Leseprobe Ein Schurke zur rechten Zeit

1. Kapitel

Dorset, England 1816

„Reiten Sie lieber nicht den Pfad an der Klippe entlang nach Hause, Capt‘n Renfrew. Es kommt Sturm auf, und ohne den Mond ist der Klippenpfad tückisch.“

Gabriel Renfrew, ehemaliger Soldat des Vierzehnten Dragonerregiments, warf einen flüchtigen Blick zum dunkler werdenden Himmel und zuckte die Achseln. „Bis der Sturm einsetzt, dauert es noch. Gute Nacht, Wirt.“ Er verließ das gemütliche kleine Gasthaus und machte sich auf den Weg zu den Stallungen.

Ein dralles blondes Schankmädchen folgte ihm nach draußen und hakte sich vertraulich bei ihm unter. „Warum den gefährlichen Pfad riskieren, Captain, wenn ich oben ein warmes, kuscheliges Bett habe?“

Gabriel lächelte. „Danke, Sally. Das ist ein großzügiges Angebot, aber ich muss nach Hause.“

Ich werde allmählich alt, dachte er, als er davonritt. Lieber durch die eiskalte Nacht nach Hause reiten zu wollen, wo niemand auf ihn wartete, anstatt sich mit einer üppigen Blondine in ihrer warmen Schlafkammer zu vergnügen …

Obwohl er sich durchaus nach einem Zustand der Sorglosigkeit sehnte, übte ein sorglos vollzogener Liebesakt schon lange keinen Reiz mehr auf ihn aus. Und wenn ihn die Schwermut überfiel, so wie in dieser Nacht, konnten ihm weder Alkohol noch Frauen helfen. Nur Dunkelheit, Geschwindigkeit und Gefahr vermochten dann sein Herz und seinen Verstand zu retten.

In dieser Nacht hatte ihn die Schwermut schlimmer gepackt denn je. Das Gespräch im Wirtshaus war auf die Männer gekommen, die nicht zu ihren Familien nach Hause zurückgekehrt waren, zu ihren Familien, die sich nun mühsam allein durchschlagen mussten. Es waren Gabriels Altersgenossen gewesen; Jungen, mit denen er zusammen aufgewachsen war; Jungen, die ihm und Harry in den Krieg gefolgt waren. „Ich werde schon gut auf sie aufpassen“, hatte er bei ihrem Aufbruch so unbekümmert versprochen …

Doch das hatte er nicht getan.

Warum war ausgerechnet er zurückgekommen? Die anderen jungen Männer waren es, um die man so sehr trauerte und die man so schmerzlich vermisste. Sie wurden von ihren Familien gebraucht.

Nicht Gabriel.

Er galoppierte schneller durch die Nacht. Als sich dicke Wolken vor den Vollmond schoben, war der schmale Pfad kaum mehr zu erkennen. Am Fuß der Klippe schlug die Brandung tosend gegen die Felsen. Die salzige Gischt brannte auf Gabriels Haut, und wieder ritt er den schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlang, wie schon so häufig zuvor, um dem Schicksal die Chance zu geben, es sich doch noch anders zu überlegen.

Um sich wie so oft zu beweisen, dass er wider alle Vernunft noch am Leben war. Auch wenn er nicht wusste, warum.

Der Ärmelkanal

„Nein! So geht das nicht!“ Callie, die sich auf der Flucht befindende Prinzessin von Zindaria, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. „Ich habe dafür bezahlt, nach Lulworth gebracht zu werden.“ Sie klammerte sich an die Reling des schwankenden Schiffs und spähte verzweifelt in die Nacht hinaus. Die vorüberziehenden Wolken verdeckten den Mond, und Callie konnte nur weiße Schaumkronen und bedrohlich wirkende dunkle Klippen erkennen. Nirgends gab es ein Anzeichen von Leben, keine beleuchteten Gebäude oder Ansiedlungen.

War das überhaupt England? Sie hatte keine Ahnung. Es war mitten in der Nacht, und sie war unsanft aus einem unruhigen Schlaf geweckt worden. Die sieben Stunden davor hatte sie heftig unter Seekrankheit gelitten.

„Sie und der Junge sollen hier an Land gehen, Ma‘am. Befehl vom Captain“, teilte ihr ein Matrose mit.

„Nicky!“ Wo steckte Nicky? Noch vor einem Moment war er bei ihr gewesen. „Wo ist mein Sohn?“

„Ich bin hier, Mama. Ich habe nur die Hutschachtel geholt.“ Der Siebenjährige stieg über ein paar Taue und eilte an ihre Seite.

Callie legte ihm die Hand auf die Schulter. Nicky war für sie das Wichtigste in ihrem Leben, der Grund, warum sie überhaupt hier war. „Ich habe nicht dafür bezahlt, hier abgesetzt zu werden“, teilte sie dem Matrosen in wie sie hoffte strengem Tonfall mit. „Lulworth ist eine kleine Stadt in einer geschützten Bucht …“

„Also gut, Männer.“

Ehe sie sich versah, wurde sie von zwei kräftigen Seeleuten gepackt. „Was? Wie können Sie es wagen …“ Was ging hier vor? Man wollte sie doch nicht etwa über Bord werfen? Nicky … Entsetzt und verzweifelt versuchte sie, zu ihm zu gelangen; sie kämpfte wie eine Wildkatze, trat um sich, schrie …

„Den Jungen zuerst“, rief jemand. „Dann fügt sie sich eher.“

Sie wand sich heftig und sah gerade noch voller Schrecken, wie ein Matrose Nicky hochhob, als wöge er gar nichts. Er trug ihn zum Dollbord, hob ihn hoch und warf ihn über die Reling.

„Nicky!“ Jeder Kampfesmut verließ sie. Sie wehrte sich nicht, als die Männer sie ebenfalls über Bord hievten. Nicky. Sie bereitete sich innerlich auf das Eintauchen im Meer vor. Tod durch Ertrinken – lieber Gott, sollte sie Nicky tatsächlich so weit fortgebracht haben, nur damit er auf diese Art ums Leben kam?

Die Seeleute ließen sie los und sie fiel. Fiel und landete mit einem dumpfen Aufprall in einem kleinen, heftig schaukelnden Beiboot. Ein Matrose hielt sie fest, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor.

Nicky saß vorn im Bug, mit blassem, ängstlichem Gesicht – aber lebendig.

„Nicky, Gott sei Dank!“ Sie tat einen Satz über die hölzerne Sitzbank auf ihn zu. Das kleine Boot geriet gefährlich ins Schwanken.

„Setzen Sie sich hin, Miss! Ihretwegen ertrinken wir noch alle!“ Der Matrose packte sie am Arm und zwang sie, sich ins Heck zu setzen.

Callie war wütend und hatte Angst, aber sie erkannte, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie gehorchte, ließ Nicky jedoch nicht eine Sekunde aus den Augen. Die Wellen wurden höher und das Beiboot schwankte stärker. Callie konnte etwas schwimmen; Nicky nicht.

Was geschah mit ihnen? Panikerfüllt suchte sie mit den Blicken die Küste ab. Gedanken an Mädchenhändler, Strandräuber und noch Schlimmeres schossen ihr durch den Kopf. Sie wusste, es war ein Risiko gewesen, den wildfremden Kapitän eines Seelenverkäufers dafür zu bezahlen, sie über den Ärmelkanal zu bringen. Noch riskanter wäre es jedoch gewesen, das reguläre Postschiff von Calais aus zu nehmen, denn dann wären sie sicherlich gefunden und zurückgeschickt worden.

„Ich verlange, dass Sie uns umgehend wieder an Bord des Schiffes bringen!“, stammelte sie. „Das ist nicht Lulworth, und ich …“

Von oben wurde etwas gerufen, dann flog ihre Hutschachtel ins Beiboot. Der Matrose fing sie auf und reichte sie Nicky. Kurz darauf landete Callies Reisetasche in den Armen des Mannes.

Der Anblick ihres Gepäcks beruhigte sie seltsamerweise etwas. Vielleicht wurden sie und Nicky doch nicht wegen ihrer Habseligkeiten ermordet. Aber wo befanden sie sich nur? Was für eine Küste war das?

Der Matrose nahm die Ruder, das Beiboot setzte sich in Bewegung.

„Wohin bringen Sie uns?“

„Auf Befehl des Captains setze ich Sie dort am Strand ab, Ma‘am. ‘s kommt Sturm auf.“

„Aber Lulworth verfügt über einen geschützten Hafen. Dort wären wir sicher vor dem Sturm.“

„Es gibt Kontrolleure im Hafen von Lulworth, Ma‘am. Der Captain hasst Kontrolleure.“

„Kontrolleure?“ Sie war so durcheinander, dass sie nicht vernünftig denken konnte. „Aber …“

„Befehl ist Befehl“, fiel ihr der Mann gleichgültig ins Wort und ruderte weiter.

Sie gab nach. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihm zu streiten, er hörte ohnehin nicht zu. Er konzentrierte sich ganz aufs Rudern und sie sich darauf, sich festzuhalten. Das kleine Boot tanzte auf den Wellen wie eine Nussschale. Callie hatte ihre Reisetasche unter ihre Sitzbank geschoben und Nicky die Hutschachtel unter seine; sie brauchten beide Hände, um sich am Boot festzuklammern.

„Hier ist die Brandungslinie, Ma‘am“, verkündete der Matrose nach ein paar Minuten. Das Boot schaukelte jetzt wild auf den Brechern. „Weiter nach vorn traue ich mich nicht. Sie müssen von hier aus durch das Wasser an den Strand waten.“

„Nein. Es ist zu tief und mein Sohn …“ Ehe Callie ihn daran hindern konnte, hatte der Matrose Nicky ins Wasser gelassen. „Er kann nicht schwimmen!“, schrie Callie auf. Ohne zu zögern, schwang Callie sich über Bord und hangelte sich am Boot entlang, bis sie Nicky zu fassen bekam. Das Wasser reichte ihr bis zur Brust und war eiskalt. „Halt dich gut an mir fest, Nicky! Schling die Beine um meine Taille und die Arme … ja, so ist es richtig.“

Nicky klammerte sich an sie wie ein kleines Äffchen. Er zitterte. „E…es ist so kalt, Mama!“

„Hier sind Ihre Sachen, Ma‘am.“ Der Matrose reichte ihr die Hutschachtel.

Als ob ihr die Hutschachtel wichtig gewesen wäre – Nicky ging schließlich vor. Aber der Junge hatte während der ganzen Reise die Verantwortung für die Schachtel übernommen und nun streckte er die Hand danach aus. Außerdem enthielt sie wichtige Papiere und trockene Anziehsachen für Nicky. „Binde dir das Band ums Handgelenk, Nicky“, forderte Callie ihn auf. „Die Schachtel schwimmt auf dem Wasser, und durch die Ölhaut bleibt der Inhalt trocken.“

Das Boot trieb weiter auf sie zu. Vielleicht hatte der Matrose im Gegensatz zum Captain ja doch ein Gewissen; er befand sich jetzt ernsthaft in Gefahr zu kentern. Trotzdem schien er fest entschlossen zu sein, dafür zu sorgen, dass sie ihr Gepäck ausgehändigt bekamen. Er wartete, bis er sah, dass Nicky die Hutschachtel einigermaßen im Griff hatte. „Ihre Tasche, Ma‘am.“ Der Matrose hielt ihr die Tasche hin. Eine Welle brach über Callie, und sie geriet ins Straucheln. Mit einer Hand nahm sie die Tasche entgegen, mit der anderen drückte sie Nicky fest an sich.

„Viel Glück, Ma‘am.“ Das kleine Boot verschwand zügig in der Nacht.

„Aber wo sind wir hier?“, rief Callie ihm nach.

„Gehen Sie den Klippenpfad hoch und biegen Sie dann nach Westen ab, um nach Lulworth zu gelangen“, ertönte die Stimme des Matrosen aus der Dunkelheit.

