Leseprobe Ein geheimnisvoller Marquess

Kapitel eins

London, 1811

Euphemia Marlington zog in Betracht, den Duke of Carlisle zu vergiften. Schließlich war Gift im Harem eine absolut vernünftige Lösung für jegliche Probleme gewesen. Unglücklicherweise war es nicht die Lösung für dieses spezielle Problem. Zum einen hatte sie weder Gift noch eine Ahnung, wie es in diesem kalten und verwirrenden Land zu bekommen war. Zum anderen – und weitaus wichtiger – gehörte es nicht zum guten Ton, seinen eigenen Vater zu vergiften.

Der Duke of Carlisle hatte keine Ahnung, was seiner Tochter durch den Kopf ging, während er um seinen massiven Mahagonischreibtisch schritt und einen bereits vertrauten Monolog hielt. Mia bestärkte ihren Vater in seiner Unwissenheit, indem sie sanft und demütig dreinblickte – eine Fähigkeit, die sie in den siebzehn Jahren perfektioniert hatte, die sie in Babba Hassans Palast gewesen war. Ernst auszusehen, während sie mörderische Pläne machte, hatte einen Großteil der Tage ausgemacht, die sie mit sechzig oder mehr Frauen verbracht hatte, von denen ihr mindestens fünfzig den Tod gewünscht hatten.

Mia bemerkte, dass sich im höhlenartigen Studierzimmer ihres Vaters Stille ausgebreitet hatte. Sie blickte in ein Paar grüner Augen, die sie fest im Blick hatten.

„Hörst du mir zu, Euphemia?“ Seine borstigen kastanienbraunen Augenbrauen wölbten sich wie wütende rote Raupen.

Mia verfluchte ihre abschweifenden Gedanken. „Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber ich habe nicht ganz verstanden.“ Es war eine kleine Lüge und eine, die in den vergangenen sechs Wochen einige Male gut funktioniert hatte. Sie dachte zwar tatsächlich immer noch auf Arabisch, verstand Englisch jedoch hervorragend. Es sei denn, ihre Gedanken schweiften ab. Der misstrauische Blick des Dukes sagte ihr, dass es nicht mehr so überzeugend war wie noch vor Wochen, vorzutäuschen, dass sie ihn aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnis nicht verstanden hatte.

„Ich sagte, du musst aufpassen, was du den Leuten erzählst. Ich habe große Anstrengungen unternommen, die aufsehenerregenden Teile deiner Vergangenheit zu verheimlichen. Gerüchte über Enthauptungen, Vergiftungen und … äh … Eunuchen machen diese Aufgabe sehr viel schwieriger.“ Die blasse Haut ihres Vaters verdunkelte sich, als er sich gezwungen sah das Wort Eunuch auszusprechen.

Mia senkte ihren Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. Der Duke, der ihren geneigten Kopf offenbar als Zeichen der Reue interpretierte, umrundete weiter seinen Schreibtisch. Der dicke, braun und goldene Aubusson-Teppich dämpfte das Geräusch seiner Stiefel. Er räusperte sich mehrmals, als wollte er seinen Mund von den widerwärtigen Silben rein waschen, die er gezwungen gewesen war zu benutzen. Er fuhr fort.

„Meine Bemühungen um deinen Ruf sind vielversprechend. Das wird sich jedoch ändern, wenn du weiterhin darauf bestehst, jedes schmutzige Detail deiner Vergangenheit auszuplaudern.“

Nicht jedes Detail, dachte Mia, während sie ihren Vater durch gesenkte Wimpern hindurch ansah. Wie würde der Duke wohl reagieren, wenn sie ihm von der Existenz ihres siebzehnjährigen Sohnes Jibril berichtete? Oder wenn sie ihm einige von Sultan Babba Hassans exotischeren Perversionen – in schmutzigen Details – schilderte? War es besser, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, oder sollte sie ihm erlauben, sie weiterhin wie eine Fünfzehnjährige zu behandeln, und nicht wie eine Frau von fast dreiunddreißig? Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: Die Wahrheit würde niemandem nützen. Am wenigsten Mia.

„Bitte verzeiht, Euer Gnaden“, murmelte sie.

Der Duke grunzte und nahm seine Wanderung durch den Raum wieder auf. „Deine Cousine hat mir versichert, dass du dich um ein respektables Auftreten bemüht hast. Nach diesem jüngsten Fiasko allerdings …“ Er schüttelte den Kopf. Falten bildeten sich auf seiner ansonsten glatten Stirn.

Ihr Vater spielte auf eine Dinnerparty an, bei der Mia die Meinung geäußert hatte, es sei humaner, Kriminelle zu köpfen als sie zu hängen. Woher hätte sie wissen sollen, dass so eine einfache Aussage eine derartige Fassungslosigkeit hervorrufen würde?

Der Duke baute sich wieder vor ihr auf. „Ich befürchte, deine Cousine ist nicht streng genug mit dir. Möglicherweise würdest du von einer härteren Hand profitieren – von der deiner Tante Philippa vielleicht?“

Mia zuckte zusammen. Eine einzige Woche unter dem stechenden Blick ihrer Tante Philippa war schlimmer gewesen als siebzehn Jahre in einem Harem voller intriganter Frauen.

Der Duke nickte. Ein wenig erfreuter Ausdruck erschien auf seinem gut aussehenden Gesicht. „Ja, ich sehe, dass du trotz der Sprachbarriere verstehst, wie sich dein Leben verändern würde, wäre ich gezwungen, dich zu meiner Schwester nach Burnewood Park zu schicken.“

Der schreckliche Vorschlag ließ Mia zusammenzucken und sie hätte sich beinahe vor ihrem Vater auf den Boden geworfen – was sie immer getan hatte, wenn sie das Missfallen Babba Hassans erregt hatte. Jenes Missfallen, das mehr als eine Frau ihren Kopf gekostet hatte. Glücklicherweise konnte sie den Impuls gerade noch unterdrücken. Das letzte Mal, als sie diese Geste des demütigen Respekts gezeigt hatte – am Tag, als sie nach England gekommen war – war der Duke sprachlos vor Scham gewesen, als seine Tochter sich zu seinen wohlbeschuhten Füßen auf dem Boden gewunden hatte.

