Leseprobe Ein Weihnachtswunder kommt selten allein

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Juni 2013

Rebekka Marbert stand in ihrem Jugendzimmer vor dem Schrank und begutachtete sich skeptisch von allen Seiten in der Spiegeltür. Dabei strich sie über die hautenge dunkelblaue Jeans, in der ein gleichfarbiges Top aus festem Stretch steckte und zupfte die hellblaue Bluse, die sie offen darüber trug zurecht, um ihre füllige Oberweite zu kaschieren.

„Also ich weiß nicht … im Geschäft fand ich mich schöner.“

Fragend drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte und ihre Tochter ruhig betrachtete.

„Aber wieso denn?“, reagierte Beate kopfschüttelnd und sprang auf. „Du siehst toll aus! Genau das Richtige für die Abifete.“ Sie stellte sich zu Rebekka. „Meine Herren, die Jeans sitzt ja wie angegossen – perfekt. Ich bin so froh, dass du dich endlich dafür entschieden hast, mal etwas Figurbetonteres zu tragen. Die Jungs werden Augen machen, da bin ich sicher … und die Mädchen auch. So haben sie dich wahrscheinlich noch nie gesehen.“

„Ja ja, Specki-Becki traut sich was“, brummte Rebekka vor sich hin und ließ mutlos die Schultern hängen.

„Was?“

„Sorry Mama, aber du hast echt keine Ahnung! Für dich habe ich eine klasse Figur. Ja schön, vielleicht war das früher mal so, aber heute ganz bestimmt nicht mehr. Du müsstest mal meine XXS-Klassenkameradinnen sehen. Die sind alle viel dünner und außerdem viel hübscher als ich. Für die bin ich mit meinen dicken Oberschenkeln, den runden Hüften und dem Riesenbusen einfach nur fett. So und jetzt weißt du auch, warum sie mich Specki-Becki nennen.“

„Dicke Schenkel und Riesenbusen … sag mal, spinnst du? Was redest du denn da?“, brauste nun auch Beate auf. „Willst du dich etwa mit Frau Peters aus dem Erdgeschoss vergleichen? Bei der trifft diese Beschreibung nämlich wirklich zu. Aber doch nicht bei dir! Du hast weibliche Formen, ja gut, aber deswegen bist du noch lange nicht fett und unförmig.“

Beate schüttelte entrüstet den Kopf. „Kann sein, dass meine Meinung nicht zählt, aber …“ Sie trat hinter ihre Tochter und umfasste demonstrativ Rebekkas schmale Taille. „Du bist ein hübsches Mädchen, gerade weil du nicht so dürr bist wie Sina, Mareike und wie sie noch alle heißen. Glaub mir, so manche Bohnenstange wird sich deine Figur noch wünschen. Keine Mode der Welt wird an gewissen Naturgesetzen je etwas ändern können … aber das wirst du erst später verstehen.“

„Ich lebe aber jetzt und nicht später“, trotzte Rebekka.

„Lass gut sein, die Diskussion führt zu nichts … äh … sagt Clemens das auch?“

„Was?“

„Specki-Becki?“

„Nein. Für ihn bin ich geschlechtslos. Eben sein Kumpel – mehr nicht. Er redet über so was nicht. Wenn wir zusammen auftauchen, nennen sie uns Clecks und Becks.“

„Ah, verstehe. Clemens und Rebekka. Kein Wunder. Ihr seid ja auch meistens zusammen unterwegs. Und was ist, wenn das mal nicht so ist?“

„Dann bin ich Specki-Becki.“

Beate schüttelte den Kopf. „Das hast du nie erzählt …“

„Was hätte das bringen sollen?“

„Mein Gott, warum müssen Menschen nur so mies sein? Und das, obwohl du ihnen mit den Hausaufgaben so oft ausgeholfen hast. Weiß Clemens das?“

„Keine Ahnung … aber ich denke schon. Ohne ihn wäre alles noch unerträglicher gewesen. Mit ihm gehen sie nicht so um. Niemand. Nicht mal die Lehrer. Du kennst ihn … er schafft es doch immer, alle um den Finger zu wickeln.“

„Ja, das ist wohl wahr“, nickte Beate und lächelte. „Der Junge ist aber auch mit einem Charme gesegnet. Aber das alleine ist es natürlich nicht. Man merkt eben gleich, welche Umgangsformen er gewohnt ist. Dass beeindruckt die Leute, auch wenn er das gar nicht beabsichtigt.“ Beate hob den Daumen. „Aber du bist genauso gut erzogen. Meinst du, du hättest sonst all die Jahre in dieser Familie ein und aus gehen können? Ganz sicher nicht. Außerdem bist du hübsch und sehr klug, schließlich bist du meine Tochter“, zwinkerte sie aufmunternd, „und genau darauf solltest du stolz sein.“

„Ja ja, ich weiß Mama …“, verdrehte Rebekka genervt die Augen, „… vor allem klug. Ansonsten wären meine lieben Klassenkameraden noch mieser drauf gewesen.“ Rebekka zog eine Grimasse. „Wo ich doch immer so schön nützlich war …“

Beate machte ein bekümmertes Gesicht. „Es ist wirklich traurig. In letzter Zeit hört man immer mehr über das Thema Mobbing in der Schule. Wie gut, dass das nun vorbei ist. Sollen diese Wichtigtuer doch jetzt mal zusehen, wie sie durch die Prüfungen kommen, wenn ihnen keiner mehr dabei hilft. Sei froh, dass du sie heute das letzte Mal siehst.“ Sie seufzte. „Es ist ein Jammer, dass man das so sagen muss.“ Sie zupfte Rebekka lächelnd am Blusenärmel. „Übrigens steht dir das Hellblau ausgezeichnet. Es unterstreicht das Blau deiner Augen ganz wunderbar …“ Sie sprach nicht weiter. Erschrocken registrierte sie, wie niedergeschlagen ihre Tochter plötzlich wirkte. „Kind? Hab ich was Falsches gesagt?“

„Nein, alles gut, Mama. Ich schaff das schon. Lass uns aufhören, darüber zu reden … bitte. Hilfst du mir noch beim Aufräumen?“

„Natürlich.“

 

„Viel Spaß und macht euch einen schönen Abend“, rief Beate eine Stunde später zum Abschied.

Ihre Worte hallten Rebekka in dem kahlen Flur des Hochhauses hinterher, während sie sich noch einmal zu ihrer Mutter umdrehte und ihr zum Abschied zuwinkte. Gedankenverloren tappte sie die Treppenstufen hinunter ‒ drei Stockwerke. Den in die Jahre gekommenen Aufzug ließ sie unbeachtet. Sie wollte laufen, sich bewegen, doch vor allem brauchte sie den Moment für sich. Wenigstens die paar Minuten, bis Clemens und sein Vater sie abholen würden. Dass sie das Abitur mit einem hervorragenden Durchschnitt geschafft hatte – geschenkt. Rebekka kannte keine schlechten Noten. Das resultierte zum einen aus ihrem Ehrgeiz, verstehen zu wollen und zum anderen daraus, dass es ihr leichtfiel, zu begreifen und zu erinnern. Und dass jetzt ein neuer Lebensabschnitt anstand, der ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde – auch geschenkt. Darauf war sie vorbereitet. Am liebsten hätte sie Medizin studiert. Doch den heimlichen Wunsch, Ärztin zu werden, hatte sie inzwischen ad acta gelegt ‒ er war trotz staatlicher Unterstützung zu langwierig und zu kostspielig. Ihre alleinerziehende Mutter würde mit ihrem mäßig bezahlten Job als Kassiererin nicht in der Lage sein, sie finanziell zu unterstützen. Und von BAföG allein ließ sich ein solches Studium einfach nicht finanzieren. Pragmatisch wie Rebekka war, nahm sie die Situation als gegeben hin und vertraute stattdessen auf die Möglichkeiten, die sich in anderen medizinischen Berufen ergaben. Nur dass sie ihren Freund und Schulkameraden Clemens, mit dem sie seit der vierten Klasse befreundet war, ab morgen kaum noch zu Gesicht bekommen würde, das machte ihr das Herz richtig schwer. Heute war die letzte Gelegenheit, ihn in ihrer Nähe zu haben. Wann sie sich das nächste Mal wiedersehen würden, wusste sie nicht, denn Clemens hatte vor, in Gießen zu studieren. Auch wenn es verrückt klang, aber sie vermisste ihn schon jetzt. Inzwischen lag die Pflichtschulzeit bereits ein paar Wochen zurück. Das Abitur war Geschichte und auch die Zeugnisse waren ausgehändigt. Nun sahen sie sich – meist aufgrund Rebekkas Initiative – nur noch sporadisch zum Treffen mit anderen Klassenkameraden in der Kasseler Innenstadt.

