Leseprobe Ein Viscount von zweifelhaftem Ruf

1. Kapitel

Ouse Tower, Bedfordshire March 1819

Padraig, der Irische Wolfshund von Nathanael, Viscount Fotherby, öffnete ein Auge und schloss es wieder, als es an der Tür zum Arbeitszimmer klopfte.

Nate studierte gerade einen Plan zur Bepflanzung. Jetzt blickte er auf. „Ja, Hulatt, was gibt es?“

„Mr. Beamish, der Detektiv, den Sie angeheuert haben, möchte mit Ihnen sprechen. Er sagt, es sei dringend.“ Der Ton des Butlers zeigte deutlich, dass er den Besucher nicht schätzte. Was Hulatt gegen den Mann hatte, wusste Nate nicht. Und warum hatte Beamish den weiten Weg zurückgelegt … wenn nicht …

„Ich möchte ihn empfangen.“

„Wie Sie wünschen, Mylord.“ Die Tür schloss sich hinter Hulatt.

Sie waren schon mehreren falschen Fährten gefolgt, aber wenn Beamish das Mädchen tatsächlich gefunden hatte, hatte es sich gelohnt. Wenig später öffnete sich die Tür erneut und Beamish trat ein. Der Mann war mittelgroß, hatte glattes, braunes Haar und braune Augen. Jemand, der niemandem besonders auffallen würde. Man hatte ihn Nate empfohlen – er sei der Beste im Aufspüren vermisster Personen, doch es hatte viel länger gedauert als erwartet.

Er blieb vor Nates Schreibtisch stehen.

„Bitte nehmen Sie Platz. Ich nehme an, Sie sind sich dieses Mal sicher.“

„Ja, Mylord. Sie lebt unter ihrem eigenen Namen in einem Arbeitshaus. Das ist kein Irrtum.“ Der Mann schürzte die Lippen. „Und sie hat ein Kind.“

Nate lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich bin nicht überrascht. In welchem Arbeitshaus ist sie?“

„Das ist eine weitere gute Nachricht. Sie ist in Whitechapel. Da ist es nicht so schlimm wie anderswo. Trotzdem sollten Sie sie bald abholen, wenn Sie das vorhaben.“

Beamish hatte recht. Whitechapel war nicht annähernd so schlimm wie St. Giles oder Seven Dials, aber es war auch nicht das beste Viertel.

Nate warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach vier Uhr nachmittags.

„Ich nehme an, Sie wollen die Nacht hier verbringen.“

„Ja, Mylord. Ich habe ein Zimmer im Gasthaus am Ouse Run. Ich habe die Postkutsche genommen, sobald ich sicher war, dass sie es ist.“

„Ist sie bei guter Gesundheit?“ Davon hing ab, wie bald sie sie nach Hause bringen konnten. Wenn sie einwilligte, mitzukommen.

„Sie ist nur noch Haut und Knochen.“ Beamish redete nicht um den heißen Brei herum. „Und dort bekommt sie auch nichts auf die Rippen.“

„Ich danke Ihnen. Mr. Odell möchte vielleicht mit Ihnen sprechen, wenn ich ihm sage, dass wir sie gefunden haben.“

Odells ältester Sohn hätte Miss Bywater heiraten sollen, doch er war gestorben, bevor die Zeremonie stattfinden konnte. Danach war sie verschwunden. Ihre Eltern wollten nicht über sie sprechen und Odell hatte sich an Nate gewandt und um Hilfe bei der Suche nach ihr gebeten.

„Ich werde nach ihm Ausschau halten.“ Der Detektiv stand auf. „Ich habe eine Kutsche in Bedford gemietet und möchte die Postkutsche nach London erreichen.“

„Vielleicht kann ich Ihnen eine Fahrgelegenheit organisieren. Allerdings keine so schnelle.“

„Danke, Mylord, aber ich muss so schnell wie möglich zurück.“ Der Mann verbeugte sich.

„Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen wieder helfen kann.“

„Das werde ich. Ich danke Ihnen.“

Hulatt, der im Korridor gewartet hatte, begleitete Mr. Beamish hinaus und kam dann wieder ins Arbeitszimmer. „Ich habe mir erlaubt, nach Mr. Odell zu schicken.“

„Danke. Es scheint, dass ich morgen in die Stadt fahre. Bitte sagen Sie dem Kutscher Bescheid.“

Nate sah sich in dem Zimmer um. Anfangs war es ihm wie ein Gefängnis vorgekommen, doch seit ein paar Jahren war es sein Zufluchtsort. Die Vertäfelung, Regale und Schränke waren alle aus dunkler, fast schwarzer Esche. Ein Jahr nachdem man ihn aufs Land zurückgeschickt hatte, hatte er die blauen Wände mit cremefarbener Seide tapezieren und Gardinen in der gleichen Farbe aufhängen lassen. Seitdem wirkte das Zimmer heller und freundlicher.

„Wissen Sie, ob meine Mutter hier ist?“

„Sie ist in ihrem Salon, Mylord.“

Nate nickte. „Danke.“

Nachdem sein Butler gegangen war, öffnete er die Tür zum Büro seines Sekretärs. „Ich fahre morgen früh in die Stadt. Bitte legen Sie mir alles, was ich bearbeiten muss, zum Mitnehmen hin und sorgen Sie dafür, dass die gesamte Korrespondenz nach Fotherby House geschickt wird. Sie kommen nach, sobald Sie bereit sind. Bringen Sie auch Padraig mit.“

„Wie Sie wünschen, Mylord.“ Falls Chetwin überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Seine unerschütterliche Ruhe und sein gesunder Menschenverstand waren die Gründe, warum Nate ihn eingestellt hatte, als er den alten Sekretär in den Ruhestand schicken musste. Er schloss die Tür. Er wollte überhaupt nicht in die Stadt, aber es musste sein. Er musste sich um Miss Bywater kümmern, und es war Zeit, dass er seinen Sitz im House of Lords wieder einnahm und sich wieder in der feinen Gesellschaft sehen ließ. Außerdem wurde er bald neunundzwanzig, da wurde es auch Zeit, dass er sich eine Frau suchte. Seine Mutter würde sich darüber freuen, doch er fürchtete sich davor, in die Mitte der oberen Zehntausend zurückzukehren.

Er ließ sich Zeit, als er den vertrauten Weg zum Flur und die Treppe hinauf zum Salon seiner Mutter zurücklegte. Bevor er an die Tür klopfte, holte er noch einmal tief Luft. Wenn er diesen Weg einmal eingeschlagen hatte, würde sie nicht zulassen, dass er umkehrte. Das hatte er aber auch gar nicht vor. Es war seine Pflicht und Schuldigkeit, zu heiraten und für Nachwuchs zu sorgen.

„Komm herein!“ Seine Mutter legte ihr aufgeschlagenes Buch in den Schoß, sah ihn an und lächelte. „Was für eine schöne Überraschung! Ich dachte, ich sehe dich erst beim Abendessen.“

Er trat vor und küsste sie auf die Wange, die sie ihm hinhielt. „Wir haben Miss Bywater gefunden. Ich fahre morgen in die Stadt.“

Sie sah ihm mit ihren scharf blickenden Augen – türkisblau wie seine – forschend ins Gesicht.

„Ich werde die ganze Saison dort bleiben.“

Sie nickte zustimmend. „Ich bin froh, dass du endlich so weit bist. Vier Jahre sind lang genug.“

„Ja, aber wir wissen doch beide, dass es notwendig war.“

Wenn Nate sein damaliges Ich mit dem jetzigen verglich, war er erstaunt, wie sehr er sich verändert hatte. Wie sehr er sich hatte ändern müssen. Sie legte ihr Buch auf den kleinen, runden Kirschtisch neben ihrer Liege. „Ich plane für diese Saison einige Veranstaltungen. Vielleicht sogar einen Ball.“

Nate nahm an, dass sie es für ihn tun wollte, und senkte den Kopf. „Sehr gut. Ich nehme die Reisekutsche, aber ich schicke sie dir zurück.“

„Danke. Vielleicht lege ich mir in dieser Saison eine eigene Kutsche zu.“ Sie hoffte eindeutig, dass er heiraten würde.

