Leseprobe Ein Viscount auf Irrwegen

Prolog

Herbstsemester, 1796

Zweifellos war es eine Falle.

Der Right Honourable Matthew Forrester, Viscount Southerton, tappte wissentlich, sogar bereitwillig, hinein. Alle erforderlichen Voraussetzungen seien vorhanden, hatte er seinen Freunden versichert. Eine Herausforderung. Ein Risiko. Eine Wette. Und letzten Endes eine Falle. Einen geistigen Wettstreit wollte er das Spiel nicht nennen, denn die Vorteile lagen zu eindeutig auf seiner Seite.

Nur wenige Monate nach seinem elften Geburtstag war Matthew ein hoch aufgeschossener, ziemlich magerer, etwas tollpatschiger Junge, was seinem Vater missfiel. Außerdem störte es den Earl, dass sein Erbe zu Tagträumen neigte. Das hatte er immer wieder tadelnd erwähnt.

Nun saß Matthew vor dem Tribunal, die langen Beine ausgestreckt, die Arme vor der schmalen Brust verschränkt, und hoffte, eine möglichst lässige Pose eingenommen zu haben. Dabei dachte er an einen Bekannten seines Vaters, den er in der Bibliothek gesehen und der seine Fantasie beflügelt hatte. Diesen nonchalanten, fast respektlosen jungen Mann versuchte er jetzt nachzuahmen.

»Er grinst wie eine Forelle«, bemerkte ein Mitglied des Tribunals und beugte sich vor, sodass sein Oberkörper einen Schatten auf den Tisch warf. »Genauso grinste mich neulich ein Fisch an – bevor ich ihn filetierte.« 

Seine vier Beisitzer lachten, vor allem über die Wirkung, die der aggressive Scherz auf den jungen Viscount ausübte. Krampfhaft schluckte er, und sein Lächeln erlosch. Dann richtete er sich kerzengerade auf und straffte die Schultern.

»Immer wieder grinsen mich die Fische an«, fuhr das Mitglied des Tribunals fort. »Bis ich sie verspeise.«

Erneut hatte sich Matthew in der Gewalt. Er zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen starrte er vor sich hin, was den ungünstigen Effekt erzielte, dass seine hellgrauen Augen, die zu tränen begannen, völlig leblos aussahen – wie Fischaugen.

Belustigt hob der Anführer des Ordens eine Hand, um dem Lachen Einhalt zu gebieten. Rings um den länglichen Tisch trat tiefes Schweigen ein.

»Also, Forelle?«, begann der Leiter der Bishops in gelangweiltem Ton.

Sofort erklang neues Gelächter.

»Ein passender Name für dich. Nennen dich deine Freunde ›Forelle‹?«

Endlich blinzelte Matthew. Er wollte seine Lider abwischen. Aber diese Geste würde man sicher falsch interpretieren. Kein einziges Mitglied des Tribunals würde glauben, die Talgkerzen, die auf dem Tisch flackerten, hätten ihm das Wasser in die Augen getrieben. Und sie sollten ihn nicht für eine Memme halten, lieber für einen Fisch.

»Nennen sie dich so, Forelle?«, wiederholte der Erzbischof ungeduldig. Mit seinen vierzehn Jahren war er nicht viel älter als die anderen Mitglieder des Ordens, die ihn gewählt hatten, besaß jedoch die erforderliche Autorität.

»Nein«, antwortete Matthew schlicht. 

Missbilligendes Gemurmel war zu hören, und der Erzbischof hob die Brauen. »Nein?«

»Nein, Exzellenz, meine Freunde nennen mich nicht ›Forelle‹.« Nur widerstrebend kam die ehrerbietige Anrede über Matthews Lippen.

»So muss eine korrekte Antwort lauten.« Albion Geoffrey Godwin, Lord Barlough, gestattete sich ein dünnes Lächeln. »Doch sie erscheint mir trotzdem falsch.«

Verständnislos schaute Matthew ihn an.

»Sind wir nicht deine Freunde, Forelle?«, fragte der Erzbischof sanft.

»Ich glaube, darüber muss erst abgestimmt werden, Exzellenz.«

Der junge Lord Barlough nickte anerkennend. »Sehr gut. Aber das ist nur eine Formalität. Du bist hier, weil wir dich eingeladen haben. Und die Einladungen zu solchen Audienzen verschwenden wir an niemanden leichtfertig.«

Unbehaglich erinnerte sich Matthew an die ›Einladung‹. Zwei Ordensbrüder hatten ihn im Hof von Hambrick Hall gepackt, gefesselt und geknebelt, seine Augen verbunden und ihn in diesen Raum geschleppt, der im feuchten Kellergeschoss des Schulgebäudes lag. Von einer ›Audienz‹ zu sprechen, wenn es in Wirklichkeit um eine Art Gerichtsverhandlung ging – das war ein weiterer Beweis für die Gepflogenheit des Vereins, die Wahrheit mit harmlosen Phrasen zu verschleiern.

Der Erzbischof von Canterbanter … Beinahe grinste Matthew, als er an diesen Spitznamen dachte. Sicher wäre Lord Barlough furchtbar wütend, wenn er wüsste, wie verächtlich die Schüler außerhalb des Ordens den Namen aussprachen. Natürlich wollten viele von den Bischöfen aufgenommen werden. Matthew und seine engsten Freunde – die ihn nicht Forelle nannten – witzelten niemals über ›Canterbanter‹, wenn die Gefahr bestand, man würde sie belauschen. Überall konnten Spione lauern.

Seit Hambrick Hall gegründet worden war, existierte der Orden der Bishops. Nur die Eingeweihten kannten den Ursprung der Organisation. Innerhalb des Ordens wurden die historischen Fakten von Erzbischof zu Erzbischof mündlich weitergegeben – eine zweihundert Jahre alte Tradition. Für dieses Ritual hatte der erste Erzbischof einen ganz bestimmten, würdevollen Wortlaut ersonnen.

Matthew Southerton war nie besonders neugierig auf die Anfänge des Ordens oder diesen Verein selbst gewesen. Vor drei Jahren hatte sein erstes Semester an der Schule begonnen. Noch bevor er seine Truhe ausgepackt hatte, hörte er von den Bischöfen und vergaß sie jedoch bald wieder. Wann das Abendessen serviert wurde, interessierte ihn viel mehr. Als ein eher unauffälliger Schüler, entging er der Aufmerksamkeit des Clubs. Das hatte sich am Ende des letzten Semesters mit Mr Marchmans Ankunft geändert.

Die Ferien hatten die aggressive Stimmung des Ordens nicht gemäßigt. Wie Matthew befürchtete, hatten die Bischöfe diese Zeit fern von Hambrick Hall – während er geschwommen, gesegelt und mit seinen astronomischen Studien beschäftigt gewesen war – eifrig genutzt, um einen Plan zu schmieden, wie sie Marchman verunglimpfen konnten. Offenbar wollten sie erreichen, dass er der Schule verwiesen wurde.

Nur selten verhängten die Bischöfe milde Strafen. Eigentlich sprachen sie überhaupt keine aus. Dazu veranlassten sie andere Leute.

Während der Erzbischof Matthew betrachtete, nahm seine Miene beinahe freundliche Züge an. »Neulich hörte ich, wie einige Jungen ›South‹ zu dir sagten, Forelle. Eine Abkürzung deines Namens?«

»Ja, Exzellenz.«

»Und diese anderen Burschen? North. East. West. Das alles verstehe ich leider nicht.«

In Gedanken zuckte Matthew die Achseln und schwieg.