Es war die Art, wie Clemens mit ihr umging, mit der er sie von Anfang an in seinen Bann gezogen hatte. Allein wie er lachte und gestikulierte, sich die dunklen Locken aus der Stirn pustete und sich, wenn es darauf ankam, wie ein Professor auszudrücken wusste. Kein Wunder, sein Vater war schließlich einer. Clemens stammte aus einer angesehenen Akademikerfamilie. Das klang durch, egal wie schnoddrig er sein konnte. Überheblich war er deswegen nicht. Hatte er auch gar nicht nötig. Mit den dunklen Locken, die ihm, genauso wie die braunen Augen, ein leicht südländisches Aussehen verliehen, besaß er eine jungenhafte Ausstrahlung, die für seine Klassenkameraden, genauso wie für die Lehrer, unwiderstehlich war. Die Jungs wollten ihn zum Freund haben und die Lehrer sahen ihm einiges nach, was sie bei anderen nicht einfach so duldeten. In Clemens’ Gegenwart hatte Rebekka das Gefühl, als würden winzige Funken seines Charmes auf sie überspringen und ihr ein wenig von seinem Glanz verleihen. Im Gegenzug dafür zog sie ihn, wenn es um die Erledigung der Schularbeiten ging, in ihrem Ehrgeiz mit, alle Aufgaben perfekt zu erledigen. Seit der Grundschulzeit war kaum ein Schultag vergangen, an dem sie nicht mit ihm nach Hause gegangen war, um dort den Nachmittag zu verbringen.

Im Gegensatz zu Clemens, dem das Leben alles in die Wiege gelegt hatte, was man sich nur wünschen konnte, kannte Rebekka nur den Alltag mit einer alleinerziehenden Mutter, die am Abend müde und abgespannt nach Hause kam. Früh hatte sie begriffen, sich selbst zu kümmern und sich zu arrangieren. In der Klasse hatte man Rebekka vor allem wegen ihrer Klugheit geschätzt. Um wenigstens ein bisschen dazuzugehören, war sie bereit gewesen, ihr Wissen mit ihren Mitschülern zu teilen. Ihr war bewusst, dass man sie nur ausgenutzt hatte und sie nun, wo sie nicht mehr nützlich war, nicht sonderlich vermissen würde.

Clemens, der sich darüber noch nie Sorgen hatte machen müssen, würde ihre Gedankengänge nicht ansatzweise verstehen können. Er wäre aber erst recht geschockt, wenn er wüsste, was sie wirklich für ihn empfand. Nicht sehr verwunderlich, wo sie sich ihm gegenüber stets kumpelhaft gab. Dabei würde sie so gern mal mit ihm schäkern und flirten. So, wie es ihre Schulkameradinnen ganz selbstverständlich taten. Doch dafür war Rebekka viel zu schüchtern und vor allem zu feige. Überflüssig zu erwähnen, dass Clemens ein Mädchenschwarm war … und sie das einzige Mädchen, von dessen Schwärmereien er nichts ahnte. Er würde es nicht mal in Erwägung ziehen, dass sie so fühlte. Sie wusste, auch ohne es ausgetestet zu haben, dass sie kein so zuckersüßes und spitzbübisches Lächeln zurückbekäme wie Lara. Dem Neuzugang aus der Parallelklasse starrte er seit neuestem ständig hinterher. Sie war im letzten Jahr aus Hannover zugezogen und eine furchtbar eingebildete Zicke. Alle Jungs waren hinter ihr her, himmelten sie an und taten, als sei Ariana Grande höchstpersönlich aus Los Angeles angereist. Es enttäuschte Rebekka maßlos, dass auch Clemens auf sie hereinfiel. Okay, Lara sah wirklich mega gut aus. Nur wusste sie das auch und verhielt sich entsprechend.

Verdammt! Rebekka haderte mit ihrem Schicksal. Warum konnte sie nicht genauso hübsch sein? Dann würde Clemens sie bestimmt ebenso anschauen. Doch er bemerkte ja nicht mal, wenn sie ein neues Brillengestell hatte. Wie sollte er da ahnen, dass sie seit der Klassenfahrt, die über zwei Jahre zurücklag, davon träumte, mehr als nur sein Kumpel Becks zu sein.

Rebekka atmete schwer. Mit ihrer genetischen Veranlagung würde sie nie eine Gazelle werden. Damit hatte sie sich notgedrungen abgefunden. Aber eines wusste sie, auch wenn Sina, Mareike und Bianca das ums Verrecken niemals zugeben würden: auf ihre schmale Taille, da waren die XXS-Hungerhaken in Stricknadeloptik schon neidisch. Sie dachte an Sina, mit der sie nur dann vernünftig reden konnte, wenn sie mal wieder nicht kapiert hatte, worum es im Unterricht ging – was ziemlich häufig vorkam. Auch so eine blöde Kuh, die ihr ständig mitleidig auf die Oberschenkel starrte. Ach wäre das schön, wenn Dummheit hässlich machen würde … Sina könnte sich ab sofort nur noch in Vollverschleierung unters Volk begeben. Rebekka seufzte erneut und nahm die Stufen in die erste Etage. Insgeheim wünschte sie sich nichts sehnlicher, als genauso dünn und zart zu wirken wie die hohlköpfige Sina. Es war einfach nicht zu glauben … obwohl Sina keine drei Sätze ohne Echt jetzt? Oh, das ist ja soo cool oder Ich find das soo mega sagen konnte, rannten ihr die Jungs wie blöd hinterher. Waren die alle taub? Wenigstens zählte Clemens da nicht dazu.

Rebekka blieb stehen. Sie war im Erdgeschoss angekommen und betrachtete sich im schmalen Glasfenster des Aufzugs. Ob Clemens bemerken würde, dass sie heute anders aussah? Dass sie keine Basecap und keine schlabbrige Latzhose trug? Sie hatte jeden Cent für neue Klamotten zusammengekratzt und setzte nun ihre ganze Hoffnung darauf, dass ihm das auffiel. Und darauf, dass er sie nicht länger als ein geschlechtsloses Neutrum, sondern auch als Mädchen wahrnahm, mit dem man gleichzeitig flirten und durch dick und dünn gehen konnte. Es stimmte wirklich, dass die hellblaue Bluse die Farbe ihrer tiefblauen Augen zum Strahlen brachte ‒ das einzig wirklich Schöne an ihr, wie Rebekka fand. Und auf ihre langen, dichten Wimpern waren die Mädels sowieso alle neidisch. Sie hatte es nämlich nicht nötig, sich künstliche anzukleben. Da reichte ein bisschen Wimperntusche allemal. Leider war da aber noch die verhasste Brille. Für Kontaktlinsen hatte ihr bis jetzt der Mut gefehlt. Sogar mit ihren widerspenstigen Haaren konnte sie sich heute anfreunden. Sie hatte eine Ewigkeit dafür gebraucht, sie einigermaßen in den angesagten Schnittlauch-Look zu bekommen. Mittelscheitel und superglatt, so, wie alle Mädels jetzt frisiert waren. Aber besonders gefiel ihr, dass sie schlanker wirkte als sonst.

Ein letztes Mal strich sie sich eine lange aschblonde Strähne aus der Stirn und holte tief Luft. Nein, mehr gab es jetzt wirklich nicht zu tun. Mit einem flauen Gefühl im Magen verließ sie das Gebäude.

 

Ringsherum sah man nur hässliche Hochhäuser, zwischen denen eine sanfte Abendbrise wehte. Alles wirkte trist und öde, da halfen auch die vereinzelten Bäume und Sträucher nichts, die man erst in den letzten Jahren nach und nach angepflanzt hatte. Kein Vergleich zu der Wohngegend, aus der Clemens stammte ‒ Bad Wilhelmshöhe, Kassels Stadtviertel für die Upperclass.

Als hätte sie mit diesem Gedanken die schwarze Mercedes-Limousine herbeigerufen, bog der Wagen um die Ecke. Rebekkas Herzschlag kam ins Stolpern. Entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen, schluckte sie ihre Scheu herunter und setzte einen unbekümmerten Gesichtsausdruck auf, um überrascht zu entdecken, dass ihre Klassenkameraden Fabian und Franziska auf der Rückbank saßen. Seltsam, warum wusste sie davon nichts? Zu blöd. Aber andererseits war es so typisch für Clemens. Er würde die ganze Stadt mitfahren lassen, wenn er damit jemandem einen Gefallen tun könnte.

Carsten Lorentz, Clemens’ Vater, lenkte den Wagen auf den Randstreifen und ließ sie hinten einsteigen.

„Na, schon aufgeregt?“, wollte er mit Blick in den Rückspiegel wissen, während Rebekka neben Franziska Platz nahm.

„Ja, ein bisschen schon. Danke, dass Sie mich mitnehmen.“

„Keine Ursache.“ Er fuhr los.

„Hey, du siehst ja toll aus! Echt coole Klamotten.“ Franziska hob den Daumen.

Nun drehte sich auch Clemens, der vorn auf dem Beifahrersitz saß, zu ihr um und musterte sie prüfend. Sein Blick blieb an ihrer neu erworbenen Handtasche hängen. „Oje, noch eine, die mit so einem unförmigen Koffer rumrennt“, verdrehte er theatralisch die Augen.

