KAPITEL I
»Deshalb sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.«
Lk 7,47
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an einen Ort seiner Kindheit zurückzukehren und zu sehen, wie alle Dinge unbedeutend und klein geworden sind. Auch, wenn man ihn wieder und wieder besucht, kann die Gegenwart nur schwer den Eindruck mindern, den die Vergangenheit in unsere zarten Kinderseelen geprägt hat. Umso mehr erscheint uns das Heute als blasses Abbild der damals so zauberhaften und unerschöpflichen Welt.
Clio war so in Gedanken gewesen, dass sie nicht wusste, wie sie hierhergekommen war. Eben noch auf der Autobahn, dann hatte sie unbewusst die alten Straßen und Wege eingeschlagen, die sie so gut kannte, und jetzt war sie da. Am Ende der Straße stand, dicht zwischen die Kastanien gedrängt, die einst so majestätische weiße Villa. Noch immer – und obwohl sie nun reichlich mit Moos bewachsen waren – leuchteten die helle Fassade und die lackierten Dachziegel vor dem Kontrast der rostfarbenen Bäume, die in diesem September früher als sonst ihre Blätter zu verlieren schienen. Am Horizont warteten auf den Betrachter nur ein verlassener grauer Sandstrand und die endlose Einsamkeit des Meeres. Der schwarze Jeep rollte knirschend auf die Auffahrt und drückte dabei viele kleine weiße Kieselsteine in den Boden.
Warum fühlte sie sich wie ein Eindringling, jetzt, da sie an diesen Ort zurückkehrte – in dem großen, teuren Auto und ganz ohne die Unbeschwertheit aus Jugendtagen?
Der Schrei einer Möwe durchbrach gellend die Stille. Clio stieß einen leisen Seufzer aus, nahm gedankenverloren den kleinen Trolley aus dem Kofferraum und kramte in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Sie sehnte sich nach dieser Art von Ruhe, die man nur in einem beliebten Touristenörtchen außerhalb der Saison finden konnte. Es war einsam und grau hier, aber einerseits passte das genau zu ihrer Stimmung, und andererseits hatte das kalte Nachmittagslicht, das alle Makel des scheinbaren Idylls gnadenlos entblößte, etwas Tröstliches. Sie musste nicht perfekt sein in einer unperfekten Welt.
Vielleicht hätte sie schon früher herkommen sollen. Aber sie liebte ihre Arbeit als Verlagslektorin, und es würde ihr schwerfallen, den Alltag ziehen zu lassen. Nicht, dass sie einer dieser überarbeiteten Workaholics war, aber der vielsagende Blick ihrer Ärztin stand ihr noch klar vor Augen. Sie brauchte also eine Auszeit.
Mit zwei Fingern strich Clio den Staub von der geschwungenen Messingklinke. Es war lange niemand hier gewesen. Vielleicht schon über ein Jahr lang? Oft hatte sie ihre Eltern dafür getadelt, dass die Villa selbst in der Hochsaison leer stand und nur ab und zu ihre Schwester dort ein paar Tage verbrachte oder ihre Haushaltshilfe Linda vorbeischaute, die gelegentlich die Fenster putzte und den Briefkasten leerte. Was für eine Verschwendung! So war das Haus nur ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als ihre Eltern noch frisch verliebt gewesen waren und in ihrem jugendlichen Eifer die Villa gekauft und liebevoll renoviert hatten – ganz in Weiß. Früher hatte es sicher sehr spektakulär gewirkt, aber heute, wo sich die High Society in bester Strandlage mit ihren Anwesen gegenseitig zu übertrumpfen suchte, zählte es eher zu den schlichten Bauwerken.
Clio streckte sich und hievte den Koffer die steile Wendeltreppe hoch. Sie ließ ihren Blick von der Galerie über die Loggia schweifen, sog die muffige Luft in die Lungen und fühlte sich im selben Moment zu Hause. Es war nur das kurze Aufflackern eines bekannten Gefühls wie das Heimkehren nach einer sehr langen Reise. Die ungelüfteten Räume dufteten nach dem Holz der antiken Möbel – ein Geruch, den sie seit ihrer Kindheit liebte.
