wohl entgangen, denn er tätschelte mir den Kopf wie unserer Dalmatinerdame Pünktchen. Bei dem Namen blieb ich, auch wenn Kimi sie in Princess Chanel umgetauft hatte. Würg!

„Wo ist eigentlich Pünktchen?“ Sie war mein großer, kuscheliger Seelentröster.

„Taylor ist mir ihr unterwegs.“

„Ah, verstehe.“

Taylor drehte in letzter Zeit auffällig oft Runden mit Pünktchen im Hyde Park. Das letzte Mal hatte ich ihn währenddessen sogar gesehen. Ein hübsches Mädchen mit weißer Pudeldame hatte ihn und Pünktchen begleitet.

„Ich bringe dir auch etwas Schönes mit“, versprach mein Vater. „Einen bestimmten Wunsch?“

„Den kann man nicht kaufen“, flüsterte ich.

Er fuhr sich durch sein schütteres Haar. Abigail hatte ihn dazu überredet, bald eine Haarwurzelbehandlung durchführen zu lassen. „Was soll denn das, Haley?“

„Nichts.“

„Gut. Wir verstehen uns also.“

Dass dies keine Frage war, war mir klar.

„Ich bring dir einfach etwas mit“, murmelte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Auch wenn mein Vater meist zu Abigail hielt, war sie in seiner Gegenwart weniger frech zu mir. Das galt auch für ihre Kinder. „Brauchst du nicht. Ich habe alles. Zumindest was das Materielle anbelangt“, wagte ich zu antworten. Es musste einfach raus.

„Eine Frau hat nie alles, Liebes.“ Er drückte mir ein obligatorisches Küsschen aufs Haupt, zwinkerte mir zu und ging. Wenigstens hatte er sich von mir verabschiedet.

Ich schluckte meine Enttäuschung hinunter und schnappte mir das Handy.

Shirley: Was war denn los? 

Ich: Das erzähle ich dir morgen.

 

 

 

  

 

Eine halbe Stunde später lag ich im Bett und sank in einen unruhigen Schlaf. Seit Langem träumte ich endlich einmal wieder von Mum. Wir unternahmen einen kleinen Ausflug, der Ort kam mir bekannt vor. Es war ein Park, der inmitten einer Stadt mit riesigen Wolkenkratzern lag, die alles zu erdrücken schienen. Mum und ich schlenderten Seite an Seite an einem glitzernden See entlang, auf dem Enten ihre Runden zogen. Es war mild, über uns spannte sich ein blauer Himmel. Mum sah traumhaft hübsch aus in ihrem roten Sommerkleid.

„Geht es dir gut, Mum?“, fragte ich besorgt.

„Natürlich“, erwiderte sie. Ihre blauen Augen blitzten im Sonnenlicht. „Du bist hier.“

„Und der Krebs?“, flüsterte ich.

„Ist vorbei, Schatz. Mach dir keine Sorgen.“

„Wirklich?“

Ihr Lächeln erleichterte mich. Plötzlich fühlte ich mich beschwingt, alles würde gut werden. Ich glaubte, die Welt umarmen zu können.

„Bewahre dir die Freiheit in deinem Herzen“, flüsterte Mum und reichte mir einen Pinsel.

Verwundert sah ich sie an. „Was soll ich denn damit?“

„Es herauslassen, Liebes. Wenn du es nicht mit Worten ausdrücken kannst, dann zeige es über deine Werke.“

„Aber ich kann nicht malen wie du.“

Sie lachte laut und stupste mich mit dem Ellbogen an. „Es ist nur ein Symbol, Haley.“

„Mum?“

„Ja?“, fragte sie und legte einen Arm um mich.

Ich sah sie eindringlich an. „Kommst du bald wieder nach Hause?“

Sie zögerte, wurde kurz ernst, lächelte dann erneut.

„Irgendwann kommst du zu mir nach Hause. Bis dahin bin ich im Herzen bei dir. Jeden Tag. Versprochen. Und denk dran, was ich gesagt habe: Bewahre dir die Freiheit im Herzen.“

Nach diesen Worten löste sie sich von mir, wandte sich um und ging. Immer weiter weg von mir. Ich konnte mich nicht mehr von der Stelle bewegen und sah ihr nach.

„Ich bin da, auch wenn du mich nicht sehen kannst, Haley“, hörte ich ihre Stimme. Sanft und hell wie früher.

Noch einmal drehte sie sich um, warf mir eine Kusshand zu. Dann veränderte sich die Umgebung. Die Farben, es waren die Farben. Sie verblassten. Alles versank in schwarz-weißem Licht, selbst der Himmel. Einzig das Rot von Mums Kleid stach leuchtend daraus hervor wie ein Knallbonbon. Und plötzlich musste auch ich lachen, denn ich spürte, dass ihre Worte wahr waren.