Tatsächlich war die Tasche viel auffälliger, als der Stoffrucksack, den sie normalerweise mit sich herumschleppte.

„Clemens!“, tadelte sein Vater.

„Ist ja schon gut. War nicht so gemeint. Ja, ich weiß, Cathi und Mama finden die Dinger auch total cool. Dachte halt, dass Becks anders ist.“

Rebekka ließ seine Worte sacken und starrte aus dem Fenster. Von der Welt da draußen nahm sie jedoch nichts wahr. Sollte das schon die Antwort auf ihre Frage sein? Wenn er noch nicht einmal realisierte, dass auch sie weibliche Interessen hatte. Würde es überhaupt Sinn machen, ihm ihre Gefühle zu offenbaren? Heute? Wo sich so viele aus ihrer Schule zum Abifest versammelten und nur darauf warteten, dass sich irgendjemand blamierte?

 

Hi hi! Everybodys Darling Clemens gibt die Pflegschaft für Streber-Specki-Becki überraschend auf. War ja klar, dass das irgendwann mal fällig war.

 

Nein, so weit würde Rebekka es nicht kommen lassen. Seine Freundschaft konnte ihr keiner nehmen und dass sie es innerlich zerriss, ihm so nahe zu sein, ohne ihn wirklich berühren zu können, ging niemanden etwas an. Spätestens wenn er sein Studium antrat, würde sie ihn endgültig an ein viel hübscheres Mädchen verlieren. Davon war sie überzeugt.

 

Nach einer kurzen Fahrt tauchte das abgezäunte Messegelände, in dessen Hallen die überregionale Abifete stattfand, vor ihnen auf. Ein Auto nach dem anderen fuhr vor und auch genauso schnell wieder ab, um Platz für das nächste zu machen.

Kaum dass der Wagen vor dem Gelände anhielt, öffnete Clemens auch schon die Tür. Den Geldschein, den ihm sein Vater hinhielt, schob er sich tief in die Hosentasche.

„Fürs Taxi heute Nacht.“ Carsten verabschiedete seinen Sohn mit einem freundschaftlichen Klaps.

„Danke, Dad“, rief Clemens im Aussteigen und stürmte los.

Bevor Herr Lorentz wieder losfuhr, nickte er Rebekka zum Abschied zu und hielt kurz ihren Blick fest. Sie wusste, was er ihr damit sagen wollte: das Gleiche, was er immer zu ihr sagte, bevor sie gemeinsam auf Strecke gingen: Melde dich bitte, wenn es Probleme gibt.

Fabian bedankte sich ebenfalls hastig und beeilte sich, seinem Freund hinterherzukommen. Auf die beiden Mädels achtete auch er nicht und bemerkte deshalb natürlich genauso wenig, wie entgeistert sie den Jungs hinterherstarrten ‒ besonders Rebekka.

„Ey Alter“, japste Fabian, „bist du auf der Flucht oder warum hast du’s so eilig? Vielleicht weihst du mich mal in deine Pläne ein, Mann!“

Clemens warf seinem Freund einen Blick über die Schulter zu. „Da gibt’s nichts einzuweihen. Das geht klar. Nun komm gefälligst. Ich muss in Halle drei, da spielt eine Band, die will ich sehen. Hab schon viel von denen gehört.“

„Und die Mädels wollen da nicht hin?“ Fabian sah ihn verständnislos an.

„Nee. Soviel ich weiß, nicht.“ Clemens krümmte sich bei der glatten Lüge innerlich. „Becks wollte mit Meike und Franziska abhängen, mehr weiß ich nicht. Ist doch klar, oder? Die wollen sich vielleicht auch mal ein bisschen umsehen?“ Er malte Anführungszeichen in die Luft, bevor er seinen Blick umherwandern ließ.

Allmählich wurde er ruhiger. Rebekka und Franziska waren ihnen offensichtlich nicht gefolgt. Gott sei Dank! Sein Plan ging auf. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass es ihm lieber war, wenn Rebekka etwas ohne ihn unternahm. Bei aller Freundschaft, die ihn mit ihr verband – es fiel ihm schwer, ihr zu beichten, dass er sie jetzt nicht an seiner Seite gebrauchen konnte. Oft war das Gegenteil der Fall gewesen, vor allem dann, wenn ihm die giggelnden Mädchen zu nahe auf die Pelle gerückt waren. Doch heute Abend würde sie ihm mit ihrer Anwesenheit nur die Tour vermasseln. Seit Tagen konnte er an nichts anders mehr denken als an Lara Resch. Boah, war die heiß. Und so, wie sie ihn ansah, ging es ihr genauso. Bisher hatte er sich mit den Mädchen in der Schule zurückgehalten, war froh, dass Rebekka, die meistens an seiner Seite war, Schutz bot. Mit ihrer Gegenwart hatte sie bewirkt, dass die Hühner ihn in Ruhe gelassen hatten. Allerdings hatte das in letzter Zeit einige Mädels trotzdem nicht davon abgehalten, nachmittags bei ihm daheim anzurufen. Dort mussten ihn dann meistens seine Mutter oder seine Schwester Cathi retten.

Clemens schätzte Rebekka sehr. Sie war sein Kumpel, irgendwie sogar sein bester Freund – auch wenn sie kein Junge war – und seine enge Vertraute. Aber er brachte es einfach nicht fertig, ihr zu sagen, dass er auf Lara scharf war. Er wusste selbst nicht, warum das so war. Es fühlte sich falsch an und änderte die Situation zwischen ihnen kolossal. Natürlich würde er es ihr irgendwann sagen. Aber erst dann, wenn die Sache mit Lara ernst würde. Im Moment gab es dazu noch keinen Grund. Außerdem war es für Rebekka ohnehin besser so, mal allein unterwegs zu sein. Bestimmt gab es auch einen Typen, den sie gern aufreißen würde.

Auf der Suche nach der richtigen Halle preschte Clemens voran. Er wühlte sich durch die Massen von feierwütigen Gleichaltrigen und fand Lara schließlich inmitten ihrer Klassenkameraden. Allen voran den Jungs, die ihr gefallen wollten, das war offensichtlich. Als sie ihn entdeckte, huschte ein besonderes Lächeln über ihr Gesicht und Clemens wusste instinktiv, dass die anderen keine Chance hatten. Na bitte! Sollten die doch so viel baggern, wie sie wollten. Sie gehörte ihm. Seit sie sich vor ein paar Tagen zufällig im Sekretariat begegnet waren, bahnte sich dieser Moment an.

Lara löste sich aus der Gruppe und kam langsam auf ihn zu. Clemens konnte sich ein glückliches Grinsen, das sich von einem Ohr zum anderen zog, nicht verkneifen. Jeglicher Gedanke an Rebekka und sein damit verbundenes schlechtes Gewissen verblasste. Selbst an Fabian dachte er nicht mehr. Das schien der zu bemerken, so wie er ihn gerade am Arm zog.

„Hey! Hältst du mich für bescheuert? Wo ist denn jetzt diese phänomenale Band, von der du geschwafelt hast?“ Er deutete auf riesige Lautsprecher, aus denen gängige Songs aus den Charts dröhnten. Fabian hielt inne, als sein Blick auf Lara fiel, die interessiert zu ihnen herüberstarrte.

„Ah, jetzt kapier ich das!“ Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Alles klar. Wird besser sein, ich mach die Fliege. Weiß Rebekka, dass du auf Lara stehst?“

„Hä? Was hat denn das mit ihr zu tun?“

Sichtlich entgeistert starrte Fabian seinen Kumpel sekundenlang an und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern. „Musst du wissen. Geht mich nix an … ich mach ‘n Schuh und geh Yannik suchen.“ Als würde er salutieren, tippte er sich an die Stirn. „Du weißt, wo du uns findest.“

Clemens nickte, ohne richtig zugehört zu haben. Alles, was ihn interessierte und worauf er sich konzentrieren konnte, war Lara. Wie im Tunnelblick verschwanden die Leute ringsherum um sie in einem grauen Feld. Lara schien es ähnlich zu gehen, denn sie kam ihm entgegen und lächelte ihn verheißungsvoll an. Sie war so verdammt verlockend, dass ihm schwindlig wurde.

„Hi, da bist du ja“, strahlte sie ihn an und ließ sich von ihm in den Arm ziehen.

„Ja, ging nicht eher. Bin nicht allein gekommen.“ Clemens nahm ihre Hand, visierte einen freien Stehtisch am äußersten Rand der Tanzfläche an und ignorierte die missgünstigen Blicke von zwei Typen, die eben noch bei ihr gestanden hatten.

„Was willst du trinken? Ich hol uns was.“ Seine Augen versenkten sich in ihren und er hatte das Gefühl, die Luft vibrierte.

Die Antwort hauchte sie ihm ins Ohr, wobei sie ihn mit den Lippen berührte. Clemens überlief es heiß und kalt, so sehr erregte ihn diese Andeutung einer Berührung. Auf dem Weg zur Bar hatte er Mühe, seine überbordenden Gefühle zu sortierten, die ihm aus allen Poren kamen. Scheiße, am liebsten würde er mit ihr wohin gehen, wo sie allein sein konnten. Aber den Mut, ihr das zu sagen, hatte er nicht.