Die lange Autofahrt hatte sie erschöpft, und so ließ sie sich im Schlafzimmer auf das Bett fallen und streckte die Arme von sich, während ihre Füße über dem Boden baumelten. Sie musste daran denken, wie sie sich früher das große Himmelbett mit ihrer Schwester geteilt hatte. Noch immer hingen die weißen Ajour-Gardinen an der Balkontür zu ihrer Linken, die eingerahmten Stickereien ihrer Mutter zierten die Wände und der Blick über das Meer war unverbaut. In dem kleinen Garten und am Strand dahinter hatte Clio viele unbeschwerte Stunden verbracht.
Während sie den Blick durch das vertraute Zimmer schweifen ließ, wurde ihr klar, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, allein herzukommen. Marcus war einfach nicht Teil dieser Welt, zu der auch sie vermutlich kaum noch gehörte. Vor ein paar Jahren waren sie zur großen Familienfeier anlässlich des 60. Geburtstags ihrer Mutter hier gewesen, aber er hatte sich nicht richtig wohl gefühlt. Das war nur verständlich: Zu sehr war die Geschichte der Villa mit der ihrer Familie verwoben und darin war kein Platz für neue Figuren. Es hing etwas Verwunschenes an dem Haus, in dem ihre Mutter seit dem Tod des Vaters keinen Stuhl verrückt und kein Bild abgenommen hatte – ein irrsinniger Versuch, die Zeit anzuhalten. Und leider erfolglos, dachte Clio erschöpft.
Aber das alles war vergangen und wenn sie die Augen schließen und es schaffen würde, die Stimmen in ihrem Kopf zu ignorieren, wäre alles wieder in Ordnung; Es herrschte die betäubende, weiße Ruhe des Hauses, und sie wäre ein Teil davon.
KAPITEL II
Am nächsten Morgen erwachte Clio bei Sonnenaufgang. Das Licht des anbrechenden Tages fiel beinahe ungedämpft durch die hellen Vorhänge und der kühle Morgenwind, der durch das gekippte Fenster drang, kitzelte ihre Nase. Das Salz machte die Meerluft schwer und feucht und ihren müden Geist wach und hungrig. Ohne zu frühstücken schwang sie sich auf das alte Hollandrad ihrer Mutter, das sie zu ihrer Freude zwar etwas verrostet, aber einsatzbereit in der Garage vorgefunden hatte. Die milden spätsommerlichen Temperaturen waren ideal, um auf das Meer hinauszuschwimmen.
Der Himmel war noch wolkenverhangen, als sie mit großen, kräftigen Zügen durch das Wasser glitt, aber am Horizont konnte sie die aufsteigende Sonne beobachten, die über dem Wasser funkelte wie ein leuchtender roter Edelstein. Unter ihrem Körper spürte Clio das sachte Schaukeln der Wellen, und es befiel sie eine Vorahnung der schwarzen Tiefe, die sich mit kaltem Griff an ihre Beine zu klammern schien. Sie blieb in Strandnähe, denn seit jeher empfand sie in tiefen Gewässern eine merkwürdige Angst vor dem, was womöglich unter ihr lauerte. Diese Tiefenangst war ein absurdes Relikt aus Kindertagen und fest in ihrem Unterbewusstsein verwurzelt.
Sie konzentrierte sich auf ihre Bewegungen und das Geschrei der streitsüchtigen Möwen, aber an diesem Morgen kreisten die Gedanken unaufhörlich in ihrem Kopf.
Wie ich ihnen schon sagte, die Werte sind im Normbereich. Lassen sie sich einfach ein wenig Zeit, es kann viele Gründe haben, wenn Paare …
Dann hatte sie abgeschaltet. Sie wollte ihr Innerstes nicht einem fremden Menschen offenbaren, auch nicht unter dem Deckmantel medizinischer Diagnostik. Die dünne Stimme der Ärztin, die sie eindringlich aus schmalen Augen ansah, der sterile, lieblose Raum und das feindselige Ticken der Wanduhr hatten sich wie jedes andere Detail dieses Tages in Clios Gedächtnis eingebrannt.
Marcus hingegen hing mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zuversicht an den Lippen der fremden Frau. Es war schon über ein Jahr, seitdem sie versuchten, eine Familie zu gründen. Ein endloses Jahr für Clio, hatte sie doch alle Hausmittel und Tricks erfolglos probiert und, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, schon fast resigniert. Sie fühlte sich wie ein Baum, der keine Frucht trug.
Wir müssen doch etwas unternehmen können!, dröhnte Marcus’ Forderung in ihren Ohren. Man hatte ihm angemerkt, dass der unerfüllte Kinderwunsch allmählich an seiner sonst so unumstößlichen Gelassenheit nagte. Er war älter als sie und hatte mit 40 alles erreicht: Vor Kurzem war er zum Teilhaber des Verlagshauses »Schwartz und Weiß«, wo sie beide arbeiteten, aufgestiegen – jetzt fehlte nur noch ein Stammhalter. Und sie konnte verstehen, dass er nicht mit dem Gehstock im Türrahmen lehnen wollte, während seine Kinder draußen spielten.
Die Ärztin hatte schließlich ihre Brille zurechtgerückt und mit einem Lächeln vorgeschlagen: »Vielleicht fahren Sie ein paar Tage weg? Irgendwohin, wo Sie innerlich zur Ruhe kommen und loslassen können.«
Da sie sich nicht auf eine erneute Diskussion zum Thema einlassen wollte, hatte Clio eingewilligt. Die Ärztin hatte ihr bei der Verabschiedung eine Krankschreibung in die Hand gedrückt, aber Clio hatte abgewinkt und stattdessen zwei Wochen längst überfälligen Urlaub eingereicht.
Jetzt war sie allein, aber dafür fernab von allem: vom unerfüllten Kinderwunsch, von ihrem Mann und ihrer Ehe. Als sie vor drei Jahren geheiratet hatten, war Clio sich sicher gewesen, die richtige und zudem auch eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Er war sehr zuvorkommend, aufmerksam und trotzdem bodenständig. Ja, aber manchmal wurde ihr diese Harmonie zu eintönig und zu viel. Sie war ein Freigeist, mit dessen Temperament er nicht immer umzugehen wusste – und sie war längst nicht so geradlinig wie er. Gerade deshalb verschonte sie ihn mit manchen ihrer Gedanken und Gefühlsduseleien. Sie konnte ihm dieses makellose Bild von ihr, das er so verehrte, nicht nehmen. Aber dadurch fiel es ihr auch schwer, sich ihm zu öffnen. Sie hatte ihm noch nicht alles von sich erzählt: Kaum vom Tod ihres Vaters in ihren Studienjahren und auch nicht davon, dass sie insgeheim einen Verdacht hegte, warum es mit dem Kinderkriegen einfach nicht klappen wollte.
Ein plötzliches Frösteln riss Clio aus ihren Gedanken, und sie bemerkte, wie weit sie sich vom Ufer entfernt hatte. Die Sonne war nun vollends aufgegangen, und den Horizont schmückte nur noch ein rosafarbener Schimmer. Sie steuerte auf den Strand zu und versuchte, nicht an die klaffenden Weiten zu denken, die sich unter ihrem Körper erstreckten. Stattdessen heftete sie ihren Blick an den Strandstreifen, auf dem gerade ein älteres Ehepaar seinen Hund spazieren führte.
Am Ufer angekommen trocknete sie sich ab, warf sich das Kleid über – der Badeanzug klebte feucht auf ihrer Haut –, hängte sich die Tasche über die Schulter und stieg auf das alte Rad. Ihre Glieder fühlten sich allmählich schwer und müde an, und der Fahrtwind blies ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als sie endlich die Villa erreichte, ließ sie erschöpft ihre Sachen neben die Tür fallen und eilte die Treppe hinauf ins Badezimmer, um eine lange, heiße Dusche zu nehmen.
Es war schon später Vormittag, als sie schließlich zum Frühstücken hinunterging. Sie öffnete aus Gewohnheit den Kühlschrank und sah, dass er leer war. Das hätte sie sich ja denken können, tadelte sie sich selbst. Während sie leise fluchte, spürte sie eine sachte Berührung an der Schulter. Clio fuhr herum und sah in zwei liebevolle blaue Augen. »Linda! Was machst du denn hier?« Die Worte klangen eine Spur zu harsch.
»Wonach sieht denn es aus?«, entgegnete Linda mit einem breiten Grinsen, stellte den Putzeimer auf den Boden und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Die Fenster putzen sich leider nicht von allein. Und außerdem muss ich sagen, dass deine Schwester einen ziemlichen Saustall hinterlassen hat.«
Clio lachte und nahm ihre alte Freundin in den Arm. Es fühlte sich an wie früher, als sie mit ihren Eltern fast jeden Sommer in der weißen Villa verbracht hatte, wenn deren Hamburger Kanzlei für ein paar Wochen geschlossen blieb. »Marcus hat dich geschickt, stimmt’s?«, fragte sie und zupfte Linda ein Blatt aus dem Haar, das sich in einer grau melierten Strähne verfangen hatte.
Linda nickte. »Ja, und ich dachte eigentlich, er kommt auch.«
Clio zuckte mit den Schultern. »Er hat doch erst die neue Stelle angetreten. Unmöglich, dass er sich jetzt freinimmt. Außerdem brauche ich auch mal ein bisschen Zeit für mich …«
»Ja, das tut manchmal gut«, bestätigte Linda und deutete auf den Flur. »Frühstück steht auf dem Tisch und die Post liegt auch daneben. Es ist ganz schön was zusammengekommen.«
»Danke«, erwiderte Clio und hielt kurz inne. Dann fügte sie hinzu: »Es ist schön, dich zu sehen.«
Linda nickte und verließ den Raum. Erst als Clio ihr hinterherblickte, fiel ihr auf, dass die großen Fensterflügel, die auf die Veranda hinausführten, geöffnet waren und ein leichter Wind hereinwehte. Auf der langen Tafel vor der Fensterfront stand eine Papiertüte mit Croissants und ein Kaffee vom Bäcker. Wie hatte sie das nur übersehen können? Clio streckte sich und lächelte zufrieden. Es war sehr aufmerksam von Linda, ihr das Frühstück vorbeizubringen, und sie freute sich außerdem über die Gesellschaft. Zu Hause in Frankfurt war sie meistens allein. Da konnte sie auch darüber hinwegsehen, dass sie sich wieder ein wenig wie ein kleines Mädchen fühlte, wenn jemand anderes für sie putzte und ihr das Essen brachte. Was soll’s, dachte sie, immerhin war sie zum Entspannen hier, und einen Tag lang konnte sie sich ja verwöhnen lassen. Später würde sie sich vielleicht revanchieren und Linda zum Essen einladen.
Ihr Blick fiel auf den Papierstapel auf dem Tisch. Sie hatte gestern andere Dinge im Kopf gehabt, als nach der Post zu sehen. Aber Linda hatte einen Schlüssel und leerte den Briefkasten alle paar Tage. Wenn etwas Wichtiges dabei gewesen wäre, hätte sie also sicher Bescheid gegeben. Gelangweilt blätterte Clio durch die Briefe. Rechnungen vom Telefonanbieter – die wurden automatisch eingezogen – dutzende Werbeprospekte vom lokalen Supermarkt, Einladungen zu einer Gala und einem Konzert im Maritim-Hotel – beides war schon vorüber –, das Gemeindeblatt … und schließlich ein dicker Großumschlag. Clio wog ihn in der Hand – er war ungewöhnlich schwer und handschriftlich adressiert. Es war kein Absender angegeben, aber ihr kam irgendetwas an der geschwungenen Schrift seltsam vertraut vor. Es dauerte einen Augenblick, dann erkannte sie den Schreiber. Ihr Atem stockte, und sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte: Der Brief war von Vincent. Der Verdacht bestätigte sich, als sie auf die Rückseite sah und über einer Regensburger Adresse seinen Namen las: V. Artmann.
Clio ließ wie angeekelt den Brief auf den Tisch fallen, wo er mit einem unangenehmen, dumpfen Geräusch zum Liegen kam. Zur Beruhigung nahm sie einen Schluck von dem Kaffee, den Linda ihr gebracht hatte. Er war schon kalt.
Nach dem ersten Schreck schossen ihr unzählige Fragen durch den Kopf. Was wollte er plötzlich von ihr, ausgerechnet jetzt? Suchten sie die Geister ihrer Vergangenheit zur Strafe heim? Und wenn ja, was hatte sie verbrochen?
Wie von fern erklang Lindas tiefe Stimme. »Erkälte dich nicht, meine Kleine«, rief sie. »Ich lüfte gerade ein bisschen.«
»Ja – lass dich von mir nicht stören, ich geh wieder rauf«, antwortete Clio mechanisch und schob die restliche Post zusammen. Dann klemmte sie sich den Brief unter den Arm, ließ Kaffee und Frühstück stehen und ging rasch die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.
Von innen lehnte sie sich gegen die Tür und horchte. Draußen konnte sie hören, wie sich Lindas Schritte entfernten und eine Zimmertür zuschlug. Zitternd wog sie den Brief in den Händen, die von kaltem Angstschweiß feucht waren. Obwohl sie sich dagegen sträubte, wanderte ihr Blick zur Balkontür, und vor ihren Augen erstrahlte ein sonniger Dezembertag: Ein schlanker und groß gewachsener Mann Anfang zwanzig strich einem beinahe ebenso jungen Mädchen durch das kastanienbraune Haar. Es würdigte die liebevolle Geste mit einem Lächeln und sah aus naiven Augen zu ihm auf. Vincent und sie saßen in dem Korbsessel auf dem Balkon, der für zwei eigentlich zu klein war. Sie waren eingehüllt in warme Decken, denn der Wind wehte frisch in dieser einen Ferienwoche, die sie an der Küste verbrachten.
Wütend schmiss Clio den Umschlag aufs Bett und sah in den Garten hinaus – so, als ob sie seine Existenz einfach ignorieren könnte. Vincent war Vergangenheit, und sie hatten ohnehin nur ein paar schöne Monate zusammen verbracht, bevor alles ein sehr unschönes Ende genommen hatte.
Ihr Blick wanderte unruhig zwischen den verwilderten Blumenrabatten hin und her, als sie versuchte, Abstand zu den aufkeimenden Erinnerungen zu bewahren. Was dachte er sich bloß dabei, ihr nach all den Jahren einfach so zu schreiben? Es waren schon fast sieben Jahre vergangen, seit sie aus Oxford weggegangen war und in Frankfurt ein neues Leben begonnen hatte. Und jetzt dieser Brief. Mit dem Ringfinger fuhr sie sich über die Schläfen und versuchte, den pochenden Schmerz dahinter zu lindern. Vincent musste doch wissen, dass sie nur noch selten herkam. Ja, es hätte sogar sein können, dass die Villa inzwischen verkauft wäre. Die Preise auf dem hiesigen Immobilienmarkt explodierten immerhin geradezu, aber es hingen zu viele Erinnerungen an dem Haus, und ihre Mutter würde das nie übers Herz bringen. Jedenfalls konnte sie nicht zulassen, dass dieses unerwünschte, unscheinbare Schriftstück ihr Leben durcheinanderbrachte.