„Wir haben später noch genug Zeit, das zu besprechen. Ich muss wieder nach unten. Ich erwarte Mr. Odell jeden Moment.“

„Wir sehen uns beim Abendessen.“

„Bis dann.“

Er war gerade wieder in seinem Arbeitszimmer, als sein Butler kam und Odell ankündigte. Der ältere Mann schien vor Anspannung ganz zappelig zu sein, doch das konnte man ihm nicht vorwerfen. Nate forderte Odell mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen, und der Besucher setzte sich auf den gleichen Stuhl wie zuvor der Detektiv.

„Wir sind also sicher, dass sie es ist?“

„Ja. Sie lebt unter ihrem eigenen Namen im Arbeitshaus in Whitechapel.“

Hulatt brachte ein Teetablett und Nate schenkte ein.

„Wir sollten morgen früh aufbrechen. Ich habe Pferde entlang der Great North Road nach London postieren lassen.“ Er reichte Mr. Odell eine Tasse. „Der Detektiv sagte, sie sei sehr abgemagert. Ich schlage vor, dass wir meine ältere Reisekutsche mitnehmen, damit Sie in dieser zurückfahren können.“

„Nicht nötig, Mylord. Wir haben unsere eigene Kutsche. Wenn ich mit Ihnen reisen darf, kann meine Frau mit meiner Kutsche nachkommen.“

Nate lächelte vor sich hin. Der Mann war ein wohlhabender Bauer, also kein Landadliger, und er wollte Nate auf keinen Fall mehr zu verdanken haben als unbedingt nötig. „Wenn Ihnen das besser passt. Da ist aber noch etwas.“

Mr. Odell blickte auf.

„Sie hat ein Kind. Ich weiß nicht, wie sein Gesundheitszustand ist.“

Odell kniff die Lippen zusammen. „Ich bin nicht überrascht. Wenn der Herrgott meinen Sohn nicht so früh zu sich gerufen hätte, hätten sie vor seinem Tod geheiratet. Wir werden sie beide aufnehmen und froh sein. Das Kind ist das Einzige, was von meinem Sohn geblieben ist.“

„Seien Sie bei Sonnenaufgang hier.“ Je schneller sie London erreichten, desto sicherer war Miss Bywater.

Der Mann stand mit mehr Energie auf, als er hereingekommen war. „Das werde ich.“

Nate trat hinter seinem Schreibtisch hervor und reichte ihm die Hand, die Mr. Odell ergriff und herzlich schüttelte. „Ich bin froh, dass wir sie gefunden haben.“

„Und wir sind mehr als froh über ihre Hilfe.“ Odell lächelte nicht, aber in seinen Augen schimmerte ein Funken Hoffnung. „Die Landluft und gutes Essen wird beide wieder gesund machen.“

„Werden Sie es Bywater sagen?“ Die Familien waren einst eng befreundet gewesen.

„Dafür sehe ich keinen Grund.“ Odell schob angriffslustig das Kinn vor. „Wenn Emily es erlaubt, werde ich sie adoptieren. Und ihren Namen in Odell ändern. Ihren und den des Kindes. Mein Sohn hätte es so gewollt.“

„Ja, Sie haben sicher recht.“ Die Familie hatte alles versucht, um das Paar noch vor John Odells Tod zum Altar zu bringen, angefangen von dem Versuch, den örtlichen Pfarrer zu überreden, die beiden zu trauen, obwohl das letzte Aufgebot nicht verlesen worden war, bis hin zur Erlangung einer Sondergenehmigung, die ihnen aufgrund ihres Status verweigert worden war. „Bis morgen.“

„Nochmals vielen Dank, Mylord.“

Nate begleitete ihn zur Haustür. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, und er hoffte, dass er nicht mehr lange anhalten würde. „Grüßen Sie Ihre Frau von mir und gehen Sie schnell nach Hause, bevor Sie zu nass werden.“

„Das werde ich tun.“ Odell winkte ihm zum Abschied zu. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.“

Nate schaute seinem Nachbarn nach. Sein Angebot, das Mädchen zu suchen, war nur ein Schritt zur Wiedergutmachung gewesen, und er war froh, dass er es getan hatte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie Miss Bywaters Leben und das ihres Kindes verlaufen würde, wenn sie nicht gefunden worden wären.

Am nächsten Morgen war es kalt, aber klar. Das war an sich schon ein Segen, denn es bedeutete, dass die Straßen nicht im Schlamm versinken würden. Padraig folgte Nate zur Tür.

„Es tut mir leid, Junge, aber du kannst diesmal nicht mitkommen.“ Er strich dem Hund über den Kopf. „Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder.“

Mr. und Mrs. Odell warteten schon auf ihn, als Nate nach draußen kam. „Ich hätte Ihnen gerne einen Tee angeboten.“

„Als ob ich das nicht wüsste, Mylord“, sagte Mrs. Odell, eine mollige, gutmütige Frau. „Aber wir haben schon gefrühstückt und ich habe eine Kanne Tee eingepackt. Sie beide machen sich auf den Weg und ich komme nach. Ich weiß nicht, wie groß der Abstand zwischen uns werden wird – unsere Pferde sind keine solchen Vollblüter wie Ihre –, aber wenn Sie mir sagen, wo wir uns treffen wollen, werde ich so schnell wie möglich kommen.“

Wahrscheinlich würde sie ein gutes Stück hinter ihnen zurückbleiben. Aber die Kutsche schien gut gefedert zu sein, und wenn die Pferde auch nicht zueinander passten, so waren sie doch gehorsame Tiere.

„Kommen Sie zum Fotherby House in der Grosvenor Street. Wir erwarten Sie dort.“

Nate hätte gern einen Pferdewechsel in einem Gasthof angeboten, doch bisher hatte nur seine Mutter die Reise gemacht, deshalb war er nicht sicher, ob an jedem Rastplatz mehr als ein Gespann zur Verfügung stand. „Fahren wir.“ Er verbeugte sich vor Mrs. Odell. „Wenn Sie gestatten, sorge ich bei der ersten Rast für einen Pferdewechsel. Dann geht es schneller.“

„Das nehme ich gern an.“ Ihre grünen Augen leuchteten vor Freude. „Je schneller wir da sind und unser Mädchen und das Baby abholen, desto besser.“

Nate sandte ein kurzes Gebet zum Himmel, dass Mutter und Kind bei guter Gesundheit und reisefähig sein würden. Erst dann fiel ihm etwas ein. „Was für ein Dummkopf ich bin. Ich muss ja meine Kutsche für meine Mutter zurückschicken. Sie können in meiner Kutsche zurückfahren und müssen nicht Ihre eigene nehmen.“

Mrs. Odell schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot. Aber wenn es Emily oder dem Kind schlecht geht, dauert es vielleicht ein paar Tage, bis wir zurückkönnen.“

„Es war nur eine Idee.“ Es war frustrierend, wenn man mehr tun wollte und es nicht durfte.

„Eine gute sogar.“ Mrs. Odell lächelte. „Auf Wiedersehen. Und gute Reise.“

„Danke, gleichfalls.“ Er stieg in seine Reisekutsche. Mr. Odell küsste seine Frau und stieg zu Nate in die Kutsche. Bis zur Hauptstraße fuhren sie hinter der Kutsche der Odells her, überholten sie jedoch bald. Die Sonne war noch nicht untergegangen, stand jedoch tief am Himmel, als sie das Arbeitshaus am Nachmittag erreichten. Sie waren gut vorangekommen und hatten nur zum Pferdewechsel gehalten. Nate hatte die Köchin einen großen Proviantkorb packen lassen, so konnten sie etwas essen, ohne Zeit für Pausen zu verschwenden.