Stattdessen neigte sie nun den Kopf. „Es soll mich nicht grämen mit Tante Philippa zu leben, Euer Gnaden.“

Das Seufzen des Dukes schwebte über ihrem Kopf wie fernes Donnergrollen. „Sieh mich an, Euphemia.“ Mia blickte auf. In den ernsten Gesichtszügen ihres Vaters spiegelte sich Resignation. „Ich habe gedacht, dass du deine verkorkste Vergangenheit vergessen und ein neues Leben beginnen möchtest. Natürlich bist du nicht mehr jung, aber noch immer attraktiv und im gebärfähigen Alter. Deine Vergangenheit ist irgendwie ein … Hindernis.“ Er hielt inne, als wäre er von der Unzulänglichkeit des Wortes überrascht. „Aber es gibt einige respektable Männer, die gewillt sind, dich zu heiraten. Du musst Akzeptanz lernen und über kleinere … äh … Mängel bei deinen Verehrern hinwegsehen.“

Mängel. Das Wort ließ ein fast hysterisches Gelächter in ihrer Kehle aufsteigen. Was der Duke wirklich meinte, war, dass die einzigen Männer, die willens waren, eine ältere Frau mit zweifelhafter Vergangenheit zu heiraten, senil, grässlich, hirnlos, krank oder eine Kombination daraus waren.

„Sehr wohl, Euer Gnaden“, sagte sie.

„Mir ist bewusst, dass es sich hierbei nicht um die Prinzen aus Kleinmädchenträumen handelt, aber du bist kein Mädchen mehr, Euphemia.“ Seine Stimme war nüchtern, als würde er über das Abwassersystem von Carlisle House sprechen und nicht über das Glück seiner einzigen Tochter. „Wenn du dich nicht bald entscheidest, werden auch diese wenigen Chancen vergehen. Das Einzige, was dir dann noch bleibt, ist ein ruhiges Leben in Burnwood Park. Wir beide wissen, dass du das nicht möchtest.“ Er ließ die Worte kurz im Raum stehen, bevor er fortfuhr. „Die Saison ist fast vorbei und es wird Zeit, dass du eine Entscheidung bezüglich deiner Zukunft triffst. Verstehst du mich?“

„Ja, Euer Gnaden, ich verstehe.“ Nur zu gut. Ihr Vater wollte sie loswerden, bevor sie etwas so Skandalöses tat, dass an eine Heirat nicht mehr zu denken wäre.

„Schön.“ Die Stirn des Dukes glättete sich wieder. „Dieser Ball heute Abend ist eine hervorragende Gelegenheit, deine Bekanntschaft mit einigen der Männer, die ein Interesse an dir bekundet haben, zu vertiefen. Du musst dich nur anständig benehmen und den Abend genießen – innerhalb der Grenzen der Vernunft natürlich.“ Er tätschelte ihre Schulter, kehrte zu seinem Stuhl zurück und beschäftigte sich wieder mit seinem Rechnungsbuch. Die Unterhaltung war beendet.

Vor dem Studierzimmer des Dukes standen zwei riesenhafte Männer auf ihrem Posten. Einer von ihnen befreite sich gerade lang genug aus seiner Starre, um die Tür hinter Mia zu schließen.

„Danke“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass man sich bei Dienern nicht bedankte. Der Blick des Mannes blieb starr auf einen Punkt über ihrer linken Schulter gerichtet, doch eine feine Röte kroch seinen muskulösen Hals hinauf.

Mia war seit einiger Zeit wieder in England, aber sie hatte sich immer noch nicht an die Anwesenheit attraktiver Männer gewöhnt, die keine Eunuchen waren. Diese Faszination fand sich oft auf beiden Seiten und sie konnte das Gewicht neugieriger Blicke in ihrem Rücken spüren, als sie in Richtung Bibliothek davonschritt.

Ähnlich verhielt es sich, wenn sie ein Geschäft besuchte, einen Ball oder nur das Esszimmer ihrer Familie. Die Leute wollten unbedingt mehr über die mysteriöse Tochter des Dukes of Carlisle erfahren: die Diener ihres Vaters, die Menschenmenge, die täglich mehrere Stunden vor Carlisle House wartete, nur um einen Blick auf sie zu erhaschen, und, am schlimmsten, die Männer, die für die verschiedenen Skandalblätter schrieben, die an jeder Straßenecke in London erhältlich waren. Die Zeitungsleute konnten nicht schnell genug Geschichten über sie erfinden, um ihre sensationslüsternen Leser zufriedenzustellen. Die furchtlosesten Männer unter ihnen hatten versucht, diese Geschichten aus erster Hand zu bekommen. Sie waren während der Fahrt in Mias Kutsche geklettert, hatten sich im Kofferraum des Stadtwagens des Dukes versteckt und sich in die Umkleidekabinen ihres bevorzugten Modeausstatters geschlichen. Ein unternehmungslustiger Mann hatte sich gar als Frau verkleidet und eine Stelle als Küchenmädchen im Carlisle House bekommen.

Das ganze Land wollte mehr über Mias mysteriöse Vergangenheit erfahren. Jeder außer ihrer eigenen Familie, die in einem andauernden Zustand der Angst lebte, Mia könne etwas Schreckliches tun oder sagen, das ihre Familie in den gesellschaftlichen Abgrund stürzen würde.