Sie legte den Brief auf den kleinen Biedermeiersekretär in der Ecke und schob ihn unter einen Stapel mit Zeitschriften. »Ich habe dich einfach nie bekommen«, sagte sie halb zu sich selbst und halb hinüber zu dem Möbel, wo der Brief völlig zwischen den Hochglanzmagazinen verborgen war. Das fühlte sich befreiend an und auch wie ein kleiner Triumph, denn früher hätte sie sich nicht zu beherrschen gewusst und den Umschlag in einer jugendlichen Mischung aus Neugier und Bestürzung sofort aufgerissen, aber das war die alte Clio. Inzwischen sollte sie erwachsen und gefestigt sein – oder?
Ihr Blick schweifte zu ihrem Handy auf dem Nachttisch: zwei neue Nachrichten. Sie lächelte. Marcus schien sie bereits zu vermissen. Er erkundigte sich, wie es ihr bisher gefiele und ob sie sich schon zu Tode gelangweilt hätte. Am Wochenende, versprach er, würde er sie besuchen kommen und nach Lübeck zum Essen und ins Theater ausführen. Ihr zuliebe, das wusste sie. Marcus war es eigentlich lieber, in der Freizeit seine Ruhe zu haben, vielleicht irgendwo spazieren zu gehen oder einfach drinnen vor dem Kamin zu sitzen. Sie hingegen brauchte Abwechslung, stets drängte etwas in ihr nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Sie wollte die Welt um sich herum erleben und auskosten und konnte die Tage nicht so selbstzufrieden an sich vorbeiziehen lassen wie er. Vielleicht hätte ein Kind diese Differenz zwischen ihnen überbrückt, denn manchmal, wenn sich diese Unruhe in ihr ausbreitete, wurde sie sich selbst zu viel.
Sie überlegte kurz, ob sie Marcus anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass sie sich auf das Wochenende freute. Sie freute sich, aber gleichzeitig fürchtete sie, dass ihre Gespräche wieder unaufhaltsam dasselbe Thema umkreisen würden. Umso mehr sie es zu verhindern versuchten, umso weniger gelang es ihnen. Sie waren zurzeit beide sehr gereizt. Was sollte sie ihm also sagen? Ein, zwei Sätze vielleicht – und dann träte diese unerträgliche Stille ein, die tiefer schürfte als alle Vorwürfe, die sie sich gegenseitig machen konnten. Also schrieb Clio nur eine SMS und bedankte sich. Dann hielt sie für einen Moment inne, öffnete rasch die Tür und rief die Treppe hinunter: »Linda? Bist du noch da?«
»Jawohl«, erklang die Antwort vom Treppenabsatz. »Aber ich wollte gerade gehen. Ist noch was?«
Clio ging mit langsamen Schritten zu ihr hinunter und unterdrückte ein Grinsen. »Ach, eigentlich nicht … Ich dachte nur, vielleicht hast du heute Abend Lust, mit einer alten Freundin essen zu gehen?«
Linda lachte und strich ihre Schürze glatt. »Mit dir immer, das weißt du doch.« Sie kratzte sich am Kinn. »Allerdings ist heute Abend schlecht. Vielleicht morgen?«
»Ja, gerne. Ich ruf dich morgen an.«
Clio hielt ihr die Tür auf, Linda stapfte zu ihrem Opel und verstaute den Putzkorb im Kofferraum. Clio lächelte ihr zum Abschied zu, aber als das Auto langsam die Einfahrt herunterrollte, befiel sie ein ungutes Gefühl. Wie lange würde sie wohl die Einsamkeit, die sich zunächst so beruhigend angefühlt hatte, ertragen können?
KAPITEL III
Clio schloss die Tür und trat in das geräumige Wohnzimmer mit den Rundbogenfenstern und der hohen Decke, die von weiß lasierten Balken getragen wurde. Auf der Anrichte an der Stirnseite des Zimmers stand immer noch das Hochzeitsporträt ihrer Eltern umringt von unzähligen Kinder- und Familienfotos. Sie wandte den Blick ab und ließ sich erschöpft in den mit Fellen ausgekleideten Lehnstuhl sinken, direkt neben den Kamin. Dessen Glas war noch trüb, denn aufgrund der warmen Temperaturen hatte ihn lange niemand benutzt. Trotzdem lagen in dem Weidenkorb neben dem Kamin die Holzscheite fein säuberlich aufgeschichtet. Auf dem Kaminsims erspähte sie eine verstaubte Schachtel Kaminanzünder. Sie erhob sich schwerfällig aus dem weichen Sessel, um ein Feuer zu machen.