„Ich weiß doch gar nicht, wo Westen ist!“, rief sie, aber der Wind riss ihr die Worte von den Lippen. In der Schwärze der Nacht konnte sie nicht einmal mehr das Boot ausmachen, geschweige denn das Schiff, mit dem sie Frankreich verlassen hatten.

„Westen ist da, wo die Sonne untergeht, Mama“, erklärte Nicky.

Callie hätte beinahe gelacht. Die Sonne war schon vor langer Zeit untergegangen, doch die Wellen trieben sie jetzt immer weiter auf den Strand zu. Der Wind wurde von Minute zu Minute stärker und drang schneidend durch ihre nasse Kleidung. Wenn ihr schon kalt war, wie sehr musste dann erst Nicky frieren?

Aber er war am Leben, und das war wichtiger als alles andere. Und sie waren in England. Trotz der Tatsache, dass sie völlig durchnässt war, fror und nicht wusste, wo sie sich befand, schöpfte sie neuen Mut. Sie hatte es geschafft!

Schließlich erreichten sie das flache Wasser, und sie stellte Nicky auf die Füße. Taumelnd und zitternd wateten sie an Land. Der Strand war übersät mit Steinen und zerbrochenen Muschelschalen; es war schwierig, im Dunklen voranzukommen. Callie hatte ihre Schuhe im Meer verloren; mehrmals stieß sie sich schmerzhaft die Zehen an. Es war ihr gleichgültig. Der Strand … trockenes Land … England.

„Komm, Liebling.“ Ihr war beinahe schwindelig vor Erleichterung. „Jetzt ziehen wir dir trockene Sachen an, danach machen wir uns auf die Suche nach diesem Pfad. Mit etwas Glück sind wir morgen zum Frühstück schon bei Tibby.“

„Ob es da Würstchen gibt, Mama?“, erkundigte er sich hoffnungsvoll mit klappernden Zähnen. „Englische Würstchen?“

Callie lachte erstickt auf. „Vielleicht. So, und nun beeil dich.“

Am Fuß der Klippe öffnete sie die Hutschachtel. Dank des Bezugs aus Ölhaut war darin tatsächlich alles trocken geblieben. Callie nahm Kleidung zum Wechseln für Nicky, einen Kaschmirschal und ihr Ersatzpaar Schuhe heraus. Rasch zog sie Nicky aus, rieb ihn mit dem Schal trocken und zog ihm trockene, saubere Kleidung an. Während seiner ganzen Kindheit war er anfällig für Krankheiten gewesen; sie wollte nicht, dass er sich erkältete. Anschließend wrang sie so gut es ging ihre Röcke aus, trocknete sich die Füße ab und schlüpfte in ihre Schuhe.

Sie sah hinauf zum Rand der Klippe. Mit ihren nassen und an den Beinen klebenden Röcken würde sie den steilen Pfad niemals hinaufklettern können. Am liebsten hätte sie Rock und Unterrock ausgezogen, aber ihr Unterrock mit seinen vielen versteckten Taschen war momentan ihr wertvollster Besitz. Also raffte sie die Röcke bis zu den Oberschenkeln und knotete sie dann zusammen, wie sie es sich bei Fischerinnen abgeschaut hatte. Der eisige Wind schnitt in ihre nasse Haut. „So machen wir uns an den Aufstieg.“

Nicky starrte die Klippe an. „Müssen wir wirklich bis ganz nach oben klettern?“ Kein Wunder, dass ihn diese Aussicht zu entmutigen schien. In der Dunkelheit war der Rand der Klippe nur schwach auszumachen.

„Ja, aber der Mann hat gesagt, es gebe einen Pfad, weißt du noch?“ Callie versuchte, sich nichts von ihrem Zorn anmerken zu lassen. Die Klippen waren riesig und sehr steil – sie ausgerechnet hier abzusetzen war mehr als unverschämt, es war geradezu kriminell, vor allem wegen Nickys Bein.

Sie machten sich an den Aufstieg; Nicky vorneweg, damit Callie ihm helfen konnte, falls er stolpern sollte. Schon bald brannten ihre Handflächen vom Gewicht der schweren Reisetasche. Starke Windböen machten ihnen das Vorwärtskommen zusätzlich schwer.

„Halt dich vom Abgrund fern!“, rief Callie Nicky alle paar Minuten zu. An manchen Stellen war der Pfad beängstigend schmal, in der Dunkelheit stellte er eine echte Gefahr dar.

„Ich kann den oberen Rand erkennen, Mama!“, rief Nicky nach einer halben Ewigkeit.

Callie blieb stehen, um Luft zu holen, und kühlte ihre Handflächen an ihrem nassen Rock. Sie waren fast oben. Gott sei Dank! Erleichtert atmete sie auf. Mit etwas Glück war es nun nicht mehr weit bis Lulworth.

 

Gabriel Renfrew ritt im gestreckten Galopp. Obwohl der schmale Weg auf der Klippe kaum zu sehen war, verlangsamte Gabriel sein Tempo nicht. Ein falscher Tritt, und sie würden den Abgrund hinabstürzen, doch Pferd und Reiter kannten den Pfad gut. In den letzten Wochen waren sie ihn beinahe jede Nacht entlanggeritten.

Die kalte salzige Luft brannte in seinen Lungen. Der Sturm wurde jetzt zunehmend stärker.

Plötzlich wurde Trojaner langsamer. Gabe sah auf. „Was zum Teufel …“

Mitten auf dem Pfad vor ihnen stand ein Kind und sah ihnen entsetzt entgegen. Pferd und Reiter waren schon fast bei ihm. Es blieb keine Zeit zum Anhalten, keinen Platz zum Ausweichen. Auf der einen Seite des Pfades war ein mit Dornengestrüpp bewachsener Steilhang, auf der anderen Seite der Abgrund.

„Aus dem Weg!“, brüllte Gabriel. Er zerrte an den Zügeln und spürte, wie Trojaner sich anspannte vor Anstrengung, doch noch rechtzeitig vor dem Kind zum Stehen zu kommen.

Der kleine Junge rührte sich nicht, er war wie gelähmt vor Angst. Gabriel hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken, er musste reagieren. „Duck dich!“, rief er und bereitete sich darauf vor, mit dem Pferd über den Jungen zu springen.

Doch als das Pferd in blindem Gehorsam seinem Herrn gegenüber zu einem hohen Sprung ansetzte, tauchte aus dem Nichts plötzlich eine Frau auf und warf sich mit einem Aufschrei über das Kind. Es war zu spät – Trojaner war bereits in der Luft und flog, wie Gabriel hoffte, hoch genug über Frau und Kind hinweg. Spürte er da einen leichten Aufschlag während des Sprungs? Es ging alles so schnell, dass Gabriel sich nicht sicher war.

Noch bevor Trojaner zum Stehen gekommen war, sprang Gabriel vom Pferd und rannte zurück. Er hörte, wie etwas über den Rand der Klippe stürzte und eine kleine Gerölllawine auslöste. Er konnte nur beten, dass das nicht die Frau gewesen war. Das Kind, da war er sich sicher, war in die andere Richtung geflüchtet, weg vom Abgrund.

In der Dunkelheit konnte er nur die zusammengekauerte Gestalt der Frau am Rand der Klippe erkennen. Zum Glück war nicht sie es gewesen, die er hatte fallen hören. Aber wenn sie sich nur einen Zentimeter weiterbewegte …

Er war nur noch drei Schritte von ihr entfernt, als sie anfing, sich zu regen. Sie versuchte aufzustehen und schwankte bedrohlich auf den Abgrund zu. Mit einem Satz war Gabriel bei ihr, packte eine Handvoll nasser Kleidung und zerrte die Frau auf den Weg zurück. Nasse Kleidung? „Bleiben Sie ganz still stehen“, befahl er ihr schroff. „Bewegen Sie sich nicht!“

„Wo ist er?“ Sie schlug seine Hände weg und sah sich panikerfüllt um. „Nicky! Nicky!“, rief sie verzweifelt.

„Bewegen Sie sich nicht!“, schimpfte Gabriel erneut. „Sie stehen genau am Rand der Klippe!“

Entsetzt starrte sie in den Abgrund. „Nicky!“, keuchte sie. Leicht schwankend beugte sie sich nach vorn.

„Er ist nicht abgestürzt“, teilte Gabriel ihr energisch mit und zog sie ein Stück zurück. „Wenn Nicky ein kleiner Junge ist, dann ist ihm nichts passiert.“

„W…woher wissen Sie das?“, stotterte sie.

„Ich habe ihn in diese Richtung weglaufen sehen.“ Er zeigte vor sich auf den Pfad.

„Weglaufen? Oh Gott, er muss panische Angst gehabt haben. Was ist, wenn er im Dunklen vom Weg abkommt und in den Abgrund fällt?“ Sie begann in die Richtung zu laufen, in die er gezeigt hatte. „Nicky!“, schrie sie.

„Ich bin mir ganz sicher, dass mit ihm alles in Ordnung ist“, versuchte er sie zu beschwichtigen.

„Nicky!“, schrie sie erneut.

„Ich bin hier, Mama“, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Die Hutschachtel ist weggerollt. Ich musste sie zurückholen.“

„Oh Nicky! Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Die Frau schob sich an Gabriel vorbei und schlang die Arme fest um das Kind.

„Mama, du bist ganz nass!“, protestierte der Junge, und mit einem Lachen, das sich verdächtig wie ein Schluchzen anhörte, trat sie einen Schritt zurück.

Liebevoll streichelte sie ihm übers Haar. „Geht es dir gut, Liebling? Das schreckliche Pferd hat dich doch nicht getreten, oder?“

„Nein, es ist genau über mich hinweggesprungen, fast, als wäre es geflogen – wie Pegasus. Aber du hast mich geschubst, Mama, und dabei habe ich die hier fallen lassen.“ Er hob die Hutschachtel hoch. „Sie rollte auf den Rand der Klippe zu, aber ich habe sie noch rechtzeitig festgehalten.“

„Wie umsichtig von dir“, lobte sie ihn mit bebender Stimme und schien sich allmählich von ihrem Schrecken zu erholen. „Meinen Schuh hast du wahrscheinlich nicht gesehen, nicht wahr? Ich habe ihn irgendwo verloren.“ Wie Gabriel sehen konnte, zitterte sie jetzt heftig. Vor Kälte wohl, oder als Nachwirkung des Schocks; vermutlich beides.

„Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er in Sicherheit ist“, sagte er.

Wütend drehte sie sich zu ihm um. „Wagen Sie es nicht, mit mir zu reden! Wenn Sie ihm mit Ihrem verantwortungslosen kriminellen Verhalten auch nur ein Haar auf dem Kopf gekrümmt hätten, dann … dann …“ Ihre Stimme brach, und sie umarmte ihren Jungen verzweifelt. Schließlich holte sie tief Luft und fuhr mit bebender Stimme fort: „Sind Sie betrunken? Vermutlich, warum hätten Sie sonst mit einem Pferd über ein Kind springen sollen! Die Tatsache, dass es meinem Sohn gut geht, ist sicher nicht Ihr Verdienst oder der dieses schrecklichen Tieres!“

„Ich bin nicht betrunken. Wäre ich es, dann hätte ich niemals so blitzschnell reagieren und …“ Gabriel atmete tief durch und zügelte seinen Zorn. Mit betont beruhigender Stimme sprach er weiter. „Sehen Sie, der Junge ist doch vollkommen in Sicherheit und …“

„In Sicherheit? Sie hätten ihn beinahe umgebracht!“

„Madam, ich habe mein Leben und das meines Pferdes riskiert, um genau das nicht zu tun!“, erklärte er nicht ohne eine gewisse Schärfe. „Normalerweise benutze ich keine Frauen und kleine Kinder als Übungshindernisse. Der Junge tauchte urplötzlich aus dem Nichts auf und stand stocksteif mitten auf dem Weg …“

„Als dieses schreckliche, riesige Ungeheuer auf ihn zugestürzt ist, war er wahrscheinlich zu erschrocken, um sich bewegen zu können!“

„Und das war sehr vernünftig …“

Vernünftig? Erwarten Sie allen Ernstes, dass ein kleiner Junge klar denkt, wenn ein Reiter es auf ihn abgesehen hat? Er ist doch noch ein Kind!“ Wieder drückte sie den Jungen an sich.