Mia öffnete die Tür zur Bibliothek und hielt inne. Ihr jüngerer Bruder saß hinter dem massiven Schreibtisch, der das andere Ende des von Büchern umgebenen Raums einnahm. Über den wackligen Stapeln von Büchern und Papieren konnte sie nur seinen Kopf erkennen. Sie unterdrückte ein Seufzen. Konnte sie nirgendwo in diesem großen Haus allein sein und nachdenken? Sie blickte in die verschreckten grünen Augen ihres Bruders.

„Entschuldige, Cian. Ich wusste nicht, dass du arbeitest. Ich werde dich allein lassen.“ Sie wollte gerade gehen, als Cian aufsprang.

„Bitte bleib doch. Ich freue mich über deine Gesellschaft.“ Er deutete auf den Bücherberg. „Ich muss heute elendig viel nachlesen.“

Mia seufzte und schloss die Tür hinter sich.

„Du denkst zu viel, Cian.“ Sie schritt über den polierten Fußboden aus dunklem Holz und ließ sich auf das dunkelrote Ledersofa sinken, das seinem Schreibtisch gegenüberstand.

„Das sagt Vater auch.“

Mia zog eine Grimasse. „Ah, Vater.“ Sie zupfte an den Bändern, mit denen ihre dünnen Schläppchen an ihren Füßen befestigt waren, kickte sie fort und zog die Füße unter sich. Als sie aufsah und bemerkte, dass Cian sie anstarrte, hob sie eine Hand. „Bitte, Bruder, ich habe gerade eine Standpauke bekommen. Gib mir keine weitere.“

Cian schüttelte den Kopf, wobei ihm eine Locke kastanienbraunen Haars in die Stirn fiel. „Es interessiert mich nicht, wie du sitzt, Mia. Aber du weißt, dass es Vater interessiert. Du gewöhnst dich besser an Schelte, wenn du weiterhin so sitzen möchtest.“ Er schob einen Stapel Bücher zur Seite, um sie besser sehen zu können. „Aber genug davon. Sag mir, freust du dich auf heute Abend?“

„Nein.“

Cian lachte.

„Es ist mein Ernst. Heute Abend ist nur eine weitere Gelegenheit für mich, etwas Furchtbares zu sagen oder zu tun und Vaters Zorn auf mich zu ziehen.“

„Ach komm schon, Mia. Ich habe in den Wettbüchern meines Clubs nichts über dich gelesen. Zumindest nicht in der letzten Woche.“
„Ha, ha. Sehr amüsant. Dabei sollte man denken, dass mein Verhalten auf dem Ball der Charrings ausgereicht hätte, um die Bücher zu füllen.“ Mia stützte einen Ellbogen auf die Sofalehne und legte ihr Kinn in ihre Handfläche.

Cians Lächeln verschwand. „Du musst diesen … äh … Vorfall vergessen, Mia. Ich habe lange niemanden mehr davon sprechen hören.“

Dieser Vorfall hatte sich auf Mias desaströsem ersten Ball ereignet. Mia hielt die Aussage ihres Bruders für naiv und optimistisch. Nur weil die Männer keine Beträge mehr in Wettbüchern verzeichneten, hieß das nicht, dass die Angelegenheit vergessen war.

„Wie dem auch sei“, fuhr er fort. „Ich habe gehört, dass heute Abend zahlreiche junge Liebhaber zugegen sein werden.“

Ihr Bruder schien entschlossen, dieses Ereignis, das nichts weiter als eine öffentliche Auktion war, im besten Licht zu sehen.

Mia zuckte mit den Schultern. „Ja. Am heutigen Dinner werden keine unerwünschten Herren teilnehmen. Nur die erlesensten Stammbäume. Nachdem Vater mich erwischt hat, als ich auf der Soiree der Powells mit dem Spross eines Kohlemagnaten geredet habe, ist mir klar, dass sich aus Kohle oder Textilien stammender Reichtum schädlich auf die Blutlinie auswirkt. Schwachsinn, Hinfälligkeit und eingebildetes Getue sind jedoch höchst akzeptabel.“

Cian warf einen Blick zur Tür, als hätte er Angst, dass jemand – der Duke? – am Schlüsselloch lauschen könnte.

„Meine liebe Schwester, du musst deine Zunge hüten, wenn du auch nur einen dieser Männer haben möchtest, die deinen Beschreibungen entsprechen.“

„Das wurde mir bereits gesagt. Vater hat auch klargestellt, dass er mich für den Rest meiner Tage zu Tante Philippa abschieben wird, wenn ich nicht vor Ende der Saison heirate.“

Cian öffnete seinen Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. Etwas in der niedergeschlagenen Miene ihres Bruders kratzte an ihrem Gewissen. „Mach dir um mich keine Sorgen, Cian. Ich habe immer noch an Vaters Schelte zu knabbern.“

„Weißt du, wen er heute Abend für dich bestellt hat?“

„Oh ja, ich habe die Gästeliste gesehen.“ Mia bemühte sich darum, unbeschwert zu klingen, auch wenn ihr Blut vor Wut kochte, wenn sie an die Männer dachte, die ihr Vater ihr zur Auswahl stellte. „Vor jedem wird ein Schildchen auf dem Tisch stehen: Lord Cranston – achtzig, sabbert, verwechselt mich mit einer seiner sieben Töchter und braucht unbedingt einen Erben und ein neues Dach auf seinem Landhaus in Devon. Viscount Maugham, zweiundzwanzig, hat eine Haut so hell wie die eines jungen Mädchens und eine entschiedene Vorliebe für junge Knaben.“

„Mia!“

Cian fuhr so schnell hoch, dass er einen Stapel Bücher umstieß und sie nun aufzufangen versuchte, bevor sie sich auf dem Fußboden verteilten. „Woher weißt du solche Dinge?“

„Ich bin zweiunddreißig, Cian.“ Sie hob ihre Brauen. „Sag mir, Bruder, spreche ich nicht die Wahrheit?“ Cian blieb stumm, doch sein hochrotes Gesicht brachte sie zum Lächeln. „Deine Haltung ist höchst vornehm.“ Tatsächlich konnte Mia sich nicht erinnern, wann sie zuletzt solch rote Wangen gehabt hatte. Der Sultan hatte ihre Röte vor Jahren aufgebraucht.