Wie in Trance führten ihre Hände die gewohnten Handgriffe aus, und ihre Gedanken schweiften zu dem Tag, als sie das letzte Mal diesen Kamin angefeuert hatte.
Genau wie jetzt kniete sie damals auf dem kalten Terrazzostein und beobachtete die kleinen Flammen, die sich gierig züngelnd und von einem angenehmen Knistern begleitet um das Holz legten. Vincent beobachtete sie vom Türrahmen aus, verschmitzt lächelnd und mit einer Weinflasche in der einen und zwei Gläsern in der anderen Hand.
»Was hast du gefunden?«, fragte sie mit Blick auf den Wein.
Vincent zuckte mit den Schultern und schwenkte übertrieben nonchalant die grüne Flasche: »Ich glaube, das ist der Teuerste.«
Einen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen, dann prustete Clio los.
Als sie sich wieder gefangen hatte, ergänzte sie mit gespielter Entrüstung: »Entschuldige bitte den schlechten Geschmack meiner Familie, das nächste Mal degustieren wir etwas aus Monsieurs eigenem Weinkeller.«
Ein lautes Zischen im Kamin holte Clio wieder in die Gegenwart zurück. Es war seltsam, welchen Abstand man über die Jahre zu einer jüngeren Version seiner selbst entwickeln konnte. Sie schämte sich fast für die Unbekümmertheit, mit der sie damals in den Tag hineingelebt hatte. Sie hatten sich beide so unbeschwert gefühlt. Und so sehr sie es auch wollte, konnte sie nicht leugnen, dass es eine sehr schöne Zeit gewesen war – besonders diese eine Woche am Meer.
Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, in den Polstersesseln oder auf dem beigen Kanapee zu sitzen, sondern sich direkt auf dem Orientteppich vor dem Feuer niedergelassen. Es waren die Ferien nach dem Michaelmas Term in Oxford, Anfang Dezember also, und es war bitterkalt, auch wenn es nur vereinzelt geschneit hatte. Mit besagtem Weißwein feierten sie am glühenden Kamin das erfolgreiche Trimester und, wie so oft, diskutierten sie. Clio fand Gefallen daran, seinen Verstand und auch seine Geduld auf die Probe zu stellen und ihn mit ständig neuen Gegenargumenten zur Weißglut zu bringen, ganz ähnlich den Fragespielen, die man nur von kleinen Kindern kennt. Aber Vincent, in einem strengen Elternhaus und katholischem Internat aufgewachsen, ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, und so konnte dieses Katz-und-Maus-Spiel ewig weitergehen. Dass sie beide Literatur studiert und größtenteils dieselben Kurse besucht hatten, machte die Sache nicht einfacher. Von Chaucer bis Beckett und vom Nibelungenlied bis Döblin war nichts vor ihnen sicher.
Clio fragte sich ab und zu, wie es sich wohl für Vincent anfühlte, das erste Mal ganz auf sich allein gestellt zu sein, schließlich war er auch zum Studium in seiner Heimatstadt Regensburg geblieben, bevor er zum Auslandsjahr nach Oxford kam. Manchmal erinnerte er sie an einen jungen Vogel, den man gerade aus dem Käfig in die Freiheit entlassen hatte. Anders konnte man einige seiner Einfälle auch nicht erklären.
An diesem Abend vor dem Kamin drehte er ihren Kopf sanft zu sich, strich ihr die braunen Locken aus der Stirn und fragte sie neckisch: »Calliope, warum liebst du mich?« Aber die Zeit für Diskussionen war schon vorüber, der Alkohol war beiden zu Kopf gestiegen, und sie küsste ihn und blieb ihm die Antwort schuldig.