Mit einem Bier und einer Cola kam er zurück zum Tisch und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit ihr zu tanzen, um ihr wenigstens auf die Art etwas näher zu kommen.

Lara musste ähnliche Gedanken haben. Dicht gedrängt stand sie neben ihm, schlürfte an ihrer Cola und sah ihm dabei zu, wie er das Glas zum Mund führte. Da man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte, verzichteten sie aufs Reden und verschlangen sich stattdessen nur mit Blicken.

Als endlich sanftere Töne aus den Boxen dröhnten, ergriff Clemens entschlossen ihre Hand, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen. Auf dem Weg dorthin glaubte er, Rebekka in der Menge erkannt zu haben, doch so schnell, wie der Gedanke gekommen war, so schnell war er auch wieder weg. Sein ganzes Denken war von Lara bestimmt.

Als sie sich dann mit geschlossenen Augen an ihn schmiegte und sich mit ihm im Gleichklang der Schmusemusik bewegte, fühlte sich Clemens wie im siebten Himmel.

„Was hältst du davon, wenn wir von hier abhauen?“, hörte er Lara plötzlich an seinem Ohr sagen. „Ich würde viel lieber mit dir alleine sein.“

Clemens, der es selbst nicht gewagt hätte, so schnell voranzupreschen, riss überrascht die Augen auf und blickte prompt in die finsteren Mienen von Laras Klassenkameraden, die offenbar immer noch beleidigt waren. Liebe Güte, was war daran nicht zu verstehen, dass Lara sich entschieden hatte? Und zwar für ihn. Wie lange wollten die denn noch blöd gaffen?

„Gute Idee.“ Clemens streifte Laras Wange mit den Lippen und zog sie demonstrativ näher zu sich heran. Wenn das nicht Aussage genug war, wusste er es jetzt auch nicht mehr. „Okay. Lass uns austrinken und dann hauen wir ab.“

Voller Euphorie leerten sie ihre Gläser, aus denen sie zuvor nur genippt hatten, in einem Zug und bahnten sich einen Weg durch die Menge nach draußen. Clemens, der Laras Hand fest umklammert hielt, lief voraus und überlegte, wo er jetzt mit ihr hingehen konnte.

Es geschah von einer Sekunde auf die andere. Clemens wurde plötzlich seltsam schwindlig und er hatte Mühe, sich zu orientieren. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie im Freien angekommen waren und er frische Luft einatmete.

Lara studierte besorgt sein Gesicht. „Clemens! Was ist mit dir? Geht’s dir nicht gut?“

 

Rebekka, die nach einem Rundgang, den sie vor ihren Freunden mit einem Toilettengang begründet hatte, zurückkam, wusste nun, warum Clemens es so eilig gehabt hatte. Lara! Ihr war zum Weinen zumute, doch sie riss sich gezwungenermaßen zusammen. Schließlich ahnte niemand etwas von ihren wahren Gefühlen für ihn. Fabian, der allein zum vereinbarten Klassentreff zurückgekommen war, hatte kein Wort über Clemens’ Abwesenheit verloren. Auch Yannik – er gehörte genau wie Fabian zum engeren Kreis von Clemens’ Freunden – erwähnte ihn mit keiner Silbe. Rebekkas Verdacht verdichtete sich, dass er nur sie nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. War ja klar, wenn es darauf ankam, war ein Kumpel eben mehr wert als eine Kumpeline. Erst nachdem Marius, ebenfalls ein Klassenkamerad, nach ihm fragte, hatte Fabian eine fadenscheinige Erklärung abgegeben: Clemens sei unterwegs und würde Kumpel treffen.

Na klar – Kumpel! Zum Knutschen, oder was?

Rebekka schluckte ihren Frust hinunter und tat das Einzige, was ihr Freude bereitete: Tanzen. Erstaunt bemerkte sie, dass Marius sich ihr anschloss ‒ wortlos. Er spielte in einer Fußballmannschaft und war bei den Mädchen ähnlich begehrt wie Clemens. Sie wunderte sich, dass ausgerechnet er ihre Nähe suchte und nicht die ihrer Klassenkameradinnen. Jetzt sah er sie an, als wollte er ihr etwas sagen und bewegte sich an zwei Tänzerinnen vorbei auf sie zu. Doch seltsamerweise hörte sie nicht ihn ihren Namen rufen. Durch den stampfenden Beat der Musik schrie jemand anderer. Gleich darauf spürte sie eine Hand auf ihrem Arm. Abrupt drehte sie sich um und erkannte Fabian, der sich zu ihr herabbeugte und ihr ins Ohr brüllte: „Mensch, warum gehst du denn nicht mal an dein Handy?“

Sie blieb stehen und bedachte ihn lediglich mit einem genervten Blick. Hatte der sie noch alle?

„Was gibt’s denn so Dringendes?“ Sie wich einem Typen aus, der wie wild tanzte und dabei mit den Armen umherwedelte. „Und wie sollte ich das hier hören?“

„Ja ja, schon gut. Bitte, du musst unbedingt mitkommen.“ Er umfasste ihren Oberarm und sah sie dabei geradezu flehentlich an.

„Ich? Wieso?“ Rebekka wich erneut einem Tänzer aus und erntete einen bösen Blick dafür, dass sie mitten auf der Tanzfläche Diskussionen führte. Auch Fabian erkannte, dass sie störten, und bahnte sich einen Weg zu den Stehtischen. Notgedrungen folgte sie ihm, zog ihr Smartphone aus der Gesäßtasche und entdeckte im Display die Anzahl seiner fehlgeschlagenen Anrufe.

„Was ist denn los?“, fuhr sie ihn an, als sie an der etwas ruhigeren Theke angekommen waren.

„Mit Clemens stimmt was nicht. Es geht ihm nicht gut …“

„Und was hab ich jetzt damit zu tun? Bist du sicher, dass ich da die Richtige bin, die du um Hilfe bittest? Er hat mich doch den ganzen Abend nicht gebraucht.“

„Ach komm, jetzt sei nicht so … du kennst ihn doch.“

Da bin ich mir nicht mehr so sicher.

„Und? Was soll ich deiner Meinung nach tun, was du nicht auch könntest? Wo ist er überhaupt?“

„Du musst ihn heimbringen.“

„Ach, und das kannst du nicht?“

„Doch, könnte ich schon, aber … bitte komm! Ich hab ihn draußen im Eingangsbereich auf eine Bank gesetzt. Keine Ahnung, wie viel er getrunken hat … muss ‘ne ganze Menge gewesen sein, so voll wie der ist.“

„Hä? Du willst mich doch veräppeln!“

„Nein. Es gibt Sachen, über die mach ich keine Scherze. Komm mit, dann wirst du’s selbst sehen.“ Fabian packte sie so energisch am Arm, dass Rebekka gerade noch ihre Tasche schnappen konnte, die über einem Hocker hing.

 

Das Bild, das Clemens bot, erschreckte Rebekka dann doch.

Sie fanden ihn im Außenbereich vor den Ausgängen allein auf einer Bank sitzend vor. Den Kopf in den Händen abgestützt, bewegte er sich mit dem ganzen Körper merkwürdig hin und her, so als würde er sich selbst beruhigen müssen und sah erst auf, als sie vor ihm standen.

„Hey, warum lasst ihr mich so lange alleine?“, rief er euphorisch und blinzelte die beiden an, als könnte er sie nicht richtig erkennen. Dann schnappte er sich Rebekkas Hand und hielt sie fest. Sie suchte Fabians Blick.

„Glaubst du mir jetzt?“, flüsterte der.

Entgeistert nickte sie. Bei keiner einzigen Klassenfete hatte sie Clemens jemals in einer solch seltsamen Verfassung erlebt. Und Alkohol hatte auch da zur Verfügung gestanden.

„Komm! Wir gehen.“ Sie hielt Clemens die Hand hin und bemerkte Fabians Erleichterung. Hinter ihm tauchte ein Mädchen auf. Erst jetzt fiel Rebekka auf, dass das Mädel schon die ganze Zeit in Fabians Nähe ausgeharrt hatte und sie begriff, warum er seinen guten Kumpel nicht heimbringen konnte. Sie seufzte. Obwohl sie von Clemens’ Vertrauensbruch tief enttäuscht war, brachte sie es dennoch nicht fertig, ihn jetzt im Stich zu lassen. Echte Kumpel taten so etwas eben nicht. Entschlossen zog sie ihn von der Bank hoch und fuhr überrascht zusammen, als er sie aus der Bewegung heraus umarmte und sich an sie schmiegte. Liebe Zeit! Das tat er doch sonst nie!

Fabian legte ihr die Hand auf die Schulter und sah sie dankbar an. „Natürlich hätte ich ihn auch heimgebracht, aber du bist mit seiner Familie doch viel vertrauter …“

„Schon gut. Aber hör auf, mich zu verarschen. Der Grund, warum du hierbleiben willst, ist blond und wartet da hinten auf dich.“ Sie deutete mit dem Kinn in Richtung des Mädchens. Fabians schuldbewusster Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Alles klar. Ich kümmere mich“, winkte Rebekka ab und dachte daran, was sie Clemens’ Vater wortlos zugesagt hatte. „Das habe ich seinen Eltern versprochen.“

Suchend sah sie sich um und atmete erleichtert aus, als sie die Schlange wartender Taxis am Straßenrand ausmachte.

Nachdem Rebekka dem Fahrer erklärt hatte, dass ein Notfall vorlag, weil – okay, das war frei erfunden – Clemens Diabetiker sei und dringend Insulin brauche, was er zu Hause vergessen habe, nahm er den schnellsten Weg zur Lorentz-Villa. In diesen wenigen Minuten ging sie durch ein Wechselbad der Gefühle. Trotz der enormen Enttäuschung schaffte sie es nicht, länger böse auf Clemens zu sein. Schon gar nicht, wenn er so anhänglich und verschmust war. Nie zuvor hatte sie ihn so erlebt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie, abgesehen von dem einen Mal auf der Klassenfahrt, überhaupt jemals umarmt hatte. Und nun hielt er sie fest, als wollte er sie nie mehr loslassen. Dabei kam ihm kein Laut über die Lippen und er wirkte, als würde er jeden Moment einschlafen. Ihr Verstand riet ihr, in seine Anschmiegsamkeit nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Doch ihr törichtes, sehnsüchtiges Herz, das seit einer gefühlten Ewigkeit nach seinen Zärtlichkeiten lechzte, genoss jede Sekunde mit ihm und weigerte sich, sein Verhalten in einem realistischen Licht zu betrachten.

Rebekka zahlte das Taxi aus eigener Kasse. Glücklicherweise war der Fahrer mit zehn Euro zufrieden. Ihrem letzten Geld. Nun standen sie vor der Haustür. Ihr Versuch, sich von Clemens zu lösen, scheiterte. Seine Arme umklammerten sie wie ein Krake. Als er keine Anstalten machte, den Haustürschlüssel aus seiner Jackentasche hervorzuholen, griff sie kurzerhand hinein, zog den Schlüssel hervor und schloss die Tür auf.

Es war bald Mitternacht und stockdunkel in der Villa. Clemens’ Schlafzimmer befand sich in einem Flügel im Erdgeschoss. Rebekka tastete nach dem Lichtschalter und zog ihn mit.

„Komm, ich bringe dich rasch in dein Zimmer“, flüsterte sie. „Du weckst sonst noch das ganze Haus auf.“

„Aber du gehst nicht gleich wieder weg“, raunte er an ihrem Hals.

Rebekka wurde heiß und kalt. Was war das jetzt gerade? Wie kam es, dass er ihr plötzlich solche zärtlichen Worte zuflüsterte? Sein Griff um ihre Schulter wurde fester. War er nicht eben noch total müde und apathisch gewesen?

Sie vermied es, ihm zu antworten, wollte um keinen Preis Aufsehen erregen. Leise öffnete sie seine Zimmertür, schaltete das Flurlicht aus und betrat das Zimmer, das von der Straße her ein wenig von einer Laterne ausgeleuchtet wurde, und schloss die Tür. Ehe sie sich versah, hatte er sie mit zu seinem Bett gezogen, ließ sich mit ihr darauf fallen und begrub sie halb unter sich.

„Clemens! Was tust du?“

„Ich will dich anfassen … dich berühren. Du fühlst dich so verdammt gut an.“ Mit einem Mal waren seine Hände überall. „Bleib hier, bitte! Bei mir. Ich will jetzt nicht alleine sein. Ich … ich brauch dich so, will dich so sehr … du hast überhaupt keine Ahnung, wie sehr … komm, du willst das doch auch …“

Ohne Vorwarnung begann Clemens, sie überall zu küssen. Zuerst hauchte er ihr nur zarte Küsse auf Wangen und Hals, doch dann legte sich sein Mund auf ihren. Rebekka glaubte zu träumen. All das, worüber sie seit einer Ewigkeit phantasiert hatte, geschah nun auf einmal. Ihre Zungen berührten sich. Berauscht vor Seligkeit ließ Rebekka sich mitreißen. Oh Gott, war das schön, ihn so zu erleben. Als sie seine Erektion bemerkte, wusste sie, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Was für ein Segen, dass sie schon seit zwei Jahren die Pille nahm. Hauptsächlich aus medizinischen Gründen – sie war noch Jungfrau und Clemens der erste Mann, der ihr überhaupt so nahe kam. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass er ihr erster Liebhaber wurde. Ihr Körper kribbelte vor Erregung und sie wollte ihn endlich ganz nah und in sich spüren. Sie träumte schon so lange davon. Ihr Herz pochte laut, als sie sich in Höchstgeschwindigkeit ihrer Kleidung entledigten. Clemens schien nicht mehr ganz so unschuldig zu sein, wie sie vermutet hatte. Zielstrebig erforschten seine Hände ihre erogenen Zonen und ging dabei ziemlich forsch vor. Er sprach nicht mehr, sondern küsste sie nur gierig, während seine Finger ihre feuchte Hitze fanden und in sie eindrangen. Als Rebekka sein Gewicht auf sich spürte, war sie bereit für ihn. Er verlor keine Zeit, drang heftig in sie ein und begann zu stoßen. Den kleinen Schmerz, den sie verspürte, atmete sie weg und ließ es geschehen. Doch ihre Erregung verpuffte. Allein dass Clemens ihr so nahekam, entschädigte sie für den Moment. Mit einem heißeren Stöhnen ergoss er sich in ihr, küsste sie und entzog sich. Seufzend rollte er sich zu Seite und blieb mit geschlossenen Augen reglos neben ihr liegen.

„Oh Mann, Lara, du fühlst dich so verdammt gut an …“

Stille.

An der Art, wie er atmete, erkannte sie, dass er sofort eingeschlafen sein musste. Rebekka gefror das Blut in den Adern und beinahe augenblicklich wurde ihr vor Entsetzen schlecht. Lara!

Völlig desillusioniert richtete sie sich auf. Vor Scham und Enttäuschung schossen ihr die Tränen in die Augen. Konnte es wirklich sein, dass er sie die ganze Zeit für diese Lara gehalten hatte? Wie war das möglich? Er … er war doch gar nicht mehr so betrunken gewesen!

Leise vor sich hin schluchzend sammelte sie im Turbogang ihre Sachen zusammen, zog sich an und verließ auf Zehenspitzen das Haus.

2

Am nächsten Tag erwachte Clemens nach einem tiefen, traumlosen Schlaf erst am späten Nachmittag. Mit extrem trockener Kehle und dem Smartphone in der Hand tapste er barfuß in die Küche, wo er auf seinen Vater traf, der sich einen Kaffee brühte.

„Auch einen?“, deutete Carsten auf die Tasse in seiner Hand.

„Nee, erst mal nur Wasser.“ Clemens verzog das Gesicht und fasste sich an die Stirn, hinter der ein nagender Schmerz pochte.

„War wohl eine lange Nacht, was? Ich habe dich gar nicht heimkommen hören … habt ihr euch gut amüsiert?“

„Hm, glaub schon … äh, haben wir so was wie Schmerztabletten im Haus? Ich hab tierische Kopfschmerzen …“

„Setz dich. Ich hol dir was Besseres. Schmeckt nicht, hilft aber bestens gegen deinen Kater. Was hast du denn um Himmels willen alles getrunken? Das kenne ich ja gar nicht von dir.“

Carsten ging und kam mit einer Brausetablette wieder, die er in einem Glas Wasser auflöste.

Clemens saß am Tisch und stützte sich den Kopf. „Ich … ich weiß nur noch, dass ich mir ein Bier bestellt hab. Mein letzter Stand ist, dass ich nur ein paar Schlucke getrunken habe … aber davon kriegt man doch nicht so einen Brummschädel … hm, versteh ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf und sah seinen Vater entgeistert an. „Ehrlich gesagt weiß ich gar nichts mehr.“

„Auch nicht, wie du nach Hause gekommen bist?“

„Nee.“

„Hört sich seltsam an. Da solltest du mal deine Freunde zu befragen. Bestimmt wissen die was.“

„Das will ich hoffen.“

Mit angewiderter Miene trank Clemens die aufgelöste Brausetablette und stürzte gleich noch ein Glas Wasser hinterher. „Igitt, was ist das denn für ein Zeug?“

Carsten lachte nur und ließ seinen Sohn alleine.

Clemens zog das Handy aus der Hosentasche und entdeckte eine Sprachnachricht von Lara, in der sie sich dafür entschuldigte, dass sie nicht mehr für ihn hatte tun können und ihn fragte, ob es ihm wieder besserginge. Er strich sich über die Stirn. Glücklicherweise ließen die Kopfschmerzen allmählich nach. Verdammt, jetzt wollte er aber genau wissen, was da los gewesen war und warum er sich an nichts erinnern konnte. Er wählte Fabians Nummer und atmete erleichtert auf, als der prompt abnahm.

„Hey Fabi, kannst du mir mal erzählen, wie ich heute Nacht heimgekommen bin? Ist mir echt peinlich, weil ich keinen Schimmer hab, aber ich kann mich echt an überhaupt nichts mehr erinnern …“

„Mann Alter, mir steht jetzt noch der Schweiß auf der Stirn. So wie du drauf warst … so hab ich dich ja noch nie erlebt. Du warst so was von breit …“

„Was? Tickst du noch ganz richtig? Ich hatte höchstens ‘n halbes Bier!“

„Sicher? Du hast gelallt und konntest kaum noch geradestehen … hast dich an Lara geklammert und … wolltest sie vor allen Leuten abknutschen. Mann, das Mädel war total überfordert. Sie wusste sich überhaupt keinen Rat mehr. Ich war zufällig mit Janina auch draußen … Mann Alter, ich dachte erst, du willst mich verarschen! Lara hat mich gebeten, ihr zu helfen …“

„Oh Scheiße, dann hab ich es wohl mit ihr vergeigt …“

„Äh … nein, das glaub ich nicht“, kam es von Fabian zögerlich, „na ja, sie meinte nur, dass es besser wäre, wenn du dich bei ihr melden würdest, wenn du wieder fit wärst.“

„Dann hast du mich heimgebracht“, folgerte Clemens.

„Nee, das hat Rebekka übernommen … Mann, endlich läuft bei mir was mit Janina, da wollte ich doch nicht gleich wieder weg.

„Oh Scheiße! Rebekka war bestimmt auch nicht begeistert, oder?“

„Na ja … nein, war sie nicht. Aber sie war auch total geschockt, als sie dich so gesehen hat. Sie hat nur gemeint, dass sie es deinen Eltern versprochen hätte, ein Auge auf dich zu haben“, umschiffte Fabian die Wahrheit.

„Ich versteh das nicht. Wie kann denn das sein, dass man nach einem Glas Bier so drauf ist? Ich vertrage doch sonst mehr und gegessen hatte ich auch was.“

„Für mich hört sich das ganz klar danach an, als wenn dir jemand was ins Glas getan hat. Ist dir irgendwas aufgefallen?“

„Nee, nur dass zwei von Laras Klassenkameraden ziemlich stinkig auf mich waren, weil sie mit mir zusammen sein wollte“, sinnierte Clemens.

„Vielleicht war es ja einer von denen.“

„Meinst du echt, die würden so weit gehen? Kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht sollte es ja für Lara sein und nicht für mich … ach ist ja jetzt auch egal …“ Clemens wurde von einer Nachricht abgelenkt, die eingegangen war. Sie war von Lara, die ihm prompt noch eine zweite Nachricht schickte. Sie wollte sich mit ihm treffen. Sofort war alles andere Nebensache.

„Sorry Fabi, wir telefonieren später. Hab noch was vor …“

 

Unterdessen glich Rebekkas Gefühlslage einer Achterbahn. Einerseits war sie wütend und maßlos enttäuscht, andererseits verachtete sie sich selbst dafür, dass ihr dummes Herz sich noch immer nach Clemens sehnte und trotz allem nicht aufhören wollte zu hoffen. Als aber auch nach vier Tagen Warten kein Lebenszeichen von ihm kam, starb das letzte Fünkchen Hoffnung in ihr ab. Nach einer durchwachten Nacht mit massiven Selbstvorwürfen und heftigen Weinkrämpfen fasste sie schließlich einen Entschluss: Sie musste weg. Am besten ganz weit. Weg von absolut allen – außer ihrer Mutter. Specki-Becki brauchte kein Mitleid. Von niemandem. Ihr Vorhaben, einen medizinischen Beruf zu ergreifen, erwies sich für ihren Wunsch, die Stadt zu verlassen, als optimale Voraussetzung. Diesen Plan würde sie schnellstmöglich umsetzen. Einen Ausbildungsplatz als Gesundheits- und Pflegefachfrau zu bekommen, war sehr aussichtsreich und ihr Wunschziel Berlin bot dafür hervorragende Möglichkeiten.

Fleißig und ehrgeizig wie Rebekka nun einmal war, hatte sie ihre Bewerbungsunterlagen längst vorbereitet. Das Einzige, was ihr fehlte, war ein aktuelles Foto. Außerdem hatte sie sich dafür entschieden, die Handynummer zu wechseln. Sie wollte für niemanden außer ihrer Mutter erreichbar sein. Auf Nachfrage beim Telefonanbieter erklärte man ihr, dass es wegen des bevorstehenden Wochenendes ein paar Tage dauern würde, bis sie eine neue Nummer bekäme. Mist.

In einem der großen Einkaufszentren der Stadt suchte sie einen Fotografen auf. Gerade als sie den Laden verließ, vibrierte das Handy in ihrer Hosentasche. Erschrocken zuckte sie zusammen. Ein Blick aufs Display reichte, um zu erkennen, wer der Anrufer war. Sie ließ es klingeln. Nein! Clemens war der letzte Mensch, mit dem sie reden wollte. Dazu fühlte sie sich einfach nicht in der Lage. Schon gar nicht, so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Seit jener Nacht war sie im Ausnahmezustand, was sie ihm aber ganz sicher nicht auf die Nase binden würde.

Das Telefon gab endlich Ruhe. Kurz darauf schickte er eine Nachricht:

Hi, Becks, alles klar bei dir? Zeit zum Quatschen? Muss ja nicht lange sein. (Zwinkersmiley)

Die Nachricht war so kurz, dass Rebekka sie ansehen konnte, ohne zu offenbaren, dass sie sie tatsächlich gelesen hatte.

Sie dachte gar nicht daran, sofort zu reagieren.

Muss ja nicht lange sein. Na klar, mit Specki-Becki konnte man so was ja machen. Ob er mit Lara genauso redete? Besten Dank auch.

Am Abend antwortete sie ihm. Im Gegensatz zu sonst ohne Smiley, GIF oder sonstigen Schnörkel.

Hi, sorry, hab wenig Zeit, bin ziemlich busy.

Er antwortete prompt:

Schade. Weiß von Fabian, dass du mich nach der Fete heimgebracht hast. Wollte mich bedanken. Außerdem schulde ich dir Geld. Sorry, muss ganz schön neben der Spur gewesen sein. Falls du doch noch Zeit hast, melde dich! Fahre erst in zwei Wochen mit meiner Family nach Spanien. Ich schreibe dir, wenn ich zurück bin.
(Smiley)

Tss … Wollte mich fürs Heimbringen bedanken.

Bitte schön.

Schulde dir noch Geld.

Keinen Cent.

Ganz schön neben der Spur.

Kann man wohl sagen.

Kleiner Fick für zwischendurch gefällig?

Danke Becks.

Gern geschehen.

 

Rebekka musste sich arg zusammenreißen. Sie schniefte, schluckte und presste die Lippen zusammen, um nicht laut aufzuschluchzen. Was bildete sich dieser Schnösel reicher Eltern eigentlich ein? Vielleicht war es ja gut so, dass sie zukünftig getrennte Wege gingen. Er lebte doch sowieso in einer ganz anderen Welt. Finca in Spanien! Villa mit parkähnlichem Garten. Nur Professoren und Doktoren in der Familie.

Dagegen war ihre Mutter froh, wenn sie mit ihrem kleinen Gehalt über den Monat kam!

Rebekka war so aufgebracht, dass sie den Hutständer, der vor einem Laden stand, zu spät entdeckte und ihn umgerannt hätte, wären nicht plötzlich zwei starke Arme aufgetaucht, die das Umkippen verhinderten.

„Hey, du hast’s ja eilig!“, lachte ihr Klassenkamerad Marius sie an und sah sich dann suchend um. „Wie kommt’s, dass du allein unterwegs bist … ohne Clemens, meine ich?“

„Danke“, brachte sie gerade noch heraus, „ich war so in Gedanken, dass ich das Ding zu spät gesehen habe.“

„Hast du Lust, mit mir ein Eis zu essen?“

„Äh … “ Rebekka war sprachlos. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht damit, dass Marius mit ihr Zeit verbringen wollte. „Ehrlich gesagt ist mir grad nicht so nach Eis … aber wenn es okay ist, dass ich nur was trinke … kein Problem.“

„Na klar. Die Gelegenheit muss ich ausnutzen.“

„Was? Wie soll ich das denn verstehen?“

„Ist doch gar nicht so schwer. Wann bist du schon mal allein unterwegs?“

Ab sofort nur noch.

Sie fanden ein Café. Während Marius die Getränke besorgte, musste Rebekka sich kneifen, weil sie nicht glauben konnte, was gerade in ihrem Leben abging.

„Wieso liegt dir so viel daran, mich allein zu treffen?“ Irgendwie war sie in der Stimmung, die Dinge beim Namen zu nennen. Der Entschluss, die Stadt zu verlassen, machte das ungemein leichter. Was hatte sie schon zu verlieren?