„Ich hatte es nicht auf ihn abgesehen! Er stand mitten auf dem Weg – und das zu einer Uhrzeit, in der kleine Jungen eigentlich im Bett liegen sollten. Außerdem hatte ich zum Anhalten keine Zeit mehr …“

„Weil Sie geritten sind wie der Teufel!“

„Richtig. Auf meinem eigenen Grund und Boden.“

„Ich verstehe.“ Sie holte tief Luft und versuchte sichtlich, sich zu sammeln. „Ich … ich verstehe. Ich nehme an, wir sind hier unbefugt eingedrungen. In dem Fall werde ich Sie nun nicht weiter belästigen. Gute Nacht.“

Gabriel runzelte die Stirn. Der Mond verbarg sich immer noch hinter Wolken, aber er konnte genug erkennen, um zu sehen, dass sie sich die Schulter rieb. „Sie sind verletzt.“

„Nur eine kleine Prellung“, räumte sie ein.

„Sind Sie sicher, dass es nichts Schlimmeres ist?“

„Nein, es ist nichts Ernstes. Die Schulter tat mir ohnehin schon weh wegen der schweren Reisetasche.“

Gabriel sah sich um. „Welche Reisetasche?“

„Sie … sie muss hier irgendwo sein. Ich habe das verflixte Ding den ganzen Weg vom Strand bis hierhin geschleppt. Sie ist schwer wie Blei.“

Alle drei sahen sich nun um, aber von einer bleischweren Tasche war nichts zu sehen.

„Sie muss hier sein“, sagte die Frau. „Sie kann nicht weggerollt sein wie die Hutschachtel.“

„Ach …“ Gabriel hatte plötzlich eine düstere Ahnung, wo die Tasche war. „Ich glaube, sie ist über den Klippenrand gestürzt, als Sie sich … als Sie hingefallen sind.“

„Oh nein!“, rief sie aus. „Vielleicht ist sie ja nicht weit gefallen.“ Sie wollte sich nach vorn beugen, aber Gabriel hielt sie zurück.

„Ich werde nachsehen“, teilte er ihr mit. „Meine Nerven halten es nicht mehr aus, Sie noch länger über diesen Abgrund gebeugt zu sehen.“ Er trat einen Schritt vor und spähte in die dunkle Tiefe.

„Vielleicht war es weiter dort drüben?“

Er ging weiter und stieß mit dem Stiefel gegen einen kleinen Gegenstand, der begleitet von rollenden Kieseln im Abgrund verschwand. „Hm, ich glaube, ich habe Ihren Schuh gefunden“, sagte er.

„Vielen Dank. Geben Sie ihn mir bitte.“

„Ich … nun, ich habe ihn gerade versehentlich die Klippe hinuntergetreten.“

Sie seufzte. „Das war ja klar.“

„Ich werde Ihnen Ihre Tasche morgen früh holen“, bot er etwas steif an. „Der Schuh dürfte etwas schwieriger zu finden sein.“

„Ach, machen Sie sich darüber keine Gedanken“, erwiderte sie matt. „Er war wahrscheinlich ohnehin ruiniert, und morgen schicke ich jemanden hierher, der meine Tasche holen soll.“

„Wen? Und von wo aus?“ Hier gab es meilenweit nichts außer seinem Haus.

Sie schwieg einen Moment. „Von unserer Unterkunft aus.“

„Und wo befindet sich die?“

„Das ist meine Sache“, gab sie entschlossen zurück. „Vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Auf Wiedersehen.“

Gabriel bewunderte ihren Mut. Sie hatte ihn entlassen wie eine kleine Königin – und das auf seinem eigenen Land. „Ohne Sie gehe ich nirgendwo hin“, verkündete er. Die beiden befanden sich in einer echten Notlage, und es war nicht seine Art, eine Frau und ein Kind hilflos ihrem Schicksal zu überlassen.

Sie wich zurück und presste den Jungen an sich. „Seien Sie nicht albern. Sie kennen uns doch gar nicht. Und wir kennen Sie nicht.“ Sie wich noch einen Schritt zurück … und noch einen…

Er schnellte vor und packte sie gerade noch, als sie ins Rutschen kam. Ehe sie es sich versah, hatte er die Hände um ihre Taille gelegt und sie zurück auf den Weg gehoben.

„Lassen Sie mich l…“, stammelte sie. Sie sah hinter sich und verstand. „Ach so … vielen Dank.“

„Gern geschehen. Gabriel Renfrew, zu Ihren Diensten.“ Er verneigte sich. „Und Sie sind …?“

Sie straffte sich und versuchte verzweifelt, eine einigermaßen würdevolle Haltung anzunehmen. „Ich weiß Ihren … Beistand zu schätzen, aber mein Sohn und ich kommen jetzt sehr gut allein zurecht, vielen Dank. Auf Wiedersehen.“

„Sie befinden sich auf meinem Land“, erinnerte er sie sanft.

„Ja. Natürlich. Wir gehen sofort. Komm, Nicky.“ Sie nahm das Kind an die Hand und entfernte sich unbeholfen drei Schritte von Gabriel. Dann zögerte sie, offensichtlich erneut um Würde ringend. „Das ist doch der Weg nach Lulworth, nehme ich an?“

„Ja, aber Sie werden heute Nacht nicht mehr nach Lulworth gehen.“

„Oh doch, ganz sicher werden wir das“, sagte sie so überzeugend, wie sich eine Frau anhören konnte, deren Zähne wie spanische Kastagnetten klapperten.

Gabriel beachtete ihren Widerspruch nicht. Er griff nach Trojaners Zügeln und verknotete sie leicht auf dem Hals des Pferdes, ehe er seinen Umhang aus der Satteltasche zog und dem Jungen die Hutschachtel abnahm.

„Was machen Sie da? Das ist meine Hutschachtel“, sagte sie. „Geben Sie sie sofort zurück!“

Gabriel band die Schachtel an den Sattel, legte den Umhang um und streckte die Hand aus. „Kommen Sie.“

Sie wich zurück bis an den Steilhang auf der anderen Seite des Pfads. „Ich will nicht!“ Sie warf einen panikerfüllten Blick auf das Pferd und fügte in verändertem Tonfall hinzu: „Ich kann das nicht!“

Er zuckte die Achseln und hob den Jungen auf einen Felsvorsprung.

„Lassen Sie ihn los!“ Verzweifelt ballte sie die Faust und holte aus, um ihn zu schlagen, aber er hielt sie mühelos am Handgelenk fest. In diesem Moment glitt der Mond hinter den Wolken hervor, und sein helles, silbriges Licht fiel über die Landschaft – und auf das Gesicht der Frau.

Gabriel war bestimmt schon ein Dutzend Mal bewusstlos geschlagen worden, jedes Mal hatte er gedacht, sterben zu müssen. Er hatte auch schon einmal einen Huftritt gegen den Kopf abbekommen, und das hatte ihn eine ganze Weile außer Gefecht gesetzt.

Und ein paar Mal in seinem Leben war er so betrunken gewesen, dass er jedes Gefühl für Zeit und Ort verloren hatte.

Ihr Gesicht im Mondlicht zu sehen war wie alle diese Male zusammengenommen. Und mehr. Gabriel hörte auf zu atmen. Er vergaß zu sprechen. Er war außerstande, irgendetwas zu denken. Er konnte sie nur anstarren, immer weiter anstarren.

Sie hatte das bezauberndste Gesicht, das er je gesehen hatte – rund, süß, traurig und irgendwie … vollkommen; umrahmt von einer Flut dunklen, lockigen Haars. Ein zur Erde herabgestiegener Engel. Mit einem Mund, der zum Küssen einlud.

Sie erwiderte seinen Blick. Ihre Augen waren wunderschön; Augen, in denen ein Mann versinken konnte, wie er fand. Er fragte sich, welche Farbe sie wohl hatten.

„Lassen Sie mich auf der Stelle los!“, fauchte der Engel, und plötzlich strömte die Luft wieder in Gabriels Lungen. Der Engel war durch und durch menschlich. Und über alle Maßen verängstigt.

Er hob ihre Faust hoch und schüttelte sie leicht. „Damit hätten Sie sich selbst mehr wehgetan als mir.“ Er drehte ihre Faust so, dass der Handrücken nach unten zeigte, und erklärte es ihr. „Sehen Sie, in welcher Position sich Ihr Daumen befindet? Wenn Sie mich so geschlagen hätten, wäre er übel verstaucht, wenn nicht gar gebrochen gewesen. Mein Kopf ist ziemlich hart.“

Verunsichert runzelte sie die Stirn. Seine Taktik verwirrte sie, genau wie er beabsichtigt hatte. Ihr kleiner wohlgerundeter Körper schien vor Anspannung zu vibrieren, aber sie hörte ihm zu.

„Wenn Sie das nächste Mal jemanden schlagen wollen – irgendjemanden, vielleicht einen armen, unschuldigen Kerl, der zufällig im Dunklen über Sie hinwegreitet und so verhindert, dass Sie die Klippe herunterstürzen, beispielsweise – dann halten Sie Ihre Faust so.“ Er zeigte es ihr. „Und dann schlagen Sie dem Kerl mit dem Handballen – nicht mit den Fingerknöcheln – genau auf die Nase.“ Er sah sie an. „Oder auf das Kinn, wenn Sie zu klein sind, um an seine Nase heranzukommen.“

Ihre Augen wurden schmal. „Ich bin nicht klein.“

„Nein, natürlich nicht“, versicherte er ihr ernsthaft. „Aber was noch besser wäre …“ Er bückte sich, hob einen Stein auf und drückte ihn ihr in die Hand. „Wenn Sie einen Menschen damit treffen, ist das noch wirkungsvoller. Vergewissern Sie sich nur, dass er groß genug ist, um in Ihre Handfläche zu passen, und Sie ihn gut greifen können. Er darf nicht so klein sein, dass Sie die Finger vollständig darum schließen können. Sie müssen den Mann mit dem Stein treffen, nicht mit Ihrer Hand. Wenn Sie also das nächste Mal Angst um Ihr Leben haben, denken Sie an den Stein.“ Er ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück.

Sie hielt den Stein krampfhaft fest und sah Gabriel verblüfft an.

Er unterdrückte ein Lächeln. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war unbezahlbar. Überrumpelungstaktiken waren schon immer seine Stärke gewesen. „Sie wissen genau, dass ich Ihnen oder Ihrem Jungen niemals etwas antun würde. Also seien Sie vernünftig und steigen Sie auf mein Pferd.“

„Ich … ich mag keine Pferde. Ich gehe lieber zu Fuß.“

„Seien Sie nicht albern. Es sind noch fünf Meilen, und der Sturm wird immer heftiger.“

„Das ist mir gleichgültig. Ich bin schon viel weiter als fünf Meilen gelaufen.“

„Aber nicht im Dunkeln, bei Sturm und mit nur einem Schuh“, erinnerte er sie. „Kommen Sie, Madam, ich hebe Sie hoch.“

Sie wehrte ihn mit der Hand ab. „Nein, nein, ich kann nicht!“

Gabriel sah, dass sie tatsächlich panische Angst hatte. „Ganz ruhig, Trojaner ist ein sehr sanftes Tier. Sie brauchen wirklich keine Angst …“

„Ich habe keine Angst!“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte Gabriel ihr zu. Sie war außer sich vor Entsetzen. „Ich halte Sie ganz fest, und Sie werden vollkommen sicher sein. Ich hebe Sie nur …“

„Sie werden nichts dergleichen tun!“

„Ist das Ihr letztes Wort?“

Sie nickte steif. „Allerdings.“

„Ausgezeichnet.“ Ehe sie sich versah, hatte Gabriel sie hochgehoben und sie im Damensitz auf das Pferd gesetzt. Trojaner, das brave Tier, blieb ganz ruhig stehen. Sekunden später hatte Gabriel sich hinter sie in den Sattel geschwungen und schlang den Arm fest um sie, ehe sie wieder vom Pferd springen konnte. Sie stieß einen leisen, erstickten Schrei aus.