„Du magst über solche Dinge Bescheid wissen, Mia. Aber du darfst nicht in Gesellschaft darüber sprechen und erst recht nicht vor Vater.“

„Ich befinde mich nicht in Gesellschaft, Cian. Ich bin nur bei dir. Wenn ich mit dir nicht offen sprechen kann, mit wem dann? Mit Cousine Rebecca?“

„Guter Gott, nein!“

Mia seufzte. „Ach Cian, als wenn ich so was Dummes tun würde.“

„Nein, nein, ich glaube nicht, dass du das würdest.“ Er blickte benommen auf seinen unordentlichen Schreibtisch hinab, bevor er Mia wieder ansah. „Wenn du über solche Dinge reden musst, dann tu es mit mir – vorausgesetzt wir sind allein. Ich möchte, dass du mir versprichst, dass du niemals so reden wirst, wenn jemand anders es hören kann.“

Mia sah ihn ungläubig an.

„Ich meine es ernst, Mia. Versprich es.“ Cians ernster Mund und sein stechender Blick machten seine Ähnlichkeit mit ihrem Vater sehr deutlich. Eine Beobachtung, die ihm nicht gefallen würde.

„Schön, Cian. Ich gebe dir mein Wort. Sollen wir in unsere Handflächen spucken und es mit einem Handschlag besiegeln, wie wir es gemacht haben, als wir jung waren?“

Cian stöhnte und ließ seinen Kopf in seine Hände sinken.

„Ich habe gescherzt“, sagte sie und lachte. „Ich schwöre, dass ich nicht über solche Dinge reden werde, wenn wir nicht ganz allein sind. Reicht das?“

Anstatt entspannt auszusehen, hatte Cian nun zwei steile kleine Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen. „Sicher sind doch nicht alle deine Verehrer schrecklich, oder?“

Mia wollte ihren Bruder fast so sehr trösten wie sich selbst. Es war nicht so, dass sie hohe Ansprüche an ihren Bräutigam gehabt hätte. Sie erwartete keine Liebe oder Kameradschaft – nichts dergleichen. Alles was sie wollte, war Gleichgültigkeit. Je weniger Interesse ihr Mann an ihr hatte, desto einfacher wäre es für sie, Pläne für eine Flucht zurück nach Oran zu machen.

Unglücklicherweise konnte sie mit Cian nicht darüber sprechen. Besonders angesichts der öffentlichen Schande, der er ausgesetzt sein würde, wenn sie den Mann verließ, den sie heiraten würde. Wenn sie doch nur einfach verschwinden könnte, ohne dieses ganze Theater mit Hochzeit und Ehemann. Doch ihr Vater hatte das unmöglich gemacht, indem er ihr bis zu ihrer Hochzeit nur ein Taschengeld zugestand. Selbst wenn sie genug Geld für eine Überfahrt zurück nach Oran gehabt hätte, wäre es unter den strengen Augen des Dukes unmöglich, eine solche Flucht zu organisieren. Die traurige Wahrheit war, dass sie heiraten musste.

„Mia?“

Mia sah auf und schenkte Cian ein aufmunterndes Lächeln – das beste, das sie unter den gegebenen Umständen zustande brachte. „Trotz meines ganzen Gejammers freue ich mich auf heute Abend.“ Die Erleichterung, die sich bei ihrer kleinen Lüge auf seinem Gesicht breitmachte, erfreute sie. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, zog die Bänder fest und stand auf.

„Ich werde dich nun deiner Arbeit überlassen.“ Sie beugte sich über den Berg aus Büchern und Papieren, um ihn auf die Wange zu küssen, bevor sie sich zum Gehen wandte.

„Heb dir einen Tanz für deinen kleinen Bruder auf“, rief er ihr hinterher. Mia schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Sollte sie Cian ihre Pläne mitteilen? Hatte sie ihn falsch eingeschätzt? Schließlich war er hier auch nicht glücklich. Den Großteil seiner Zeit verbrachte er in Büchern vergraben, um den erdrückenden Erwartungen des Dukes zu entgehen. Würde er ihr helfen?

Mia stieß sich von der Tür ab und schüttelte angesichts ihrer Wunschträume den Kopf. Cian mochte in den Eheangelegenheiten Mitleid mit ihr haben, aber er würde nie ihren Wunsch verstehen, nach Oran zurückzukehren. Auch wäre er nicht erfreut darüber, von ihrem Sohn zu erfahren. Für jedes Mitglied der oberen Zehntausend – ihre eigene Familie eingeschlossen – wäre ihr kostbarer Jibril nichts weiter als der Mischlingsbastard eines heidnischen Wilden.

Nein, den Weg zu ihrem Sohn zurückzufinden, war eine Aufgabe, die sie allein bewältigen musste. Sie konnte niemandem vertrauen, nicht einmal ihrem Bruder. Je eher sie den Befehl ihres Vaters befolgte und einen Ehemann erwählte, desto eher könnte sie diesem grässlichen Land entfliehen und zu Jibril zurückkehren.

Mia würde heute Abend ihre Wahl treffen, wie erbärmlich das Angebot auch sein mochte.

Kapitel zwei

Sayer hielt zwei Westen in die Höhe, damit Adam sie begutachten konnte. Adam wollte gerade beide zurückweisen und etwas Angemesseneres für einen Abend in seinem Club anfordern, als das Gesicht des Dukes of Carlisle vor seinem inneren Auge erschien. Der sonst so distanzierte Mann schien so erfreut ihn im White’s zu sehen, dass Adam regelrecht verwirrt war. Wann hatte sich zuletzt jemand gefreut sein Gesicht zu sehen? Doch wenn ihn das herzliche Auftreten des Dukes verwundert hatte, so hatte ihn ihre merkwürdige Unterhaltung neugierig gemacht. Volle vier Tage später war er immer noch neugierig.