»Ihr nennt euch Compass Club, nicht wahr?«

Aus dem Mund des Erzbischofs hörte sich die Bezeichnung ziemlich kindisch an. Aber in Matthews kleinem Kreis wurde niemand mit ›Exzellenz‹ angeredet. Gewiss, manchmal nannten sie East ›Hoheit‹. Doch das war nett gemeint. Und dass sie noch sehr jung waren, ließ sich nun einmal nicht leugnen. »Ja, Exzellenz«, bestätigte er, »der Compass Club.«

Beinahe hätte er hinzugefügt: Die Todfeinde der Bishops. Das wäre allerdings zu dramatisch gewesen. Zudem würde er seine Trümpfe verfrüht ausspielen und verlieren. Dazu kamen noch die Schwierigkeiten, die ihm seine Stimme neuerdings bereitete. So bedeutungsvolle Worte wie ›die Todfeinde der Bishops‹« müssten niederschmetternd klingen. Wenn ihn seine Stimmbänder im Stich ließen, wie so oft in letzter Zeit, würde er bloß einen albernen, quietschenden Laut hervorbringen.

»Also gut, Forelle.« Lord Barlough räusperte sich. »Fühlst du dich dem Compass Club eng verbunden? Oder würdest du dich von diesem Verein lossagen und den Bishops unwandelbare Treue schwören?«

»Dazu würde ich mich entschließen, Exzellenz«, erwiderte Matthew ernsthaft und feierlich.

Nun lächelte der Erzbischof wieder, wobei sich sein hübsches Gesicht kaum verzog. »Gut. Dann musst du uns geben, was du versprochen hast.« 

Natürlich erwähnte er nicht, wie man dem Viscount dieses Versprechen abgerungen hatte – nämlich mit der Drohung, seine besten Freunde würden in Lebensgefahr geraten, wenn er sich widerspenstig zeigte. Dass Lord Barlough diesen Punkt ignorierte, überraschte Matthew nicht. Es hätte ihn sogar gewundert, wenn der Erzbischof auf die Methoden seiner Brüder eingegangen wäre. »Ja, ich habe es parat, Exzellenz.«

Ein Raunen ging um den Tisch herum. Als Matthew von den Fesseln befreit worden war, hatte Lord Barlough seine Kleidung gründlich durchsucht und nichts gefunden.

»Gib es uns.«

»Sehr gern, Exzellenz.« Bedächtig begann Matthew zu deklamieren: »Während der Regentschaft von Henry VIII., die von 1509 bis 1547 dauerte, kam es zu zahlreichen Veränderungen, vor allem, was die Rolle der katholischen Kirche in der Politik, der Rechtspflege und diversen Allianzen betraf. Als Henry den Thron bestieg, zog die Wahl seiner Braut – sie war die Witwe seines Bruders – Konsequenzen nach sich, deren Tragweite man damals noch nicht …« Abrupt verstummte er, weil der Erzbischof aufsprang.

»Zum Teufel, was soll das?«

»Was von mir verlangt wurde«, entgegnete Matthew in ruhigem Ton.

»Verdammt!« Ein Bischof schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sagtest du nicht, du würdest die Prüfungsfragen beschaffen?«

»Ja. Und das tat ich.« Ungerührt sprach Matthew weiter, und die Mitglieder des Tribunals starrten ihn entgeistert an. »Vielleicht werden euch meine nächsten Ausführungen helfen, das alles besser zu verstehen. Die wichtigsten Ereignisse in Henrys Ära waren die Erforschung der amerikanischen Küsten durch die Spanier und Portugiesen, die Ernennung Thomas von Aquins zum Erzbischof von York, die Exkommunikation Martin Luthers 1520 durch Papst Leo X. und im folgenden Jahr die Verleihung des Titels ›Verteidiger des Glaubens‹ an Henry für die ›Assertio Septem sacramentorum‹, die Verteidigung der sieben Sakramente gegen Luther …« Während Matthew über den letzten Punkt nachdachte, verhallte seine Stimme. »Darin liegt eine köstliche historische Ironie, die unser Rektor nicht zu würdigen weiß.« Der Reihe nach musterte er Lord Barlough und die anderen Bischöfe. »Dieses Publikum ebenso wenig, wie ich sehe …« Diesmal zuckte er tatsächlich die Achseln, nicht nur in Gedanken. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich muss noch die Entmachtung Kardinal Wolseys und die Ernennung Sir Thomas Mores zum Lordkanzler 1529 hinzufügen. Oft genug frage ich mich, ob er es bereute, diese Position übernommen zu haben … Aber ich schweife schon wieder ab. So ist Geschichte nun einmal. Findet ihr nicht auch? So viele Abweichungen und Konvergenzen, dass man manchmal die einzelnen Glieder studiert und die Gesamtheit der Kette vergisst …«

Langsam sank der Erzbischof auf seinen Stuhl zurück. Matthew hatte ihm offensichtlich allen Wind aus den Segeln genommen. »Das hast du auswendig gelernt«, bemerkte er ungläubig. »Die Antworten auf die Prüfungsfragen!«

»Nein, nur die Fragen. Die Antworten stammen von mir.«

In Lord Barloughs Gesicht erschienen hektische rote Flecken. »Packt ihn!«

Aber die Mitglieder des Tribunals saßen auf der anderen Seite des Tisches, und Matthew hatte seine Flucht bereits geplant, bevor er in diesen Raum gebracht worden war. Er sprang auf, versetzte dem Tisch einen vehementen Stoß, wobei es ihm gelang, zwei Bischöfe von den Stühlen zu schubsen und ein halbes Dutzend brennende Kerzen umzuwerfen.

»Haltet ihn auf!«, schrie der Erzbischof.

Doch da riss Southerton bereits die Tür auf und prallte gegen den Rektor.

»Hier bist du also«, sagte Mr Glasser in mildem Ton und musterte Matthews gerötetes Gesicht. Den Tumult hinter dem Jungen beachtete er nicht. Er hatte genug gesehen, um zu wissen, dass weder die Schule noch die Bischöfe in Flammen aufgehen würden. Letzteres bedauerte er sogar ein wenig. »Ich wollte nur feststellen, wie die Sitzung verläuft«, erklärte er und berührte die schmale Schulter des Viscounts. »Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob du diese Burschen über die Prüfungsfragen informieren würdest – ich kenne ihre Überredungskünste.« Nun warf er einen kühlen Blick auf das Tribunal. »Ein kleiner Unfall?« Lediglich Lord Barlough war geistesgegenwärtig genug, um den Rektor nicht erschrocken anzustarren. »Lasst euch nicht stören. Macht nur weiter. Was ich vor der Tür hörte, war hochinteressant.«

Während Mr Glasser eintrat, rappelten sich die gestürzten Bischöfe auf und wischten geschmolzenes Wachs von ihren Händen.

Dann drehte er sich zu den Schülern um, die im feuchtkalten Korridor standen. »Herein mit euch! Seid nicht so schüchtern. Hier drin ist Platz für euch alle.«

Die beiden ersten, die der Aufforderung nachkamen, waren Wachposten des Tribunals. Zögernd betraten sie den Raum, die Köpfe gesenkt, um dem Zorn in den Augen des Erzbischofs zu entrinnen. Genauso widerstrebend folgten ihnen Gabriel Whitney, Evan Marchman und Brendan Hampton – East, West und North genannt – und die anderen Schüler.

»Zu wenig Stühle?« Freundlich lächelnd schaute sich Mr Glasser um und schloss die Tür. »Nun, das macht nichts. Einige Jungs sollen sich auf den Tisch setzen.«

Auf dem Weg zu seinem Stuhl hielt Matthew inne und wandte sich höflich an den Rektor. »Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten, Sir?«

»Nicht nötig, ich bleibe hier.« An die Tür gelehnt, vereitelte Mr Glasser effektvoll jeden etwaigen Fluchtversuch. »Es fasziniert mich, dass sich so viele Schüler außerhalb des Klassenzimmers für Geschichte begeistern. Aber ich glaube, diese feuchten, schimmeligen Mauern fördern das historische Bewusstsein. Nun solltest du fortfahren, Lord Southerton. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du gerade über die heimliche Hochzeit des Königs mit Anne Boleyn referieren.«

»Nachdem Thomas Cranmer zum Erzbischof von Canterbury ernannt worden war …« Mit einem flehenden Blick entschuldigte sich Matthew bei seinen Freunden für das Drama, das er inszeniert hatte, las jedoch unverhohlene Belustigung in ihren Augen und wusste, dass sie ihm verziehen. »… wurde Henrys Ehe mit Catherine von Aragon …«

Allmählich erwärmte er sich für sein Thema. Wie sehr er solche Abenteuer liebte! 