In der einen Hand hielt sie noch immer den Stein, den Gabriel ihr gegeben hatte. Unsicher holte sie damit aus. Gabriel wartete ab.

Trojaner stampfte mit den Hufen und bewegte sich nervös.

Geräuschvoll sog sie den Atem ein und ließ den Stein fallen. Mit dem freien Arm ruderte sie hilflos in der Luft herum, berührte Trojaners Mähne, zuckte zurück und tastete nach irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte. Sie fand Gabriels Oberschenkel und bohrte die Finger hinein.

Gabriel streckte die Hand nach dem Jungen aus, der noch immer auf dem Felsvorsprung stand und die Szene mit bedrückter Miene verfolgte. „Komm, Nicky, nimm meine Hand.“

Das Kind zögerte. Gabriel sah, dass beide Todesangst vor seinem Pferd hatten.

„Ich verspreche dir, du fällst nicht. Nimm einfach meine Hand, dann ziehe ich dich hinter mich in den Sattel.“

Wieder schüttelte der Junge den Kopf.

„N…Nicky kann nicht reiten“, stieß sie gepresst hervor.

„Das verlange ich auch nicht von ihm“, erwiderte Gabriel geduldig. „Das Reiten übernehme ich, er braucht nur hinter mir zu sitzen und sich festzuhalten.“

„Und ich kann auch nicht reiten.“ Sie packte seinen Schenkel fester.

„Ich weiß. Aber ich halte Sie ganz fest, sehen Sie?“ Zum Beweis drückte er sie sanft an sich. Sie saß so steif da, dass er das Gefühl hatte, sie zerbrechen zu können. „Und ihn halte ich auch fest.“

„Wenn Sie mit einer Hand mich festhalten und mit der anderen Nicky, wer hält dann das Pferd?“, fragte sie mit bebender Stimme.

„Ich. Mit meinen Schenkeln.“

„Mit was?“ Trotz ihrer Angst schien sie empört.

Er lächelte in sich hinein. Offensichtlich hatte sie noch gar nicht gemerkt, dass das, woran sie sich so verzweifelt festklammerte, sein Oberschenkel war. „Es sind sehr starke Schenkel, und Trojaner ist ein sehr gut ausgebildetes Pferd. Jetzt komm, Nicky, es fängt jeden Moment zu regnen an.“ Noch während er sprach, fielen die ersten schweren Tropfen.

„Tu, was er sagt, Nicky“, meinte die Frau schließlich.

Sichtlich skeptisch streckte der Junge zögernd die Hand aus und hielt sich an Gabriels fest.

„Braver Junge. Jetzt stellst du den linken Fuß auf meinen Stiefel hier, und wenn ich dir das Kommando gebe, schwingst du dein rechtes Bein hinter mir über den Pferderücken. Du bist vollkommen sicher, ich lasse dich nicht fallen.“ Der Junge schloss die Augen und gehorchte mit blindem Vertrauen. Gleich darauf saß er hinter Gabriel auf Trojaner. „Jetzt schlüpfst du ganz unter meinen Umhang, damit du nicht nass wirst, wenn es richtig zu regnen anfängt. Du kannst dich an meinem Gürtel oder an meiner Taille festhalten, ganz wie du willst.“ Gabriel spürte, wie sein Umhang angehoben wurde, dann schlangen sich zwei dünne Ärmchen fest um seine Taille.

Gabriel trieb sein Pferd an, und Trojaner setzte sich in Bewegung. Die Frau und der Junge klammerten sich wie Ertrinkende an Gabriel.

Der eisige Regen rann über sein Gesicht und unter seinen Umhang. Gabriel fror, er wurde nass, und eigentlich hätte er sich elend fühlen müssen. Stattdessen breitete sich ein plötzliches Hochgefühl in ihm aus, und er schmunzelte. Noch vor einer Stunde hatte sein Leben öde vor ihm gelegen, eine endlose Zeitspanne der Sinnlosigkeit und Leere. Eine lebenslange Verurteilung zu Beschaulichkeit und Langeweile.

Jetzt hatte er plötzlich – Gott sei Dank! – ein Problem, Schwierigkeiten, eine Aufgabe. Und sie saß steif und starr in seinem Arm, wie ein kleines nasses Stück Holz, mit fest geschlossenen Augen und sich an sein Bein klammernd, als wollte sie es nie wieder loslassen; sein höchsteigenes kleines Problem.

Es gefiel Gabriel ganz ausgezeichnet.

 

Callie schloss die Augen und ergab sich ihrem Schicksal. Wenn sie das Gefühl gehabt hätte, dieser Mann würde sie und ihren Sohn in irgendeiner Weise bedrohen, hätte sie sich zur Wehr gesetzt. Aber sie musste zugeben, dass er sehr freundlich zu Nicky gewesen war und zu ihr ebenfalls. Außerdem hatte sie keine Kraft mehr zum Kämpfen. Sie wusste nicht, wohin er sie brachte, aber das konnte auch nicht schlimmer sein, als nachts im strömenden, eisigen Regen allein über eine Klippe zu wandern und nicht zu wissen, wo sie überhaupt war.

Das Schlimmste war das Pferd.

Sie hasste Pferde. Sie hatte auf keinem mehr gesessen, seit sie sechs Jahre alt gewesen war und Mama … Sie erschauerte und sah alles wieder deutlich vor sich, als ob es erst gestern gewesen wäre – der Pferdehuf, der Mama am Kopf traf, das viele Blut…

Selbst Rupert war es nicht gelungen, sie wieder in die Nähe eines Pferdes zu bringen.

Doch wenn Nicky dadurch eher ins Warme und in Sicherheit gelangte, nun, dann konnte sie sich mit allem abfinden.

„Nicky, geht es dir gut?“, rief sie nach hinten.

„Ja, Mama.“ Sie spürte die flüchtige Berührung kleiner Finger an ihrer Taille und griff dankbar nach der Hand ihres Sohns. Ihr eigener kleiner Rettungsanker.

„Nicky hat es warm und trocken unter meinem Umhang“, sagte Gabriel Renfrew, und sein warmer Atem streifte ihr Ohr. „Machen Sie sich seinetwegen also keine Sorgen. Sie hingegen sind halb erfroren. Lehnen Sie sich an mich, dann kann ich den Umgang um Sie herum zuknöpfen. Auf die Weise ist uns allen wärmer.“

Aber Callie schaffte es einfach nicht, sich zu bewegen. Sie war überzeugt, dass sie vom Pferd fallen würde, wenn sie es täte.

„Kein Angst, ich halte Sie ganz fest“, versprach er wieder. Seine tiefe Stimme klang tröstlich, trotzdem brachte sie es nicht über sich, ihre Sitzhaltung auch nur einen Millimeter zu verändern. Sie saß kerzengerade da, hielt die Augen weiter fest geschlossen und klammerte sich an Nickys Hand fest.

Seufzend zog er sie an seine Brust. „Bleiben Sie so, ich bin gleich fertig.“

Callie öffnete die Augen einen Spalt und schloss sie sofort wieder. Er knöpfte den Umhang zu. Mit beiden Händen. Niemand hielt die Zügel des Pferdes, sie konnte gar nicht hinsehen.

„Sie dürfen ruhig atmen“, murmelte er ihr ins Ohr. „So ist es besser. Angenehmer?“

Angenehm? Auf einem Pferd? Sie schauderte.

„Der Sattelknauf stört Sie, nicht wahr?“ Er hob sie leicht an, bis sie auf seinem Schoß saß, fest in seine Arme und an seine breite warme Brust geschmiegt, eingehüllt in seinen Umhang.

„Das ist geradezu eine Entführung“, murrte sie.

„Ja, schändlich, ich weiß. Aber was sollte ich machen? Sie sind völlig durchnässt und durchgefroren.“

„Das sind Sie jetzt auch“, gab sie zu bedenken.

„Ja, aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Nicht, dass ich allerdings auch nur ansatzweise leiden würde.“

Callie ebenfalls nicht. Ihr war warm, und sie fühlte sich seltsamerweise beinahe sicher – obwohl sie auf einem Pferd saß. In vertraulicher Umarmung eines Mannes, dem sie noch nie zuvor begegnet war.

Es war höchst … beunruhigend, seinen Schenkel unter sich zu spüren, hart und muskulös. Und die Wärme seiner Brust an ihrem … Busen. Und seine Arme, die sie so stark, warm und vertraulich umfangen hielten.

Doch dieser große, starke Körper strahlte die Wärme aus, nach der sie sich so sehnte, denn ihr war kalt, so schrecklich kalt. Ganz allmählich, beinahe gegen ihren Willen, schmiegte sie sich fester an ihn und sog begierig seine Wärme und seine Kraft in sich auf.

Unter ihrer Wange spürte sie das teure Leinen seines Hemds. Er roch nach Pferd, Rasierwasser, Leder und Rauch … der Duft eines Mannes.

Sie glaubte beinahe, seinen Herzschlag hören zu können, stark und gleichmäßig…

Seltsam, dachte sie. Rupert hatte ebenfalls nach Pferd, Rasierwasser und Rauch gerochen, aber das war völlig anders gewesen. Hör auf damit!, ermahnte sie sich. Diese sinnlosen Träumereien, dies törichte Sehnen nach etwas, das sie niemals haben würde, hatten sie in der Vergangenheit so unglücklich gemacht. Jetzt war sie älter und klüger geworden. Sie würde selbst ihr Glück finden und nie mehr von anderen Menschen – von anderen Männern – abhängig sein.

Sie war in England und würde schon bald bei Tibby in Sicherheit sein. Diese … Schwäche kam nur daher, weil sie sich kalt, durchnässt und müde fühlte. Und weil er so groß, warm und stark war.

Genau das war das Problem. Weil er größer und stärker war, würde er sich durchsetzen, so wie Männer das immer taten. Männer hörten nie zu. Callie hatte genug davon. Sobald sie bei Tibby war, würde sie nie wieder Befehle von Männern entgegennehmen müssen.

„Ist Ihnen jetzt wärmer?“ Seine tiefe Stimme hallte vibrierend in seiner Brust wider.

„Ja“, antwortete sie, und ihr Gewissen zwang sie hinzuzufügen: „Vielen Dank.“

„Nicky“, rief er etwas lauter, „wir werden jetzt etwas schneller reiten, also halt dich gut fest.“

Callie hörte Nickys gedämpfte Zustimmung. Er klang nicht besonders ängstlich. Doch dann wechselte das Pferd die Gangart, und sie schloss die Augen, hielt sich krampfhaft fest und versuchte, nicht an die aufblitzenden Hufe zu denken… Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf den Mann, der sie so sicher im Arm hielt.

 

„Wir sind da“, ertönte die tiefe Stimme einige Zeit später dicht an ihrem Ohr. „Sind Sie wach?“

Callie schlug die Augen auf und starrte ihn an. „Wach?“, rief sie ungläubig aus. „Natürlich bin ich wach!“

„Wirklich?“ Seine weißen Zähne blitzten auf, als er lächelte.