Marius kam mit einer Diät-Cola für sie und einem Latte macchiato für sich zurück und setzte sich ihr gegenüber. Er sah sie irritiert an, sagte aber nichts.

„Ja“, reagierte sie auf die stumme Frage, die ihm im Gesicht stand. „Ich wundere mich einfach nur, dass du so nett zu mir bist, jetzt, wo du keine Spickzettel mehr brauchst. Ums Abi kann es ja wohl nicht mehr gehen, das hast du in der Tasche.“

„Und wenn ich dich daten will? Was würdest du dazu sagen?“

„Sorry, fällt mir ehrlich gesagt schwer zu glauben.“

„Ist aber so. Also wann?“

„Und was ist das, was wir hier gerade machen?“

„Quatschen. Für ein Date muss man sich verabreden … wie wär’s mit heute Abend? Ich hätte Zeit.“

Rebekka, in der Frust, Enttäuschung und auch Wut über Clemens’ Verhalten brodelten, fühlte sich, als stünde sie neben sich. Was sprach dagegen, sich mit Marius zu verabreden? Er war sympathischer als sie vermutet hatte und abstoßend war er nun wirklich nicht. Also warum nicht? Sie war frei und unabhängig und brauchte dringend Ablenkung von ihren trüben Gedanken.

„Okay“, nickte sie. „Die Zeit nehme ich mir. Was …“

„Lass dich überraschen. Ich bin um sieben bei dir.“

 

Marius war pünktlich. Er fuhr mit einem Golf älteren Semesters vor. Auf der Rückbank entdeckte sie einen Korb mit Snacks und Getränken.

„Lass mich raten: Wir gehen picknicken.“

„Warm, aber noch nicht heiß. Okay, ich will mal nicht so sein und verrate dir, was ich vorhabe. Heute Abend spielt im Park eine Liveband. Die covern bekannte Songs und sind richtig gut.“

„Aha, hört sich perfekt an. Hauptsache gute Stimmung.“

„Das verspreche ich dir. Ich hab sie nämlich schon gehört.“

 

Auf der Wiese direkt vor der Bühne war kein Zentimeter mehr Platz, als sie dort ankamen. Marius breitete die Fleecedecke am äußersten Rand der Wiese aus und packte den Korb aus, während Rebekka sich umsah. Die Leute hatten es sich auf Decken und Klappstühlen bequem gemacht und waren in echter Partylaune.

„Gefällt es dir?“ Ohne auf ihre Schüchternheit zu achten, zog Marius sie in einer vertrauten Art neben sich, als wäre es das Normalste der Welt.

„Ja, echt cool. Auf jeden Fall besser, als alleine zu Hause abzuhängen“, nickte sie und lehnte sich sachte an ihn.

„Hab ich mir gedacht“, grinste er ein bisschen selbstgefällig, doch Rebekka sah es ihm nach. Sie war wirklich froh darüber, dass er sie auf andere Gedanken brachte.

„Gibt’s hier auch was zu essen? Sie schielte auf die Weintrauben, die neben Käsewürfeln auf einem Teller lagen. Prompt steckte er ihr eine Traube in den Mund und ergötzte sich daran, dass sie errötete.

„Ich habe auch Baguette und Traubenschorle.“ Marius ließ sie los und holte die Flasche und einen Becher aus dem Korb. „Na? Bin ich gut vorbereitet oder nicht?“

„Perfekt“, lobte Rebekka.

Als die Band zu spielen begann, saßen sie noch in angemessenem Abstand nebeneinander. Doch die Musiker verstanden es, ihr Publikum in Stimmung zu bringen. Rebekka ließ sich mitreißen, klatschte und sang lautstark mit – so wie alle anderen auch – und verlor dabei auch die letzten Berührungsängste Marius gegenüber. Als ruhigere Töne erklangen, änderten sie einvernehmlich ihre Sitzposition. Marius setzte sich hinter sie, sodass sie sich an ihn lehnen konnte, und umschlang sie mit beiden Armen. Es fühlte sich gut an, ihn so zu spüren, gestand Rebekka sich ein. Solche Berührungen nicht gewohnt, legte sich Wehmut über sie, weil sie sofort wieder an Clemens denken musste. Verdammt, sie wollte ihn aus ihrem Kopf haben. Was nützte es, in der Vergangenheit zu wühlen? Gar nichts. Und sie wollte erst recht nicht mehr weinen und unglücklich sein, das hatte sie in den letzten Tagen genug getan.

Vielleicht war Marius ja genau das richtige Mittel gegen ihren Kummer, sinnierte sie. Er würde ihr helfen, über die Abifeten-Nacht hinwegzukommen. Noch immer gab es Momente, in denen sie glaubte, Clemens riechen und schmecken zu können ‒ so paradox das auch nach fünf Tagen klang. Und sie würde bald noch verrückt werden, wenn das nicht endlich aufhörte. Marius war nett und sehr aufmerksam. Sehr nett sogar – und wenn es Clemens nicht gäbe, würde sie sich spätestens jetzt Hals über Kopf in ihn verlieben. Wie um ihre Gedanken zu bestätigen, schmiegte sie sich enger an Marius, genoss seine Wärme und wusste, dass sie im Moment zu allem bereit war, nur um die Eindrücke, die Clemens hinterlassen hatte, aus ihrem Leben zu verbannen.

„Willst du gleich nach Hause, wenn hier Schluss ist?“, flüsterte Marius ihr ins Ohr, als die Band ihren letzten Song spielte.

Rebekka sah erst auf ihr Handy und schüttelte dann den Kopf. Es war gerade mal zehn Uhr. Sie wollte noch nicht nach Hause. „Nein, nicht unbedingt. Was hast du vor?“

„Wenn du magst, können wir noch zu mir gehen. Ich hab sturmfreie Bude.“

„Ja, warum nicht? Meine Mutter erwartet mich erst gegen Mitternacht. So lange hätte ich noch Zeit.“ Rebekka war über ihre eigene Courage überrascht, doch es gefiel ihr auch, dass sie so locker mit der Situation umgehen konnte. Noch vor wenigen Tagen hätte sie das nicht für möglich gehalten.

Marius quittierte ihre Zusage mit einem breiten Grinsen und schob sie förmlich zum Auto. Während der Fahrt sprachen sie nicht, weil er sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Das mulmige Gefühl, das in Rebekka hochkam, versuchte sie zu ignorieren und erklärte es sich mit ihrer Unerfahrenheit. Sie dachte an Bianca, die, wie sie wusste, wie wild hinter Marius her war. Rebekka grinste nicht ganz ohne Häme. Tja, nun saß sie hier neben ihm und nicht Miss Wunderschön. Das Wissen darum beflügelte sie.

In der Wohnung angekommen, bugsierte Marius sie direkt in sein Jugendzimmer und verschloss die Tür hinter ihnen. Ehe Rebekka nach Luft schnappen konnte, hatte er sie schon auf sein Bett gezogen und begann sie wie wild zu küssen. Sie ließ es geschehen, auch wenn sie spürte, dass ihr eigentlich alles zu schnell ging. Nur der Gedanke an Clemens half ihr, nicht aufzuspringen und wegzulaufen.

„Was ist? Ich sehe doch, dass dir das gefällt.“

„Ja, ich wollte dir nur sagen, dass ich die Pille nehme.“

Marius starrte auf ihre harte Brustwarze, die sich deutlich unter ihrem T-Shirt abzeichnete, und strich mit dem Daumen darüber.

„Ich mach’s sowieso nur mit Kondom“, raunte er und wurde forscher. Rebekka küsste ihn, konnte sich aber nicht vollends auf ihn konzentrieren, denn sie musste schon wieder an Clemens denken. Entschlossen, das zu ändern, fuhr sie Marius über Brust und Bauch und tastete nach dem Knopf seiner Jeans. Ein Zeichen, das er nicht falsch verstand. In Turbogeschwindigkeit entledigte er sich seiner Kleidung und half ihr dabei, das Gleiche zu tun. Gierig fanden seine Lippen die ihren, während er fahrig ihren Körper erforschte und erleichtert aufseufzte, als er ihre Bereitschaft registrierte. Als Marius dann heftig in ihre Enge stieß, presste Rebekka die Lippen zusammen und betete, dass er schnell fertig werden würde. Ihr einziger Wunsch war es, sich aus seiner verschwitzten Nähe zu befreien. Die anfängliche Erregung war so schnell verflogen, wie ein Sturm eine flackernde Kerze auslöschte. Zurück blieb der schale Nachgeschmack von Reue.

Marius bemerkte davon nichts. Mit einem lauten Stöhnen erreichte er den Höhepunkt, erschauerte und wälzte sich schließlich von ihr.

„Hat’s dir gefallen?“, wollte er schnaufend wissen und drückte ihr einen Schmatzer aufs Dekolleté.

Außer einem Nicken, das er mit einem zufriedenen Grinsen registrierte, brachte Rebekka nichts zustande.