Erstes Kapitel

September, 1818

In der Privatloge erklang herzhaftes Gelächter. Sie wartete, bis es verebbte, dann sprach sie weiter.

Noch bevor sie den nächsten Satz beendete, drang eine neue Lachsalve zu ihr, aus derselben Loge. Verdammt … Versuchte man absichtlich, ihre Darbietung zu stören?

Sie verstummte wieder und starrte über die Öllampen hinweg in die Richtung des Ärgernisses. Auf der kleinen Drury-Lane-Bühne standen vier andere Schauspieler und folgten dem Blick ihrer Kollegin. Das Publikum, größtenteils männlich, wandte sich ebenfalls zu der Privatloge. Wer darin saß, wussten die Zuschauer im Gegensatz zur Hauptdarstellerin – nämlich der Marquess von Eastlyn und seine Freunde.

Zwischen den Kulissen ertönte eine laute Stimme. »Du kannst nicht erwarten, dass ich dich immer retten werde, Hortense …«

»Danke, ich kenne den Text«, unterbrach sie den Souffleur. »Aber ich weiß nicht, ob man mir erlauben wird fortzufahren.«

»Jetzt hast du's geschafft, East. Ich glaube, sie redet mit uns.« Der Earl von Northam zeigte auf die Bühne, wo Miss India Parr die Fäuste in den üppigen Falten ihres Kostüms verbarg und die Ellbogen nach außen streckte – die bemalten Lippen zusammengepresst, die dunklen Brauen so weit nach oben gezogen, dass sie beinahe unter den Ringellöckchen der gepuderten Perücke verschwanden. Diese übertriebene Demonstration zorniger Ungeduld hätte komisch gewirkt, hätte sie sich nicht so unmissverständlich gegen die Personen der Loge gerichtet.

»Ach, wirklich?« Der Marquess von Eastlyn neigte sich vor, betrachtete die Gestalt im Rampenlicht und erweckte den überzeugenden Anschein, die Unterbrechung würde ihn maßlos verblüffen. Seine wohlklingende Stimme erhoben, fragte er: »Müsste sie nicht ihren Text sprechen?«

»Eigentlich schon«, antwortete Evan Marchman, der neben East saß. »Du kannst nicht erwarten, dass ich dich immer retten werde, Hortense …«

Für diesen Versuch, dem Gedächtnis der Schauspielerin auf die Sprünge zu helfen, belohnte ihn das Publikum mit anerkennendem Kichern. Alle schauten ihn an – alle außer South, der Miss Parr beobachtete und ihr anmerkte, dass sie jeden Moment die Fassung verlieren würde.

Langsam stand er auf, denn er fühlte sich verpflichtet, die Situation zu retten. Immerhin war es sein unflätiger Scherz gewesen, der die Freunde zu schallendem Gelächter animiert hatte. Er beugte sich vor und schnitt eine Grimasse, als er die Finger spürte, die seine Rockschöße umklammerten. Glaubte Northam, der hinter ihm saß, allen Ernstes, er würde über die Logenbrüstung fallen? Geradezu absurd … Sogar im Halbschlaf könnte er an der Takelage eines Schiffs emporklettern, selbst bei hohen, von einem heftigen Sturm gepeitschten Nordseewellen. Mit klarer Stimme deklamierte er: »Du kannst nicht erwarten, dass ich dich immer retten werde, Hortense …«

Die Augen der Schauspielerin verengten sich. Dann trat sie vor und hob eine Hand, um das Rampenlicht zu verdecken und die Gentlemen in der Loge besser zu sehen. »Vielen Dank, Mylord. Offenbar kennen Sie das Stück. Soll ich jetzt weiterspielen? Oder möchten Sie meine Rolle übernehmen?«

Nun hatte sie ihre Nerven offensichtlich wieder unter Kontrolle und schien sogar gewillt, ihm tatsächlich das Feld zu überlassen. Dieses Angebot würde er ablehnen. »Verzeihen Sie mir.« Zerknirscht verneigte er sich, erst vor ihr, dann vor dem Publikum. »Bitte, fahren Sie fort.«

Miss Parr nickte, kehrte in den Lichtkegel zurück und nahm erneut die Pose ein, die ihre Rolle verlangte. Bei dieser Verwandlung, die auf fast magische Weise erfolgte, wirkte sie so überzeugend und professionell, dass sie donnernden Applaus erntete. Im Hintergrund des Zuschauerraums, wo es nur Stehplätze gab, trampelten die Männer und jubelten lauthals. Auch in der Loge des Marquess' von Eastlyn wusste man die hervorragende schauspielerische Leistung zu würdigen, was aber etwas dezenter bekundet wurde.

Nach dem letzten Vorhang verließen die vier Freunde das Theater nicht sofort. Stattdessen blieben sie in Easts Privatloge sitzen, während die anderen Zuschauer auf die Straße traten oder, was für zahlreiche hoffnungsvolle junge Lebemänner galt, die Garderoben ansteuerten.

Marchman zeigte auf eine kleine Gruppe, die zur Bühnentür ging. »Glauben sie ernsthaft, sie würden einen Blick auf die Dame erhaschen? Wahrscheinlich werden sie sich erfolglos den Hals verrenken und morgen einen steifen Nacken beklagen.«

»Würdest du das etwa nicht riskieren, um diese Schönheit aus der Nähe zu bewundern?«, fragte East, streckte die langen Beine aus und legte die Fingerspitzen über seiner Brust aneinander. Eine kastanienbraune Locke war ihm in die Stirn gefallen, und er machte sich nicht die Mühe, sie beiseite zu streichen. Unter schweren Lidern nahmen seine Augen einen schläfrigen Ausdruck an.

Einige Sekunden lang dachte Marchman über die Frage nach, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich möchte mich nicht Miss Parrs Rachsucht ausliefern, die zweifellos schmerzhaft wäre.«

»Also glaubst du, sie würde dir eine Ohrfeige verpassen?« East grinste amüsiert. »Mit der Faust oder mit der flachen Hand?«

Der Earl von Northam erkannte sofort, in welche Bahnen die Konversation geraten würde. Als Einziger der vier Gentlemen verheiratet, wenn auch erst seit kurzer Zeit, glaubte er zu wissen, wohin solche Konfrontationen führten. »Mit der offenen Hand. Darauf wette ich drei Shilling.«

»Ja, mit der offenen Hand«, stimmte Marchman zu.

East zuckte die Achseln. »Das wollte ich ebenfalls sagen. Aber ich wette nur, wenn South das Gegenteil behauptet. Was meinst du, South? Wird sie mit der flachen Hand oder mit der Faust zuschlagen?«

Der Reihe nach musterte Southerton seine Freunde mit kühlen grauen Augen. »Nun, ich würde sagen, das hängt davon ab, wer von uns sich in die Höhle der Löwin wagt.«

Entschieden hob North eine Hand. »Da kann ich nicht mitmachen. Noch vor Morgengrauen würde Elizabeth davon erfahren, und ich möchte ihr nicht erklären müssen, was ich in der Garderobe einer Schauspielerin zu suchen hatte.«

Seufzend verdrehte Marchman die Augen. »Du bräuchtest nur zu sagen, du wärst mit uns zusammen gewesen. Natürlich weiß sie, was da alles passieren kann.«

»Meine Frau leistet meiner Mutter Gesellschaft«, betonte North und strich sein goldblondes Haar aus dem Gesicht. »Sicher würde es mir gelingen, eine der zwei Frauen zu beschwichtigen. Aber nicht beide. Mit vereinten Kräften sind sie unschlagbar. Wie Wellington und Blücher bei Waterloo.«

Seine Freunde nickten mitfühlend. Natürlich würden sie den besiegten Napoleon niemals bedauern, doch sie wussten, dass Northams Vergleich den Nagel auf den Kopf traf.