Callie wandte den Kopf, um zu sehen, wo sie war. Sie befanden sich vor einem stattlichen dreistöckigen Gebäude aus Stein mit Fenstergauben in einem Schieferdach. Eine einzelne dünne Rauchfahne stieg aus einem der vielen Schornsteine auf.

Sie ritten durch einen schönen steinernen Torbogen in einen kopfsteingepflasterten Innenhof. Ein großer schwarzer Hund rannte bellend auf sie zu, doch sein Bellen ging über in freudiges Winseln, als er seinen Herrn erkannte.

„Wo sind wir?“, fragte sie angespannt. „Ich dachte … Das hier ist nicht Lulworth.“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass ich Sie nach Lulworth bringen würde. Bis dorthin ist es viel zu weit in einer Nacht wie dieser, und selbst Trojaners Ausdauer hat ihre Grenzen.“

„Aber wo …“

„Willkommen in meinem Zuhause“, sagte er.

2. Kapitel

Sein Zuhause

Wer immer dieses Haus gebaut hat, dachte Callie, hatte eine Vorliebe für Licht. Die Vorderfront des Gebäudes bestand fast nur aus Fenstern, und als sie seitlich am Haus vorbei auf die Stallungen zuritten, entdeckte sie ein riesiges, achteckiges Erkerfenster, das sich fast über die gesamte Höhe der Wand erstreckte. Der Raum dahinter war bei Tag bestimmt sonnendurchflutet.

Jetzt war das Haus still und dunkel, abgesehen von einer einzelnen Laterne am Hintereingang. Durch den eisigen Nieselregen wirkte ihr goldener Schein anheimelnd und einladend, aber sie hielten geradewegs auf das Tor zu den Stallungen zu.

Vor Furcht war Callie flau im Magen. Er hatte sie zu seinem Haus gebracht. Warum? Alle möglichen Gründe schossen ihr durch den Kopf, sie konnte nicht klar denken.

Es war so schwierig zu entscheiden, wem sie trauen konnte und wem nicht. Zu wissen, dass das Leben ihres Sohnes von ihrer Menschenkenntnis und von ihren Entscheidungen abhing. Bislang hatte sich ihre Menschenkenntnis als eher kläglich erwiesen.

Gabriel Renfrew brachte das Pferd zum Stehen. „Nicky, gib mir deine Hand, dann lasse ich dich hinunter.“

Nicky stieg ab und brachte sich so schnell er konnte vor dem Pferd in Sicherheit.

„Er tut dir nichts, das verspreche ich dir.“ Gabriel wandte sich an Callie. „Ich sitze zuerst ab, und dann helfe ich Ihnen …“

Sie sprang vom Pferd und brachte wie ihr Sohn einen sicheren Abstand zwischen sich und Trojaner. Gabriel fing an, ihn abzusatteln.

„Machen Sie das selbst?“, rief sie ihm zu.

„Im Moment ist sonst niemand da. Barrow, mein Faktotum, verbringt mit Mrs Barrow ein paar Tage in Poole. Ich bin gleich fertig.“

„Ich übernehme das, Mr Gabriel“, ertönte eine Stimme hinter ihm. Gabriel drehte sich um. Ein Mann mittleren Alters hastete auf sie zu; er hatte sein Nachthemd in den Bund seiner Hose gesteckt, seine Schuhe waren nur lose zugeschnürt. Sein schütteres Haar lugte unter einer roten Nachtmütze hervor.

„Barrow! Ich dachte, Sie wollten bis Ende der Woche in Poole bleiben!“

Barrow schüttelte den Kopf. „Nach ein paar Tagen habe ich es mir anders überlegt. Zu viel Weiberregiment! Da kann ein Mann kaum atmen – vier Frauen in einer kleinen Hütte, drei davon Witwen!“ Mit gequälter Miene nahm er Gabriel die Zügel ab. „Sehen Sie mich nicht so an, Mr Gabriel. Sie haben ja keine Ahnung, wenn Sie das noch nicht selbst erlebt haben. Meine Bess ist eine gute Frau, aber dieses Theater, das ihre Ma und ihre Schwestern veranstalten!“ Er schauderte. „Und jedes verdammte Möbelstück, jeder Stuhl, jeder Tisch, selbst die Anrichte ist bedeckt mit kleinen gehäkelten … Dingern!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben erledigt, wozu wir dorthin gefahren sind, haben uns mit ihrer Ma und ihren Schwestern getroffen und ein paar Burschen für die Stallungen eingestellt.“ Er lächelte grimmig. „Ich sollte Sie lieber vorwarnen, Mr Gabriel. Mrs B. will auch noch Hilfe für den Haushalt einstellen, jetzt, wo Sie wieder zu Hause sind. In ein paar Tagen muss ich wieder nach Poole, um sie alle abzuholen. Wahrscheinlich brauche ich dazu ein ganzes Fuhrwerk. Sie hätten dabei sein sollen, um ihr Einhalt zu gebieten.“ Er sah zu Callie hinüber und zwinkerte ihr zu. „Nicht, dass es einen Mann gäbe, der meiner Bess Einhalt gebieten könnte, aber Mr Gabriel …“

„Mr Gabriel würde nicht im Traum daran denken, so etwas überhaupt zu versuchen“, unterbrach Gabriel ihn. „Dazu habe ich viel zu großen Respekt vor ihr.“

Barrow lachte leise. „Zu viel Respekt vor ihren Kochkünsten meinen Sie wohl eher. Und wen haben wir hier? Gäste? Eine ziemlich ungemütliche Nacht, um draußen unterwegs zu sein.“ Herzlich lächelte er die beiden kläglichen Gestalten an.

„Ja, diese Dame hier und ihren Sohn Nicky“, erklärte Gabriel.

„Mrs B. wird entzückt sein.“ Er betrachtete Nicky und zwinkerte Callie dann erstaunlicherweise erneut zu. „Passen Sie gut auf den Jungen auf, Missy! Meine Frau bekommt kleine Jungs nur zu gern zwischen die Finger.“

Schnell legte Callie schützend den Arm um Nicky. Sie würde nicht zulassen, dass irgendeine fremde Frau Hand an ihren Sohn legte, und noch nie hatte ihr jemand zugezwinkert, schon gar nicht ein Bediensteter!

Rupert hätte den Mann auspeitschen lassen.

Sie war sehr froh, dass Rupert nicht hier war. Ihr war immer schlecht geworden, wenn er Leute ausgepeitscht hatte.

Barrow sprach bereits weiter. „Ich kümmere mich um Trojaner, Mr Gabriel, während Sie die beiden ins Warme bringen. Sieht ja ganz mitgenommen aus, das arme kleine Mädchen.“

Das arme kleine Mädchen zwang sich, den Mund zu halten. Callie fühlte sich in der Tat sehr mitgenommen, und das wirkte sich negativ auf ihre Laune aus. Beinahe hätte sie den freundlichen älteren Mann wegen seiner übermäßigen Vertraulichkeit gehörig in seine Schranken verwiesen. Dabei war sie normalerweise gütig und ausgeglichen. Sie beschloss, dass sie das auch wieder sein würde, sobald sie herausgefunden hatte, wer diese Leute waren und wohin sie sie und ihren Sohn gebracht hatten. Und sobald sie aufgehört hatte zu zittern.

Für ihre schlechte Laune gab es schließlich Gründe, einige sogar. Im eiskalten Meer ausgesetzt, überrannt, entführt und dann zum Reiten gezwungen zu werden, all das war nicht gerade förderlich für ein zuvorkommendes Verhalten. Genauso wenig wie fortwährende Angst.

„Ja, sie ist erschöpft“, stimmte der momentane Grund für ihre Verstimmung zu. „Ich fürchte, sie hat viel durchgemacht. Sie ist völlig durchnässt, durchgefroren, hat ihr Gepäck verloren und hat sich bei alldem auch noch verletzt.“

Ich habe mich nicht selbst verletzt!“, gab sie gereizt zurück. „Ihr Pferd hat mich getreten!“

„Trojaner? Nie im Leben!“, rief Barrow erstaunt aus. „Er ist sanft wie ein Lamm, nicht wahr, mein Schöner?“ Er tätschelte den Pferdehals.

„Um dem Pferd Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – Sie haben sich ihm geradewegs vor die Hufe geworfen“, wandte Gabriel ein.

„Oh ja, lassen wir dem Pferd unbedingt Gerechtigkeit widerfahren!“ Sie wandte sich empört an Barrow. „Er ist mit diesem schrecklichen Geschöpf über den Kopf meines Sohns hinweggesprungen! Und dagegen hatte ich etwas.“

„Mr Gabriel? Er soll mit dem Pferd über ein Kind gesprungen sein?“, wiederholte Barrow entsetzt. „Das kann ich nicht glauben.“

Mr Gabriel sagte gar nichts. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und sein Blick ruhte anerkennend auf Callie.

Callie strich sich das Haar nach hinten und wich seinem Blick aus. Ihr Knoten hatte sich aufgelöst, die nassen Strähnen fielen ihr wirr über die Schultern. Ihr war klar, was für einen Anblick sie bieten musste.

„Mr Gabriel … Sie lächeln ja!“, rief Barrow aus, als wäre das etwas ganz Ungewöhnliches.

Genau in dem Moment begann Callies Magen vernehmlich zu knurren. Sie hüstelte, um das Geräusch zu übertönen.

Barrows Schmunzeln vertiefte sich. „Bringen Sie die junge Dame ins Haus, und geben Sie ihr etwas zu essen. Wie, sagten Sie, ist Ihr Name, Miss?“

„Prin…“ Callie biss sich gerade rechtzeitig auf die Zunge. Sie spürte, wie sie noch mehr errötete, und hoffte, dass ihnen ihr Beinaheversprecher nicht aufgefallen war. „Prynne“, sagte sie. In ihrer Müdigkeit hatte sie einen Augenblick lang vergessen, wer sie war. Oder besser gesagt, wer sie zu sein vorgab. „Ich bin Mrs Prynne, und das ist mein Sohn Nicholas.“ Sie sah zu Nicky, der in die Hocke gegangen war, um den Hund zu streicheln. Jetzt richtete er sich auf und verbeugte sich höflich. Callie nagte an ihrer Unterlippe. Eigentlich sollte sie ihrem Sohn nicht beibringen, so mühelos zu lügen und sich zu verstellen, aber sie hatte keine andere Wahl. Auf dieser Reise hatten sie bereits mehrere falsche Namen benutzt. Eben hätte sie sich fast zum ersten Mal verplappert und Prinzessin gesagt. Sie war so schrecklich müde.

Und dieser Mann brachte sie ganz durcheinander. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu, um herauszufinden, ob er ihren Versprecher bemerkt hatte. Er betrachtete Nicky mit einem leichten Stirnrunzeln. Vielleicht hatte er etwas dagegen, dass ihr Sohn seinen Hund streichelte.

„Nicky“, sagte sie ruhig und gab ihm ein Zeichen, den Hund in Ruhe zu lassen. Nicky stellte sich neben sie. Sein Hinken war schlimmer als sonst; das Erklimmen der Klippen hatte ihn anscheinend völlig erschöpft.

„Sehr erfreut, Ma‘am“, sagte Barrow gerade. „Sie sind also Witwe, wie?“

Sie zuckte leicht zusammen. Die Angewohnheit der einfachen Leute, direkte, persönliche Fragen zu stellen, schockierte sie immer noch ein wenig. Es war schlichtweg nicht höflich, jemanden so vertraulich auszufragen. Doch die Antwort auf diese Frage konnte sie bereits auswendig – durch harte Erfahrungen hatte sie gelernt, welche Antwort ihr und Nicky am besten weiterhalf. „Nein, natürlich nicht. Mein Mann ist auf der Straße aufgehalten worden und kommt in Kürze nach.“ Zu spät erkannte sie, dass sie hätte sagen müssen, er wäre auf See aufgehalten worden. Oder sonst irgendetwas. Wieder warf sie Mr Renfrew heimlich einen Blick zu. Er wusste, dass sie mit dem Schiff gekommen war. Sie schluckte und versuchte, eine gleichgültige Miene aufzusetzen.

Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck sah er sie an. „Mrs Prynne, ich denke, Sie sind am Ende Ihrer Kräfte“, sagte er sanft. „Und Ihr Sohn ebenfalls. Kommen Sie, ich bringe Sie beide ins Warme.“

Nicky machte zwei unbeholfene Schritte. Ohne zu zögern hob Mr Renfrew ihn hoch und trug ihn aus dem Stall.

Callie eilte ihm nach. „Was machen Sie da?“

„Er hat sich wehgetan. Haben Sie denn nicht gesehen, dass er hinkt? Ziemlich stark sogar.“ An Nicky gewandt fuhr er fort: „Mach dir keine Sorgen, Junge, wir kümmern uns um deinen Fuß.“

„Aber …“, fing sie an und verstummte. Nicky hatte keine Anstalten gemacht, sich zu wehren, und das sah ihm gar nicht ähnlich. Er musste wirklich sehr erschöpft sein.

„Prynne“, meinte Gabriel, als sie den Hof überquerten. „Ein interessanter Name. Sind Sie Quäkerin?“

„Nein.“

Er trug Nicky in eine große, offene Landhausküche. Sie wirkte behaglich; Kupfertöpfe blinkten im Schein der Lampen, und es duftete nach Essen und Gewürzen. Mitten im Raum standen ein riesiger, blank gescheuerter Holztisch und um ihn herum zwölf Stühle mit hohen Rückenlehnen.

Eine große rundliche Frau mittleren Alters erwartete sie bereits. Sie trug einen Morgenrock über ihrem Nachthemd, darüber ein Schultertuch und obendrein eine Schürze. Mrs Barrow, wie Callie vermutete.

„Was für eine schreckliche Nacht!“, sagte die Frau. „Bringen Sie das kleine Kerlchen und die Dame ans Feuer, Mr Gabriel. Auf dem Herd steht heißes Wasser. Ich beziehe rasch die Betten im blauen Zimmer.“

Trotz der Größe des Raums und des Steinfußbodens war es herrlich warm in der Küche. Die Glut in dem großen, schmiedeeisernen Herd schimmerte rötlich durch den Gitterrost.

„Da wären wir.“ Gabriel stellte Nicky auf einen Flickenteppich vor dem Herd. „Setz dich und wärm dich auf“, sagte er. „Das Gleiche gilt für Sie.“

„Vielen Dank.“ Dankbar ließ Callie sich auf einem Stuhl nieder, während Nicky sich auf den Teppich setzte. Die Größe, Sauberkeit und Gemütlichkeit der Küche wirkten beruhigend auf sie. Zu viele Menschen hatten sie schon belogen, daher vertraute sie Fremden nicht so ohne Weiteres, aber eine blank gescheuerte Küche … das war etwas anderes.

Auch böse Menschen können sauber und freundlich wirken, rief sie sich in Erinnerung. Sie mochte zwar erschöpft sein – sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal nachts richtig gut geschlafen hatte –, dennoch musste sie wachsam bleiben. Ihre Reise war noch lange nicht zu Ende.

Mr Renfrew legte seinen nassen Umhang ab und hängte ihn an einen Nagel an der Tür. Dann zog er seine feuchte Jacke und Weste aus und drapierte beides über eine Stuhllehne, ehe er die Hemdsärmel hochkrempelte, die Herdklappe öffnete und in den glühenden Kohlen herumstocherte.

Callie starrte auf seine nackten gebräunten Unterarme und die großen kräftigen Hände, während er Holzspäne auf die Kohlen gab und schließlich größere Scheite darüberlegte. Er griff nach einem Blasebalg, und Flammen loderten auf. Ihr Schein fiel auf sein Profil und betonte die kühne Nase und das kantige Kinn.

Sein Hemd stand etwas offen, und Callie betrachtete seinen starken Hals. Die Flammen züngelten und knisterten. Sie hätte ihn nicht so anstarren sollen, aber sie musste die Augen offen halten, um nicht einzuschlafen, und er stand nun einmal genau vor ihr.

Er war nicht direkt ein schöner Mann, nicht so wie die jungen Männer, die Callie als Mädchen bewundert hatte, und doch sah er auf eine eigenartige Weise äußerst attraktiv aus. Straff, stark und furchtlos. Ein wohlgestalteter, markanter Krieger, reduziert auf das Wesentliche. Beeindruckend.

Er hatte sie über den Haufen geritten, hatte ihre ausdrücklichen Wünsche einfach ignoriert – und sie und ihren Sohn dennoch mit überraschender Sanftheit behandelt. Sie fühlte sich umsorgt, beschützt…

Als er sich aufrichtete, konnte sie nicht umhin, ihn weiter anzustarren. Er trug hohe Stiefel und eine Reithose aus Hirschleder, die sich feucht an seine langen, muskulösen Beine schmiegte. Ihr fiel ein, wie er ihr gesagt hatte, seine Schenkel wären stark. Nun, sie sahen auch stark aus.

Auch Rupert hatte kräftige Oberschenkel gehabt. Wahrscheinlich war das bei allen Reitern so, aber Ruperts waren irgendwie … fleischiger gewesen.

Er war mit dem Schüren des Feuers fertig und wandte sich an Nicky. „So, und nun sehen wir uns einmal dein Bein an.“

Nicky wich verschämt zurück. „Es ist alles in Ordnung“, murmelte er.

„Hab keine Angst. Ich tue dir nicht weh, aber du hast eben ziemlich stark gehinkt, und es ist nicht gut, eine Verletzung nicht zu beachten; lass dir das von einem alten Soldaten gesagt sein.“

Nicky sah zur Seite. „Es ist nichts.“

„Nickys Bein hat bei seiner Geburt Schaden genommen“, erklärte Callie steif. „Es macht sich nur deutlicher bemerkbar, wenn er müde ist, das ist alles.“ Jedes Mal, wenn Nicky darüber reden musste, empfand sie das wie einen Messerstich ins Herz. Sie wusste, es war ihre Schuld, dass ihr Sohn diese Bürde zu tragen hatte. Sie bereitete sich innerlich auf das vor, was als Nächstes kommen würde – Verlegenheit, Mitleid, Fragen.

Mr Renfrew überraschte sie. „Ach, dann ist es ja gut“, sagte er sachlich zu Nicky. „Ich hatte nur Angst, ich hätte dich verletzt. Wenn das so ist, wie wäre es, wenn du mir ein paar saubere Handtücher aus dem Schrank dort drüben holen würdest, Nicky? Ich bringe inzwischen heißes Wasser.“

Nicky eilte davon, und Callie warf Gabriel Renfrew stumm einen dankbaren Blick zu. Nur sehr wenige Männer aus ihrem Bekanntenkreis vermochten einem kleinen verkrüppelten Jungen das Gefühl zu vermitteln, zu etwas nützlich zu sein.

Nun nahm Renfrew einen Fidibus aus einer Blechdose, hielt ihn ins Herdfeuer und richtete sich auf, um die Lampe anzuzünden, die über ihnen von der Decke herabhing. Dazu musste er sich strecken, und Callie sah, wie das Hemd über seiner mächtigen breiten Brust spannte. An diesem Mann schien überhaupt nichts Weiches zu sein.

Sie hatte die Wange an diese Brust geschmiegt. Sie hatte seinen Herzschlag gehört.

Er hatte ihren Sohn so einfühlsam behandelt und seine Würde geachtet. Und er hatte sie beide aus der Kälte ins Warme geholt.

Sanftes Lampenlicht erhellte die Küche, und als Callie den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke.

„Grün!“, sagte er zufrieden. Er stutzte den Docht und trat einen Schritt zurück.

Sie runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„Seit ich Ihnen begegnet bin, habe ich mich gefragt, welche Farbe sie wohl haben.“

„Was hat welche Farbe?“

„Ihre Augen. Sie sind grün.“

Sie zuckte zusammen und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Nicky kam mit einem ganzen Stapel Handtücher zurück, und Mr Renfrew füllte eine große Schüssel mit heißem Wasser. Er stellte sie vor Callie auf den Boden, kniete sich hin und zog ihr den verbliebenen Schuh aus.

„Was machen Sie da?“, fragte sie erschrocken.

„Ihre Füße sind in einem schrecklichen Zustand, haben Sie das noch nicht gemerkt?“

Callie sah genauer hin. Ihre Zehen waren blau angelaufen, aufgeschürft und blutig, noch dazu voller Schmutz. Sie waren wirklich kein schöner Anblick, aber das war ihr gar nicht aufgefallen. Ihre Füße waren furchtbar kalt gewesen, doch andere, wichtigere Dinge hatten sie davon abgelenkt. „Das muss passiert sein, als wir an Land gekommen sind. Ich weiß noch, dass ich mir die Zehen ein paarmal an Steinen gestoßen habe.“ Jetzt, wo sie daran dachte, verspürte sie auch Schmerzen.

„Hier, stellen Sie die Füße ins Wasser. Vorsicht, es ist heiß und ich habe Salz hineingetan. Dadurch wird es anfangs etwas brennen, aber es heilt.“

Behutsam tauchte sie die Füße in das heiße Wasser. Zuerst brannte es tatsächlich; ihre Füße waren eiskalt, und die Wunden taten weh, doch nach einer Weile fühlte es sich himmlisch an.

Sie lehnte sich zurück, genoss die entspannende Wärme und trocknete Nickys und ihr eigenes Haar mit einem Handtuch.

„Besser?“, fragte Gabriel Renfrew nach einer Weile.

„Oh ja, danke. Es ist herrlich“, erwiderte sie dankbar.

„Gut.“ Als er lächelte; sah sie, dass seine Zähne weiß und ebenmäßig waren. „Jetzt werde ich etwas Salbe auf die Abschürfungen auftragen. Mrs Barrow stellt eine ausgezeichnete Wundsalbe für Schnittwunden und Abschürfungen her.“

Fassungslos verfolgte Callie, wie er anfing, ihr die Füße abzutrocknen. „Das … das kann ich doch selbst tun“, stammelte sie. Es war ziemlich beunruhigend zu spüren, wie seine großen warmen Hände ihre Füße durch das Handtuch hindurch geradezu liebkosten.

Er lächelte erneut. „Ich weiß, aber es macht mir wirklich nichts aus. Nicky, könntest du mir bitte noch zwei weitere Handtücher holen?“

Ihr Sohn rannte davon, und sie sah in zwei arglose blaue Augen. „Ich glaube nicht, dass das sehr schicklich ist“, murmelte sie.

„Gefällt es Ihnen nicht?“

Sie betrachtete ihn verwirrt. Doch, es gefiel ihr. Natürlich gefiel es ihr. Genau darum ging es ja. Sie kannte ihn doch gar nicht, und er sollte nicht so … so intim mit ihren Füßen umgehen. Dadurch verspürte sie … etwas, dass sie einem Fremden gegenüber nicht hätte verspüren dürfen. Als er den letzten Zeh abgetrocknet hatte, sagte sie: „Danke, Sie können meine Füße jetzt loslassen.“

Er hörte nicht auf sie. Mit dem Finger nahm er etwas von der würzig duftenden Salbe aus einem kleinen Topf und fing an, ihre Füße damit einzureiben; bedächtig, sanft und beinahe sinnlich. Callie erschauerte vor Behagen, ihre Beine schienen zu prickeln.

Sie war hin- und hergerissen zwischen Wonne und Verlegenheit. Er versorgt nur meine Verletzungen, rief sie sich in Erinnerung. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht verhindern, dass sie auf seine Berührungen reagierte.