„Ich sage Ihnen, Mylord, ich könnte nicht in London leben. Der Gestank ist ja nicht auszuhalten.“ Odell schaute aus dem Fenster, als sie vor dem lang gestreckten Backsteinbau hielten.

Nun, Whitechapel war nicht die beste Gegend der Stadt. Trotzdem hatte Nate nicht mit solchen Zuständen gerechnet. Und sicher wollten die meisten Leute hier nicht nachts herumlaufen.

Die Kutschentür ging auf und ein Diener ließ die Stufen hinunter.

„Möchten Sie, dass ich mit hereinkomme? Nur bis Sie sie sehen dürfen? Ich weiß nicht, was üblich ist.“

Der ältere Mann runzelte die Stirn. „Das wäre vielleicht gut. Einem Adligen verweigern sie sicher nichts.“

„Ja, das denke ich auch.“ Die Verhältnisse waren traurig, aber immerhin konnte Nate die Sache beschleunigen. „Sobald Sie bei ihr sind, gehe ich wieder nach draußen und warte hier.“

Odell nickte. „Danke.“

Das rußgeschwärzte Gebäude erstreckte sich die Straße entlang. In der Mitte war ein Eingang mit Torbogen. Männer, Frauen und Kinder standen vor dem einzigen Eingang Schlange. Früher wäre Nate ohne Bedenken an ihnen vorbeimarschiert, doch in den letzten vier Jahren war er bescheiden geworden. Dennoch gehörte er zum Adel und hatte gewisse Rechte. Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen Begleiter. Odell trug seine gute Wolljacke und Kniehosen, doch man würde von ihm verlangen, dass er sich anstellte.

Nate nahm seinen Gehstock und stieg aus der Kutsche. „Gehen Sie zur Tür und kündigen Sie mich an.“

„Ja, Mylord.“ Der Diener eilte davon und Nate wartete auf Mr. Odell.

Odell starrte die lange Schlange an. „Langsam glaube ich, es ist gut, dass Sie dabei sind, Mylord.“

Nate gestattete sich ein kleines Lächeln. „Dann und wann sind wir Adligen doch für etwas gut.“

Der andere Mann errötete. „Mylord, Sie wissen doch, dass ich …“

„Ich bin nicht beleidigt. Kommen Sie, dann finden wir Ihre Tochter.“ Er stieg die Stufen hinauf und die Tür ging auf.

Ein Mann wollte Mr. Odell aufhalten, doch Nate winkte ab. „Wir sind wegen einer Sache hier, die ihn betrifft.“

Sie betraten die Halle und sein Diener sprach mit einer dünnen, streng blickenden Frau, unter deren Haube nur ein paar stahlgraue Löckchen hervorschauten.

„Hier ist Seine Lordschaft.“ Sein Diener verbeugte sich. „Mylord, das ist Mrs. Rankin.“

Nate gab der Frau seine Karte. „Ich bin Fotherby. Mein Begleiter, Mr. Odell, will Miss Bywater und ihr Kind mit nach Hause nehmen.“

Mrs. Rankin, eine finster dreinblickende Frau mittleren Alters, runzelte die Stirn.

„Wir suchen schon nach ihr, seit sie verschwunden ist, und haben erst gestern erfahren, wo sie ist. Mrs. Odell wartet bei mir zu Hause auf sie.“

„Warten Sie bitte hier“, sie öffnete die Tür zu einem kleinen, einfach eingerichteten Wohnzimmer, „ich hole Sie, Mylord.“

Ein junges Dienstmädchen brachte ein bescheiden gedecktes Teetablett und stellte es auf den einzigen Tisch. Nate goss Tee ein und fügte Zucker und dünne, bläuliche Milch hinzu.

Odell nahm seine Tasse. „Wenn sie nichts Besseres zu bieten haben, ist es kein Wunder, dass mein Mädchen zu dünn ist.“

Ein paar Minuten später ging die Tür auf und Emily Bywater trat ein. Nate hatte sie nur ein oder zwei Mal gesehen, bevor John gestorben war, und London war ihr nicht gut bekommen. Ihr einst goldenes Haar war stumpf und das Gesicht aschfahl.

„Emily.“ Odell hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern schloss sie gleich in die Arme. „Wir haben ewig nach dir gesucht. Mrs. Odell ist hier oder kommt gleich. Wir nehmen dich und das Baby mit nach Hause, wo ihr hingehört.“

„Ich kann nicht mitkommen. Mein Vater …“

„Wir können ihn völlig außen vor lassen, es sei denn, du möchtest es anders.“ Er wich zurück. „John hätte gewollt, dass du zu uns kommst.“

Emily liefen Tränen übers Gesicht. Sie nickte und wischte sie weg.

Nate war neben der Tür stehen geblieben. Jetzt schlüpfte er hinaus und ließ die beiden allein. Es überraschte ihn nicht, dass Mrs. Rankin noch in der Halle war.

„Bitte lassen Sie das Kind herunterbringen. Mein Diener wird Miss Bywaters Sachen packen.“

Als sein Diener und das Dienstmädchen gegangen waren, trat Nate hinaus in die Dämmerung. Eine schwarze Kutsche aus der Stadt fuhr vorbei. Er schaute sich noch einmal nach dem Gebäude um und war eine Beute widerstreitender Gefühle. Zufriedenheit, weil er den Odells geholfen hatte, und Frustration, weil er nicht mehr Leuten helfen konnte. Aber vielleicht konnte er doch mehr tun. Es gab sicher viele Wohltätigkeitsorganisationen, die seine Hilfe gern annehmen würden.

2. Kapitel

Merton House, Grosvenor Square, Mayfair, London

„Miss, was sollen wir tun?“ Toby, der Junge, den sie für Botengänge und alle möglichen Tätigkeiten angeheuert hatten, wandte sich an Henrietta Stern.

„Wo ist Mrs. Perriman?“

Sie und ihre Schwester Dotty, Marchioness of Merton, hatten geholfen, viele Kinder und Kleinkinder zu retten, während Henrietta bei ihrer ersten Saison in der Stadt gewesen war. Doch dann war ihre Schwester schwanger geworden und sie hatten Mrs. Perriman – sie war sowohl die Witwe als auch die Tochter eines Armeeoffiziers und leitete ihre Wohltätigkeitsorganisation Phoenix Society – gebeten, die Rettungsaktionen zu organisieren. Normalerweise hätte Henrietta nicht gezögert, aber sie war noch nie allein gegangen.

„Sie ist unterwegs und ich weiß nicht, wann sie wiederkommt.“ Toby trat zerknirscht von einem Bein aufs andere.

„Der Junge, der die Nachricht gebracht hat, sagte, dass die Mutter des Babys gestorben ist und dass es dem Baby schlecht geht.“

Es gab nur eine Möglichkeit. „Ich werde gehen.“ Henrietta hatte die kurze Nachricht von jemandem, der kaum des Schreibens mächtig war, gelesen – der Absender hatte ein Baby zu verkaufen. „Wir müssen ein Kindermädchen holen.“

„Miss Henrietta!“ Parkin, der Butler ihres Schwagers, machte große Augen. „Die Lady und der Lord wären nicht damit einverstanden!“

„Ich gehe ja nicht nach St. Giles oder an einen noch schlimmeren Ort. Es wird noch eine ganze Stunde hell sein. Wenn wir dieses Kind jetzt nicht retten, stirbt es vielleicht!“

Die strenge Miene des Butlers wurde nicht milder.