Auch Eastlyn zog sich aus der Affäre. »So leid es mir tut, auch ich muss passen. Sonst würde ich zu viel riskieren.«

Marchman grinste boshaft. Neben seinem Mundwinkel erschien ein Grübchen. »Spielst du auf deine Verlobung an?«

»Nein, West – auf die Tatsache, dass ich nicht verlobt bin.«

Mit dieser Behauptung erzielte der Marquess keinen Erfolg. Marchman grinste immer noch. »Unsinn!« Mühelos fing er die Theaterkarte auf, die East ihm an den Kopf werfen wollte, und fächelte sich damit zu. »Jemand zeigte mir die Anzeige in der Gazette. Übrigens laufen einige Wetten im White's Club. Also muss eine Verlobung stattgefunden haben. Das hat jedenfalls deine Geliebte gesagt.«

»Meine ehemalige Geliebte setzte dieses Gerücht in die Welt.« Verärgert spürte East, wie sich seine Kinnmuskeln anspannten. Hinter seinem linken Auge begann sein Kopf zu schmerzen. »Noch schlimmer wäre es nur gewesen, hätte sie sich selbst als meine Verlobte bezeichnet.«

»Also lässt du dich nicht von Lady Sophia einfangen?«

»Von keiner Frau!«, betonte East ungeduldig. »Schau dir North an – dann verstehst du, warum ich die Ehe scheue wie der Teufel das Weihwasser.« 

Allzu bedrohlich wirkte Norths gerunzelte Stirn nicht. Natürlich konnte er nicht sagen, dieser Abend sei nicht amüsant gewesen. Doch er war erst seit kurzem verheiratet – und seine Ehe so ungewöhnlich, dass er sich bei jeder Trennung von seiner Countess unbehaglich fühlte. Statt auf seinem Landsitz in Hampton Cross das junge Liebesglück zu genießen, hielten sie sich auf Wunsch seiner Gemahlin in London auf, wo er mit seiner Mutter und seinen besten Freunden um ihre Aufmerksamkeit kämpfen musste.

»Die Ehe hat mich keineswegs in meiner Freiheit eingeschränkt.« Aus irgendeinem Grund fühlte er sich bemüßigt, darauf hinzuweisen. »Und falls ihr es vergessen habt – ich war es, der diesen Theaterbesuch vorschlug.«

»Nein«, widersprach Marchman, »das war Souths Idee, als wir dich allein zu Hause antrafen. Und da bist du völlig durcheinander gewesen.«

»Nun, ich hatte gerade überlegt, ob ich ausgehen sollte«, verteidigte sich North. Eine Zeit lang erlaubte er seinen Freunden, sich auf seine Kosten zu amüsieren, bevor er in das Gelächter einstimmte. »Wie bedauernswert ich bin …«, stöhnte er und wollte sich erheben. »Vielleicht sollte ich die Löwin in ihrer Höhle herausfordern.«

Entschlossen legte South eine Hand auf Norths Unterarm. »Bleib sitzen. Wir werden es nicht zulassen, dass du dir das Wohlwollen deiner Mutter und deiner Ehefrau verscherzt. Und East hat Recht, auch er darf nicht in die Garderobe gehen. Immerhin muss er an eine Geliebte und eine Verlobte denken. Also hat er genug am Hals. Und West können wir unmöglich hinschicken. Ist euch schon aufgefallen, dass er nie wieder von irgendjemandem angegriffen wird?«

Lächelnd wippte Marchman auf den Hinterbeinen seines Stuhls. »Ja, das stimmt. Darüber muss ich mal nachdenken.«

Southerton benutzte seine Stiefelspitze, um Wests Stuhl auf alle vier Beine zu stellen. »Überanstrenge dich nicht! Außerdem würde deine Erklärung unglaubwürdig klingen. Dein friedvolles Leben hängt nämlich mit dem Messer zusammen, das stets in deinem Stiefelschaft steckt. Und alle jungen Gentlemen in dieser Stadt wissen, wie gut du dein Schwert zu schwingen verstehst.«

Die Brauen erhoben, begann Marchman leise zu lachen. »Oh, du schmeichelst mir.«

»Natürlich«, bestätigte South trocken und stand auf »Gebt mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mir einen Weg durch das Gedränge vor Miss Parrs Tür bahnen kann.« Er rieb sich das Kinn, als würde er einen Schlag erwarten. »Übrigens könnt ihr das Geld schon jetzt herausrücken. An mir wagt sich niemand zu vergreifen, weder mit flacher noch mit geballter Hand.«

***

Wenn sie ihn auch ignorierte – sie entdeckte ihn sofort hinter der Schar ihrer Bewunderer, die sich in der Garderobe und vor der Tür versammelt hatten. Sie konnte nicht sicher sein, ob es sich wirklich um ihn handelte. Von der Bühne aus hatte sie, durch das Rampenlicht geblendet, lediglich dunkles Haar und helle Augen gesehen. Erst seine Stimme würde verraten, ob er es war.

Aber irgendwie wusste sie es schon jetzt. In ihrer Brust schien etwas zu zittern. Nicht ihr Herz, das pochte ruhig und gleichmäßig. Für diesen Teil ihres Körpers, der sich regte oder wie in diesem Fall seltsam flatterte, wann immer sie Tatsachen registrierte, hatte sie keinen Namen. Wie dieses Gefühl funktionierte, verstand sie nicht. Sie hatte nur festgestellt, dass es existierte. Und sie vertraute ihm. 

Geduldig wartete der Mann im Hintergrund, bis er an die Reihe kam und ihr seine Aufwartung machen konnte. Und plötzlich wollte sie ihn kennenlernen. Das Beben steigerte sich zu einem kraftvollen Pulsieren.

Mit einem höflichen Lächeln lauschte sie einem ihrer Verehrer. Gleichgültig, ob sie gepriesen oder verdammt wurde – India Parr zeigte der Öffentlichkeit stets dasselbe freundliche Gesicht. »Wie nett von Ihnen, das zu sagen«, murmelte sie bescheiden und wandte sich dem nächsten Besucher zu.

Obwohl die Menge dem Viscount nicht Platz machte, so wie sich das Rote Meer vor Moses geteilt hatte, traten einige Männer beiseite. In dieser Situation half ihm die Neugier seiner Bekannten oder der jungen Männer, die von ihm gehört hatten. Nachdem seine Entschuldigung von Miss Parr auf der Bühne akzeptiert worden war, fanden sie seine offenkundige Absicht, das Thema erneut anzuschneiden, ziemlich unklug.

Wie alt mag sie sein?, überlegte South. Auf der Bühne hatte sie reifer gewirkt – eine Schauspielerin, die eine junge Dame darstellte. Aber jetzt, wo sie nur wenige Schritte von ihm entfernt saß und die Schminke entfernte, die zur Person aus einem anderen Jahrhundert passte, erschien sie ihm viel jünger. Beinahe glaubte er, nun würde sie eine ältere Frau spielen. Er beobachtete ihre braunen Augen. Würden sie ihm einen Hinweis geben? Sie schimmerten so dunkel, dass die Iris fast mit den Pupillen verschmolz und schwarz aussah.

Und dann fiel ein Schatten über ihre Augen, und South blinzelte verblüfft. Hatte sie seinen forschenden Blick bemerkt? Fühlte sie sich davon bedroht? Er hatte sein Interesse nicht so deutlich zeigen wollen. Und er war auch sicher, dass er es nicht getan hatte. Er schaute die anderen 

Männer an, um herauszufinden, ob noch jemand diesen seltsamen Schatten wahrgenommen hatte. Seit India Parr nicht mehr im Rampenlicht stand, schien sie sich von ihrem Publikum zu distanzieren – geschützt von einer unsichtbaren Barriere, die South nicht abschreckte, sondern eher faszinierte.

Trieb sie etwa ein Spiel mit ihren Bewunderern?

Im Hintergrund des Raums drängte sich Indias Garderobiere durch das Getümmel. Mit der brüsken Entschlossenheit einer Person, die ihre Pflicht erfüllen wollte, schob sie die Verehrer beiseite. Ihr Rücken war leicht gebeugt, aber sie straffte die Schultern, als wolle sie sich noch nicht mit der Realität ihres Alters abfinden. Über ihrem Arm hingen mehrere Gewänder, die das Geräusch ihrer klatschenden Hände dämpften. »Gehen Sie bitte, Gentlemen!«, befahl sie in entschiedenem Ton. »Zweifellos ist Miss Parr eine großartige Künstlerin, die Ihre Lobeshymnen verdient. Doch jetzt braucht sie ihre Ruhe.«

Sie wies mit einer knappen Kopfbewegung zur Tür. Tiefe Falten entstanden rings um ihre verkniffenen Lippen. An ihrer rechten Wange zuckte ein großes braunes Muttermal zwischen drei erschreckend aggressiven Haaren. Ihre Nasenlöcher blähten sich. Sogar Miss Parrs tapfersten Anhänger wichen zurück, voller Angst, aus diesen schwarzen Öffnungen könnten Flammen lodern.

Und so zwängten sich die Männer in geballter Formation durch die schmale Tür. Langsam lichtete sich das Gedränge in dem kleinen Raum. Nur South blieb beharrlich stehen, obwohl er nicht überrascht gewesen wäre, wenn seine Rockschöße Feuer gefangen hätten. Irgendwo ertönten die vertrauten Stimmen seiner Freunde, die sich zwischen den flüchtenden Gentlemen Zugang zur Garderobe erkämpften. 

Mit einer höflichen Verbeugung vor der Schauspielerin stellte er sich vor. »Viscount Southerton.«

»Mylord …«

Ja, ihre Augen sind eindeutig braun, entschied er. Wie Fenster in der Nacht spiegelten sie sein Bild wider und verbargen, was dahinter liegen mochte.

»Ihr Diener, Miss Parr.«

Für den Bruchteil einer Sekunde erreichte ein kühles Lächeln seinen Blick. »Mein dreister Zwischenrufer, meinen Sie wohl.«

Für seinen Fauxpas entschuldigte er sich nicht noch einmal. »Ach, ich bin entlarvt. Also hat mich das blendende Licht nicht geschützt.«

»Doch – Ihre Stimme hat Sie verraten, weil sie unverwechselbar klingt.«

»Tatsächlich?«

»Zumindest für meine Ohren.«

South betrachtete diese Ohren – zierliche, rosige Muscheln. In perfekter Symmetrie lagen sie eng am Kopf an, und an jedem Ohrläppchen baumelten lange Gebilde aus falschen Diamanten. Als Miss Parr das Kinn hob, glitzerte der Schmuck. »Sehr hübsche Ohren«, bemerkte der Viscount.

Immer noch lächelnd, nahm sie die Gehänge ab und umschloss sie mit einer Faust. »Das wurde schon mehrmals konstatiert.« Nachdem Southerton sie eine Zeit lang wortlos angestarrt hatte, stand sie auf und fragte: »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen, Mylord?«

»Was? Oh, ja. Der Grund meines Besuchs … Bitte, schauen Sie nicht hin, aber hinter mir warten drei verrufene Gestalten auf dem Gang …« Prompt spähte sie über seine Schulter, und er seufzte. »Nein, schauen Sie nicht hin«, wiederholte er und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Diese Schurken sind Ihres Interesses wohl kaum würdig.«

»Offensichtlich Ihre Freunde, Mylord. Ich erkenne die Gentlemen an ihrem Gelächter.«

In der Tat, die drei lachten und erörterten die Einzelheiten einer weiteren Wette. Diesmal war es die Garderobiere, deren eigenartiges Verhalten die Belustigung der Freunde erregte. Unsanft schob sie die restlichen Verehrer ihrer Herrin zur Tür hinaus. Im sicheren Flur hofften East, West und North, nun würde sich die Schauspielerin um South kümmern.

»Erwecken Sie bitte den Eindruck, ich habe Sie beleidigt, Miss Parr«, bat er, »und schlagen Sie mich.«

»Entschuldigung?«

»Tun Sie's einfach. Ich möchte Sie nicht wirklich kränken. Und ich glaube, ein Schlag von Ihrer zarten Hand wird mir keine unerträglichen Schmerzen bereiten.«

Miss Parr schwieg eine Weile und musterte ihn. Dann fragte sie: »Sind Sie aus einer Irrenanstalt geflohen?« Anscheinend fand sie keine andere Erklärung für sein sonderbares Benehmen. Sie war nur neugierig, nicht alarmiert. Und sie schwebte auch nicht in Gefahr, denn sie musste lediglich schreien, und die Schar ihrer Bewunderer, die Mrs Garrety gerade verscheucht hatte, würde blitzschnell zurückkehren. Vermutlich würde ihr dieser Ansturm schlimmeren Schaden zufügen, als es dem seltsam sympathischen Viscount jemals gelingen mochte. »Wissen Sie etwa nicht, wohin Sie sich heute Nacht wenden sollen, Sir? Vielleicht kann Ihnen Mrs Garrety ein Zimmer besorgen.«

»Nicht nötig«, erwiderte er und klopfte auf sein Kinn. »Am besten schlagen Sie mich hier. Dafür bekomme ich neun Shilling. Meinen Gewinn würde ich gern mit Ihnen teilen.« Allerdings konnte er die Situation mit diesen Worten nicht erhellen.

Mit schriller Stimme jagte die Garderobiere noch einen Verehrer davon.

»Oh, bitte, Mrs Garrety!«, stöhnte die Schauspielerin. »Wenn es sein muss, rammen Sie den Eindringlingen einen Ellbogen zwischen die Rippen. Aber entfernen Sie die Gentlemen lautlos. Dieses Gekreische ertrage ich nicht mehr.«

South hob die Brauen. Draußen im Flur war der restliche Compass Club verstummt. Die letzten Bewunderer verschwanden, und Mrs Garrety schloss den Mund.

Nun wandte sich India Parr wieder South zu. »Wo waren wir stehen geblieben? Meine Ohren … Ihre Freunde … eine Beleidigung … Oh ja, vielleicht werden Sie jetzt wünschen, Sie hätten mich tatsächlich beleidigt.«

Und dann landete ihre Faust, von den falschen Diamanten beschwert, auf dem Kinn des Viscounts.

Seltsamerweise brachte ihn der Schlag aus dem Gleichgewicht, und er schwankte ein wenig. Als er die linke Seite seines Gesichts berührte, spürte er warmes Blut an seiner Hand, und sein Lächeln erlosch. »Oh, ich habe die scharfkantigen Ohrgehänge in Ihrer Hand vergessen.«

Indias Miene zeigte keine Reue. »Das dachte ich mir.« Über seine Schulter hinweg beobachtete sie seine Freunde, die Maulaffen feilhielten. Auch Mrs Garrety, die Kleider immer noch über einem Arm, sperrte Mund und Nase auf. »Wäre das alles, Mylord? Oder wollen Sie sich noch einen Fausthieb einhandeln?«

Da kehrte Southertons Humor zurück. »Nein, danke, einen zweiten würden meine Kieferknochen nicht verkraften.« Er zog ein Taschentuch hervor und betupfte seinen linken Mundwinkel. Obwohl India die Blutflecken auf dem weißen Leinen sah, entschuldigte sie sich nicht. »Wissen Sie, warum wir während der Aufführung gelacht haben, Ma'am?«, fügte er hinzu. »Ich fühlte mich bemüßigt, meinen Gefährten zu erklären, eigentlich sei das Stück eine Komödie, obwohl das nicht zum Ausdruck kam.«

»So lustig ist es gar nicht.«

In gespieltem Bedauern seufzte er. »Sie können nicht erwarten, dass ich Sie immer retten werde, Miss Parr.«

Bevor er die Garderobe verließ, legte er fünf Shilling – den größeren Teil seines Gewinns – auf den Toilettentisch.