Calliope … Niemand außer ihm hatte sie seinerzeit so genannt und niemand nannte sie heute so. Selbst für Marcus war sie immer nur Clio und wenn sie ihren Namen doch einmal ausgesprochen hörte, zum Beispiel bei Behördengängen, erschauderte sie.
Sie atmete tief durch und wandte den Blick vom Kamin ab hinüber zum Bücherregal ihrer Mutter in der anderen Zimmerecke. Es war eine ganz stattliche Bibliothek, und sie enthielt neben der juristischen Fachliteratur auch einige alte Schinken, Gartenratgeber und viel Kitsch. Vielleicht sollte sie sich eine Lektüre besorgen, um auf andere Gedanken zu kommen – sonst würde sie, wenn es so weiterging, niemals an etwas anderes denken können als an den Brief und seinen Absender.
Kurz entschlossen ging sie hinüber und griff wahllos ins Regal: Ihre Hand umschloss Daphne du Mauriers »Meine Cousine Rachel«. Clio kniff die Augenbrauen zusammen und seufzte. Sie hatte diese Geschichte schon vor Jahren gelesen, und trotzdem war sie ihr genau im Gedächtnis geblieben. Ein junger Erbe, sein alternder Ziehvater und eine geheimnisvolle Frau zwischen Gut und Böse, die beide um den Verstand brachte. Am Ende blieb unklar, ob Rachel schuldig oder unschuldig war.
Plötzlich hatte Clio einen Kloß im Hals. Wie oft hatte sie selbst die Schuldfrage gequält? Wer trug die Schuld an den Ereignissen vor knapp sieben Jahren? Vincent? Sie? Oder sie beide? Sie wusste nur, dass sie alles versucht hatte. Sie hatte ihn geliebt, bis es nicht mehr ging, und dabei fast ihre Würde verloren. Andererseits: Was spielte das noch für eine Rolle?
Auch zwischen Rachel und Philip stand am Ende unausgesprochen, aber allgegenwärtig diese Frage. War etwa immer derjenige schuld, der zu sehr liebte, weil er sich eigentlich nur nach Anerkennung im Spiegelbild des anderen sehnte? Mit einem beklemmenden Gefühl im Brustkorb stellte Clio das Buch zurück. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr zufälliger Griff ins Regal gerade dieses Werk zutage gefördert hatte, und spürte wieder diese alles übertönende Einsamkeit, von der sie noch nicht wusste, ob sie Freund oder Feind war. Clio wollte nicht zu Bett gehen, ohne noch einmal Marcus’ Stimme zu hören. Obwohl es schon spät war, rief sie ihn auf dem Handy an.
»Clio, bist du’s?«, tönte es verschlafen aus dem Hörer.
»Ich wollte nur noch kurz deine Stimme hören«, sagte sie und bemühte sich, fröhlich zu klingen. »Ich gehe jetzt schlafen.« Sie konnte hören, wie er lächelte.
»Hm … ich hab dich vermisst.«
»Hab ich dich geweckt?«, fragte sie.
»Nein … nein, ich lege mich auch gerade hin.«
Clio war sich sicher, dass das geflunkert war.
»Na gut, schlaf schön«, erwiderte sie und hauchte ein Küsschen ins Telefon. Dann legte sie auf und ging aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal nach dem glimmenden Feuer umzusehen.
Der Mondschein fiel durch die geöffneten Fensterläden im Flur und tauchte die weißen Räume in ein bläuliches Licht. Als Clio sich schlafen legte, war sie wie eingehüllt in diese kalte Stille. Einen Moment lang schien es nicht wichtig, wie viele Erinnerungen an diesem Haus hingen oder wie viele Nächte sie mit Vincent in eben diesem Bett geschlafen hatte. Sie dachte an Marcus und das bevorstehende Essen mit Linda und war froh, nicht die ganze Zeit über allein zu sein.