„Verdammt“, murmelte er.

„Verzeihung, Mylord?“

Adam seufzte. „Das rechte, Sayer.“ Sein Kammerdiener half ihm in die weiße Seidenweste, während Adam weiter in Gedanken bei seinem inneren Zwiespalt verweilte, in dem er sich befand, seit er am Dienstag den Duke getroffen hatte. Sollte er zu dem elenden Dinner und dem anschließenden Ball des Mannes gehen oder nicht? Der Duke of Carlisle – ein älterer, gut angesehener Herr, mit dem er noch kein Dutzend Wörter gewechselt hatte – hatte ihn mit der Jovialität eines lang vermissten Freundes begrüßt. Er hatte kaum abgewartet, bis Adam Hut und Mantel abgelegt hatte, bevor er ihn an einen Tisch zog.

„Ah, Exley, ich hatte gehofft, Euch heute hier zu treffen. Habt Ihr einen Augenblick Zeit?“

„Es wäre mir ein Vergnügen, Euer Gnaden“, hatte Adam nach einem Moment betäubten Schweigens geantwortet. Noch jetzt zitterten seine Lippen, als er sich die Gesichter derer in Erinnerung rief, die an diesem Morgen im Club gewesen waren. Aller Augen waren auf den faszinierenden Anblick gerichtet, den eines der stolzesten und anständigsten Mitglieder des Clubs bot, als es eines der berüchtigtsten und unsympathischsten anflehte. Adam wusste, dass diese zwei Attribute oft auf ihn angewendet wurden, wenn auch nie in seiner Anwesenheit.

Der Duke hatte ihn zu einem Paar Sessel am Kamin geführt und scheuchte einen wartenden Diener fort. „Also, Exley, habt Ihr eine Einladung zu dem Ereignis bekommen, das diesen Samstag bei uns stattfindet?“

„Ereignis?“

„Ja, ein Ball für meine Tochter.“

Adam blinzelte und rutschte in seinem Sessel hin und her. „Nein, habe ich nicht.“

Der Duke winkte ab. „Kein Problem. Ich nehme an, meine verrückte Cousine, die das verdammte Ding organisiert hat, wusste nicht, dass Ihr in der Stadt seid.“ In seiner Verlegenheit färbte sich die blasse Gesichtshaut des Dukes angesichts dieser plumpen Unwahrheit leicht rosa. Sicher wusste der ältere Mann, ebenso wie seine „verrückte Cousine“ und jedes andere Mitglied des Clubs, dass Adam London nur selten verließ. Nicht einmal nach Ende der Saison.

„Auf jeden Fall“, fuhr Carlisle unbeirrt fort, „spreche ich Euch hiermit eine persönliche Einladung aus.“

„Ich bin geehrt, Euer Gnaden.“ Und verdammt neugierig, hätte er hinzufügen können. Schließlich hatten in den vergangenen zehn Jahren nicht viele Menschen seine Nähe gesucht und schon gar niemand mit dem Titel „Duke“. Nicht seitdem er den Spitznamen „Mörderischer Marquess“ bekommen hatte. Ein weiterer Name, der ausschließlich hinter Adams Rücken verwendet wurde.

Carlisle hatte sich dicht zu Adam gebeugt, so als beabsichtigte er, ein vertrauliches Thema anzusprechen. „Sicher wisst Ihr, dass Lady Euphemia für einige Zeit fort war, nicht wahr?“

Zu mehr als einem Gaffen war Adam nicht in der Lage gewesen, als der ältere Mann fast beiläufig die siebzehnjährige Abwesenheit seiner Tochter zur Sprache brachte. Schließlich handelte es sich um eine Angelegenheit, die die Briten dermaßen fasziniert hatte, dass Dutzende gerissene Zeitungsleute ein Vermögen damit gemacht hatten, den Wissensdurst der Bevölkerung zu stillen. Euphemia Marlington hatte sogar Boney aus den Köpfen der Leute vertrieben. Seit fast sechs Wochen beherrschte nur eine Frage die Skandalblätter: Was hatte die Tochter des Dukes in all den Jahren gemacht?

Adam sah einen der wenigen Männer in England an, die sicher die Antwort auf diese Frage kannten, und lächelte. „Ich glaube, ich kann mich erinnern, von der Rückkehr Eurer Tochter gehört zu haben.“

Seine Ironie war für Carlisle zu subtil gewesen. „Ihr seid ihr noch nicht begegnet, nicht wahr?“

„Unsere Wege haben sich noch nicht gekreuzt, Euer Gnaden.“ Es wäre auch mehr als nur ein bisschen merkwürdig gewesen, wenn sie das bereits getan hätten. Adam hatte im Club kein Amt inne und er bezweifelte, dass Lady Euphemia Spielhöllen, Herrenclubs oder das Apartment von Adams Mätresse aufsuchte – Orte, an denen er für gewöhnlich zu finden war.

„Ihr müsst ihr Eure Aufwartung machen, Exley. Sie ist heiratsverrückt, wie alle ihres Geschlechts, natürlich.“ Er kicherte und wurde wieder rot. „Jetzt, wo sie wieder heimgekehrt ist, kann sie es nicht erwarten, Kinder in die Welt zu setzen.“

Der Duke hätte nicht direkter sein können, wenn er Adam einen Menstruationskalender überreicht hätte. Er befürchtete schon, der ältere Mann würde weitere Details über ihren Zyklus und ihren nächsten Eisprung preisgeben. Als Adam nichts dazu sagte, fügte der Duke hinzu: „Sie wird einem glücklichen Mann eine hervorragende Frau sein.“

„Ich befürchte, die Kandidaten um ihre Hand werden sehr zahlreich sein, Euer Gnaden.“

Carlisles Lächeln verschwand unter Adams kühlem Spott.

„Und wie geht es Eurer Familie, Exley? Ihr habt drei Mädchen, nicht wahr?“

Es war nicht der feinste Weg Adam daran zu erinnern, dass er keinen Erben hatte, doch es hatte ihn überzeugt. Letztlich stand er hier und kleidete sich für sein erstes Oberklassenereignis seit zehn Jahren an.

Adam unterbrach sein Nachsinnen, als Sayer ihm in sein neustes Jackett half. Es war ein recht schwieriges Unterfangen, das mehrere Minuten dauerte und nach dessen Ende beide Männer schwer atmeten. Er schob sein Haar aus seiner Stirn und schloss die Knöpfe aus Silber und Onyx, während er über die Bedeutung der Einladung des Dukes nachdachte.

Carlisle hätte seine Absichten kaum deutlicher machen können, wenn er mit einem Zuchtbuch, einem Auktionskatalog und einem Hammer im White’s aufgetaucht wäre. Er wollte seine Tochter verheiratet sehen, und zwar schnell. Adam konnte die Eile des Mannes verstehen; die Frau war kein Frühlingsküken. Was er jedoch nicht verstehen konnte, war, dass der Duke seine einzige Tochter mit einem Mann von seinem Ruf verheiraten wollte.

Sayer brachte ein Tablett mit einer Taschenuhr, Anstecknadeln, Ringen und Vergrößerungsgläsern. Adam legte seinen auffälligen Siegelring an – einen großen Rubin in einer schweren Goldfassung – wählte das Schlichteste seiner silbernen Vergrößerungsgläser und entschied sich für eine einzelne Anstecknadel mit einem geschliffenen Saphir. Als er fertig war trat er zurück und musterte sein Spiegelbild im dreiteiligen Spiegel seines Ankleidezimmers. Drei identische Männer in makelloser Abendkleidung starrten ihn an. Alle drei schienen leicht verwirrt und ein wenig verärgert. Er runzelte die Stirn. Es war immer noch Zeit, etwas anderes anzuziehen und in seinen Club zu gehen.

„Euer Wagen steht bereit, Mylord“, informierte ihn Sayer und hielt ihm Hut und Mantel hin. Adam war sich sicher, dass sein Diener, der der Sphinx ein oder zwei Dinge über Diskretion hätte beibringen können, zufrieden war. Man musste kein Genie sein, um sich das Gerede im Dienstbotentrakt vorzustellen. Ohne Zweifel waren sie alle – selbst der unbeeindruckte Sayer – begeistert, dass ihr Herr aus seinem selbst auferlegten Exil zurückkehrte und sich wieder unter Menschen begab. Wie angenehm konnte es schließlich sein, für einen Mann zu arbeiten, den halb London für einen kaltblütigen Mörder hielt? Sie würden diesen Ball als ersten Schritt zu seiner Rehabilitation ansehen. Als Nächstes würde er sich eine Frau nehmen und ein Zimmer voller Kinder haben. Kinder, die er nicht auf dem Land versteckt halten würde, so wie seine drei Töchter. Adam nahm seinen Hut und seine Handschuhe aus den Händen seines Kammerdieners. „Warten Sie nicht auf mich, Sayer.“

Er schritt durch den stillen Flur und eine halbrunde Marmortreppe hinunter und schürzte seine Lippen. Der heutige Abend wäre das gesellschaftliche Äquivalent eines langsamen Todes. Er würde den gesamten Abend damit zubringen, die Verleumdungen der anderen zu ertragen, nur um eine Frau kennenzulernen, die er eigentlich gar nicht kennenlernen wollte und nicht zu heiraten beabsichtigte – eine Frau, die entweder einer alternden Matrone oder einer Operntänzerin glich, je nachdem welchen Gerüchten man den Vorzug gab.

Oder vielleicht war sie sogar noch schlimmer? Was stimmte nicht mit ihr, dass ihr eigener Vater einen Mann wie Adam als Schwiegersohn akzeptieren würde?

 

Mia starrte ihr Spiegelbild an, während LaValle sich mit ihrem Haar beschäftigte. Die Französin erledigte ihre Arbeit mit großer Sorgfalt. Sie zähmte Mias rote Locken und türmte sie auf ihrem Kopf auf, sodass sie größer erschien, wenn auch nur ein oder zwei Zentimeter. Wenn Mia eines an ihrem Aussehen hätte ändern können, wäre es ihre Größe gewesen. Mit nur einem Meter fünfzig musste sie zu jedem aufblicken, der älter als zehn war. Sie wusste, dass ihre geringe Größe Männer dazu veranlasste sie herumzukommandieren. Sie hatte die Größe eines Kindes, also behandelten die Männer sie wie ein Kind.

Sie war jedoch nicht wie ein Kind gekleidet. Ihr Kleid war ein eng anliegendes, jadegrünes Meisterwerk aus Seide mit einem einzelnen federleichten Unterrock. Wahrscheinlich würde ihr Vater das Kleid skandalös finden, doch Mia hatte es beim Gewandschneider seiner Wahl bestellt, also konnte er sich doch daran nicht stoßen, oder? Das bodenlange Kleid war recht züchtig im Vergleich zu dem, was sie im Palast des Sultans getragen hatte. Dort hatte sie einen Großteil der Zeit nackt oder fast nackt verbracht. In der Wüste war es heiß und die kalten Steinwände hatten ihnen Schutz gegen die Hitze geboten. Sie hatten oft in den Wasserbecken gebadet, um in den heißen Sommern bei klarem Verstand zu bleiben.

LaValle legte ihr die berühmten Carlisle-Smaragde um den Hals und trat zurück. „Voilà!

Mia musterte ihre Erscheinung im Spiegel und drehte ihren Kopf von einer Seite zur anderen. Im Harem des Sultans hatte sie als junge Frau endlosen Spott ertragen müssen. Auch nachdem sie eine gewisse Autorität erlangt hatte, waren ihr rotes Haar, ihre kleine Gestalt und ihre sommersprossige Haut Gegenstand der Belustigung für die dunkeläugigen, üppigen Schönheiten gewesen, die um Babba Hassans Aufmerksamkeit gebuhlt hatten. Die attraktive, kultivierte Frau, die Mia aus dem Spiegel heraus ansah, unterschied sich maßgeblich von diesem verschreckten, unbeholfenen jungen Mädchen; sie sah … königlich aus.

In diesem Augenblick betrat ihre Cousine Rebecca ihr Ankleidezimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen und hob eine behandschuhte Hand vor ihren Mund. „Oh Mia, du siehst perfekt aus – wie eine Puppe.“

Die ältere Frau trug ein Kleid in einem schwer zu beschreibenden Braungrau – eine Farbe, die keiner lebenden Frau stand. Mia seufzte. Ihre Cousine war nicht schön, aber sie hatte ein hübsches Gesicht und sanfte graue Augen. In einem blauen oder violetten Kleid würde sie sehr anziehend aussehen.

„Vielen Dank, Cousine Rebecca. Du siehst auch sehr hübsch aus“, log sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

Rebecca wurde rot und tätschelte unbeholfen Mias Arm. Es stimmte Mia traurig, dass ihre Familie unwillig – oder unfähig – war, Zuneigung zu zeigen. Körperliche Zuneigung hatte ihr geholfen, im Palast des Sultans zu überleben. Als ihr Sohn ein Baby gewesen war, hatte sie ihn die ganze Zeit geknuddelt. Sie waren einander nahe geblieben, als Jibril aufwuchs, obwohl er bei öffentlichen Umarmungen eine Grenze gezogen hatte, nachdem sein Halbbruder Assad ihn damit aufgezogen hatte, dass Umarmungen etwas für Kinder wären.

Mia schob das Verlangen nach ihrem Sohn beiseite und bot Rebecca ihren Arm dar. Sie lächelte ihre große Cousine an. „Bist du bereit?“

 

Der weitläufige Salon war mit rothaarigen Verwandten und einer verdächtig großen Anzahl alleinstehender Männer gefüllt. Mia unterhielt sich gerade mit dem hasenzähnigen Sohn eines Earls aus dem Norden – einem Mann in seinen mittleren Jahren, der seinen Blick nicht lang genug vom Mieder ihres Kleids abwenden konnte, um einen vollständigen Satz zu sagen – als sich eine merkwürdige Stille über die Versammelten legte. Sie folgte den betäubten Blicken der Umstehenden zu einem schlanken, dunkelhaarigen Mann, der neben ihrem Vater stand. Mia stieß ihren Bruder an, der in eine heftige Diskussion mit einem älteren Mann aus seiner philosophischen Gesellschaft verwickelt war.

„Cian, wer ist das?“

„Wer ist wer?“, fragte er, in Gedanken noch in der Diskussion, die sie unterbrochen hatte.

„Dieser Mann, der mit Vater spricht.“

Cians Blick folgte dem ihren und er versteifte sich. „Gütiger Gott. Wie konnte er nur?“

„Wie konnte wer was?“, fragte Mia und sah vom entrüsteten Gesicht ihres Bruders wieder zu dem Mann, den mittlerweile alle anstarrten. Anders als der Duke, der eine bestickte grüne Seidenweste trug, war an dem Fremden nichts Farbiges. Sein Haar war so dunkel, dass es fast schwarz aussah und einen deutlichen Kontrast zu seiner blassen Haut bildete. Es verlieh seiner Erscheinung etwas Dramatisches. Mia war zu weit entfernt, um seine Augenfarbe zu erkennen, konnte jedoch sehen, dass er wohlgeformte dunkle Brauen hatte. Hohe, scharfe Wangenknochen und eine klar definierte Kieferpartie umrahmten Lippen, auf denen kein Lächeln spielte.

Der Duke beugte sich zu ihm und sagte etwas. Der Mann hob nur sein Vergrößerungsglas und nahm den Raum in Augenschein wie ein Falke, der ein Feld nach Nagetieren absucht. Selbst aus der Entfernung konnte Mia den Ärger ihres Vaters spüren, weil der Fremde seiner Aussage keine Beachtung schenkte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Wer war dieser Mann, der einen der mächtigsten Adeligen des Landes wie einen Lästling behandelte?

Sie tippte mit ihrem Fächer auf Cians Arm. „Wer ist das?“

„Das ist Adam de Courtney, der Marquess of Exley.“ Cian presste die Worte durch zusammengebissene Zähne.

„Warum versuchst du, ihn mit deinem Blick zu erdolchen?“

„Das tue ich nicht.“ Er drehte sich um und versuchte stattdessen, Mia mit seinem Blick zu erdolchen. Seine Augen waren zusammengekniffen und sein Mund bildete eine schmale Linie.

Mia verkniff sich angesichts seines fast komischen Wutausbruchs ein Lächeln. „Warum tut jeder hier im Raum so, als würde er ihn nicht anstarren?“

„Sie starren, weil er für gewöhnlich nicht in einer derartigen Umgebung anzutreffen ist.“

„In einem Haus?“

Cian sah sie so vernichtend an, dass sie lachen musste.

„Nein. Bei einem respektablen Ereignis mit anständigen Leuten. Er hat sich in der Gesellschaft nicht mehr sehen lassen, seit …“

„Ja? Seit?“, bohrte Mia.

Er schüttelte ungeduldig seinen Kopf. „Es ist nicht wichtig. Seit langer Zeit eben.“ Sein Blick schoss zu dem Marquess zurück, der nun etwas zu ihrem Vater sagte. Der Duke, der ohnehin schon die Stirn gerunzelt hatte, schien nun gleich zu explodieren.