„Bitte, das genügt“, sagte sie. „Haben Sie nicht gehört? Ich hatte Sie gebeten, meine Füße loszulassen!“

„Ach so, loslassen – ich hatte verstanden anfassen“, erklärte er und sah sie mit einem Augenzwinkern an. „Anfassen, im Sinne von Massieren!“

Es verschlug ihr die Sprache. Er wusste, was er ihr damit antat! Er flirtete doch tatsächlich mit ihr! Diese Erkenntnis verblüffte sie. Noch nie hatte ein Mann mit ihr geflirtet. Erst war sie noch ein Kind gewesen und dann schon bald Ruperts Frau geworden. Niemand hätte es je gewagt, Ruperts Frau Avancen zu machen. Sie hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. „Das ist doch eine glatte L… Erfindung!“, gab sie kläglich zurück. Es widerstrebte ihr, den Mann in seinem eigenen Haus einen Lügner zu nennen.

„Aber eine Massage ist doch keine L… neue Erfindung!“ Er sprach ganz ernst, aber seine blauen Augen funkelten. „So etwas ist sehr hilfreich. Es hat schon so manchen Soldaten vor Erfrierungen und Frostbeulen bewahrt. Und bei müden Füßen fühlt sich so eine Massage wundervoll an, finden Sie nicht?“

„Ich habe nicht …“

„Außerdem sagen wir auf Englisch nicht ‚l’Erfindung‘, sondern nur ‚Erfindung‘.“ Seine Mundwinkel zuckten. Er wusste ganz genau, was sie eigentlich hatte sagen wollen.

Das Ganze war so lächerlich, dass sie unwillkürlich lachen musste. „Ich weiß sehr gut, wie wir das auf Englisch sagen. Schließlich bin ich hier geboren!“

„Ach, tatsächlich? Was für ein Zufall, ich auch – also haben wir schon etwas gemeinsam. Und ist Nicky ebenfalls hier geboren?“

„Nein“, sagte Nicky, der eben mit den Handtüchern zurückkam. „Ich bin in …“

„Nicky ist nicht hier geboren.“ Callie warf ihrem Sohn einen warnenden Blick zu. Niemand, nicht einmal ein großer, unerwartet freundlicher Mann, der flirtete, durfte erfahren, wer sie waren. „Und bitte, Sir, meine Füße sind jetzt wieder vollkommen in Ordnung, vielen Dank.“

„Erst wenn die Salbe eingezogen ist“, gab er unerschütterlich zurück und fuhr fort, sie mit seinen langen, kräftigen Fingern zu massieren. Er liebkoste jeden einzelnen Zeh und die Zwischenräume dazwischen, bis sie das Gefühl hatte, sie würde allmählich zu Wachs unter seinen Händen.

Es war vollkommen unschicklich und über alle Maßen himmlisch.

Callie betrachtete sein Gesicht, während er sich weiter um sie kümmerte. Ihr fielen die tiefen Linien um seinen Mund und der verlorene Ausdruck seiner Augen auf, wenn er vorübergehend vergaß, zu flirten. All das kam ihr plötzlich viel zu intim vor.

Sie schloss die Augen.

 

Gabriel holte eine Pastete aus der Vorratskammer. Mrs Barrow hatte Unmengen vorgekocht, gebraten und gebacken, bevor sie zu ihrer Mutter gefahren war.

„Ich wette, du hast großen Hunger, nicht wahr, Nicky?“ Er schnitt eine Scheibe von der Pastete ab und hielt sie dem Jungen hin. „Hier, iss das, Junge. Das ist kalte Schweinefleischpastete, ich kann sie nur empfehlen.“

Nicky zögerte und sah zu seiner Mutter. „Mama isst nie Schweinefleisch“, erwiderte er. „Papa sagt – hat gesagt, Schweinefleisch ist zu vulgär für Damen.“

„Ich verstehe“, murmelte Gabriel; die veränderte Zeitform war ihm nicht entgangen. Papa hörte sich nach einem ziemlichen Scheusal an.

Der Junge warf seiner Mutter, die fast eingeschlafen war, einen neuerlichen Blick zu.

„Lass sie“, flüsterte Gabriel. „Sie ist schrecklich müde. Iss einfach deine Pastete, dann gehen wir alle zu Bett.“

Zweifelnd sah Nicky auf die Pastetenscheibe und machte keine Anstalten, sie sich zu nehmen.

„Magst du auch kein Schweinefleisch?“, fragte Gabriel. „Also schön, wenn du sie nicht möchtest …“ Er nahm die Scheibe und biss herzhaft ein Stück davon ab.

Der Junge beobachtete ihn. „Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht mag“, meinte er, nachdem Gabriel den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte. „Ich bin sehr hungrig.“

„Na, dann schneide dir noch eine Scheibe ab, während ich dir etwas Warmes zu trinken mache.“

Nicky gehorchte und knabberte vorsichtig an der Pastete. Seine Augen weiteten sich. „Aber die schmeckt ja richtig gut!“

„Das habe ich dir doch gesagt.“ Gabriel schüttete etwas Milch in einen kleinen Topf. Bis er sie auf dem Herd erhitzt hatte, war Nicky längst fertig mit dem Essen und sah äußerst zufrieden aus. Gabriel goss die Milch in eine Tasse, rührte einen Löffel Honig hinein und reichte sie dem Jungen.

Nicky starrte die Tasse an, als enthielte sie eine giftige Schlange.

„Ist das Brauch bei euch, angebotenes Essen und Trinken beim ersten Mal abzulehnen? Hier bei uns ist es höflich, es gleich anzunehmen, also trink einfach die Milch, ja?“

Der kleine Junge wurde ganz blass. „Mama!“, jammerte er kläglich.

Seine Mutter erwachte, sah, wie Gabriel dem Kind die Tasse Milch geben wollte, sprang auf und schlug sie ihm aus der Hand. Die Tasse zerschellte auf dem Steinboden, Milch spritzte in alle Richtungen. Mrs Prynne zog den Jungen hastig hinter sich, sah sich um und griff nach dem Messer, das Gabriel benutzt hatte, um die Pastete zu schneiden.

„Was um alles in …“, begann Gabriel.

„Rühren Sie ihn nicht an!“ Sie war kampfbereit wie eine Löwenmutter, die ihr Junges verteidigen musste. „Nicky, hast du etwas davon getrunken?“

„Nein, Mama.“ Sichtlich erleichtert atmete sie auf.

„Es war nur warme Milch“, erklärte Gabriel knapp. Er bückte sich, um die Scherben aufzuheben.

Sie zückte das Messer. „Bleiben Sie, wo Sie sind!“

Er achtete nicht auf sie und ging zur Tür. Er öffnete sie und stieß einen Pfiff aus. Seine Hündin Juno stürzte fröhlich mit dem Schwanz wedelnd in die Küche. „Da“, sagte er und zeigte auf die Honigmilch auf dem Boden.

„Nein!“, keuchte der Junge und stellte sich zwischen den Hund und die Milch.

Juno wedelte noch einmal kurz mit dem Schwanz – sie mochte Kinder –, aber Fressen ging bei ihr vor, und so schob sie sich an dem Jungen vorbei und leckte die Milch auf. Die Frau und das Kind starrten Gabriel an, als wäre er ein Ungeheuer.

Gabriel nahm eine neue Tasse aus dem Schrank und schüttete heiße Milch aus dem Topf hinein. Zwei Augenpaare beobachteten ihn wie gebannt.

„Er hat vorhin noch etwas anderes hineingetan“, berichtete Nicky seiner Mutter.

„Aus diesem Topf hier, ja.“ Gabriel rührte einen Löffelvoll von einer zäh fließenden Masse in die Milch. „Das ist Honig. Warme Milch mit Honig. Davon kann man gut schlafen.“ Er trank aus der Tasse und hielt sie anschließend Nicky hin.

Eine ganze Weile sagte keiner etwas. Juno hatte die Milch restlos aufgeleckt, noch ein, zwei Pastetenkrümel gefunden und war jetzt bereit, ihre Bekanntschaft mit dem Jungen zu vertiefen. Sie stupste ihn freundlich mit der Schnauze an und wollte von ihm gestreichelt werden. Nicky befühlte ihre weichen Ohren, die kalte, feuchte Schnauze und sah ihr prüfend in die Augen. Froh über so viel Aufmerksamkeit wedelte sie mit dem Schwanz.

Der Junge und die Frau sahen von dem Hund zu dem Mann, zur Milchtasse und wieder zu dem Hund.

„Manchmal muss man den Menschen einfach vertrauen“, sagte Gabriel ruhig und stellte die Tasse auf den Tisch. „Wenn ich Ihnen etwas zuleide tun wollte, hätte ich Sie beide von der Klippe stoßen und mir viel Mühe ersparen können.“

Lange Zeit regte sich niemand. Callie versuchte, seinen Blick zu deuten. Seine Augen waren klar und blau. Aber man konnte doch einem Mann nicht nur vertrauen, weil er blaue Augen hatte…

Sie dachte daran, wie er sie vom Abgrund weggezogen und sie auf dem Pferd fest im Arm gehalten hatte, eingehüllt in seinen Umhang, um sie vor dem Regen zu schützen.

In die blauesten Augen starrend, die sie je gesehen hatte, nahm sie die Tasse und trank einen Schluck Milch. Sie war warm und schmeckte nach Honig. Nach nichts anderem, genau wie er gesagt hatte. Sie kostete noch einmal, nur um sicherzugehen.

Die Hündin stupste Nicky erneut an; ihre braunen Augen schimmerten feucht und vertrauensvoll. Ihr fehlte nicht das Geringste.

Langsam fiel die Anspannung von Callie ab. Sie nickte, gab Nicky die Tasse und legte das Messer zurück auf den Tisch. Mit zitternden Knien ließ sie sich wieder auf dem Stuhl nieder.

Vorsichtig trank Nicky von der Milch. Juno holte einen kleinen Stock aus dem Korb neben dem Herd und legte ihn dem Jungen erwartungsvoll vor die Füße.

„Nein, Juno, kein Stöckchenwerfen im Haus“, sagte ihr Herr streng. „Leg ihn zurück.“ Zu Nickys Erstaunen brachte Juno den Stock mit hängender Rute wieder in den Korb und kehrte zu dem Jungen zurück, um sich von ihm trösten zu lassen. Nicky leerte rasch seine Tasse, setzte sich auf den Teppich und schlang die Arme um die Hündin.

„Möchten Sie auch etwas Milch?“, fragte Mr Renfrew an Callie gewandt.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“ Sie schloss die Augen. Ihr war übel. Der Zwischenfall mit der Milch hatte wieder alle bösen Erinnerungen in ihr geweckt. Sie durfte in ihrer Wachsamkeit niemals nachlassen.

„Mrs Barrow hat Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen gebracht“, hörte sie Mr Renfrew kurze Zeit später sagen. Wenigstens glaubte sie, es wäre nur kurze Zeit vergangen. Callie schlug die Augen auf. Wo war Nicky? Sie konnte doch nicht schon wieder eingenickt sein, oder?

„Er schläft“, sagte der Mann, der offensichtlich ihre Gedanken gelesen hatte.

Ihr Sohn lag fest schlafend neben der großen schwarzbraunen Hündin auf dem Teppich, die Arme immer noch um das Tier geschlungen. Junos Schnauze ruhte auf seiner Schulter. Callies Kehle schnürte sich zusammen bei dem Gedanken an den Welpen, den er verloren hatte.

„Er ist vollkommen fertig, der arme kleine Kerl!“, meinte Mrs Barrow leise. „Bringen Sie ihn nach oben ins Bett, Mr Gabriel. Inzwischen helfe ich der Missy beim Umziehen.“

Mr Gabriel bückte sich und hob Nicky auf seine Arme. Die Hündin stand ebenfalls auf, eindeutig entschlossen, mitzukommen.

Callie erhob sich.

