Leseprobe Ein Chef zum Verlieben

Kapitel 1

Sophie musste sich beherrschen, um nicht in einen Hopserlauf zu verfallen, als sie die Grannus-Arkaden durch den Personaleingang verließ. Sie hatte den Job in Metz ergattert!

Drei Monate Auszeit. Von zu Hause, von ihrem Exfreund Leon – oder vielmehr der Erinnerung an ihn –, von ihren Eltern und von Aachen, das ihr im diesjährigen Frühling noch verregneter vorkam als sonst …

Mit dem Hochgefühl, bald ein Abenteuer zu erleben, nahm sie den Bus aus dem Zentrum nach Walheim, wo sie seit einem guten Jahr mit ihrer besten Freundin Mia und deren Freund in einer WG wohnte. Mia war noch auf ihrer Arbeitsstelle in einem Blumenladen in der Innenstadt, Niklas auf Geschäftsreise. Also war leider keiner da, dem sie die Neuigkeit sofort erzählen konnte. Zur Feier des Tages beschloss Sophie zu kochen und holte beim Delikatessenladen an der Ecke die Zutaten für ein asiatisches Hühnchengericht.

Während sie wenig später das Fleisch in Stücke schnitt und die Marinade anrührte, standen ihr die letzten, düsteren Monate vor Augen, in denen sie so viele Stunden über den Reinfall mit Leon gebrütet hatte. Er war der erste Mann gewesen, dem sie wirklich vertraut hatte. Alles, was sie vorher über die Liebe gewusst hatte, hatte sie in romantischen Filmen gesehen. Nicht einmal Mia gegenüber hatte sie eingestanden, dass sie mit zweiundzwanzig, als sie Leon traf, noch Jungfrau gewesen war. Schließlich war Sophie vorher auch schon zweimal liiert gewesen.

Sie stellte das Fleisch zur Seite und machte sich daran, Sellerie, Frühlingszwiebeln und Möhren klein zu schneiden.

Ihr allererster Freund zählte nicht wirklich. Er hatte damals nach einem Zwischenfall während ihres Praktikums in den Grannus-Arkaden Schluss gemacht. Das war fast zehn Jahre her. Blutjung, wie sie beide damals gewesen waren, hatten sie sich gegenseitig bedingungsloses Vertrauen versprochen. Nur kurze Zeit später stieß er sie einfach weg, weil er einem Gerücht mehr glaubte als ihr. Er hatte sie nicht mal zu Wort kommen lassen.

Sie setzte das Wasser für den Reis auf, holte den Wok aus dem unteren Fach des Küchenschranks und stellte ihn auf die größte Platte.

In ihrem letzten Schuljahr war sie mit Torsten zusammen gewesen, der eher altmodische Ansichten zum Thema Sex vor der Ehe hatte. Aufgrund einer Fernsehdokumentation über junge Erwachsene in den USA, die sich Waiting till Marriage auf die Fahnen geschrieben hatten, wollte er sich auf Sex nicht einlassen. Sophie wischte sich mit dem Handrücken über die schwitzige Stirn, als sie an Torstens Küsse dachte, und wie er sie dann jedes Mal an ihre Abmachung erinnerte. Dabei war es eigentlich nur seine Abmachung gewesen. Sie hatte sich betrogen gefühlt, weil sie die starken Gefühle in den Griff bekommen musste, die seine zärtlichen Küsse in ihr auslösten. Trotzdem war sie mit ihm glücklich gewesen. Sie erlebten schöne, intensive Stunden, so wie in den Filmen und den Liebesromanen, die sie liebte. Aber er war konsequent geblieben. Und schließlich fand auch die Geschichte mit Torsten ein frühes Ende. Er traf eine andere, die ihn viel stärker berührte als sie. So hatte er es damals ausgedrückt.

Danach platzte Leon in ihr Leben. Er sah großartig aus, machte ein duales Studium in Banking und Finance und ließ sie glauben, dass er sie unwiderstehlich fand. Er war auch der Erste, der ihr regelmäßig Blumen schenkte. Anfangs. Genaugenommen bis zu dem Tag, an dem er mit ihr schlief. Es war eine ernüchternde Erfahrung für Sophie: Leon kümmerte sich nicht sehr um ihre Bedürfnisse. Er liebte sie zwar leidenschaftlich, war aber allzu schnell fertig. Und er fragte nie nach, wie es ihr ging. Daran änderte sich auch nichts im Lauf ihrer Beziehung. Vielleicht war das normal. Jedes Kind wusste, dass man den Schmachtfetzen in Film und Literatur nicht glauben konnte.