***

South suchte sein Stadthaus nicht sofort auf. Seine Freunde stellten keine Fragen, als er verkündete, er müsse gewisse Geschäfte mit dem Oberst besprechen. Hin und wieder erledigten sie alle einen Auftrag für den Oberst – manchmal gleichzeitig, aber nur selten denselben. Das war auch besser so. Wenn sie ständig übereinander stolpern würden, könnte es zu Schwierigkeiten führen. Womöglich würde East jemanden erschießen. Marchman trug stets ein Messer bei sich. Und Norths Angelegenheiten waren kompliziert, was insbesondere für seine kürzlich geschlossene Vernunftehe mit Lady Elizabeth Penrose galt.

Verdammt unangenehm, diese Sache, dachte South, obwohl er die Dame mochte und die Heirat nicht zuletzt dank seiner Mithilfe zustande gekommen war. Auch das gehörte zu den Machenschaften des Obersts, für die South in diverse Verkleidungen schlüpfte, ohne jemals genauer zu verstehen, worum es ging. Seine Rollen spielte er eifrig und inspiriert. Aber in diesem besonderen Fall hatte sich seine Arbeit von allem unterschieden, was ihm der Oberst normalerweise abverlangte. Nein, in diesem Sommer war er Cupido, treuer Gefährte und am häufigsten ein Narr gewesen. Was immer für die Trauung nötig gewesen war, hatte er unternommen. Und wenn North und Lady Elizabeth nicht glücklich wurden, würde er eine Rechtfertigung vom Oberst fordern. Die war ihm der Mann zweifellos schuldig.

Trotz der späten Stunde wurde er sofort zum Salon des Obersts im ersten Stock geführt.

Schon vor einer ganzen Weile war der Oberst von zwei Lakaien in diesen Raum getragen worden. Sein Kammerdiener hatte ihn betreut. Jetzt saß er in einem Rollstuhl neben dem Kamin. Auf einem Tisch zu seiner Rechten brannte eine Lampe, die seine Gesichtszüge reliefartig hervorhob. Eine karierte Decke verhüllte seine Beine, in seinem Schoß lag ein geöffnetes Buch. Langsam glitt sein Zeigefinger über eine Seite, als South eintrat.

Beide Männer schwiegen, bis der Oberst die Stelle, wo er seine Lektüre beendet hatte, mit einem Lesezeichen markierte.

»Sicher möchtest du etwas trinken«, bemerkte John Blackwood und legte das Buch beiseite. »Wie üblich findest du die Karaffen im Sideboard. Bring mir einen Scotch. Für diese geschwollene Wange und die aufgesprungene Lippe gibt es wahrscheinlich eine Erklärung.«

Matthew Forrester spürte, wie eine alte Erinnerung zurückkehrte, was nicht oft geschah. Vermutlich hing es mit dem Theaterstück zusammen. Die Gerichtsszene hatte eine Vision von Hambrick Hall heraufbeschworen. Mit diesen Reminiszenzen war er nicht allein gewesen. Wie auf ein Stichwort hatten die vier Freunde das schallende Gelächter in Eastlyns Loge ausgelöst.

In jenem Moment hatte South an die Bishops und das

alberne Tribunal gedacht. Und jetzt besann er sich auf seine erste Begegnung mit John Blackwood in der Bibliothek seines Vaters. Dort hatte er jene Pose beobachtet und später nachgeahmt, um die Bischöfe zu beeindrucken. Lässig. Herausfordernd. Respektlos.

Diese Pose konnte Oberst Blackwood nicht mehr einnehmen. Die Krankheit hatte seine Beinmuskeln geschwächt, seine Reflexe verlangsamt. An diesem Abend bewegte er seine Hände relativ kontrolliert. Das kam nur selten vor. Mit seinem dichten schwarzen Haar war er immer noch ein attraktiver Mann. Gewiss, am Oberkopf entstand eine kahle Stelle, und an den Schläfen zeigten sich ein paar graue Fäden, aber die entdeckte man erst auf den zweiten Blick. Vor allem die ausdrucksvollen dunkelbraunen Augen fesselten den Betrachter.

Nun inspizierten sie South durch eine golden geränderte Brille. Lässig forderten sie ihn heraus und untersagten ihm, auch nur eine Spur von Mitleid zu bekunden.

»Scotch …?«, fragte Matthew. »Was würde dein Arzt dazu sagen?«

»Er gibt mir keine Anweisungen, die meine Laster betreffen, und ich nenne ihn keinen Scharlatan. Mit diesem Arrangement sind wir beide zufrieden.«

Lachend schüttelte South den Kopf. Dann zuckte er zusammen und berührte seine Unterlippe. Würde die kleine Platzwunde eine Narbe hinterlassen? Er öffnete das Sideboard, nahm die Scotch-Karaffe heraus und füllte zwei Gläser. Nachdem er dem Oberst den gewünschten Drink gebracht hatte, schürte er das Kaminfeuer. Schließlich sank er in den Ohrensessel gegenüber dem Rollstuhl. »Heute Abend war ich im Drury Lane.«

»Allein?«

»Nein, North brauchte etwas Ablenkung, weil die Herzoginwitwe wieder einmal ihre Schwiegertochter herumzeigt.«

Die tiefen Falten neben Blackwoods Lippen milderten sich ein wenig, und er lächelte sanft. »Ach, Elizabeth …« Fast zärtlich sprach er den Namen der Tochter seines geliebten verstorbenen Vetters aus. »Natürlich verdient sie es, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, statt sich auf dem Land von Lord und Lady Battenburn herumkommandieren zu lassen. Geht es ihr gut?«

»Sogar ganz ausgezeichnet.« Über den Baron und die Baronin von Battenburn wollte South nicht reden. Sollte doch Northam seine Frau aus dem Dunstkreis der beiden entfernen … Solche Dinge musste ein Ehemann selbstständig erledigen.

Blackwood nickte. »Also bist du mit Northam ins Theater gegangen.«

»Und mit Eastlyn. Wir saßen in seiner Loge. Auch Marchman war dabei.«

»Selbstverständlich durftet ihr Marchman nicht ausschließen«, meinte der Oberst ironisch. »Habt ihr euch eine Indiskretion erlaubt?«

South räusperte sich und starrte in sein Glas. »So könnte man's nennen. Leider habe ich Aufmerksamkeit erregt.«

»Am besten erzählst du mir die ganze Geschichte.«

Und so schilderte South die Ereignisse im Drury Lane, wobei er sich nicht schonte.

Nachdem er verstummt war, blickte der Oberst eine Zeit lang schweigend vor sich hin. Dann trank er sein Glas leer. »Nun, ich glaube, es hätte auch etwas Schlimmeres passieren können.«

»Zum Beispiel, wenn ich aus Easts Loge gefallen wäre und mir den Hals gebrochen hätte.« 

»Nun, das wäre besser gewesen, South. Nicht schlimmer. Immerhin hast du ihre Bekanntschaft gemacht, und es wird ihr nicht schwerfallen, sich an dich zu erinnern. Hat irgendjemand in dem Theater eurer Begegnung beigewohnt? Außer dem Compass Club und Mrs Garrety?«

»Im Flur drückten sich ein paar Leute herum. Wenn sie auch nichts sahen, sie müssen etwas gehört haben. Einer der Letzten, den die Garderobiere hinauswarf, war Berwin. Er muss mich weggehen gesehen haben. Und ich nehme an, er war nicht allein. Auch Grissom trieb sich im Gang herum. Übrigens habe ich nicht versucht, meine aufgesprungene Lippe zu verstecken.«

»Sehr gut. Weil deine Freunde den Zwischenfall nicht in alle Welt hinausposaunen werden.«

»Ja, das weiß ich. Aber Berwin und Grissom werden sicher ausplaudern, ich hätte mir's mit Miss Parr verscherzt – was zweifellos den Tatsachen entspricht.«

»Daran bist du selbst schuld. Jedenfalls habe ich's dir nicht vorgeschlagen.«

»Nun, ich bin einer Eingebung des Augenblicks gefolgt.«

Dazu gab Oberst Blackwood keinen Kommentar ab. Er würde es South überlassen, die Sache in Ordnung zu bringen. Das tat der junge Mann, wann immer es nötig war. »Jetzt würde ich gern hören, was du von Miss Parr hältst.«