„Ich nehme Cullen mit.“ Von Mertons großen Dienern war er der größte. Henrietta argwöhnte, dass der Mann früher Soldat gewesen war wie so viele der Diener. „Ich bin also in Sicherheit.“ Sie würde auch die Manton-Pistole mitnehmen, die extra für sie angefertigt worden war.

„Sie brauchen auch einen Stallburschen“, sagte der Butler.

Henrietta atmete erleichtert auf. Parkin war nicht begeistert von ihrem Vorhaben, aber er würde sie nicht aufhalten. „Ja, natürlich. Danke.“

Sie zog ein robustes dunkelblaues Serge-Kleid an, das die Schneiderin zu Hause angefertigt hatte, setzte einen schlichten Hut auf, steckte die Pistole in die Tasche, die sie in ihren Mantel genäht hatte, und nahm ein paar Münzen aus der Schatulle, denn sie würde Geld brauchen. Die Stadtkutsche, die nicht mit einem Wappen verziert war, wartete am Straßenrand.

„Die Adresse ist ganz in der Nähe des Arbeitshauses von Whitechapel. Wir müssen uns beeilen. Ich möchte zurück sein, bevor es dunkel wird.“

„Ja, Miss.“ Der Diener trug jetzt Alltagskleidung. Er schloss die Kutschentür hinter ihr und die Kutsche wankte, als er auf den hinteren Dienersitz stieg. Die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern und die Sonne stand schon tiefer am Himmel, als Henrietta lieb war. Doch die Aussicht, wieder ein Kind zu retten, war das Risiko wert. Außerdem waren ja drei Diener bei ihr. Allerdings würden zwei von ihnen in der Kutsche bleiben. Trotzdem konnte Cullen allein für ihre Sicherheit garantieren.

Eine große Reisekutsche versperrte die Straße beinahe, aber sie kamen daran vorbei und überholten sie. Es war immer noch hell, doch die Sonne ging unter. Die enge Straße und die hohen Gebäude machten es auch nicht besser.

Der Kutscher öffnete die Luke im Dach. „Die Straße, die wir suchen, ist gleich hier links.“

Der Diener öffnete die Tür und half ihr beim Aussteigen.

„Ich bleibe ein Stück hinter Ihnen – nur für den Fall, dass Ihnen jemand Böses will.“

„Danke.“

Die Gefahr bestand immer. Es geschah nicht oft und in Whitechapel bisher nie. Doch dann und wann kam die Person, die ein Kind verkaufen wollte, auf die Idee, dass es noch einträglicher wäre, eine Dame zu entführen und Lösegeld zu verlangen. Deshalb trugen sie und ihre Schwester immer eine Pistole bei sich, wenn sie auf eine Rettungsmission gingen. Der Diener würde gerade so weit hinter ihr zurückbleiben, dass niemand sie von hinten angreifen konnte. Allerdings waren es nicht immer Männer, die Kinder verkauften. Oft gaben Frauen, die sich nicht um ihr Baby kümmern konnten oder wollten, es ab, aber nie ohne Bezahlung. In den schlimmsten Fällen roch der Atem des armen Babys nach Schnaps. Es war immer ein Kampf, das Kind wieder gesund zu machen.

Sie befühlte ihre Manteltasche, um sich zu vergewissern, dass die Pistole noch da war, und hielt die Handtasche mit den Münzen in der anderen Hand. Normalerweise freute sie sich darauf, das Kind in Empfang zu nehmen, doch heute verspürte sie ein Kribbeln im Nacken und war wachsamer als sonst. Warum fanden diese Übergaben immer in schmalen Straßen oder Gassen statt?

„Ich bin bereit.“ Henrietta machte sich auf den Weg die Straße hinunter. Sie ging nicht schnellen Schrittes, sondern gemessen, und achtete sehr auf das, was um sie herum geschah. Die tägliche Schlange vor dem Arbeitshaus hatte sich aufgelöst und der Rest der Straße war fast völlig menschenleer. Eine Sekunde lang war sie versucht umzukehren, doch ein Kind war in Gefahr und sie musste ihm helfen.

Dennoch wollte sie ihre düsteren Vorahnungen nicht abschütteln. Das Schlimmste, was sie tun konnte, war, das Gefühl der Gefahr zu ignorieren. Sie bog um die Ecke in eine Straße, die so schmal war, dass sich die Häuser auf beiden Seiten fast in der Mitte trafen. Ein paar Häuser weiter standen zwei Männer auf dem Bürgersteig. Sie trugen abgewetzte Jacken und Hosen, waren beide überdurchschnittlich groß und hatten dunkelblondes Haar. Sie sahen aus, als wären sie in den Dreißigern, hätten aber auch jünger sein können. Einer von ihnen hielt ein Bündel auf dem Arm – einen eingewickelten Säugling. Ohne sich umzudrehen, ging Henrietta weiter vorwärts, bis sie etwa einen Meter von ihnen entfernt war, gerade außerhalb ihrer Reichweite. Sie achtete darauf, den Dialekt zu sprechen, der auf dem Land üblich war.

„Ich komme vom Wohlfahrtsverband, um das Baby abzuholen.“

„Zeigen Sie mir das Geld“, sagte der Mann, der das Baby hielt. Das Bündel in seinem Arm rührte sich nicht.

„Es ist hier drin.“ Sie hob den Beutel hoch, damit sie ihn sehen konnten. „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann bekommen Sie das Geld.“

„Ich glaube, wir nehmen lieber dich anstelle des Geldes.“ Der andere Mann grinste sie an. Henrietta griff in ihre Tasche und umklammerte die Pistole. „Das glaube ich nicht. Ich bin wegen eines Babys gekommen. Wenn Sie eines bei sich haben.“

Der Mann warf das Bündel in die Luft und fing es wieder auf – ein schwacher Schrei ertönte. „Es ist zweifellos ein Baby.“

Sie wollten, dass sie in Panik geriet und nach dem Baby griff.

„Das Kind für das Geld. Das ist mein einziges Angebot.“ Es war jetzt fast völlig dunkel. „Und das am besten sofort.“

Der Mann mit dem Säugling hörte auf, es auf und ab zu werfen, doch der andere Mann streckte die Hand nach ihr aus.

„Miss, hinter Ihnen!“, rief Cullen und sie hörte ein Handgemenge. Henrietta lehnte sich mit dem Rücken an ein Gebäude, nahm ihre Pistole aus der Tasche, entsicherte sie und zielte auf den Mann, der sich ihr näherte. „Ich habe Ihnen ein Angebot gemacht.“

„Hier, nimm es!“ Der Mann, der das Baby hielt, warf es in ihre Richtung, während der andere Mann sich auf sie stürzte. Sie schoss auf den Mann, der nach ihr griff, und versuchte dann, das Kind aufzufangen, aber jemand anders kam ihr zuvor.

„Ich habe es“, sagte ein Mann.

Sie hörte das Geräusch von brechenden Knochen. Es konnte nicht Cullen sein, aber wer war es dann? Der Schurke, der versucht hatte, sie zu packen, lag am Boden, hielt sich den Bauch und jammerte. Sein Komplize war geflohen. Als sie sich umdrehte, hatte Cullen einen dritten Verbrecher niedergeschlagen.

Schließlich warf Henrietta einen Blick auf den Herrn – er hatte seine Stimme nicht verstellt –, der das Baby aufgefangen hatte. Sie hielt den Atem an. Selbst im schummrigen Licht sah er umwerfend aus. Er war größer als der Durchschnitt. Seine Beine steckten in einer Hose, die wie angenäht aussah, und in glänzenden Stiefeln. Seine breite Brust und seine Schultern waren von einer dunklen Jacke bedeckt. Sein Haar war schwarz oder dunkelbraun. Und wenn sie auch die Farbe seiner Augen nicht erkannte, so sah sie doch das Mitgefühl in ihnen.

Sie ließ die Tasche mit den Münzen neben dem Schurken fallen, den Cullen niedergeschlagen hatte.

„Danke, Sir.“

Er starrte sie einige Augenblicke lang an, dann schüttelte er den Kopf, wie um wieder klar zu sehen. „Ich fürchte, ich kann nicht bleiben und mit der Polizei sprechen.“ Er blickte hinter sich. „Ich muss gehen. Es warten noch andere auf mich. Ich helfe einem Nachbarn, seine Tochter wiederzufinden.“

Henrietta konnte sich nicht vorstellen, was Merton sagen würde, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen würde. Es würde ihm nicht gefallen. „Ich werde mit meiner Rückfahrt noch etwas warten, vielleicht kommt ja schon bald jemand. Sonst wird sich mein Schwager darum kümmern.“

Der Herr schien darüber nachzudenken, dann sagte er: „Ich verstehe, was Sie meinen.“ Er bot ihr den Arm. „Würden Sie mir erlauben, Sie zu Ihrer Kutsche zu begleiten? Es liegt auf meinem Weg.“

„Ja. Danke.“ Ihre Anspannung löste sich und sie lächelte. „Darüber wäre ich sehr froh.“ Henrietta legte ihm die Hand auf den Arm, und sofort begannen ihre Finger zu kribbeln, als wären sie vorher kalt gewesen und würden nun erwärmt. Sie blickte zu ihm auf und er auf sie herab. Er lächelte ein wenig schüchtern, und sie lächelte zurück. Er trug das Baby auf dem anderen Arm, als hätte er reichlich Erfahrung mit dem Tragen von Kindern. Cullen folgte ihnen, bis sie die breitere Straße erreichten, dann eilte er voraus, um die Kutschentür zu öffnen. Henrietta war froh, dass kein Polizist in Sicht war. Sie hatte ihre Pistole wieder in die Tasche gesteckt, hielt sie jedoch immer noch umklammert. Sie hatte noch nie auf einen Menschen geschossen und wusste nicht, ob sie den Schurken getötet hatte oder nicht. Er hatte es verdient, erschossen zu werden, aber natürlich nahm der Vorfall sie mit.

Der Herr blieb vor der Kutschentür stehen. „Ich wünsche Ihnen, dass der Abend besser weiter geht, als er angefangen hat.“

„Ich hoffe, Sie haben Erfolg bei dem, was Sie tun.“ Im Licht der Kutschenlampen konnte sie sehen, dass er zwar ordentlich gekleidet war, seine Kleidung jedoch nicht von einem Londoner Schneider stammte und auch nicht der neuesten Mode entsprach.

Er warf einen Blick auf die andere Kutsche und schürzte die Lippen. „Ich denke, das läuft wirklich sehr gut.“

Sie nahm die Hand von seinem Arm. „Nochmals vielen Dank und auf Wiedersehen.“

Er wollte sich umdrehen und hielt inne. „Ich bin froh, dass ich Ihnen helfen konnte.“

Henriettas Herz klopfte heftiger. „Ich auch.“

Er starrte sie wieder an, öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und sagte dann: „Vielleicht sehen wir uns wieder.“

Was hatte er sagen wollen? Sie warf einen Blick auf die große Reisekutsche. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zurück aufs Land. Die Aussichten, dass sie sich wiedersehen würden, waren gering.

„Das würde mich freuen.“

„Ich nehme an, Sie wollen das Baby mitnehmen.“

„Ja, natürlich. Darum bin ich hier.“ Henrietta konnte nicht glauben, dass sie das Kind fast vergessen hatte. Das arme Ding war so still.

„Bitte, erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.“ Er hob sie in die Kutsche und gab ihr das Kind.

„Ich danke Ihnen.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Er wartete, während Henrietta das Kind in eine Flanelldecke wickelte. „Ich muss los.“

„Ich auch.“ Er ging und sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Kind zu. Sie fragte sich, wie schlecht es dem Säugling ging. Wenn sie nur etwas hätte tun können, bevor sie in Merton House ankam, doch das konnte sie nicht. Das Baby musste gefüttert werden. Erst dann wusste sie, ob es einen Arzt brauchte. Zum Glück hatten sie einen guten, an den sie sich jederzeit wenden konnten. Auch er war ein ehemaliger Soldat.

In der Reisekutsche brannten Lichter und sie sah einen älteren Mann und ein Mädchen, das in ihrem Alter sein mochte. Die beiden starrten aus dem Fenster und warteten auf den Herrn. Er hatte gesagt, er würde einem Nachbarn helfen. Sie hoffte, dass sie heute Abend nicht mehr weit fahren mussten.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung und fuhr in die Richtung, aus der sie gekommen war. Henrietta schaute ihr nach, konnte sie jedoch nicht gut sehen. Was für ein Jammer, dass sie diesem Herrn nicht in der Saison begegnen würde!

Das Baby begann zu wimmern, und sie drückte es fest an sich. Es war zu leicht und zu kalt, aber es lebte noch. „Du bekommst bald etwas zu essen, mein Schatz. Ab jetzt wird dein Leben viel schöner. Das verspreche ich dir.“

Zum Glück herrschte zu dieser Tageszeit nicht mehr so dichter Verkehr und die Rückfahrt dauerte nicht so lange wie die Hinfahrt. Zu Hause angekommen, öffnete Cullen die Tür. Sie übergab ihm das Baby, stieg die Stufen hinunter und nahm ihm das Kind wieder ab.

„Es muss sofort gefüttert werden.“ Henrietta verzichtete darauf, das Baby von dem Kindermädchen begutachten zu lassen. „Holen Sie den Arzt.“

„Ja, Miss.“ Cullen ging die Treppe hinunter.

Henrietta raffte ihre Röcke zusammen und eilte mit dem Baby auf dem Arm zum Kinderzimmer hinauf. Mit klopfendem Herzen übergab sie das Kind dem Kindermädchen. „Ich fürchte, seine Gesundheit ist in Gefahr.“

Mrs. Roberts, das Kindermädchen, nahm das Kind. „Wenn es trinkt, ist schon viel gewonnen.“ Sie zog die Decke beiseite und ein kleiner Kopf mit feinem hellen Haar kam zum Vorschein.

Henrietta schloss die Augen und betete, dass das arme kleine Ding trinken würde.

„So ist es gut, mein Schatz“, sagte Mrs. Roberts.

Gott sei Dank. Henrietta wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Sie können es jetzt bei mir lassen. Wenn ich fertig bin, werden wir herausfinden, was wir hier haben.“

„Danke.“ Henrietta blinzelte noch ein paar Tränen weg. „Ich hatte schon befürchtet, es wäre zu spät.“

Das Kindermädchen lächelte. „Diesmal nicht.“

3. Kapitel

Henrietta machte sich auf den Weg zu ihren Zimmern und starrte aus dem Fenster in den dunklen Garten hinunter. Ihr liefen Tränen über die Wangen. Nicht wegen des Mannes, den sie vielleicht getötet hatte. Sondern wegen des unschuldigen Kindes, das diese Verbrecher ausgenutzt hatten, um an sie heranzukommen. Vielleicht hatten sie einfach nur spontan die Gelegenheit ergriffen, doch sie waren zu dritt gewesen, und einer der Schurken hatte sich versteckt.

Hatten sie so etwas schon einmal getan – eine Frau entführt, die ein Baby abholen wollte? Die Wohltätigkeitsorganisation ihrer Schwester war nicht die einzige, die versuchte, Kinder zu retten, indem sie Geld für sie anbot. Die Verhältnisse, unter denen so viele der Armen litten, waren herzzerreißend. Henrietta konnte sich nicht vorstellen, ein Kind weggeben zu müssen. Aber viele von ihnen würden ihren ersten Geburtstag nicht erleben und für diejenigen, die es schafften, gab es wenig Hoffnung.

Wenn die Regierung nur hilfreiche Gesetze erlassen würde. Sie wusste, dass Merton und seine Freunde es versuchten. Neue Arbeitshäuser waren geplant. Doch sie glaubte nicht, dass das reichen würde. Es musste wirklich etwas geschehen. Aber was? Eine große Reform.

Henrietta gab sich einen Ruck. Sie – oder jemand anders – musste einen brauchbaren Plan schmieden. Doch bis dahin konnte sie nur mit ihrer jetzigen Arbeit weitermachen. Immerhin würden die Kinder, die sie bei sich aufnahmen, ein besseres Leben haben.

Ein Dienstmädchen trat ein, zündete die Lampen an und machte Feuer.

„Ich habe gleich alles fertig, Miss.“ Ihre Zofe gab ihr eine Tasse Tee. „Mr. Parkin hat mir gerade gesagt, dass Sie zurück sind. Ich dachte, Sie könnten eine schöne Tasse Tee vertragen. Der Doktor ist vor dem Lord und der Lady angekommen.“

„Ich danke Ihnen.“ Henrietta wischte sich die Tränen weg und trank dankbar den Tee. Wenn Merton die Geschichte erfuhr, würde er „ein ernstes Wort“ mit ihr reden wollen. „Danke, dass Sie es mir sagen, Spyer. Wo ist Seine Lordschaft?“

„Sie sind beide im Kinderzimmer.“ Spyer reichte Henrietta ein feuchtes Tuch. „Am besten gehen Sie zu ihnen, wenn sie bei Lady Vivienne sind.“

Das waren wahre Worte. Merton war vernarrt in seine drei Jahre alte Tochter. Nächstes Jahr um diese Zeit würden sie ihr zweites Kind haben.

„Ich gehe gleich hin.“ Henrietta machte sich auf den Weg in das Kinderzimmer ihrer Nichte Vivienne.

Dort flackerte ein Feuer im Kamin und sorgte für Wärme in dem gemütlichen Zimmer, das ganz in Hellgelb gestrichen war, damit es hell wirkte. Nur ein paar Kerzen brannten noch und ein Dienstmädchen räumte die Reste von Viviennes Abendessen weg. Dotty saß auf einem Stuhl und schaukelte ihre Tochter, doch ihr Blick war derweil auf ihren Mann gerichtet. Cyrille, Mertons Kartäuser-Katze, strich Merton um die Beine, dieser saß zurückgelehnt auf einem Stuhl neben Dotty und las dem kleinen Mädchen ein Buch vor.

Als die Zofe gegangen war, lehnte sich Henrietta an den Türrahmen und lauschte. Sie wusste, dass die Vorlesestunde heilig war und nicht gestört werden durfte. Das Kindermädchen kam zurück und wärmte die Laken von Viviennes Bett an. Bald fielen dem kleinen Mädchen die Augen zu und als ihr gleichmäßiger Atem verriet, dass sie eingeschlafen war, legte ihre Mutter sie ins Bett und deckte sie zu. Dottys Blick fiel auf ihre Schwägerin und deren Kleid, denn Henrietta hatte sich nicht umgezogen.

„Ich verstehe. Du möchtest uns etwas erzählen?“

Henrietta richtete sich auf und nickte. „Es ist ein Baby auf dem Flur. Allerdings gab es einigen Ärger, als wir es abgeholt haben.“

Dottys Lippen wurden schmal. „Wo war Mrs. Perriman?“

„Unterwegs, um sich um ein anderes Kind zu kümmern.“ Henrietta erzählte, was Toby ihr gesagt hatte.

Ihre Schwester wies auf das schlafende Mädchen und ging in den Flur. „Musstest du unbedingt sofort losfahren?“

„Laut der Nachricht, die ich bekommen hatte, ja. Sogar Parkin fand, dass ich sofort aufbrechen sollte. Ich habe Cullen mitgenommen.“

Merton hatte das Buch wieder ins Regal gestellt und kam nun zu ihnen. „Sehen wir uns erst einmal unseren neuen Gast an. Dann können wir darüber reden.“

Sie begegneten dem Arzt, als er gerade das Zimmer verließ, in dem das Baby untergebracht war. „Eins der Kindermädchen badet sie gerade. Sie hat Wunden am ganzen Körper.“ Er verzog das Gesicht. „Bisse von irgendwelchem Ungeziefer, denke ich. Und sie ist stark unterernährt. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Sie hätte nicht mehr lange gelebt.“

Als Henrietta das hörte, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. „Danke, Doktor.“

Er verbeugte sich. „Ich sehe in zwei Tagen wieder nach ihr.“ Seine Miene verlor etwas von ihrem Ernst. „Vielleicht haben Sie dann einen Namen für sie gefunden.“

„Einen Namen für sie auszusuchen, ist viel erfreulicher, als sich um ihre Gesundheit zu sorgen“, sagte ihre Schwester.

Sie betraten das Zimmer und sahen zu, wie das Kindermädchen Salbe auf die Bisse schmierte. Henrietta schauderte. Wie konnte jemand zulassen, dass einem Kind so etwas geschah? Noch dazu einem, das noch so klein war?

„Es war gut, dass du sie geholt hast“, sagte Dotty.

Merton nickte zustimmend.

Henrietta hätte das Baby nur zu gern auf den Arm genommen, aber sie wusste, dass es unklug wäre, das Kind lieb zu gewinnen. Das hatte sie schon einmal getan und es hatte ihr das Herz gebrochen, sich von dem Kind trennen zu müssen. Sie würde kein Kind mehr auf den Arm nehmen, außer wenn sie es abholte, keins mehr füttern oder mit ihm spielen. Auch jetzt zwang sie sich, die Hände und das Herz von dem Kind zu lassen.

Sie gingen in Mertons Arbeitszimmer, wo Henriette es sich auf dem weichen Lederstuhl bequem machte. Ihre Schwester saß auf dem Sofa. Merton gab ihnen Gläser mit Wein und setzte sich neben seine Frau.

„Erzähl uns genau, was passiert ist.“

Sie erzählte ihnen die ganze Geschichte. „Wir hatten Glück, dass der Herr vorbeigekommen ist.“

Dotty trank einen Schluck Wein. „Ein Jammer, dass wir seinen Namen nicht wissen.“

„Den erfahren wir wohl auch nie.“ Henrietta hätte es auch gern gewusst, doch ihr war klar, dass es nie dazu kommen würde. Er konnte überall im Land leben. „Wahrscheinlich wird er morgen nach Hause fahren.“ Sie war froh, dass sie gegangen war, doch es war sicher das letzte Mal gewesen, dass man sie hatte allein gehen lassen.

Merton räusperte sich. „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass hilfsbereite Fremde zur Stelle sind. Ich muss sicherstellen, dass dir mehr als ein Diener zur Verfügung steht, wenn so etwas wieder passiert.“ Er sah sie über sein Glas hinweg bedeutungsvoll an. „Das darf aber nicht zur Gewohnheit werden. So etwas gibt Stoff für Klatschgeschichten. Ich werde auch jemanden anheuern, der Mrs. Perriman unterstützt.“

An Tratschgeschichten hatte Henrietta noch gar nicht gedacht. Sie hätte beinahe protestiert und gesagt, es sei ihr egal, aber ein Skandal war nie angenehm. „Da hast du natürlich recht.“

Er lächelte Dotty selbstzufrieden an und sie starrte zur Decke. „Sag ihm das bitte nicht zu oft. Seine Mutter und ich haben ewig gebraucht, um ihm klarzumachen, dass er nicht unfehlbar ist.“

Henrietta grinste. Sie hatte gehört, wie eingebildet Merton gewesen war, bevor er sich in ihre Schwester verliebt hatte. „Ich versuche es zu vermeiden.“ Sie stellte ihr Glas hin und stand auf. „Ich sollte mich zum Abendessen umziehen.“

„Wir sehen uns im Salon“, sagte Merton. „Bis dann.“

Henrietta fragte sich, was passieren würde, wenn sich herumsprach, dass sie ein Kind gerettet hatte und weder ihre Schwester noch ihr Schwager dabei gewesen waren. Ihre Eltern würden stolz auf sie sein, vor allem ihr Vater. Aber er war wohl eher die Ausnahme als die Regel. Papa war Pfarrer gewesen, bevor sein älterer Bruder gestorben war und er den Titel des Barons geerbt hatte. Er hatte Ideen für Reformen gehabt, die anderen Menschen helfen sollten, und manche Leute hatten seine Vorstellungen radikal gefunden. Er meinte sogar, dass es den Adel nicht geben sollte. Aber das hieß nicht, dass sie einfach irgendwen heiraten konnte. Ihr künftiger Mann musste erlauben, dass sie weiterhin die wohltätige Arbeit ihrer Schwester unterstützte, auch wenn sie selbst bei der Rettung von Kindern mit anpacken musste. Dieser Anspruch schränkte die Liste der Heiratskandidaten schon erheblich ein.

Ihre Gedanken kehrten zu dem Mann zurück, der ihr geholfen hatte. Leider hatte es keinen Sinn, an ihn zu denken. Entweder hatte er London schon verlassen oder würde es bald tun.

***

Nate warf einen Blick über die Schulter, doch die Kutsche der Dame bog schon um die Kurve. Als sie ihn mit ihren arrogant hochgezogenen Augenbrauen angesehen hatte, hatte er sie im ersten Moment für Dotty Stern gehalten, doch das konnte nicht sein. Miss Stern hatte den Marquis of Merton geheiratet, kurz nachdem Nate vor vier Jahren die Stadt verlassen hatte. Merton würde seiner Frau sicher nicht erlauben, solchen Tätigkeiten nachzugehen. Allerdings sah die Dame aus wie Miss Stern vor vier Jahren. Wer auch immer sie war, sie war wunderschön. Rabenschwarzes Haar und Augen wie Sterne. Am meisten beeindruckt hatte ihn jedoch ihr Mut. Er war noch nie einer Frau begegnet, die so ohne Weiteres eine Waffe zog und einen Mann niederschoss. Sie war eine Dame – das war deutlich geworden, sobald sie ihren ländlichen Dialekt abgelegt hatte –, doch sie war nicht wie eine Dame gekleidet gewesen, die an der Saison teilnehmen würde. Gute Stoffe, aber nicht die Arbeit einer Londoner Schneiderin. Früher, als er ein stadtbekannter Dandy gewesen war, waren ihm solche Dinge wirklich wichtig gewesen. Er konnte die Unterschiede immer noch erkennen, aber sie bedeuteten ihm nichts mehr. Jetzt interessierte er sich viel mehr für die Person und nicht mehr für die Art, wie sie sich kleidete. Da er jedoch ein Herr war und sie eine Dame, konnte er sich nicht aufdrängen, indem er sich ihr vorstellte. Das war Pech.

Er hoffte, dass das Kind überleben würde. Die meisten Babys hätten laut geschrien, wenn sie geworfen worden wären. Dieses hatte nur matt gewimmert.

Ihre Kutsche fuhr in schnellem Tempo davon. Er begab sich zu seinem eigenen Wagen; Mr. Odell, Miss Bywater und ihr Kind saßen schon drin.

„Sie sind bereit zur Abreise?“

„Ja.“ Nate hatte Odell noch nie so breit lächeln sehen wie jetzt, als er das Kind im Arm hielt. „Emily will unsere Tochter sein, so, als wären sie und John verheiratet gewesen.“

Emilys Tränen waren versiegt. Auch sie lächelte. „Ab jetzt bin ich Emily Odell.“

„Wie heißt das Kind?“ Nate stieg in die Kutsche.

„John, nach seinem Vater. Papa“, sie warf Mr. Odell einen schüchternen Blick zu, „sagt, dass er die gleichen Rechte haben wird wie ein eheliches Kind.“

Nate war nicht überrascht. Odell und seine Frau hatten mehrere Töchter, die alle gut geheiratet hatten, und noch einen Sohn. Der jüngere Sohn studierte Jura und hatte nur wenig Interesse an dem Hof. Und es gab keine Klauseln, die Odell und seine Frau daran hinderten, das Eigentum zu vermachen, wem sie wollten.

Heute war wirklich ein guter Tag gewesen.

Nate erwiderte ihr Lächeln. „Das freut mich zu hören.“

„Papa …“ Nate freute sich, dass es ihr so leicht fiel, Odell „Papa“ zu nennen. Aber sie kannte ihn wohl auch gut. Nate wunderte sich, dass sie nicht gleich zu den Odells gegangen war, doch das war nicht mehr wichtig und ging ihn auch nichts an, „… hat mir erzählt, wie gründlich Sie nach mir gesucht haben“, sagte Emily, als die Kutsche abfuhr. „So einen guten Menschen wie Sie werde ich nie wieder treffen, und wenn ich hundert werde!“

Nate stieg eine heiße Röte in die Wangen. „Danke. Ich bin froh, dass ich Ihnen helfen konnte.“

Die Kutsche hatte gewendet und fuhr wieder die Straße hinauf.

„Mrs. Odell sollte in Fotherby House angekommen sein.“ Er beschloss, die Frage zu stellen, die ihn beschäftigte. „Wie haben Sie überlebt?“

„Oh, oh.“ Sie straffte die Schultern. „Mr. Bywater hat mich weggeschickt. Aber meine Mutter hat mir all das Geld gegeben, das sie gespart hatte, und ich habe Arbeit als Näherin bekommen. Doch dann kam das Baby …“

„Nun“, Odells Stimme klang rau, „immerhin warst du so vernünftig, ins Arbeitshaus zu gehen. Nur deshalb haben wir dich gefunden.“

„Ja.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich hatte keine andere Wahl.“

Nate und der ältere Mann wechselten einen Blick. Sie waren beide froh, dass sie so dachte. Nur allzu viele junge Frauen und Mädchen, die auf sich gestellt waren, endeten als Prostituierte.

In Fotherby House erfuhren sie, dass Mrs. Odell gerade angekommen war. Nates Haushälterin, Mrs. Garford, hatte seine Gästezimmer herrichten lassen und angeordnet, dass Bäder eingelassen wurden und eine kalte Zwischenmahlzeit serviert wurde, damit sie bis zum Abendessen nicht verhungerten.

„Wie Sie wissen, Mylord, tue ich mein Bestes, bis die anderen Hausangestellten kommen.“

„Ich weiß. Und ich weiß es auch zu schätzen.“

Ein Diener, den er nicht kannte, stieg die Treppe hinauf und trug zwei Taschen. Mrs. Odell war gut vorbereitet.

„Zum Glück haben wir genug Angestellte für Sie und Ihre Gäste.“

Aber auch nur, weil die Haushälterin darauf bestand, dass sie mehr Personal hatten als unbedingt nötig, selbst wenn die Familie nicht anwesend war.