Für Männer schien Sex ja etwas ganz Tolles zu sein. Ihr hätten seine Nähe und ein bisschen Küssen und Streicheln längst gereicht, dachte sie, als sie sich im Bad frisch machte und anzog. Dabei fragte sie sich ernsthaft, warum alle Welt so ein Bohei um Sex machte. Es musste an ihr liegen. Wahrscheinlich war sie einfach nur zu nüchtern, um solche Gefühle zu erleben, befürchtete sie und mutmaßte, dass man in Romanen nur deshalb so maßlos übertrieb, um Leserinnen zum Träumen zu bringen.

Zurück in Marius’ Zimmer – er hatte sich inzwischen ebenfalls angezogen – schnappte sich Rebekka ihren Rucksack und sah ihm in die Augen. Auch ohne es auszusprechen war klar, dass dieser Abend nicht der Auftakt einer echten Beziehung werden würde. Rebekka war darüber mehr als erleichtert.

„Ist es okay für dich, wenn ich jetzt gehe? Ich möchte spätestens um zwölf zu Hause sein.“

„Ja, na klar“, nickte Marius und erhob sich vom Bett. „Ich bringe dich nach Hause.“

Vor ihrer Haustür schaltete er den Motor ab und wandte sich ihr zu. „Was hast du nach den Ferien vor? Gehst du auch zum Studieren in eine andere Stadt?“

„Ja … und du?“ Rebekka war auch gegenüber Marius nicht bereit, ihre wahren Pläne preiszugeben.

„Ich habe einen Platz in Freiburg. BWL und Jura. Und du? Was studierst du?“

„Ich werde den Bachelor in Krankenpflege machen. Die Bewerbungen laufen aber ich weiß noch nicht genau, wo es mich hinzieht.“

„Aha … noch nie was von gehört. Ist das ein Medizinstudium oder so was?“

„Ja und nein. Es ist ein Studium von sieben Semestern mit einem Abschluss als Krankenpflegerin. Früher nannte man den Beruf examinierte Krankenschwester, aber in Zeiten von Gendergerechtigkeit …“

„Ah, verstehe … und ich dachte, du wirst irgendwann mal Professorin, so schlau wie du bist. Willst du denn nicht lieber richtig Medizin studieren?“

Rebekka zuckte mit den Schultern und schluckte. „Doch natürlich … eigentlich schon, aber ich habe mich schlau gemacht. Es geht leider nicht.“

„Du meinst, es geht nicht, weil du nicht so viel Geld hast“, schlussfolgerte Marius. „Den Stoff packst du doch mit links.“

„Wie auch immer … in der Pflege bist du auch ein kleiner Mediziner, das unterschätzen viele … da hast du eine Menge Verantwortung und der Verdienst ist nicht übel.“ Rebekka wollte nicht länger darüber reden und öffnete die Autotür. „Danke für den schönen Tag, Marius. Du hast mir sehr … nee, wirklich jetzt, ich hätte nicht gedacht, dass du so ein nett sein kannst“, grinste sie und war froh, dass sie es gerade noch geschafft hatte, ihm nicht ihr Geheimnis auszuplaudern.

„Echt?“

„Ja. Danke, aber jetzt muss ich los.“

„Wenn du magst, können wir uns noch mal treffen, bevor ich weggehe …“ Er verstummte, weil sie bedauernd mit dem Kopf schüttelte.

„Das ist schwierig, weil ich nicht weiß, wie lange ich noch in der Stadt bin. Ich stehe sozusagen auf Abruf.“

„Ist ja auch kein Problem“, nickte Marius. „Ich hab ja deine Nummer … dann schreiben wir uns eben.“

„Genau.“

Rebekka beugte sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Mach’s gut, Marius.“

Nachdenklich stieg sie in den Fahrstuhl. Etwas Gutes hatte der One-Night-Stand mit Marius wenigstens gehabt: Clemens’ nachhaltige Eindrücke begannen zu verblassen und das war alles, worauf es im Moment für sie ankam. Wegen Marius machte sich Rebekka keine Illusionen. Weder über ihre eigenen Gefühle für ihn noch umgekehrt.

 

Wenige Tage später besaß Rebekka eine neue Handynummer. Doch das war noch nicht alles. Ehe sie wusste wie ihr geschah, saß sie mit gepackten Koffern im Zug nach Berlin. Sie war auf dem Weg zur Charité, bei der sie nicht nur einen Termin für ein Vorstellungsgespräch bekommen hatte, sondern auch ein Angebot für ein bezahltes Praktikum. Und eine Unterbringung hatte sie ebenfalls. Nämlich ein günstiges Zimmer in einem Schwesternheim, das zur Charité gehörte. Die Ausbildungsstelle, so hatte man ihr versichert, wäre bei ihrem Zeugnis und Engagement so gut wie sicher. Rebekka konnte ihr Glück kaum fassen. Yippie! Sie würde eine Ausbildung zur Pflegefachfrau machen. In der Charité in Berlin! Wie geil war das denn?

Ihre Mutter hatte dagegen weniger erfreut auf diese Neuigkeiten reagiert. Sie ließ ihre Tochter nur schweren Herzens ziehen. Bis zum letzten Moment hatte sie versucht, Rebekka davon zu überzeugen, dass es auch in Kassel die Möglichkeit gäbe, eine Ausbildung zur examinierten Krankenschwester – ihre Worte – zu absolvieren.

Keine Chance. Rebekka wollte weg. An einen Ort, wo sie Clemens nicht mehr begegnen musste, denn der, das wusste sie, würde sicher öfter am Wochenende nach Hause kommen. So weit war Gießen nun auch wieder nicht von Kassel entfernt.

 

Indessen packte Clemens seinen Koffer, um mit seiner Familie nach Spanien in den Urlaub zu reisen. Er war froh, die Stadt hinter sich lassen zu können. Von der euphorischen Verliebtheit, die er anfänglich für Lara empfunden hatte, war nichts mehr übrig. Drei Wochen tagtägliches Zusammensein hatten ihn völlig entzaubert. Sie war eine verwöhnte Göre, die sofort launisch und zickig wurde, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Und vernünftig mit ihr reden konnte man auch nicht.

Clemens starrte auf sein Handy. Checkte zum x-ten Mal, ob nicht eine Nachricht von Rebekka dabei war. Allmählich fand er es mehr als merkwürdig, dass er so gar nichts von ihr hörte. Ehrlicherweise nagte es sogar gehörig an ihm, dass das so war. In den letzten Jahren war kaum ein Tag vergangen – auch außerhalb der Schulzeit nicht – an dem sie sich nicht wenigstens mit einem Hallo oder einem lustigen Video bemerkbar gemacht hätte. Seltsam. Und die letzte Nachricht, die er von ihr bekommen hatte, war ungewöhnlich kurz, geradezu kühl gewesen.

Clemens runzelte die Stirn und rief sich das letzte Zusammensein mit ihr in Erinnerung. Hatte er sie etwa verärgert? Aber womit denn? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Sie waren Freunde, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Außerdem hatte sie ihn nach der Abifete sogar noch heimgebracht. Das hätte sie sicher nicht getan, wenn sie sauer auf ihn gewesen wäre … aber warum meldete sie sich dann nicht mehr? Ob sie vielleicht auch einen Freund hatte?

Clemens schluckte. Daran würde er sich erst mal gewöhnen müssen … aber trotzdem ‒ deswegen musste sie doch nicht gleich völlig abtauchen.

Kurzerhand wählte er ihre Nummer und hörte: Diese Nummer ist nicht vergeben.

 

Mitte September, Clemens war bereits auf dem Sprung, nach Gießen umzuziehen, um dort sein Studium zu beginnen, hielt er die Ungewissheit nicht mehr aus. Er fuhr zu Rebekkas Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter lebte, um sie persönlich treffen. Vor der einen Spalt offen stehenden Haustür wollte er wie gewohnt den dritten Klingelknopf von oben drücken und stutzte, weil ein anderer Name auf dem Schild stand. Mit einem unguten Gefühl im Bauch betrat er den Hausflur und traf glücklicherweise auf eine Nachbarin, die er kannte. Es war ein Zufall, denn sie hatte einen Korb in der Hand und wollte einkaufen gehen. Eigentlich mochte er sie nicht, weil sie so eine furchtbar neugierige Person war.

„Hallo, Frau Bertram“, hielt er sie auf, „ich wollte zu Rebekka und …“

„Ach, das weißt du nicht?“ Argwöhnisch beäugte sie ihn. „Na dann bist du aber lange nicht hier gewesen … sie wohnt nicht mehr hier“, erklärte die ältere Frau wichtigtuerisch. „Und ihre Mutter ist auch weggezogen. Vor Wochen schon … ich weiß das auch nur deshalb, weil ein Möbelwagen vor der Tür stand. Aber wo sie hingezogen sind, musst du selbst rausfinden. Das weiß ich nicht.“

Wie ein geprügelter Hund verließ Clemens das Haus und war maßlos enttäuscht. Es war ihm unbegreiflich, dass Rebekka, ohne ihm ein Wort zu sagen, weggezogen war. Einfach so! Er verstand die Welt nicht mehr.