„Nein, bleiben Sie hier“, wehrte er ab. „Nicky schläft tief und fest, und während ich weg bin, können Sie sich hier am Herd die trockenen Sachen anziehen.“

Callie sah auf ihren schlafenden Sohn und schluckte. Er wirkte so klein und hilflos in den Armen des großen Mannes. So verletzlich. Er rührte sich nicht einmal, als Mr Renfrew mit der Stiefelspitze die Tür aufstieß.

Ein plötzlicher Verdacht regte sich in ihr. Tief und fest schlafend – oder betäubt? Manche Gifte waren nicht zu schmecken. War sie deshalb eben eingeschlafen? Oh Gott, wie hatte sie ihm auch nur für einen Moment ihr Kind anvertrauen können – nur wegen seiner Augen etwa? Sie stürzte vor, um sie aufzuhalten. „Nicky?“

Gott sei Dank, er bewegte sich und öffnete verschlafen die Augen.

„Mama.“ Er lächelte, gähnte und schlief wieder ein, zufrieden an die Brust des Mannes gekuschelt, als fühlte er sich dort vollkommen geborgen.

Callie betrachtete ihn prüfend. Er sah aus wie jede Nacht, wenn sie nach ihm sah. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, seine Wangen waren leicht gerötet, so wie es typisch bei schlafenden Kindern war, und seine Augen waren eben ganz klar gewesen, nur völlig verschlafen. Sie berührte seine Wange. Warm, weder zu heiß noch zu kalt.

Ganz langsam konnte sie wieder durchatmen.

Und merkte, dass der Mann, der ihr Kind in den Armen hielt, sie eindringlich und aufmerksam ansah. Sie hielt seinem Blick stand. Er wirkte nachdenklich, und um seinen Mund lag ein grimmiger Zug.

„Ich bin nicht Long Lankin, wissen Sie“, sagte er ruhig.

„Wer?“

„Der Buhmann aus einem Lied meiner Kindheit. Long Lankin war ein Gentleman, der das Blut unschuldiger Kinder trank.“

Sie errötete. „Ich habe nicht geglaubt …“

„Doch, das haben Sie.“ Einen Moment herrschte betretene Stille, dann fügte er sanfter hinzu: „Ich vermute, Sie haben Ihre Gründe.“

Sie sah auf das Gesicht ihres schlafenden Kindes und schluckte. Ja, sie hatte ihre Gründe.

„Vertrauen Sie mir, wenn ich ihn jetzt ins Bett bringe?“

Sie zögerte. Nickys Haar war feucht und zerzaust. Er wirkte klein, blass und verwundbar in den Armen des großen Mannes, aber sein schmächtiger Körper war entspannt. Müde bis zur Gleichgültigkeit oder voller Vertrauen? Manchmal kommt das auf dasselbe hinaus, dachte Callie matt.

„Mrs Prynne?“

Callie wurde bewusst, dass er sie damit meinte. „Ja?“

„Vertrauen Sie mir“, bat er mit seiner unglaublich tiefen Stimme. Der Blick seiner blauen Augen war fest.

Callie biss sich auf die Lippe und nickte. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie beugte sich vor, küsste Nicky auf die Stirn und strich ihm über das Haar. „Träum süß, mein Liebling“, flüsterte sie ihm in seiner Heimatsprache zu. Sie spürte den fragenden Blick des großen Mannes auf sich ruhen, aber er sagte nichts, drehte sich nur um und trug ihren Sohn aus der Küche.

 

„Und jetzt, Ma‘am, sind Sie an der Reihe.“

Callie saß ganz still da, während Mrs Barrow mit Handtüchern und Nachtkleidung um sie herumwuselte. Geschickt zog die ältere Frau Callie aus, schüttelte den Kopf, weil ihre Sachen so nass waren, und staunte über das Gewicht ihres Unterrocks. Hastig legte Callie ihn zusammen und packte ihn beiseite. Ihre Zukunft steckte in diesem Unterrock.

Mrs Barrow brachte ein großes rosa Flanellnachthemd zum Vorschein und zog es Callie an. Dabei murmelte sie unentwegt beschwichtigend vor sich hin, als wäre Callie ein Kind. „So ist es gut, heben Sie die Arme. Hinein mit Ihnen. Und nun setzen Sie sich hier ans Feuer, und ich hole Ihnen eine Decke, damit Sie es schön warm und behaglich haben.“

Callie ließ es einfach über sich ergehen. Sie war es gewohnt, von Zofen angekleidet und ausgezogen zu werden, aber keine von ihnen hatte sie je dabei Liebchen genannt und ihr in so warmem, mütterlichem Tonfall Anweisungen erteilt.

Natürlich war das alles höchst ungebührlich, und wenn ihr Vater oder Rupert da gewesen wären, hätten sie die Frau sicher wegen ihrer allzu vertraulichen Art bestraft.

Aber Papa und Rupert waren beide tot, also konnte niemand Zeuge werden, wie Callie gegen die Etikette verstieß. Und sie brauchte nicht zu verbergen, wie tröstlich sie diese Behandlung fand.

Mrs Barrow war ein wenig wie Nanny. Callie konnte sich kaum noch an Nanny erinnern; sie wusste nur noch, dass sie eine große weiche Frau mit einem üppigen Busen gewesen war, auf deren Schoß Callie gesessen hatte und bemuttert worden war, ähnlich wie von Mrs Barrow jetzt. Sie hatte ganz vergessen, wie gut so etwas tat.

Was wohl aus Nanny geworden war? Sie kannte nicht einmal ihren richtigen Namen. Papa hatte sie entlassen, als Callie sechs Jahre alt gewesen war, kurz nach Mamas Tod. Er hatte sie dabei ertappt, wie sie schläfrig auf Nannys Schoß gesessen und sich eine Geschichte angehört hatte. Papa hatte gesagt, sie wäre inzwischen viel zu groß, um noch wie ein Baby behandelt zu werden. Geschichten waren nur Zeitverschwendung … sie setzten einem kleinen Mädchen Flausen in den Kopf.

Danach hatte sie jahrelang keine Geschichten mehr erzählt bekommen, bis Miss Tibthorpe ihre Gouvernante geworden war. Die gute Tibby mit ihren strengen Blicken und ihrem steifen Auftreten … Papa war nie dahintergekommen, dass Miss Tibthorpe eine begeisterte Leserin von Liebesgeschichten und romantischen Gedichten war, denn sonst hätte Tibby auf der Stelle ihre Koffer packen müssen.

„Ach, da kommt Barrow ja.“ Mrs Barrow legte Callie die Decke um die Schultern. „Ich gehe jetzt, Liebchen. Mr Gabriel kommt gleich und bringt Sie nach oben.“

„Er möchte gern alle in Sicherheit wissen, unser Mr Gabriel“, ergänzte Barrow und legte liebevoll den Arm um die Taille seiner Frau. „Bist du fertig zum Schlafengehen, meine Hübsche?“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Mrs Barrow errötete wie ein junges Mädchen. „Hör auf, Barrow, was soll die Dame denn denken? Gute Nacht, Ma‘am, träumen Sie schön.“ Arm in Arm verließ das ältere Paar die Küche.

Ihre unverhohlene Zuneigung rührte Callie. Wie schön musste es sein, nach so vielen Jahren noch zu lieben und geliebt zu werden.

Sie seufzte wehmütig. Das war etwas, was sie nie erleben würde. Prinzessinnen heirateten wegen der Staatsraison, wegen der Blutlinie oder wegen eines Vermögens, aber niemals aus Liebe. Das hatte sie auf die harte Art und Weise erfahren müssen.

Sie sah zum Tisch. Dort lag immer noch die Pastete, Mrs Barrow hatte vergessen, sie wegzuräumen.

Ihr Magen knurrte…

 

Gabriel kehrte in die Küche zurück und sah gerade noch, wie Mrs Prynne schuldbewusst vom Tisch zurückwich. Er tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Sie war eingehüllt in Unmengen rosa Flanell; Mrs Barrow war eine große, ziemlich umfangreiche Frau, Mrs Prynne hingegen war klein und wirkte geradezu verloren in diesem Nachthemd. Es war bis zu ihrem Kinn zugeknöpft, zu ihren Füßen bauschte es sich auf dem Boden. Dazu trug sie ein Paar viel zu großer Hausschuhe, ebenfalls von Mrs Barrow.

„Er ist gut zugedeckt und schläft tief und fest“, berichtete er. „Wie ich sehe, haben Sie ein Nachthemd bekommen – Sie sehen reizend darin aus. So, sind Sie sicher, dass Sie keinen Hunger haben?“ Er sah auf die Pastete, die beträchtlich kleiner geworden war, sagte aber nichts dazu.

Sie warf ihm einen unschuldigen Blick zu. „Nein, vielen Dank.“

„Dann räume ich sie jetzt weg.“ Gabriel legte die Pastete zurück in die Vorratskammer. „Und nun ist es wohl Zeit zum Schlafengehen“, fügte er hinzu und bot ihr seinen Arm.

Sie sah ihn argwöhnisch an und war sich plötzlich im Unklaren über seine Absichten.

Er lächelte. „Sie können sich oben bei mir bedanken.“

Ihre Augen weiteten sich. „Aber ich bin eine ehrbare, verheiratete Frau!“

„Die sind mir am liebsten.“ Er führte sie die Treppe hinauf in ein Zimmer mit einem großen Himmelbett mit blauen Vorhängen. Im Kamin hinter einem kunstvoll geschmiedeten Gitter brannte ein Feuer. „In so einer Nacht wird es Ihnen gefallen, etwas Heißes im Bett zu haben“, murmelte er.

Sie erstarrte. Was wollte er damit andeuten? „Ich warne Sie …!“

„Leise, Sie wecken Nicky noch auf“, flüsterte er. „Juno passt auf ihn auf. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, mit einem Hund im Zimmer zu schlafen, aber die beiden haben eine große Schwäche füreinander entwickelt, und ich dachte mir, so fällt es Ihrem Jungen leichter, in einem fremden Haus zu übernachten.“

Callies Augen gewöhnten sich langsam an das dämmerige Licht. Auf einer Seite des Betts waren die Decken einladend zurückgeschlagen, auf der anderen nahm sie eine kleine Erhebung wahr – ihren Sohn, der fest schlief. Neben ihm auf dem Fußboden lag die Hündin, die kurz aufsah und mit dem Schwanz wedelte, sich aber nicht von der Stelle rührte. „Ach so“, murmelte Callie. Er hatte sie nur geneckt.

Er warf ihr einen trockenen Blick zu und raunte ihr ins Ohr: „Mrs Prynne, hatten Sie etwa unkeusche Hintergedanken über meine Absichten? Ich bin schockiert!“

„Nein, das sind Sie nicht“, gab sie leise zurück. „Sie, Sir, sind ein Filou!“

„Und Sie, Grünauge, sind bezaubernd.“ Eine Weile stand er nur da und sah sie an.

Hilflos schloss Callie die Augen; sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun sollte. Sie war zu müde zum Nachdenken.

Er strich sanft mit dem Finger über ihre Wange. „Gute Nacht, schlafen Sie gut. Sie und Ihr Sohn sind bei mir in Sicherheit.“

Sicherheit. Dieses Wort und seine tiefe Stimme waren wie Balsam für ihre Seele. Sie hörte, wie er ging und die Tür leise hinter ihm ins Schloss fiel. „Ich danken Ihnen“, flüsterte sie verspätet.

Sie kletterte ins Bett, kuschelte sich in die Decke und fühlte sich … umsorgt. Ihr Fuß stieß gegen etwas Hartes, das Wärme verströmte. Sie betastete es mit den Zehen – etwas Eckiges, Heißes, das in Flanell eingewickelt war. Beinahe hätte sie gelacht. In ihrem Bett lag tatsächlich etwas Heißes – ein heißer Ziegelstein.

Und so, in einem fremden Haus und in einem fremden Bett, versank Callie nach Wochen zum ersten Mal wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf.