Leseprobe Ein Kuss für den Earl

Kapitel Eins

19. April 1775

Ich bitte Euch, beherzigt dieses Schreiben, guter Herr.

Trefft mich im Garten, am Brunnen der Göttin Themis.

Eure Zukunft ist in ernster Gefahr.

JL

Julianna Lathams Hand zitterte, als sie ihre Initialen unter die verzweifelte Bitte kritzelte und das Stück Papier in der Mitte faltete. Sie faltete es noch einmal, nestelte mit ihren Fingern an der Kante entlang, während sich die Hand des wartenden Lakaien ungeduldig ausstreckte, damit er sich auf den Weg machen konnte. Zögernd holte Julianna einmal nervös Luft, dann übergab sie die Botschaft zusammen mit einer Münze, die sie sich von ihrer Cousine Edwina geliehen hatte.

„Das muss in aller Eile dem Earl of Winchcombe überbracht werden.“

„Winchcombe?“ Ein ungewöhnlicher Ausdruck der Verwirrung trübte das Gesicht des Lakaien. „Der Earl of Winchcombe?“

„Er ist ein Gast beim Ball heute Abend“, antwortete Julianna. „Als ein Gefallen für mich, Thomas.“ Sie drückte dem Lakaien eine weitere Münze, ihre letzte, in die Hand. „Sag niemandem, wer ihn geschickt hat.“

„Aye, Miss.“

„Danke.“ Sie nahm ihre Hand zurück und entließ die Nachricht, um ihre gefahrvolle Reise zu beginnen. Der Lakai wandte sich um und eilte davon, seine entschlossenen Schritte klackten über den polierten Marmorfußboden. Als er in den Flur abbog und außer Sicht geriet, verspürte sie kribbelnde Angst im Nacken, dass sie gerade den zweitgrößten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Sie ballte ihre Zehen in den zu großen Tanzschuhen, sodass sie an ihren Füßen blieben, und ging hinaus in den Garten, um auf ihr Schicksal zu warten.

Der Brunnen der Gottheit Themis schien ein passender Ort zu sein, um ein bescheidenes Maß an Gerechtigkeit zu fordern. Mit verbundenen Augen, die Balkenwaage erhoben, würde die griechische Göttin Juliannas Verrat am verrückten Plan ihrer Cousine Udele, die den Earl in eine kompromittierende Falle locken wollte, vielleicht segnen. Mit von geflochtener Schnur verzierter Augenmaske und Kapuze, die ihr Gesicht verbargen, und mit dem Brunnen, der ihre Unterhaltung verschleiern würde, war es unwahrscheinlich, dass jemand Notiz von Juliannas Warnung an den Earl nehmen würde. Alles, was er tun musste, war zu erscheinen.

Jemanden zu zwingen, einen Antrag zu machen, war genauso schlimm wie, nun, genauso schlimm, wie einem Mädchen gewisse Versprechungen zu machen und sie dann im Stich zu lassen. Eldridges grausame Worte trieben Julianna noch immer Tränen in die Augen. Nach Jahren charmanter Worte und einem Dutzend gestohlener Küsse war Eldridge jetzt mit einer anderen verlobt. Wie ruhig und kalt er gewesen war, als er sie darüber informiert hatte, dass es zu einer plötzlichen „Einstellung seiner Zuneigung“ für sie gekommen war. Sie würde keine Gerechtigkeit erfahren, aber sie konnte heute Abend nutzen, um jemand anderem Elend zu ersparen.

„Nun, Eure Majestät …“ Wie sprach man eine Göttin richtig an? Julianna blickte wieder zu Themis empor und lächelte schüchtern. „Ich hoffe, Ihr und Euresgleichen blickt heute Abend gütig auf mich herab.“

Julianna tastete nach einem trockenen Flecken am Rande des Brunnens, setzte sich und rieb sich die Arme, um warm zu bleiben, während sie wartete. Die gestärkte Kante der Augenmaske mit der geflochtenen Schnur kitzelte, und sie zog sie ab, um sich die Nase zu kratzen. Auf einem Maskenball zu beharren, war ein weiterer Teil des abscheulichen Plans ihrer Cousine. Die Masken behaupteten eine Anonymität, die die Verwegenen kühner machte und die Ungehobelten nur umso mehr. Falls der Earl gewarnt werden konnte, ehe Udele ihre Falle zuschnappen ließ, wagte Julianna zu hoffen, dass alle unversehrt davonkamen.

Cousine Udeles skrupellose Entschlossenheit, sich mittels einer Hochzeit einen Titel zu sichern, war inakzeptabel und nicht zu unterstützen. Dass ihre Tante Hester dem Plan zugestimmt hatte, war nur ein weiterer Beweis dafür, dass Julianna nicht nach London hätte kommen sollen. Wochen voller Kniffe, Knuffe und kleinlicher Beleidigungen ließen sie nur entschlossener werden, ihren Plan zu vereiteln und einen armen Kerl vor einem Leben ohne Liebe zu bewahren. Winchcombe, der gerade, nach dem Tod seines Vaters, die Trauerbekleidung abgelegt hatte, verdiente das grausame Schicksal nicht, das ihre Tante und Cousine für ihn geplant hatten. Sie zählten auf seinen Ehrbegriff, während sie sich ehrlos verhielten. Wenn sie nur eine edle Tat vollbrächte, ehe sie nach Boston zurückkehrte, wäre es, Winchcombe zu retten.

„JL, nehme ich an?“ Ein tiefer Bariton mit einem Anflug von Verwirrung schwebte aus den Schatten herüber. Die dunkle Gestalt eines Mannes trat heraus auf den Rand des Pfads. Das Funkeln des Mondlichts auf seiner silbernen Augenmaske war der einzige sichtbare Beweis für seine Anwesenheit.

„Ja.“ Julianna stand auf und strich ihre Röcke glatt. „Mein Lord“, fügte sie rasch hinzu und korrigierte ihre Begrüßung. Sie erinnerte sich an die Dutzenden kleinen Fehler in ihrer Sprache und ihrem Verhalten, die ihre Tante an ihr, die in Boston geboren worden war, so vermisste. Die Ungezwungenheit der Bostoner Gesellschaft galt hier in London als derb und ungehobelt, und sie musste zu allen Zeiten danach streben, weniger fremd zu wirken. Zumindest, wenn es nach ihrer Tante und ihrem Onkel ging.

„Sagt mir, wieso ich herbestellt wurde, und beeilt Euch damit.“

Anstatt vorzutreten, um sie zu begrüßen, blieb er in den Schatten verborgen.

„Eure Zukunft ist in Gefahr“, platzte es aus ihr heraus. Oh je! Sie hatte erwartet, dass Winchcombe neugierig sein würde, sogar dankbar – nicht einmal hatte sie sich vorgestellt, dass er wütend sein könnte. Töricht. Es war etwas spät in ihrem Vorhaben, um zu erkennen, dass sie keinen rechten Plan hatte.

„Das habe ich gelesen. Ist das alles, was Ihr zu sagen habt?“

„Wenn Ihr etwas näherkämt, hätte ich es leichter, es Euch zu erklären.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

„Keine Chance, meine Liebe.“ Er hielt eine weiß behandschuhte Hand hoch, um sie aufzuhalten. „Ich habe nicht die Absicht, alleine mit einer jungen Miss im Garten erwischt zu werden. Ich bin sicher, Ihr glaubtet, es wäre ein cleverer Plan, aber er ist nicht originell. Wenn Ihr mich entschuldigt, gehe ich zu meinen Karten zurück.“

„Wartet, ich flehe Euch an. Jemand hat vor, Euch heute Abend in die Falle einer kompromittierenden Situation zu locken, aber ich bin es nicht.“ Selbst in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass sie endlich seine volle Aufmerksamkeit erlangt hatte. Er trat näher, immer noch nicht aus den Schatten heraus, aber nah genug, dass sie jetzt bemerkte, dass er ein großer Mann mit breiten Schultern war.

„Es gibt stets ein närrisches Mädchen, das versucht, einen Mann mit Titel mit einer List zu einer Heirat zu bewegen. Was lässt Euch glauben, ich bräuchte Hilfe, um das Pfaffenstück abzuwenden?“

„Weil dieses Mädchen ziemlich berechnend ist, mein Lord, und sie hat sowohl einen Plan als auch die Unterstützung ihrer Mutter. Sie ist gewohnt, genau zu bekommen, was sie will. Und heute Abend will sie Euch, Penry Chalford, den Earl of Winchcombe.“

„Wen, sagtet Ihr?“

„Penry Chalford, den Earl of …“

„Ich bin Oliver Chalford“, sagte er mit einem Kopfschütteln. Dann änderte sich sein Gebaren; er stand mit erhobenem Haupt und breiten Schultern da, so als mache er sich für den Kampf bereit. „Ich bin der Earl of Winchcombe.“

„Wer ist dann …“ Desaster. Der Lakai hatte den falschen Mann herbeordert. „Wer ist Penry?“

„Mein lieber Schwan, sie ist hinter meinem Bruder her.“ Er machte zwei rasche Schritte auf sie zu, ehe er aus dem Schatten heraus eine Hand ausstreckte und ihren Unterarm packte. „Kommt mit mir.“

„Meine Nachricht war nicht für Euch bestimmt, Sir.“ Julianna stolperte hinter ihm her, während er fortging, und rang damit, die zu großen, geliehenen Tanzschuhe nicht von den Füßen zu verlieren. „Meine Cousine ist keine Närrin – warum würde sie glauben, Euer Bruder sei der Earl?“

„Das ist eine lange Geschichte. Wie heißt dieses Mädchen überhaupt?“

Julianna presste die Lippen aufeinander und stählte ihre Nerven. Sie hatte vorgehabt ihn zu retten, nicht ihre Cousine zu belasten. Wie eine chinesische Glocke, die von der Abendbrise geneckt wird, erklang das Lachen einer Frau aus der Nähe. Juliannas Begleiter zog sie in die Schatten und presste ihr einen behandschuhten Finger auf die Lippen – das feine Leder, angewärmt von seiner Haut, war mehr Liebkosung als Strafe.

„Psst“, flüsterte er. Langsam strich er mit seiner Fingerkuppe über ihre Unterlippe und hielt den vertrauten Druck aufrecht, bis es im Garten wieder still war. Anstelle von nackter Angst löste seine Berührung eine viel gefährlichere Reaktion aus. Seine Berührung war ein Kuss; es war skandalös einfach, mehr zu wollen. „Ihr Name“, befahl er. „Jetzt.“

„Lady Udele Fellowes.“ Julianna flüsterte den Namen, sobald sein Finger ihre bebenden Lippen verließ. Sie sollte sich nicht so fühlen; alles war schiefgelaufen. Das bisschen Treue, zu dem sie ihrer Tante und ihrem Onkel gegenüber verpflichtet war, wurde durch die Situation, in der sie sich wiederfand, nicht widergespiegelt. Sie war mit einem wütenden Fremden, der ihre Lippen kribbeln ließ und der vielleicht so tat, als sei er ein Earl, allein in einem dunklen Garten.

„Wie habt Ihr von ihrem Plan erfahren?“ Nach einem letzten Blick, um sicherzugehen, dass sie allein waren, trat er zurück. Julianna schätzte die Entfernung ab. Er war immer noch zu nah; sie würde es nie schaffen, wenn sie wegrannte. Nicht in den verdammten geliehenen Schuhen.

„Ihre Schwester, Lady Edwina, erzählte mir, es sei Lady Udeles einzige Absicht beim Ball heute Abend, dem Earl of Winchcombe eine Falle zu stellen, sodass er sich mit ihr verlobt.“ Sie platzte mit der Erklärung ohne Luft zu holen heraus, froh, dass sie das Geheimnis los war. Vielleicht würde er jetzt weggehen.

Der Klang von Geigen schwebte auf der Abendluft und umgab sie mit Tönen die Dur-Tonleiter hinauf und hinunter. Bald würde das Tanzen beginnen und sie war nur wenige Schritte von Erfolg oder Niederlage entfernt. Das einzige Hindernis war ein Fremder mit tiefer Stimme, sanfter Berührung und einer unerträglichen Wirkung auf ihren Verstand.

„Hörensagen? Gerüchte? Das ist es, was Ihr für mich habt?“ Er wandte seinen Blick zum Haus, während er sprach, als erwarte er, dass die Musik jeden Moment in angsterfüllten Rufen unterginge. „Verspottet mich nicht. Ich muss wissen, ob es ernst ist oder nicht.“

„Es ist mehr als Hörensagen. Edwina und Udele sind meine Cousinen. Haltet mich nicht für illoyal“, flehte sie. „Es ist falsch, eine Verlobung zu erzwingen oder Zuneigung vorzutäuschen, wo keine ist. Ich kann nicht tatenlos dastehen und erlauben, dass es geschieht.“

„Ihr seid aus den Kolonien.“ Er wandte ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu.

„Ich wurde in Boston geboren. Ich bin hier lediglich zu Besuch.“ Es war nicht wirklich eine Frage gewesen, aber sie antwortete dennoch. Seine einzige Antwort war ein Stirnrunzeln.

Julianna blinzelte in die Dunkelheit und wagte es, seinen Blick zu treffen. Der Blick hinter der Maske war ernst und eigentümlich. Die dunkle Pupille in einem blauen Auge war ein vertikaler Schlitz, wie bei einer Katze. Oder war das eine Täuschung des Mondlichts?

„Erlaubt man Frauen in Boston nicht, zügig zu gehen, oder schlurft Ihr absichtlich?“

„Meine Tante hat mir ein Paar Schuhe geliehen, und sie sind etwas groß. Ich habe es schwer, sie an den Füßen zu behalten.“ Sie konnte an seiner Haltung erkennen, dass ihre Erklärung ihn verblüffte. Gewiss hielt er sie jetzt für unnütz und würde ihrem Treffen ein Ende machen.

„Eile ist geboten, meine Liebe. Erlaubt mir, Euch zu helfen.“

„Danke, ich– Oh!“ Er hob sie mit einem starken Arm hoch und aus den geborgten Schuhen heraus. Er trat sie beiseite, ehe er Julianna in bestrumpften Füßen wieder aufs Gras stellte. Sie war fassungslos, legte ihre Hände auf seine Brust und stieß ihn weg. „Was glaubt Ihr, tut Ihr da?“

„Wie Ihr selbst gesagt habt, könnte es um die Zukunft meines Bruders gehen, also mache ich Euch zweckdienlicher.“ Ihr Angriff auf seine Brust hatte keine Wirkung – der Mann war so hart wie eine Steinmauer. „Kommt mit“, sagte er, packte ihre Handgelenke und wischte ihre Hände beiseite. „Mein Bruder ist mir sehr teuer. Ihr werdet mir dieses Mädchen zeigen, sodass ich ihrem Plan ein Ende setzen kann, ehe mein Bruder in der Falle sitzt.“

„Sie kann nicht erfahren, dass ich Euch gewarnt habe.“ Julianna stemmte ihre bestrumpften Fersen in den weichen Boden und hoffte, sich behaupten zu können. In einer wendigen Bewegung, die eines Ringers würdig war, hob Winchcombe sie hoch und warf sie sich wie einen Sack Getreide über die Schulter.

„Zu schreien wird Eurer Situation nicht helfen.“

Julianna ließ schnaufend die Luft aus der Lunge und hörte Winchcombe kichern.

„Ihr müsst lediglich auf Eure Cousine zeigen, sodass ich sie im Auge behalten und meinen Bruder warnen kann, ehe es zu spät ist.“

Während er ging, hielt Julianna sich fest, indem sie seinen Abendmantel in die Fäuste nahm. Es war eine ganze Weile her, dass sie einem Mann so nahe gewesen war. Dies war kein unschuldiges Spiel mit einem Jungen wie Eldridge, bei dem man sich küsste und kitzelte. Dies war ein großes, breitschultriges Exemplar von Männlichkeit, dessen Zopf einige Haarlocken entkommen waren und in seinem Nacken hingen und der nach Zitrone, Salbei und einer Spur Tabak roch. Und ihr Po prallte gegen seine Wange, während er aufs Haus zuging.

Ihr stieg vor Verlegenheit heiß die Schamesröte ins Gesicht und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden.

Er ließ sie auf ihre Füße hinab, als sie die Rückseite des Hauses erreicht hatten, dann strich Julianna sich ihre Röcke glatt und blickte finster drein. Tante Hester würde sie sicher dafür bestrafen, dass sie die Tanzschuhe verloren hatte, aber darüber musste sie sich später Gedanken machen. Je eher sie Winchcombe Udele zeigen konnte, desto eher wäre sie in Sicherheit vor Tante Hesters Zorn.

Die Türen, die in den Ballsaal führten, standen offen, um der Nachtluft zu erlauben, die Tänzer zu kühlen, und Julianna stellte sich auf Zehenspitzen, um die Menge nach Udele abzusuchen.

„Wie sieht sie aus?“ Winchcombe bewegte sie hinein und hinter eine Säule, von wo aus sie die Menge ungesehen beobachten konnten.

„Sie trägt ein Ballkleid in vert clair.“ Julianna spähte aus ihrem Versteck heraus und sah sich nach der charakteristischen Farbe um.

„Was zum Teufel ist vert clair?“

„Eine gleichmäßige Mischung aus Grün und Gelb. Das ist dieses Jahr der letzte Schrei.“

„Was ist mit der?“ Sein unhöflich zeigender Finger deutete auf einen der Gäste.

„Das ist Rotbraun.“

„Das da?“ Er zeigte auf eine weitere junge Frau.

„Coquelicot.“

„Das denkt Ihr Euch aus.“

„Das ist die Farbe französischer Mohnblumen“, erklärte sie, unfähig, ein Lächeln daran zu hindern, ihre Lippen zu umspielen. Sich in Ecken zu verbergen und in den Bereich zu spähen, in dem Seide und Wolle umherwirbelten, in dem sich Lords und Ladys befanden, machte sie beide zu Außenseitern. Sie waren Kamerad und Kameradin mit einem geteilten Geheimnis und einer Mission, und die Gefahr, entdeckt zu werden, schärfte all ihre Sinne.

Hm.“

„Es ist nicht nötig, mich anzuknurren; Ihr seid der, der hellgrün nicht von rotbraun unterscheiden kann.“ Je länger sie in der Gesellschaft dieses Mannes verbrachte, desto wahrscheinlicher war es, dass ihr Verrat entdeckt werden würde. Es war die Aufregung, nach der sie sich sehnte, sagte sie sich, nicht der lästige, männliche Fremde mit den zarten Berührungen. „Vielleicht solltet Ihr stattdessen nach Eurem Bruder suchen.“

„Kommt mit.“ Er packte ihren Arm fester und zog sie hinter sich her. „Wir müssen dem ein Ende setzen.“

Wir?“ Das Wort klang quietschend, während er sie über die Tanzfläche zog. Sie hatte ihre Augenmaske und das bisschen Verkleidung, die sie bot, am Brunnen zurückgelassen. Angesichts ihrer verrückten Jagd über die Tanzfläche wäre es unmöglich, ihre Identität zu verbergen und Unwissenheit vorzutäuschen. Julianna wagte es, aufzublicken, und sah dem einzigen Menschen in die Augen, den sie noch weniger gern sehen wollte als ihre Tante. Eldridge Ashworth, mit einem hübschen Mädchen am Arm, stolperte bei seinem nächsten Tanzschritt und schickte seine Partnerin krachend in eine Topfpflanze.

Keine einfache Augenmaske konnte das Gesicht des Mannes verschleiern, den sie zu lieben geglaubt hatte. Julianna hatte einen Ozean überquert, um ihm aus dem Weg zu gehen. Was tat er in London? Es war ein schwacher Trost, dass Eldridge seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen genauso überrascht war wie sie. Glücklicherweise verursachte das hektische Tempo des Earls, dass die Begegnung, wenngleich unangenehm, nur kurz war.

Nur einige Gentlemen bemühten sich, von ihren Spielkarten aufzublicken, als sie in den Spielsalon hineinplatzten. Eine dicke Wolke abgestandenen Rauchs schwebte zwischen den Tischplatten und der Kassettendecke. Julianna hielt sich ihre behandschuhte Hand vor die Nase und suchte den Raum nach dem Gesicht eines Mannes ab, den sie nicht kannte. Während neugierige Blicke sich wieder Würfelaugen und höfischen Abbildungen zuwandten, atmete sie erleichtert aus, weil ihr Onkel nicht anwesend war. Vielleicht kam sie mit der Rettung des Earls doch davon.

„Tut mir leid, dass er nicht hier war.“ Julianna wischte sich die Hand des Mannes vom Arm und trat lächelnd einen Schritt zurück. „Viel Glück.“

„Nicht so schnell“, sagte er und packte ihren Arm erneut. „Gibt es in diesem Haus eine Bibliothek?“

„Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß.“ Julianna bewegte sich aus seinem Griff heraus. „Ich kann nicht das gesamte Haus mit Euch absuchen. Jede Minute, die ich außer Sicht meiner Tante bin, bringt mich in Gefahr. Sie wird wissen, dass ich diejenige war, die den Plan vereitelt hat.“

„Noch ein weiteres Zimmer, ich flehe Euch an.“ Er nahm eine ihrer Hände in seine. „Mein Bruder hat einer Frau, die er bald zu heiraten vorhat, sein Herz geschenkt. Dies würde ihn vernichten. Noch ein Zimmer, bitte.“

Winchcombes Enttäuschung und offensichtliche Sorge um seinen Bruder erweichten Juliannas Gemüt. Der arme Kerl versuchte genau wie sie ein Unrecht zu verhindern. Sie würde alles Erdenkliche tun, um ihrem Vater zu helfen; vielleicht ging es Winchcombe mit seinem Bruder genauso. Es wurde zunehmend schwerer, seine Entschlossenheit nicht zu mögen.

„Hier entlang.“ Julianna wandte sich ab, den Flur hinunter. Sie kannte dieses Haus. Sie war im vergangenen Monat umhergeschlichen, hatte die Treppen und Flure der Bediensteten benutzt, um Begegnungen mit ihrer Tante zu vermeiden. Sie drückte die Klinke hinunter, die zwischen dem Balkenwerk verborgen war, und betrat einen Gang.

„Wisst Ihr überhaupt, wo die Bibliothek ist?“ Seine Skepsis war lästig. Sie hatte alles riskiert, um ihn zu warnen. Das Mindeste, das er tun konnte, war ihr zu vertrauen.

„Ich wohne hier, während ich in London bin.“ Julianna packte seine Hand und zog ihn den spärlich beleuchteten, schmalen Gang entlang. Ihr Daumen streifte seine Handfläche, er musste irgendwo zwischen dem Garten und dem Ballsaal seinen Handschuh abgestreift haben. Ihre Schritte schwankten, als er ihre Hand fragend drückte.
„Wessen Haus ist das?“

„Das meiner Tante und meines Onkels. Lady Dunwoody ist die Schwester meines Vaters. Wisst Ihr nicht einmal, zu wessen Feiern Ihr geht?“

„Nein. Mein Bruder hat die Vorkehrungen getroffen und mich mitgeschleift. Nicht unähnlich dem, was Ihr gerade tut. Die Einladung war unerwartet. Ich war nicht in der feinen Gesellschaft seit … nun, immer, genau genommen.“

„Ich glaube nicht, dass Ihr viel verpasst habt.“ Ihre einen Monat lang dauernde Kostprobe von London hatte aus täglichen Tiraden ihrer Tante und stillen Tränen des Herzschmerzes bestanden, die sie nachts in ihr Kopfkissen weinte. Ihr Vater hatte eine Reise nach London, um Verwandte zu besuchen, so vernünftig klingen lassen, ein vergnügtes Abenteuer, um sich vom Herzeleid zu erholen. Der Schmerz unerwiderter Liebe hatte ihre Augen vor dem Chaos verschlossen, das auf Boston herabregnete. Sie war eine Närrin gewesen, fortzugehen, und mit jedem Tag, der verstrich, fürchtete sie, dass sie nie würde zurückkehren können.

„Genau mein Gedanke. Ich bin nicht gerade ein gesellschaftliches Wesen.“

„Wieso die Bibliothek?“ Sie eilte den schmalen Gang entlang, hielt einmal inne und presste sich an die Wand, um einen Bediensteten vorbeizulassen. Sich sowohl des engen Raums als auch seiner großen Hand in ihrer bewusst, sah sie weg, sodass er nicht sah, wie sie errötete.

„Mein Bruder ist von Büchern besessen.“ Winchcombe manövrierte sich um den gehetzten Bediensteten herum. „Er bewundert außerdem eine gewisse Miss, die Bücher bewundert.“

„Ihr glaubt, sie sind vielleicht in der Bibliothek und bewundern einander?“ Wenn es je eine Sache gab, die ihren Mut stählen und sie den Entschluss fassen ließ, die Rettung zu Ende zu bringen, war es Liebe.

„Mein Bruder hat viel für mich geopfert. Ich kann nicht untätig dastehen, während Eure Cousine ihre Falle zuschnappen lässt und ihm die Chance auf Glück entgeht.“

„Ich bin froh, die Nachricht geschrieben zu haben.“ Hand in Hand eilten sie den Gang hinunter. „Wenn ich einer Ungerechtigkeit Einhalt gebieten kann, ist es meine Pflicht, das zu tun.“

„Das ist sehr edel von Euch.“

„Es ist das, was ehrbare Menschen tun.“ Sie gingen den Gang hinunter, ein von den Bediensteten genutztes, verstecktes Treppenhaus hinauf und kamen vor einem Paar Doppeltüren hinaus auf den Hauptflur. „Diese Türen führen in die Bibliothek, aber sie sind verschlossen. Glaubt Ihr, wir sollten …“

Ohne darauf zu warten, dass sie zu Ende sprach, packte er die Klinken und warf die Türen auf, was die Sicht auf eine vollkommen gewöhnliche und menschenleere Bibliothek freigab.

„Verdammt“, fluchte er.

„Oliver?“ Von außerhalb des Lichtscheins der einsamen paar Kerzen und beinahe von den Vorhängen verborgen, trat ein Mann, der wie ihr Begleiter eine silberne Augenmaske trug, aus den Schatten heraus.

„Penry?“

„Ich muss sagen, Oliver, das ist höchst unkorrekt. Was tust du denn, hier herein zu krachen und wie ein Verrückter zu fluchen?“ Penry Chalford erübrigte für Julianna einen einzigen neugierigen Blick, während er seinen Bruder ansprach. Hinter ihm trat eine Gestalt in einem blassen, schlichten Gewand ins Licht.

„Miss Bartleby.“ Oliver verbeugte sich vor der Frau, die einen erfolglosen Versuch machte, ihr Gesicht hinter einem mit Spitze besetzen Fächer zu verbergen. „Du musst gehen. Jetzt“, sagte Oliver wieder zu seinem Bruder.

„Was zum Teufel hast du getan?“ Penry Chalford zog seine Maske vom Gesicht und betrachtete seinen Bruder voller Argwohn.

„Ich? Nichts. Es gibt eine junge Dame, die ihre Klauen wetzt, um sie in deinem traurigen Fell zu versenken. Wenn du Miss Bartleby wertschätzt, wirst du lange weg sein, ehe sie die Falle zuschnappen lassen kann.“

„Oliver!“ Penry trat zwischen seinen Bruder und seine weibliche Begleitung, als könne er sie vor der Realität seiner Worte schützen. Er wandte sich um und beschränkte seinen Blick auf Julianna.

„Nicht sie.“ Oliver unterbrach ihn, ehe er zu protestieren anheben konnte. „Sie ist diejenige, die mich gewarnt hat.“

„Es ist meine Cousine, müsst Ihr wissen“, erklärte Julianna. „Und sie ist entschlossen, eine kompromittierende Situation zu orchestrieren, die meine Tante praktischerweise entdecken wird.“ Ein leises Keuchen war hinter Miss Bartlebys Fächer zu hören.

„Eure Cousine ist Dunwoodys Tochter?“, fragte Penry. Julianna schluckte schwer, um sich einen weiteren Moment zu verschaffen, in dem sie nachdenken konnte. Diese Rettung wurde mit jedem Moment gefährlicher für sie.

„Ja“, gestand sie schließlich. „Sie ist ziemlich sicher, dass Ihr der Earl seid. Lady Udele ist nicht dumm, nicht was Titel und so weiter betrifft. Wenn Sie glaubt, dass Ihr Winchcombe seid, gibt es einen Grund dafür.“

„Herr im Himmel.“ Miss Bartlebys Fächer fiel zu Boden und sie griff haltsuchend nach Penrys Arm. Sie tauschten einen Blick voll von solch liebestrunkener Zuneigung, dass Juliannas Herz vor Eifersucht aussetzte.

„Ich bin nicht Winchcombe“, sagte Penry, als er hinüberging und sich neben seinen Bruder stellte. „Wir haben absichtlich dafür gesorgt, dass alle glauben, ich wäre es, bis Oliver seinen Sitz im House of Lords eingenommen hätte.“

„Gibt es keine Gesetze dagegen, sich als Aristokrat auszugeben?“ Julianna blickte von einem Mann zum anderen und stemmte sich die Hände in die Hüften. Sie glaubte, sie rettete einen Mann vor dem Verrat – rettete sie jetzt beide?

„Wir haben es deswegen getan.“ Oliver knotete seine Augenmaske auf und warf sie zu Boden.

„Oh.“ Ein leises Geräusch der Überraschung entkam Juliannas Lippen, ehe sie es verhindern konnte. Die Augenmaske hatte bis auf die Ränder sein gesamtes vernarbtes Gesicht verborgen. Die Narbe begann direkt über seinem linken Auge und halbierte seine Augenbraue. Die glänzende, etwas hervortretende Narbe verlief zickzackförmig wie ein Blitz über seinen Nasenrücken und verzerrte die rechte Seite seines Mundes zu einem immerwährenden missbilligenden Ausdruck.

„Da so viele mein Antlitz beängstigend fanden, habe ich nach dem Tod meines Vaters einen Plan gefasst, nach dem Penry das Gesicht des Earls sein würde, während ich in allen Rechtsangelegenheiten als Earl fungierte.“

„Ihr seid Zwillinge.“ Sie hatte nicht vorgehabt, das Offensichtliche auszusprechen, aber die Enthüllung schockierte sie und ließ sie sprechen. Jetzt, da die Brüder Seite an Seite standen, konnte Julianna selbst im Kerzenlicht sehen, dass sie abgesehen von der Narbe identisch waren.

„Ja“, antwortete Oliver. „Ich bin der Ältere, fast eine Viertelstunde, was mich zum rechtmäßigen Earl macht.“

„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es ein närrischer Plan ist.“ Penry schüttelte verdrießlich den Kopf. „Du musstest irgendwann in die Stadt kommen und deinen Sitz im House of Lords beanspruchen. Es musste so kommen, dass es jemandem auffällt.“

„Ich habe nie gesagt, dass es ein perfekter Plan ist. Und ich erinnere mich nicht daran, dass du dich besonders beschwert hast. War es nicht bei einem dieser Aufträge, dass du Miss Bartleby kennengelernt hast?“

„Ich habe zugestimmt, dein Botschafter zu sein. Ich hätte nie zustimmen sollen, dass du dich in Winchcombe Abbey verbirgst.“ Penry hätte womöglich noch mehr gesagt, wurde aber von Miss Bartleby unterbrochen, die ihm eine Hand auf den Arm legte.

„Danke, Lord Winchcombe, und danke, Miss, für Euren freundlichen Hinweis.“ Schließlich sprach Miss Bartleby doch. Angesichts ihres flehenden Blicks nickte Penry Julianna und seinem Bruder dankbar schweigend zu.

„Penry, bring Miss Bartleby zurück zu ihrer Anstandsdame und nimm dann die Kutsche und brich auf, so schnell du kannst.“

„Was ist mit dir?“ Penry führte Miss Bartleby in Richtung Tür, ehe er sich mit einem flehenden Blick zu seinem Bruder umwandte.

„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich begleite deine Retterin zurück in den Ballsaal und laufe dann nach Hause.“ Mit einem weiteren besorgten Blick bot Penry Miss Bartleby seinen Arm an, führte sie aus der Bibliothek und schloss die Türen hinter ihnen.

„Wenn Euer Bruder das Gesicht des Earls sein soll, warum wart Ihr heute Abend beide hier?“ Jetzt, da ihre Mission erfüllt war, nutzte Julianna den Vorteil der Ungestörtheit, um die Frage zu stellen, die ihr gedanklich im Vordergrund stand. Wie ihr Vater immer sagte, konnte sie ein Welpe sein, der hinter einem saftigen Knochen her war, wenn ihre Neugier geweckt war.

„Ich bin hergekommen, um meinen Sitz im Parlament zu beanspruchen. Die Einladung zum Ball heute Abend war eine ungebetene Überraschung. Penry und ich entschieden, dass diese kleine Zusammenkunft so früh in der Saison meine Wiedereinführung in die feine Gesellschaft sein würde.“ Er hatte seine Stimme gesenkt, nicht ganz zu einem Flüstern, aber er sprach mit dem ehrfürchtigen Tonfall, den Menschen in Kirchen, Bibliotheken und bei der Offenbarung bedeutender Geheimnisse verwendeten. „Und ein Maskenball war zweckdienlich.“

„Ihr habt nicht mit meiner Cousine gerechnet.“ Julianna ging zum nächstgelegenen Bücherregal und fuhr mit den Fingern die ledernen Buchrücken entlang. Er hatte sich vorsätzlich verborgen, während sie stets Anstrengungen gemacht hatte, gesehen und gehört zu werden. Wie seltsam es war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. „Ich sollte heute Abend das Skandalöseste sein, bis Lady Udele ihre Falle aufstellte.“

„Was ist so skandalös an Euch?“

„Der König hat erklärt, meine Heimat rebelliere gegen die Krone. Meine Tante Hester bezeichnet mich als ‚die Hinterwäldlerin’. Wo immer ich hingehe, errege ich Aufsehen und die Leute starren mich an. Das Mädchen, das mein Haar hochgesteckt hat, fragte mich, ob ich in einem Wigwam lebe.“

„Lächerlich. Jeder weiß, dass Kolonisten in Höhlen leben“, sagte er und verzog seinen Mund zu einem halben Lächeln.

„Ihr neckt mich, oder nicht?“ Sie tauschten ein weiteres Lächeln, ehe sie fortfuhr. „Es ist beinahe wie ein Ausstellungsstück zu sein.“

„Ich weiß etwas darüber, wie es ist, in der Öffentlichkeit angestarrt zu werden.“ Er trat näher und lehnte sich zu ihr hinüber, während er sprach. „Ihr seid eine liebliche junge Frau. Ich wette, Ihr seid brillant. Nicht viele wären mutig genug gewesen, mir zu helfen. Mein Bruder und ich schulden Euch Dank.“

„Ganz gleich, was die Konsequenzen wären, ich würde es wieder tun.“ Juliannas Herz weitete sich ob all der Gefühle, die sie seit diesem Nachmittag vor langer Zeit verborgen gehalten hatte, als ihr Herz gebrochen worden war, und sie hielt die Tränen zurück. Sie könnte einen Freund wie Winchcombe gebrauchen, aber es war wahrscheinlicher, dass sie einander nie wiedersehen würden.

„Danke.“ Er hob einen Daumen an ihre Wange, bereit, eine Träne aufzufangen, aber sie weigerte sich, sie fallenzulassen. „Ich bin Euer Diener.“ Oliver bewegte sein Gesicht nah an ihres und einen Augenblick, nachdem sie erkannt hatte, was er im Begriff war zu tun, presste er seine Lippen an ihre Wange in der ehrlichsten Geste der Dankbarkeit, die sie sich vorstellen konnte.

„Gern geschehen.“ Aber die Worte allein waren unangemessen. Julianna wandte ihr Gesicht, streifte mit ihrer Unterlippe seine und flüsterte das Wort „geschehen“ gegen seine Lippen.

Kapitel Zwei

Sie küsste ihn. Und dann verbog sie diese perfekt geformten Lippen zu einem süßen Lächeln. Zu keinem Augenblick machte sie das Gesicht, das Frauen machen, wenn sie etwas Unangenehmes betrachten. Oliver konnte sich nicht daran erinnern, wann eine Frau, die nicht in seinen Diensten stand, ihn das letzte Mal angelächelt hatte.

Ihre Züge – Augen, Nase, Mund –, keiner für sich genommen bemerkenswert, erreichten in ihrem Gesicht Anmut. Augen, die beim ersten Blick braun zu sein schienen, waren in Wahrheit glänzender Bernstein. Ihr Haar, das man fälschlicherweise für ein gewöhnliches brünett halten konnte, verwandelte sich auf ihrem Kopf in eine exotische Krone aus Zimt und Kakao.

Eine, die so schön ist, könnte mich nie wollen.

Hatte sie den Kuss erwidert oder hatte er das geträumt? Hatte seine Vorstellungskraft die weiche Fülle ihrer Lippen an seinen eigenen heraufbeschworen? Wahrhaftig oder nicht, er wollte mehr. Eine Kostprobe von ihr war nicht genug. Seine Augen schlossen sich, während er seinen entstellten Mund gegen ihren vollkommenen presste.

Er wagte es, seinen unvollkommenen Lippen zu erlauben, die Wärme ihrer Lippen zu spüren, solange sie es erlaubte. Und er wollte immer noch mehr. Er ließ seine Arme um sie gleiten und zog sie an seine Brust. Wie eine nach Blüten duftende Brise oder eine Rauchfahne würde sie bald davon treiben und er würde sie nie wieder spüren. Aber für den Augenblick war sie in seinen Armen. Willens, freudig und zufrieden küsste sie den Mann, vor dem andere Frauen offen zurückwichen. Es war zu gut um wahr zu sein.

Als ihre Lippen sich schließlich trennten, hob er eine Hand und fuhr mit einer Fingerspitze ihre volle Unterlippe entlang. „So weich“, flüsterte er.

„Eure sind …“

„Vernarbt?“, bot er an.

„Warm“, antwortete sie. Sie lächelte erneut. Wie leicht es ihr fiel zu lächeln. Wenn sie doch nur wüsste, wie selten er das zu sehen bekam. Er versuchte, es zu erwidern und wusste, dass er scheiterte. Gewiss würde sie sich jetzt zurückziehen, um zu offenbaren, dass sie ihn die ganze Zeit verspottet hatte. Stattdessen streckte sie eine zierliche Hand nach seiner Schulter aus und zog ihn näher. Ihre Berührung verbrannte seine Haut durch seine Abendkleidung hindurch.

Oh, ich spiele mit dem Feuer.

Sie küsste ihn. Es war nicht nötig, dass er sich zwickte, um aus einem Traum zu erwachen – der Kuss war so real wie die Frau in seinen Armen. Betrunken von ihrer Sanftheit, hielt er ihr vollkommenes Gesicht in seinen Händen. Konnte es irgendwie möglich sein, dass ein so wunderschönes Wesen so einsam war wie er?

Wie als Antwort auf seinen Gedanken öffneten sich ihre Lippen und er spürte, wie sie ihre Zungenspitze gegen seine Unterlippe schnellen ließ. Die Empfindung breitete sich in ihm aus, über seine Schultern und bis in seine Fingerspitzen hinein. Hitze sammelte sich in seiner Brust und lief tief in seinem Bauchraum zusammen. Er wackelte mit den Zehen in seinen Stiefeln, um sich daran zu gemahnen, dass er in einer Bibliothek stand und am Ende doch nicht träumte.

Ein beunruhigender Schrei ertönte hinter der Tür. Seine Bedeutung und Konsequenz waren unverkennbar. Er hatte ihn in seinem Leben allzu oft gehört.

„Euer Name, Miss. Ich muss ihn wissen.“ Er legte ihr eine Hand auf den Arm. „Rasch.“

„Jul–“ Die Tür zur Bibliothek flog auf.

Eine junge Frau mit einem riesigen Kopfschmuck und einem grellen Kleid stand im Eingang, ihr Mund zu einem perfekten O des Schocks und der Überraschung geformt. Oliver trat vor seine Begleitung, um sie vor dem, was jetzt auf sie niederkommen mochte, zu beschützen. Er wich nicht von der Stelle. Sich zu verteidigen war vertrautes Terrain für ihn. Es war Zeit, dass die feine Gesellschaft erfuhr, wie bestialisch der neue Earl of Winchcombe sein konnte.

Er kniff die Augen zusammen, verzog seinen Mund und knurrte den Eindringling an. Es hatte den beabsichtigten Effekt. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus und brach in einem Haufen auf dem Boden zusammen.

Vornehm aufgewachsene Frauen waren so vorhersehbar. Erst schrien sie, dann wurden sie ohnmächtig. Er würde das Durcheinander nutzen, um seine Begleitung schnellstens aus dem Zimmer zu bringen. Was hatte sie gesagt, wie sie hieß? Oh, ja, Jewel.

„Rennt, Jewel. Geht jetzt.“ Sie rannte. Aber als sie gerade über die ausgestreckte Gestalt in der Türöffnung steigen wollte, erwachte die Todesfee und packte eine Handvoll Ballkleid, was Jewel wie angewurzelt stehenbleiben ließ.

„Udele, lass los“, flehte die Retterin seines Bruders. Die durchtriebene Cousine. Ihre eigentliche Falle war gescheitert, jetzt schien Lady Udele entschlossen, dass irgendjemand gefangen werden müsste, und sie unternahm ein Tauziehen um den Saum von Jewels Kleid.

„Lass mich los!“ Jewel zog an ihrem Rock und kämpfte darum, ihn aus dem Griff ihrer Cousine zu befreien.

„Du!“ Die Todesfee spuckte das Wort aus wie einen Fluch, während sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen und gleichzeitig eine Faust voll Ballkleid festzuhalten. „Wildfang!“, geiferte sie, während sie aufstand. „Hure.“

„Passt auf!“ Oliver sprang ins Schlachtgetümmel, gerade als ein weiterer Eindringling Jewel am Ellenbogen packte. Er musste dem ein Ende machen, ehe die Dinge wirklich aus dem Ruder liefen. „Madam, ich …“

Die Frau warf ihm einen Blick zu und schrie.

Verdammte Scheiße. Bald würden Frauen umkippen wie Krocket-Tore.

„Was habt Ihr getan?“ Das alte Mädchen weigerte sich, bequemerweise ohnmächtig zu werden, während sie auf seine Antwort wartete. „Was habt Ihr getan?“

„Ni–“

„Mama, seine Hände waren auf ihr!“ Lady Udele, die immer noch Jewels Kleid festhielt, packte jetzt auch ihren Arm.

„Bestie! Sittenstrolch!“ Die Countess warf ihm die Beleidigungen an den Kopf, ohne auf seine Antwort zu warten.

„Tante Hester, bitte. Es ist nicht so, wie es scheint.“ Jewels Protest klang selbst in seinen Ohren schwach. Sie riss sich los und stellte sich zwischen ihn und die fluchende Frau, als könne sie ihn irgendwie vor den hässlichen Worten schützen, die ihm entgegengeschleudert wurden. Eine freundliche Geste, von der er wusste, dass sie zwecklos war.

„Wer seid Ihr?“, verlangte die Frau zu wissen, ihr Gesicht rot vor Wut.

„Ich bin Lord Winchcombe. Und ich habe nichts getan.“ Seine Erklärung schickte eine Woge von Geflüster durch die sich ansammelnde Menge. Dann hörte er den neuen Spott. Kein besonders einfallsreicher, aber immerhin war er neu.

„Lord Narbe hat die Hinterwäldlerin ruiniert. Sie hat diesem … Monster erlaubt, sie zu berühren.“ Lady Udele rief die Worte und spielte sich vor der größer werdenden Menge auf, die von ihrer Theatralik angezogen wurde.

Er würde sich an Jewels Kuss und ihr Lächeln erinnern. Die Abscheu und Beschimpfungen würden an ihm abperlen wie Wasser. Er hatte das alles schon zuvor gehört, hatte es alles schon zuvor ausgehalten. Trotz Penrys Optimismus hatte es nichts geändert, den Titel zu erben und seinen rechtmäßigen Platz in der feinen Gesellschaft zu beanspruchen. Für andere würde er immer eine Bestie sein. Das Mann-Scheusal, vor dem man privat Angst hatte und das man öffentlich verunglimpfte.

Der Earl of Dunwoody schob sich durch die Menge, die sich in seiner Bibliothek angesammelt hatte, und hielt die Schaulustigen an, zu den Festlichkeiten des Ballsaals zurückzukehren. Sein nächster Vorschlag, überaus eindringlich formuliert, war, dass Oliver das Haus verlassen solle. Unverzüglich.

Nachgiebigkeit schien das weiseste Vorgehen zu sein.

 

***

 

„Nun?“ Penry stellte sich in die Türöffnung zu dem Zimmer, das Oliver während ihres vorübergehenden Aufenthalts in London als Büro nutzte. Hut und Handschuhe in der Hand war sein Bruder für einen Besuch gekleidet und besaß die Unverfrorenheit zu lächeln.

„Nun, was?“ Oliver bewegte den Brief, den er zu lesen vorgab, sodass er die kurze Nachricht bedeckte, an der er schon den ganzen Morgen über arbeitete.

„Das habe ich gesehen.“

„Ach, halt den Mund.“ Einen Zwilling zu haben, eine verwandte Seele, die die eigenen vertrautesten Gedanken und Beweggründe verstand, war oft ein Segen. Heute war es ein verdammter Fluch.

„Du bist nicht angezogen.“ Penry hob eine Augenbraue ob Olivers abgetragenem Seidenmorgenrock. „Sag nie, dass du nur eine Nachricht geschickt hast. Das ist schlechter Stil.“

„Ich habe keine Nachricht geschickt.“ Oliver zerknüllte seinen letzten Versuch und warf ihn auf den Kaminrost, was ihm einen Schrei von Jones einbrachte, seinem Papagei, der gerade vorübersegelte.

„Das erleichtert mich. Beeile dich und kleide dich an. Ich fahre sogar mit dir in der Kutsche hinüber, um dich moralisch zu unterstützen. Es passiert nicht jeden Tag, dass der eigene Bruder sich verlobt. Abgesehen davon hatte ich nie Gelegenheit, der jungen Miss angemessen dafür zu danken, dass Sie mir das Leben gerettet hat.“

„Das Leben? Das ist etwas extrem.“

„Nach allem, was ich höre, wäre Lady Udele zu heiraten der Tod für jeden Mann. Ganz zu schweigen von einer gewissen Miss Bartleby, die mir den Hals umgedreht hätte, wäre ich so töricht gewesen, einem solchen Plan in die Falle zu gehen. Ich bin mehr als dankbar, dass mein Herz und mein Hals intakt bleiben. Also komm jetzt, Oliver, kleide dich an.“

„Das ist nicht nötig. Ich habe keine Nachricht geschickt, und es gibt keinen Grund, meinen Diener zu bemühen, da ich nicht die Absicht habe, dem Mädchen einen Antrag zu machen.“

„Du scherzt.“ Penrys Ausdruck veränderte sich von unbekümmerter Verärgerung zu neugieriger Empörung, während er den Raum betrat und sich dem Schreibtisch näherte. Wie es seine Angewohnheit war, blieb er bei Jones’ Stange stehen und kraulte dem farbenfrohen Vogel die Federn.

„Scherze ich je bei irgendetwas, das Geld einschließt?“ Die Alkoholabhängigkeit ihres Vaters in den Jahren vor seinem Tod hatte Oliver in die Rollen des Buchhalters, Gutsverwalters und Jongleurs weniger werdender Geldmittel gedrängt.

„Nein.“ Penry zog einen Stuhl heran und setzte sich seinem Bruder gegenüber. „Aber du musst sie besuchen.“

„Wird die Welt aufhören, sich zu drehen? Werden die Flüsse aufhören zu fließen?“

„Du hast sie geküsst!“ Jones stieß angesichts von Penrys Ausbruch einen schrillen Schrei aus und hüpfte von seiner Stange auf Olivers Schreibtisch hinunter.

Sie hat mich geküsst.“ Oliver tippte sich auf die Schulter und der Vogel rannte seinen Arm hinauf, um sich dort niederzulassen und nervös zu wippen, während er Penry aus Knopfaugen heraus anstarrte.

„Das macht keinen Unterschied. Menschen haben es gesehen. Das Mädchen hat uns beiden einen Dienst erwiesen und du musst dich ehrenhaft verhalten.“

„Wenn ich ihr einen Antrag mache, wird sie auf ewig bekannt sein als die Arme Lady Narbe. Sie ist hübsch genug, und außerdem gescheit – das wird vorübergehen wie schlechtes Wetter. Nächstes Jahr werden Männer übereinander klettern, um ihr einen Antrag zu machen.“

„Du … du Feigling, du Schuft. Wie kannst du auch nur darüber nachdenken, sie im Regen stehen zu lassen?“ Oliver sah seinen Bruder selten wütend. Penry war die Sorte Mensch, die stets das Gute in allem sah. Egal, wie elendig schändlich es sein mochte.

„Oh, du bist ein Romantiker, nicht wahr?“ Oliver stieß sich von seinem Schreibtisch weg und setzte Jones auf seine Stange zurück. „Unsere Bekanntschaft dauerte ganze zehn Minuten. Es ist grotesk, von einem Mann zu erwarten, einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, einen Heiratsantrag zu machen. Diese Vorstellung, dass ein einfaches Zusammenpressen von Lippen eines Heiratsantrags würdig ist, ist archaisch. Männer hätten sich von Anfang an gegen diesen Brauch stellen sollen. Ein einfacher Kuss, egal wie angenehm, ist nicht gleichbedeutend mit einem Antrag.“

„Angenehm, ja?“ Penry lächelte. Himmlisch. Oliver blickte seinen Bruder finster an. Da Penry so glückselig in Mary Bartleby verliebt war, gab es keine Möglichkeit, ihm zu erklären, wie unglaublich dieser einzelne Kuss sich angefühlt und wie viel er bedeutet hatte.

„Er war nicht unangenehm, aber das ist schwerlich der Punkt. Wenn sich alle Männer weigerten, dem gesellschaftlichem Druck nachzugeben, könnten wir diesen Brauch zum Ende des Jahrzehnts ausgelöscht haben.“

„Ende des Jahrzehnts, was?“

„Mach dich nicht über mich lustig. Welcher Idiot verspricht einer Frau, die er nicht mal kennt, ‚bis dass der Tod uns scheidet‘?“

„Ich sagte, es wäre ehrenhaft, nicht ideal.“

Hm.

Hm“, echote Jones und neigte seinen Kopf.

„Ich kenne dich als ehrenhaften Mann, Oliver. Ich muss gestehen, dass ich überaus enttäuscht von dir wäre, solltest du es unterlassen, die Dinge ins Lot zu bringen.“

„Im Lot wäre sowohl ihr als auch mein Leben, wenn wir weiterlebten, als wäre dieser ganze verdammte Vorfall nicht passiert. Glaub mir, Pen, sie wird glücklicher sein, wenn sie nicht Lady Narbe ist.“ Ihr Kuss war mehr als angenehm gewesen, aber Heirat war eine andere Angelegenheit. Wenn sie die Gerüchte hörte, die ihm bis ins House of Lords folgten, wenn sie das zerfallende Anwesen sah und darüber nachdachte, sein abscheuliches Gesicht zu sehen, bis dass der Tod sie schied, würde selbst eine so gütige Frau wie Jewel es sich noch mal überlegen.

„Diese Entscheidung obliegt ihr. Ich werde nicht erlauben, dass der Familienname durch deine unangebrachten Ideale noch weiter beschmutzt wird. Wenn du ihr keinen Antrag machst, mache ich es.“

„Bist du verrückt? Dieses ganze Chaos ereignete sich, sodass du frei wärst, um deine Miss Bartleby zu heiraten.“ Pen musste es erlaubt sein, zu heiraten. Er musste ebenfalls in der Lage sein, ein glückliches Leben zu führen, unbeschmutzt von der Grausamkeit und den Versäumnissen ihres Vaters.
„Der Familienname hat genug unter unserem Vater gelitten. Du hast so viel getan, um dafür zu sorgen, dass er wieder respektiert wird. Jetzt ist es an mir, ein Opfer zu bringen.“

„Was ist mit Miss Bartleby?“ Er hatte einmal freiwillig die für seinen Bruder gedachte Peitsche auf sich genommen, aber er konnte Pen nicht erlauben, es ihm so zurückzuzahlen. Es war ein ungleiches Opfer; ein vernarbtes Gesicht konnte nicht mit einem gebrochenen Herzen mithalten.

„Ich werde es Mary begreiflich machen.“ Pen zwang sich ein entschiedenes Lächeln ins Gesicht.

„Pen, tu es nicht. Du verdienst dein Glück.“ Wenn sie beide schon kein Glück finden konnten, war Oliver zufrieden damit, wenn Pen es fände. Wenn der einzige Weg, das zu erreichen, war, einer Frau einen Antrag zu machen, die bald lernen würde, sein Gesicht zu hassen, würde er es tun müssen.

„Ich gebe dir noch eine Nacht, um darüber nachzudenken.“ Penry schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen, als er den Flur erreichte. „Wenn du ihr bis morgen um drei Uhr nachmittags keinen Antrag gemacht hast, werde ich es tun.“

 

***

 

„Du verstehst, wie ernst das ist, oder nicht?“ Onkel Edwin sah Julianna das erste Mal an, seit sie das Zimmer betreten hatte, sein Gesichtsausdruck finster, sein Blick bohrend. Vor ihm, ausgebreitet auf seinem Schreibtisch, lagen die Nachricht, die sie Winchcombe geschrieben hatte, und die geborgten Schuhe, noch feucht vom Morgentau.

„Das tue ich.“ Sie hatte nicht vorgehabt zu flüstern, aber die Worte kamen leise heraus, als ob sie nicht mutig genug wäre, sie laut auszusprechen. Julianna räusperte sich und fasste wieder Mut. Da ihr Vater zu Hause in Boston war, würde sie sich selbst verteidigen müssen.

„Dieser Skandal–“

„Schwerlich ein Skandal“, unterbrach sie, als sie schließlich ihre Stimme fand. „Es war nur ein Kuss.“

Ihr Onkel hob eine Augenbraue, ehe er weiter sprach. „Es ist nicht deine Wahrnehmung des Ereignisses, auf die es ankommt, Liebes. Gewisse Leute werden nicht vergessen, was sie gesehen haben, nur weil du es zu einem fehlgeleiteten Kuss verklärst.“

„Du meinst Udele und Tante Hester.“ Ihr Vater hatte ihr einst gesagt, dass Männer Offenheit bevorzugten. Sie hoffte, ihr Onkel würde eine Frau, die dasselbe tat, gerecht behandeln. Einen Moment lang glaubte sie ein bewunderndes Leuchten in den Augen ihres Onkels zu sehen, aber es verblich schnell.

„Achte auf deine Worte, Mädchen. Deine direkte Art mag dir in Boston gute Dienste leisten, aber in der feinen Gesellschaft ist sie eine Bürde.“

„Vergebung, Lord Dunwoody.“ Soviel zu Offenheit. Es war sowieso nicht so, als ob sie ihre Taten angemessen erklären könnte. Die letzten paar Wochen waren jenseits von jämmerlich gewesen. Sie hatte ein gebrochenes Herz, Heimweh und war einsam. Und sie hatte einen Mann geküsst, den sie kaum kannte. Vater würde wissen, was zu sagen, was zu tun wäre.

„Ob es ein Kuss oder ein Skandal war, spielt keine Rolle. Winchcombe hat es nicht für nötig gehalten, Wiedergutmachung zu leisten, und ich werde ihn deswegen nicht zur Rede stellen. Wäre dein Vater hier, könnte er das tun, aber ich werde es nicht.“

„Ich würde nie von jemandem so viel verlangen.“ Hätte ihr Vater irgendeine Ahnung von der Falschheit seiner Schwester oder der Komplizenschaft ihres Mannes gehabt, hätte er sie niemals hergeschickt.

„Es ist eine Erleichterung, das zu hören. Wie dem auch sei, da ich die zukünftigen Aussichten meiner eigenen Töchter berücksichtigen muss, ist deine Anwesenheit in diesem Haushalt nicht länger vertretbar.“

„Ich werde also nach Hause geschickt?“ Konnte es sein, dass das alles war, was es brauchte, um zu ihrem Vater zurückgeschickt zu werden? Wenn sie das nur gewusst hätte, sie hätte vor Wochen einem Lakaien ihre Lippen aufgedrückt.

„Dein Vater …“, begann ihr Onkel, während er auf einen gefalteten Brief auf seinem Schreibtisch wies, „hat überaus deutlich gemacht, dass er wünscht, dass du hierbleiben sollst während der … Feindseligkeiten.“

„Aber sicher gibt es doch keinen Krieg?“ Die Zeichen waren die ganze Zeit dagewesen, sie war lediglich zu beschäftigt gewesen mit Eldridges Treuebruch, um sie zu sehen. Auf kolonialem Boden würde ein Krieg ausgetragen werden – deshalb hatte ihr Vater sie fortgeschickt.

Diese Erkenntnis raubte ihr die Luft aus der Brust. Krieg. Ihr Vater hatte vor, in diesem Krieg zu kämpfen. Sie musste seine Pläne erfahren und was er von ihr zu tun verlangte, um zu helfen. Julianna streckte ihre Hand nach dem Brief ihres Vaters aus.

„Ich fürchte, das ist das unausweichliche Ergebnis all des Säbelrasselns, das den ganzen Winter über vonstattenging.“ Ihr Onkel riss das Papier fort, während er sprach, und legte es in eine Schublade, ehe er sie schloss und verriegelte.

„Wann …“ Der Gedanke an ihren Vater, ganz allein während eines Krieges, ließ ihre Stimme verstummen, die noch vor einer Minute so kühn geklungen hatte. Verriegelt oder nicht, sie musste einen Weg finden, diesen Brief zu lesen.

„Morgen, beim ersten Licht des Tages. Unser Mann wird dich zum Smithfield Market bringen und dich in eine Reisekutsche nach Edinburgh setzen. Dort besteigst du für den Rest der Reise ein Schiff.“

„Wo soll ich hin?“ Julianna packte die Seiten des Stuhls, um sich festzuhalten, ihr war schwindlig. Sie würde fortgeschickt werden, nicht zurück nach Hause. Eine weitere lange Reise an einen weiteren Ort, an dem sie niemanden kannte.

„Ich habe ein paar Besitztümer im Norden. Es ist ruhig dort … Du wirst nicht von irgendwelchen gesellschaftlichen Verpflichtungen belastet. Ich werde ein paar Empfehlungsschreiben abfassen. Trag sie bei dir und du wirst dort willkommen geheißen.“

„Wo willkommen geheißen?“ Es tat ihr leid, dass sie erwischt worden war, aber sie zeigte keine Reue für die Mission selbst. Falls Udele erfolgreich gewesen wäre, würde Winchcombes armer liebeskranker Bruder jetzt in diesem Stuhl sitzen und gezwungen werden, um Udeles Hand anzuhalten. Julianna hob ihr Kinn und erwartete ihre Bestrafung.

„Schottland.“ Ihr erster Ausbruch von Tapferkeit löste sich auf, sobald sie das Wort hörte. Es würde kein Schiff in Edinburgh warten, das sie zurück nach Boston brachte. Sie wurde ins Exil geschickt.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie. Ihr Schicksal war besiegelt worden von Menschen, die sich kein bisschen um sie sorgten. Ihre einzige Hoffnung war es, einen Weg zu finden, ihrem Vater einen Brief zukommen zu lassen.

„Mir auch, Liebes.“