»Eine großartige Schauspielerin. Und sie nimmt ihre Kunst sehr ernst. Das erkannte ich an ihrer Empörung über unser unhöfliches Gelächter, das ihre Darbietung störte. Wie schnell und mühelos sie in ihre Rolle und wieder herausschlüpfen kann, erschien mir fast unheimlich. Auf der Bühne wirkt sie sehr selbstbewusst – in anderen Situationen nicht. Zum Beispiel gewann ich den Eindruck, sie sei in ihrer Garderobe, von Verehrern umringt, eher unsicher gewesen.« South beugte sich vor. »Nun, vielleicht täusche ich mich. Jedenfalls kam sie mir sehr energisch vor, als sie mir ihre Faust ans Kinn schmetterte. Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, sie sei verletzlich.«

Blackwood runzelte die Stirn. Eine solche Beschreibung wollte er nicht hören. Andererseits wusste er nicht, was South sagen könnte, um ihn zufriedenzustellen. »Hältst du es für möglich, dass sie eine Mörderin ist?«

»Keine Ahnung …« South zuckte die Achseln. »Wäre sie dazu fähig? Aber wer von uns Menschen ist das nicht?«

»Wenn ich dich bitte, deine Nachforschungen fortzusetzen – würdest du zu viel riskieren?«

»Zumindest würde ich etwas vorsichtiger vorgehen als heute. Soll ich etwa aufhören? Bisher habe ich nichts erreicht.«

»Darüber muss ich erst einmal nachdenken.«

Erstaunt hob South die Brauen. Der Oberst hielt normalerweise an einem Entschluss fest, sobald er ihn gefasst hatte. »Weil ich ihre Verletzlichkeit erwähnt habe? Was soll das?«

Statt zu antworten, entschied Blackwood: »Lassen wir's dabei bewenden. Jetzt muss ich mich ausruhen. In ein paar Tagen werde ich dich wieder zu mir bestellen. In der Zwischenzeit sollte ich einen Abend im Theater verbringen. Bitte, komm nicht hierher, bevor du von mir hörst. Und halt deine Freunde von mir fern. Northam hat genug zu tun. Und Eastlyn und West müssen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

Southerton sprach die Fragen nicht aus, die ihm auf der Zunge lagen. Mit welchen Angelegenheiten« sich East und West befassten, konnte er nur erahnen. Offensichtlich erledigten sie wieder einmal irgendwelche Geschäfte für den Oberst. Über Northams derzeitigen Auftrag hatte er nicht viel erfahren. Der Earl sollte in der Londoner Gesellschaft einen Schurken aufspüren, den man den ›Gentleman-Dieb‹ nannte. Und seine Heirat hatte die Ermittlungen verkompliziert. Aber South zweifelte nicht am Erfolg seines Freundes. Was immer der Oberst verlangte – die Mitglieder des Compass Clubs erfüllten alle seine Wünsche.

Nachdem South seinen Scotch getrunken hatte, stand er auf und reckte sich. Er nahm das leere Glas aus Blackwoods ausgestreckter Hand und stellte es zusammen mit seinem eigenen auf das Sideboard. »Also, in ein paar Tagen?«

»Ja.« Der Oberst wartete, bis sein Besucher die Tür erreicht hatte, bevor er hinzufügte: »Gut gemacht, Southerton.«

»Vielen Dank.« Verwirrt verließ South das Haus. Nur ganz selten hörte er ein Lob aus Blackwoods Mund.

***

Aufmerksam betrachtete India Parr ihr Gesicht im Spiegel, um festzustellen, ob sie alle Spuren von Puder und Schminke entfernt hatte. Das war ihr offensichtlich gelungen, und jetzt wollte sie endlich nach Hause fahren, zwischen ihre kühlen Bettlaken kriechen und ihre Wunden lecken.

An diesem Abend war ihr nichts allzu Furchtbares zugestoßen. Aber der Verlust ihrer Selbstkontrolle hatte sie erschreckt. Hinter sich hörte sie Mrs Garrety leise mit der Zunge schnalzen. Sorgsam verstaute die alte Frau die Kostüme im Schrank.

»Lassen Sie das Zeug einfach liegen«, fauchte India. 

»Warum so unwirsch, Liebes? Mir zürnen Sie doch gar nicht.«

»Nein, Ihnen nicht«, gab India zu und starrte in den Spiegel.

»So habe ich Sie noch nie gesehen, Miss. Sie waren … irgendwie …«

Als der Garderobiere die Worte fehlten, seufzte India laut auf. »Nie zuvor wurde ich so provoziert. Solche Zwischenfälle passierten nur am Anfang – in weniger renommierten Theatern. Meistens waren es die Studenten auf den Stehplätzen, die sich in eine Aufführung einmischten und ihr eigenes kleines Drama inszenierten. Mit diesen jungen Burschen wurde ich leicht fertig.« Sie wandte sich vom Spiegel ab. »Und ich denke, ich gewann ihren Respekt, weil ich niemals klein beigab.«

»Das weiß ich, Liebes. Ich war dabei. Erinnern Sie sich?«

Geistesabwesend strich sich India über die Stirn. »Ja …«

Mrs Garrety schloss den Schrank. »So, hier bin ich fertig.« Mit schmalen Augen musterte sie das bleiche Gesicht ihrer Herrin. »Eine Migräne? Soll ich eine Medizin vorbereiten?«

»Nein.« Hastig ließ India die Hand sinken. Dann fügte sie etwas sanfter hinzu: »Nein, danke. Es war ein langer, anstrengender Tag, und ich bin einfach nur müde.«

»Wie Sie wünschen.«

»Glauben Sie, die Kritiker werden erwähnen, was heute Abend geschehen ist?«

»Deswegen sollten Sie sich keine Sorgen machen. Es waren die Gentlemen, die sich unmöglich benommen haben. Wahrscheinlich waren sie betrunken. Aber trotz all dieser Possen haben Sie das Publikum die ganze Zeit über gefesselt.« Mrs Garrety half der Schauspielerin aus ihrem Kostüm und hängte es über einen Stuhl, um es später zu bügeln. »Es ist schade, dass bloß so wenige Leute miterlebten, wie Sie Seiner Lordschaft die Leviten lasen.«

Überrascht schaute India zu ihrer Garderobiere auf. »Heute Abend haben Sie meine Verehrer besonders energisch weggeschickt.«

»Oh ja, ich sah den Viscount kommen – und dann seine Freunde … Welche Szene sich hier abspielen würde, konnte ich nicht ahnen. Diesen wundervollen Fausthieb hätten wirklich mehr Leute beobachten sollen.«

Dass Viscount Southerton um diese Züchtigung gebeten hatte, verschwieg India. Was sie davon hielt, wusste sie nicht. Vielleicht hatte er mit seinen Freunden tatsächlich eine lächerliche Wette abgeschlossen. Andererseits … Wie auch immer, zu diesem Thema wollte sie Mrs Garretys Meinung nicht hören. »Würden Sie Doobin bitten, eine Droschke zu holen?«

»Natürlich.« Als die alte Frau in die Garderobe zurückkehrte, legte India gerade ihre Pelisse um die Schultern. »Jemand müsste Sie begleiten, Liebes.«

»Nein, ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Mrs Garrety schnalzte wieder mit der Zunge. »Glauben Sie mir, Sie brauchen einen Beschützer. So viele Verehrer machen sich jeden Abend an Sie heran. Und ich habe nicht genügend Hände, um sie alle hinauszuschubsen. Übrigens – Sie haben zu wenige Fäuste, all die dreisten Galane abzuwehren. Deshalb sollten Sie sich einen Beschützer zulegen.«

Als Mrs Garrety die Garderobe verließ, schaute India ihr unbehaglich nach. In der stillen Einsamkeit, die den Raum jetzt erfüllte, kehrte die Angst zurück. Dagegen anzukämpfen, war sinnlos und würde sie nur ermüden. Zitternd rang sie nach Luft und berührte den Posamentenverschluss am Halsausschnitt ihrer Pelisse.

Brauche ich einen Beschützer?, fragte sie sich stirnrunzelnd. Plötzlich erinnerte sie sich an die Abschiedsworte des Viscounts.

Sie können nicht erwarten, dass ich Sie immer beschützen werde, Miss Parr.

Und wenn Lord Southerton ihr Beschützer wurde? Viel zu heftig hämmerte ihr Herz gegen die Rippen, während sie zum Hinterausgang des Theaters eilte und in die Anonymität einer schwarzen Droschke flüchtete.

***

Wie erwartet, erwiesen sich die Lords Berwin und Grissom als verlässliche Klatschmäuler. Noch am selben Abend verkündeten sie, was sie in Miss India Parrs Garderobe gesehen – oder fast gesehen – hatten. Sie saßen an einem Spieltisch im Simon's, und die Geschichte sprach sich sofort herum.

Am nächsten Morgen wusste ganz London, was sich im Drury Lane ereignet hatte.

Als Southerton am Nachmittag seine Eltern besuchte, war dort auch seine Schwester Emma zugegen, die ihn über das gewaltige Ausmaß seines Erfolgs informierte.

»Sei still!«, flüsterte er ihr zu und küsste ihre Wange. »Solche Klatschgeschichten weiß nicht jeder zu schätzen.«

»Oh, unsere Eltern schon.« Fast unmerklich wies sie mit dem Kinn in die Richtung des Earls und der Countess von Redding. South schaute lieber nicht hinüber. Stattdessen nahm er Emma seinen Neffen aus den Armen. »Vorsichtig, er wird dein Jackett ruinieren!«, warnte sie ihn.

Sofort hielt South das Baby auf Armeslänge von sich. »Meinst du, er sabbert? Das kann ich mir nicht vorstellen. So hübsch wie er ist! Und die Ohren sind immer noch an der richtigen Stelle. Im Gegensatz zu der Puppe, die du früher besessen hast, Emma. Erinnerst du dich? Diese Puppe …«

»Was mit Cassandra geschehen ist, werden wir vor Niles nicht erörtern«, unterbrach sie ihn und entriss ihm ihren Sohn. »Auch vor niemand anderem.«

South lächelte boshaft. »Denk daran, wenn du wieder einmal zu viel schwatzt.«

»Biest!«

»Scylla!«

»Monstrum!«

Behutsam strich er das Haar zurück, das ihr in die Schläfe gefallen war. »Übrigens bist du bildschön«, konstatierte er und meinte es aufrichtig. »Die Mutterschaft steht dir wirklich gut.«

»Das finde ich ebenso.«

Nun wandte sich South zu seinen Eltern und küsste die Wange der Countess. Dann begrüßte er den Earl. »Du siehst gut aus, Vater.«

Auf dieses Stichwort hatte die Countess von Redding offenbar gewartet. »Natürlich sieht er gut aus. Warum auch nicht? Dafür sorge ich. So großartig würde es dir ebenfalls gehen, wenn du dich endlich einmal häuslich niederlassen würdest, statt mit deinen fragwürdigen Freunden herumzuziehen und dich im Theater zu blamieren – noch dazu mit einer …« Hastig senkte sie die Stimme, weil ihr vier Monate alter Neffe dieses obszöne Wort nicht hören durfte. »Mit einer Operntänzerin!«

Belustigt drehte sich South zu Niles um, der aufmerksam lauschte. Wie der Viscount feststellte, besaß Emma nicht einmal so viel Anstand, um seinem Blick verlegen auszuweichen. Seufzend schenkte er sich eine Tasse Tee ein. »Mutter, Miss India Parr ist keine Operntänzerin, sondern eine Schauspielerin.«

»Oh, das ist fast genauso schlimm …«

Nun mischte sich der Earl ein und berührte die Hand seiner Frau. »Reg dich doch nicht derart auf, Liebes.«

»Selbstverständlich rege ich mich auf! Und daran ist dein Sohn schuld. Leider verhält er sich nicht so vernünftig und rücksichtsvoll wie du, Darling.«

Resignierend sank South in einen Sessel und nippte an seinem Tee.

Allzu lange dauerte es nicht, bis seine Mutter das Thema anschnitt, um das es genau genommen ging. Was dieses Anliegen betraf, durfte sie sich auf die Unterstützung ihres Gemahls verlassen. »Warum heiratest du nicht endlich, Matthew? Das darfst du nicht länger vor dir herschieben. Erst gestern habe ich mit Celia darüber gesprochen.«

Wie South vermutete, sprach sie jeden Tag mit Celia über dieses Problem – mit Celia Worth Hampton, der Herzoginwitwe von Northam. Erst vor wenigen Minuten hatte sie North zu seinen fragwürdigen Freunden gezählt. Und jetzt war derselbe junge Gentleman durchaus sympathisch, weil er sich klugerweise in den Hafen der Ehe begeben hatte.

Eine Zeit lang blieb Lillian Rheems Forrester bei ihrem Lieblingsthema und nutzte die gutmütige Toleranz ihres Sohnes weidlich aus. Als sie endlich verstummte, musterte sie ihren Erstgeborenen zufrieden, in der Gewissheit, ihre logischen Argumente und fabelhaften Ratschläge müssten ihn überzeugt haben.

Über seiner Teetasse senkte South die Lider, um den glasigen Ausdruck seiner Augen zu verbergen. »Noch heute werde ich auf Brautschau gehen, Mutter.« 

Stöhnend warf die Countess beide Arme hoch. »Sprich du mit ihm!«, forderte sie ihren Gemahl auf. »Über mich macht er sich bloß lustig, und ich bin am Ende meiner Weisheit.«

Nur mühsam bezwang Redding einen Lachreiz. »Beruhige dich, Liebes. South, hör auf, deine Mutter zu verspotten.«

»Sehr wohl.«

»Siehst du's?« Der Earl warf seiner Frau einen Seitenblick zu. »Alles in Ordnung.«

Lillians dunkelgraue Augen wanderten zwischen den beiden Männern, die sie so innig liebte, hin und her. »Ach, schon gut! Ihr zwei werdet einander stets verteidigen. Glaubt allerdings nicht, ihr könntet mich zum Narren halten!« Nun richtete sie ihren Blick auf den Enkel. Sofort drückte Emma das Baby schützend an sich. »Ha! Dort liegt die verheißungsvolle Zukunft der Forresters!«

Beinahe hätte South laut gelacht, als er beobachtete, wie seine Mutter ihre Aufmerksamkeit auf die nächste Generation lenkte. Eigentlich müsste er Niles bedauern. Doch er wusste, Emma würde ihren Sohn vor der großmütterlichen Fürsorge retten.

Und was Emma betraf – ihrer losen Zunge verdankte er den Wortschwall seiner Mutter, weshalb sie ihm ganz sicher nicht leidtat. »Da sich niemand für meine Version der Ereignisse im Drury Lane interessiert, würde ich gern wissen, wie du davon erfahren hast, Emma. Noch dazu in so kurzer Zeit! Ich bin eben erst aufgestanden.«

Bereitwillig erklärte Emma, ihr Mann habe beim Frühstück davon erzählt. Während seines Morgenritts im Hyde Park war er Lord Hastings begegnet, der den Zwischenfall erwähnt hatte. Etwas später war Lady Rowena Douglass zu Besuch gekommen und hatte eine ähnliche Geschichte zum Besten gegeben. »Wie den Kritiken zu entnehmen ist, muss Miss Parr sehr talentiert sein«, fügte Emma hinzu. »Findest du das auch, South?«

»Allerdings.«

»Wie gern würde ich sie sehen …«, seufzte Emma. »Welsley hat versprochen, mit mir ins Drury Lane gehen. Aber weil du dort so viel Aufsehen erregt hast, meint er, damit müssten wir vorerst warten. Ausgerechnet jetzt, wo ganz London verrückt nach India Parr ist, muss ich mich gedulden, bis Gras über die Sache wächst!«

South schwieg. Wenn der Oberst seinen Auftrag nicht widerrief, würden bald noch weit unerhörtere Klatschgeschichten kursieren.