Ein anderer Diener brachte eine seiner Taschen hinein und Nate war seinem Kammerdiener dankbar. Er hatte keinen Gedanken an Kleidung verschwendet. „Das übrige Personal wird morgen oder jedenfalls bald eintreffen.“

Mrs. Garford nickte. „Was glauben Sie, wie lange Sie und Ihre Gäste hierbleiben werden?“

Da Miss By… – nein, Miss Odell – zwar abgemagert, doch ansonsten bei guter Gesundheit war, würde es nicht lange sein. „Es würde mich nicht wundern, wenn sie morgen oder übermorgen abreisen würden. Ich frage Mr. Odell, wenn sie sich eingerichtet haben.“

„Sehr gut, Mylord. Ich kümmere mich jetzt um das Abendessen. Es wird in etwa zwei Stunden fertig sein. Nichts Besonderes, ich hatte wenig Zeit.“ Sie sah aus, als würde sie über etwas nachdenken, und sagte: „Würden Sie lieber im Frühstückszimmer essen?“

„Ja, bitte.“

Er brauchte keine Extravaganz und in dem Zimmer war es immer warm und gemütlich. Er hatte vergessen zu fragen, ob die Odells mit ihm essen wollten. Wenn nicht, würde er mitten im Prunk allein essen – oder vielleicht ohne Prunk, aber sehr allein.

Ein anderer Diener kam vorbei.

„Sie da!“

Der Diener blieb stehen.

„Bitte sagen Sie Mr., Mrs. und Miss Odell, dass ich mich freuen würde, wenn sie in etwa zwei Stunden mit mir zu Abend essen würden. Um das Kind wird sich eine Zofe kümmern.“

„Ja, Mylord.“

„Ich bin in meinen Gemächern.“ Nate rief es dem Mann nach, der die Treppe hinaufeilte, und hoffte, dass er es gehört hatte. Dann zuckte er die Achseln. Man würde ihn schon finden.

Der Diener fand ihn tatsächlich, als er gerade im Badezimmer zuschaute, wie die Wanne gefüllt wurde. „Mrs. Odell sagte, dass sie gern mit Ihnen essen würden, Mylord.“

„Danke. Wie heißen Sie?“

Der junge Mann errötete. „Garford, Mylord. Mrs. Garford ist meine Tante.“

Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass Verwandte von Dienstboten eingestellt wurden. Und das war keine schlechte Sache. Unter den oberen Zehntausend waren viele der Meinung, ihre Verwandten seien unfehlbar, doch Diener duldeten keine schlampige Arbeit von Angehörigen. Sie waren zu Verwandten sogar strenger.

„Sie wusste sicher, was sie tut.“

„Danke. Wenn Sie eine Vertretung für Ihren Kammerdiener brauchen, bis er eintrifft, erfülle ich diese Aufgabe gern.“

„Danke. Das wäre mir sehr recht.“ Nate dachte daran, dass der Mann vielleicht eine Ausbildung zum Kammerdiener machen wollte.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. „Ich sage es Mrs. Garford.“ Er wollte zur Tür hinaus, doch Nate hielt ihn zurück. „Wenn Sie Kammerdiener sein wollen, müssen Sie lernen, Ihre Nachrichten von anderen schicken zu lassen.“

Garfords Augen weiteten sich. Dann fiel sein Blick auf den Jungen, der das Badewasser einließ. „George, wenn du wieder nach unten gehst, sag bitte Mrs. Garford, dass ich Seine Lordschaft bediene.“

Der Junge zwinkerte ihm zu. „Ich mache es sofort.“

Nate band seine Krawatte ab und warf sie über einen Stuhl, während sein zeitweiliger Kammerdiener das Wasser testete und ein Handtuch an einen Haken am Feuer hängte, um es aufzuwärmen. Während sich Nate in das heiße Wasser sinken ließ und am liebsten gleich ins Bett gegangen wäre, packte Garford seine Sachen aus. Aber er musste an die Odells denken. Zum Glück würde es nicht spät werden, denn sie wollten sicher am nächsten Morgen früh aufbrechen, um nach Hause zu fahren.

Nachdem er gebadet und sich umgezogen hatte, ging Nate ins Wohnzimmer und seine Gäste gesellten sich dazu.

„Möchten Sie Wein oder Sherry?“

Mr. Odells kräftiges Organ hallte im Zimmer wider. „Danke sehr. Bitte Wein für uns alle.“

Nate war froh, dass er sich umgezogen hatte, denn seine Gäste hatten es auch getan. Sogar Emily trug ein anderes Kleid. Er goss ihnen ein und hob sein Glas. „Auf einen erfolgreichen Tag!“ Er sah Mrs. Odell an. „Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten.“

„Das liegt nur daran, dass Sie mir Pferde beschafft haben.“ Sie grinste. „Ich wurde noch nie so umsichtig behandelt.“ Auch sie hob ihr Glas. „Danke, dass Sie unsere Emily und das Baby gefunden haben. Ich glaube nicht, dass wir es ohne Ihre Hilfe geschafft hätten.“

Ein Diener kam herein und verkündete, dass das Abendessen fertig war.

„Wir essen im Frühstückszimmer. Dort ist es gemütlicher als im Esszimmer.“ Nate bot Mrs. Odell den Arm und sie errötete wie ein junges Mädchen.

„Sie setzen mir noch Flausen in den Kopf.“ Sie hakte sich bei ihm ein und lachte. „Ich komme mir vor wie eine vornehme Dame.“

„Genau.“ Mr. Odell schmunzelte. „Sie wird nicht auf dem Hof bleiben wollen.“

Sie reckte die Nase in die Luft und alle lachten.

Nate war froh, dass es eine einfache Mahlzeit war – Grillhuhn, Salat, Kartoffeln, Mohrrüben und Birnenkompott zum Nachtisch.

„Wer war die Frau von vorhin?“, fragte Miss Odell. Sie hatte sich etwas Huhn genommen.

„Sie arbeitet für eine Wohltätigkeitsorganisation, die Kinder rettet.“ Es war nicht nötig, ihr zu erzählen, dass immer eine Bezahlung angeboten wurde. „Ich konnte dabei helfen, das Baby abzuholen.“

Mrs. Odell nickte. „Sie war bestimmt froh, dass Sie da waren.“

Nate war es auch. Hätte er die Dame nur nach ihrem Namen fragen können! Doch vielleicht konnte er herausfinden, für welche Wohltätigkeitsorganisation sie arbeitete. Er fragte sich, wer oder was ihr Schwager sein mochte, wenn er ihr mit der Polizei helfen konnte. Vielleicht war er Anwalt.

Nate bestellte Tee und Portwein. Er und Mr. Odell hatten sich ein Glas Wein genehmigt, da stand Mrs. Odell auf. „Es war ein sehr schöner Abend, Mylord, aber jetzt ist es Zeit für uns, ins Bett zu gehen. Ich möchte morgen möglichst früh aufbrechen.“

„Natürlich.“ Nate begleitete sie zur Tür. „Ich hoffe, Sie schlafen gut.“ Er selbst genehmigte sich noch ein Glas des gespritzten Weins und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo Garford wartete.

„Sir“, sagte der jüngere Mann, „wollen Sie zum Schneider, während Sie hier sind?“

Nate war so überstürzt in die Stadt gefahren, dass er daran gar nicht gedacht hatte. Doch wenn er an der Saison teilnehmen wollte, brauchte er passende Kleidung. „Ja.“ Aber nicht von dem Schneider, zu dem er bisher gegangen war. Er hatte kein Interesse mehr an auffälliger Kleidung. Diesmal würde er zu Weston gehen. Nate war froh, dass er noch etwas Zeit hatte, bis die Saison begann. „Ja, ich denke, es muss sein. Ich schreibe Weston, dass ich seine Dienste benötige.“

„Sehr gut, Mylord.“ Garford half Nate aus seinem Jackett. „Ich bringe ihm die Nachricht gern morgen früh.“

„Danke.“ Ihm wurde bewusst, dass er eine vollständige neue Garderobe brauchte, und er freute sich nicht darauf. Doch es musste sein. Auch wenn er fand, dass seine Sachen noch gut genug waren, würde seine Mutter widersprechen. Plötzlich wäre er am liebsten auch wieder aufs Land gefahren. Doch wenn er die Dame fand und sie so viel gemeinsam hatten, wie er glaubte, hatte er vielleicht Glück und musste nicht die ganze Saison bleiben.