„Großer Gott. Was kann er nur gesagt haben, dass Vater so wütend aussieht?“, fragte Mia.

„Was immer es auch gewesen sein mag, Vater verdient es.“

Bevor sie ihren Bruder bitten konnte, seine kryptische Aussage zu erklären, hob der Marquess sein Augenglas und richtete seinen Blick auf sie.

Cian fluchte. „Zur Hölle.“ Er stellte sich vor sie. Mia nahm ihn beim Arm. „Ich brauche deinen Schutz nicht, Cian.“

Er ignorierte sie und kam noch näher. „Verdammt“, zischte er. „Er kommt hierher. Rede nicht mit ihm, Mia. Lass mich das machen.“

Tanten, Cousinen und potenzielle Verehrer verschmolzen mit den umherstehenden Möbelstücken wie Wachteln im hohen Gras, als der Marquess of Exley auf sie zukam. Er bewegte sich mit der lässigen Anmut eines Raubtiers auf Beutezug. Er war nur mittelgroß und sein Körper war schlank aber muskulös. Seine strenge, in schwarzweiß gehaltene Garderobe sah aus, als wäre sie ihm auf den anmutigen Leib geschneidert worden. Sein Jackett fiel von breiten Schultern auf schmale, kompakte Hüften hinab. Darunter waren kräftige Oberschenkel und Waden zu sehen – die Beine eines aktiven Mannes. Als er ihre Seite des Raums erreichte, waren nur noch Cian und Mia da, um ihn zu begrüßen.

Mia riss ihren Blick von seinen eng anliegenden schwarzen Hosen los und sah ihm in die Augen. Sie waren von einem erschreckend hellen Blau – eine ungewöhnliche Farbe, die im Kontrast zu den dichten, dunklen Wimpern, die sie umgaben, noch deutlicher erschien. Er lächelte leicht, als sie ihn unverhohlen musterte, und richtete seine irritierenden Augen auf ihren Bruder. „Vielleicht stellt Ihr uns einander vor, Abermarle?“ Seine Stimme war tief, samtig und akzentuiert – ebenso attraktiv wie der Rest seiner Person.

Cian schwieg und hatte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt. Der Marquess musterte den jüngeren Mann, wie er vielleicht einen Fleck auf seiner Krawatte untersucht hätte. Je länger sein Blick auf ihm ruhte, desto mehr entglitten Cians Züge.

Mia wollte ihn knuffen. Was stimmte mit ihm nicht? Stattdessen ging sie um ihn herum und streckte ihre Hand in der Hoffnung aus, das feindliche Stillleben vor sich aufzulösen, bevor ihr Bruder den anderen angriff. „Ich bin Euphemia Marlington.“

Der Marquess beugte sich tief über ihre Hand. „Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Euphemia. Ich bin Exley.“ Seine Lippen, hart und kalt wie Stein, hinterließen einen brennenden Abdruck auf dem kühlen Satin ihres Handschuhs.

Mia knickste tief, wie sie es nur vor dem Sultan getan hatte. Als sie sich erhob, sahen sie seine eisblauen Augen anerkennend an. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das beinahe als ein Lächeln hätte durchgehen können.

„Seid Ihr froh, wieder im Schoße Eurer Familie zu sein, Mylady?“ Es war eine unschuldige Frage, aber sie spürte die Ironie dahinter. Mia sah zu ihrem Vater hinüber; der Duke sah sie mit versteinertem Blick an. Wusste jeder im Raum – jeder in London – wie sehr ihre Rückkehr ihren Vater beschämt hatte? Wenn das der Fall war, hatte es keinen Sinn, sie alle wissen zu lassen, wie sehr sie das verletzte.

Sie strahlte den Marquess an. „Oh ja, sehr, Mylord. Besonders freue ich mich, dass ich wieder mit meinem kleinen Bruder vereint bin.“ Beide wandten sich zu Cian um. Ihr Bruder starrte den Marquess an, als wäre der ein gefährliches und unberechenbares Reptil.

Mias Lächeln schwand. Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. „Mein Bruder sagte mir, dass Eure Anwesenheit hier heute Abend eine große Überraschung ist, Lord Exley.“

Seine dunklen Brauen wölbten sich, als wäre er überrascht, zu hören, dass Cian tatsächlich sprechen konnte. „Normalerweise kümmern mich derartige gesellschaftliche Anlässe nicht, doch Euer Vater überzeugte mich, dass ich es bereuen würde, heute nicht hier zu sein.“

Falls sie missverstanden hatte, was er gesagt hatte – dass ihr Vater sie wie auf einer öffentlichen Auktion anbot – begutachtete Exley sie freimütig, wie er wahrscheinlich auch Zuchtvieh in Tattersall ansah. Sein Blick glitt über sie wie blaues Feuer, verbrannte ihre Haut unter ihrem Kleid, besah sie von Kopf bis Fuß und ließ keinen Teil ihres Körpers aus. Am längsten verweilte er auf ihrer Brust, die sich hob und senkte, als wäre sie soeben ein Rennen gelaufen.

Sein Ausdruck wandelte sich unmerklich von grausam und berechnend zu … zufrieden, aber immer noch berechnend. Seine dreiste Musterung reichte aus, um Cian aus seiner Trance zu reißen. Er trat auf den Marquess zu. „Seht mal, Exley, was zum Teufel …“

„Das Essen ist angerichtet!“, verkündete der Butler des Dukes mit schallender Stimme.

Exley streckte seinen Arm aus. „Darf ich die Ehre für mich beanspruchen, Euch zum Dinner zu geleiten, Lady Euphemia?“

Mia neigte ihren Kopf und legte ihre Hand auf den kühlen, glatten Stoff seines Ärmels. Sie hätte sich dem stummen Befehl in seiner Stimme nicht widersetzen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Und sie wollte nicht.