Sie stellte die Gasflamme am Herd groß und wartete, bis das Öl im Wok heiß war, bevor sie das Fleisch hineingab und anbriet. Das laute Zischen übertönte die Gedanken in ihrem Kopf. Im Nu wurde es unangenehm warm in der kleinen Küche. Ungeduldig schob Sophie ihre beschlagene Brille mit dem mittleren Knöchel ihres Zeigefingers nach oben.

Sie schüttelte sich kurz und schob die Erinnerung an das schicke Loft zur Seite, in dem sie mit Leon gelebt hatte. Ihre gesamten Ersparnisse und das Geld aus ihren Studentenjobs waren darin versickert. Gedanklich zog sie einen Strich darunter. Nun war alles anders. Metz war ihre große Chance. Sie freute sich auf den Job.

Noch lebte Sophie mit Mia und Niklas unter einem Dach, die jedoch in ein paar Monaten heiraten würden und dann die Wohnung für sich brauchten. Sophie war sich nicht sicher: Sollte sie sich eine neue WG in der Aachener City suchen oder zu ihren Eltern auf der anderen Seite der Stadt zurückziehen? Natürlich nur übergangsweise.

Es war Zeit, sich zu lösen, definitiv. Von ihrer Vorstellung einer glücklichen Beziehung zwischen Mann und Frau ebenso wie von ihren Eltern. Die beiden würden nie erwachsen werden, wenn sie es nicht wurde. Bei dem Gedanken musste sie lachen.

Sie hörte die Tür gehen.

„Hm, riecht das lecker!“ Mias Stimme klang gut gelaunt wie immer.

 

Zwei Teller Chicken mit Curry später wischte sich Mia mit der Serviette den Mund ab und strahlte. „Das war richtig gut!“ Sie beugte sich vor und grinste Sophie an. „Du weißt gar nicht, wie ich mich für dich freue! Aber du brauchst neue Klamotten für Metz. Zwischen all den schicken Französinnen wirst du dich behaupten müssen.“

Sophie zwinkerte. „Morgen gehe ich shoppen.“ Sie nahm einen Schluck Wasser. „Aber etwas anderes macht mir ein bisschen Stress.“

Mia schob die Unterlippe vor. „Mamsi und Papsi?“ Mit dieser verniedlichenden Bezeichnung hob sie gern auf ironische Weise ihre Meinung über das Verhältnis zwischen Sophie und ihren Eltern hervor. „Hast du ihnen etwa noch nichts von der Bewerbung gesagt?“

Sophie verdrehte die Augen. „Nein. Und ich weiß nicht, ob ich es ihnen einfach am Telefon verklickern soll.“

„Wie alt sind wir nochmal? Elf? Du lebst schon eine ganze Weile selbstständig. Und nur weil du gerade Single bist, haben sie kein Recht darauf, in deine Entscheidungen reinzuquatschen.“

„Aber …“

„Nichts ‚aber‘. Du entscheidest ganz allein, was du beruflich machst. Vielmehr hast du es ja bereits getan. Und unter uns gesagt, ist es die beste Entscheidung, die du seit langem getroffen hast.“

Sophie nickte zögerlich. Sie stellte sich ihre Mutter vor, ihren erschreckten Blick und die Müdigkeit, die aus all ihren Poren zu kriechen schien. Sie war nur ein Schatten der Frau, die sie vor ihrer Ehe gewesen sein musste. Sophies Vater hatte sich in die Tänzerin verliebt, in ihre ungezähmte und leidenschaftliche Wildheit. Aber geheiratet hatte er sie erst, nachdem sie ihren Beruf aufgegeben hatte. Was für ein Abziehbild von einem Leben ihre Eltern danach gelebt hatten! Tanzen war auf den Status eines Hobbys heruntergebrochen worden. Ihre Mutter arbeitete, solange Sophie sich erinnern konnte, als Verkäuferin in einem Tierfachhandel. Wie sehr musste sie ihr früheres Leben vermissen. Und ihr Vater? Er ging seiner Dachdeckerarbeit nach, sah in seiner Freizeit Fußball im Fernsehen oder besuchte die Spiele der Alemannia Aachen, deren treuer Fan er war.

Sophie hatte in den Jahren, seit sie selbst für sich sorgte, gelernt, ihren Eltern zu verzeihen, dass sie ihr in ihrer Kindheit nie wirklich ihre Liebe hatten zeigen können. Beide schienen immer zu sehr von ihrer Arbeit und ihren Sorgen abgelenkt. In ihrem gemütlichen, kleinen Häuschen hatte die Schwermut wie Schatten in den Zimmerecken gelauert. Ihre Eltern waren dem Mädchen von damals nur selten mit der Herzlichkeit begegnet, die Sophie in den Familien ihrer Freundinnen erlebt hatte. Viel wichtiger war ihnen gewesen, dass Sophie es „zu etwas brachte“. Deshalb ermöglichten sie ihr ein Studium. Auch wenn sie auf etwas Greifbareres als Medien und Kommunikation gehofft hatten. Von ihrem jetzigen Beruf als Werbedesignerin und Konzepterin hatten sie nur verschwommene Vorstellungen. Erst als Sophie mit Leon zusammenzog, änderten sie plötzlich ihr Verhalten und begannen zu klammern. Sie wollten über jeden ihrer Schritte informiert werden.

Aber Mia hatte recht, Sophie entschied selbst, wie sie ihren Eltern von dem Auslandsaufenthalt erzählen würde. Seit ihrer Bewerbung vor drei Wochen hatte sich lange nichts getan, und nun ging alles schneller als gedacht. Aber es fühlte sich gut an.

Mia stand auf. „Geh nur, ich mache hier sauber.“ Sie begann das Geschirr in die altmodische Spüle zu stellen und drehte dann das heiße Wasser auf.

Sophie warf ihr einen Luftkuss zu, schnappte sich ihr Handy und verzog sich ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das abgesessene, urgemütliche Sofa fallen ließ. Als sie die Nummer ihrer Eltern antippte, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

„Schatz, bist du es?“ Das war ihre Mutter. Wenn sie Sophie gleich mit einem Kosewort begrüßte, musste sie guter Laune sein.

„Ja, ich bin’s. Wie geht’s euch?“

„Prima. Du denkst dran, dass du uns am Sonntag zum Essen besuchen kommst?“

„Ja, wie jeden Sonntag.“ Sophie feixte. Dann fiel ihr ein, dass das kommende Sonntagsessen für eine Weile das letzte sein würde. Sie hatte nämlich nicht vor, an den Wochenenden nach Hause zu fahren.

„Rufst du aus einem bestimmten Grund an?“ Hatte sie es an ihrer Stimme bemerkt? Sie musste diesen siebten Sinn besitzen, der Müttern so oft angedichtet wurde.

„Ja, das tue ich. Heute hat sich für mich beruflich etwas getan – und es ist großartig!“ Es war klug, von der lukrativen Seite her zu argumentieren. „Das Ganze bringt mir einen besseren Verdienst, und voraussichtlich kann ich danach in den Grannus-Arkaden in Aachen aufsteigen. Mehr Verantwortung und mehr Geld.“ Als sie es aussprach, atmete sie tief durch. Wie spannend das alles war!

„Was meinst du mit ‚danach‘? Und warum betonst du Aachen? Du arbeitest doch sowieso hier.“ Ihre Mutter sprach mit jedem Wort langsamer.

Sophie mühte sich, einen unbeschwerten Ton zu treffen. „Stell dir vor, ich kann für drei Monate nach Frankreich. Lothringen genauer gesagt. In Metz werde ich bei der Eröffnung einer Galeries-Jouvet-Filiale mitarbeiten. Es gibt eine Kooperation zwischen Jouvet und Grannus. Ich werde dort Anregungen für unsere Lebensmittelabteilung sammeln. Zugleich bin ich vor Ort für alles zuständig, was Grannus betrifft.“ Sie unterbrach sich, atemlos vom hektischen Reden.

Schweigen.

„Bist du noch da?“

„Du … du sollst nach Metz?“ Der Tonfall ihrer Mutter ließ ein Bild vor Sophies innerem Auge entstehen, und sie wusste wieder, weshalb sie die Nachricht lieber per Telefon hatte vermitteln wollen. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter Tränen in den Augen.

„In Metz haben die Galeries Jouvet ein altes, pleite gegangenes Warenhaus im Zentrum aufgekauft und renoviert. Es eröffnet demnächst neu. Die Grannus-Arkaden sind mit einem kleinen Anteil beteiligt. Ich werde dafür sorgen, dass ein bisschen von uns in Frankreich sichtbar wird, und bringe im Gegenzug frische Ideen für unsere Food Area mit.“ Sie redete sich in Begeisterung. „Du weißt doch, alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat, fasziniert mich. Wir werden bald nicht nur Belgien und Holland, sondern auch Frankreich im Angebot haben.“ Sie entwarf im Geiste ein modernes, großes Warenhaus vor sich, voller Menschen, die sich für das Neue interessierten, für die Mischung mehrerer Stile. Auch für die Grannus-Arkaden war geplant, in der Lebensmittelabteilung noch stärker als bisher auf nachhaltige Produkte zu setzen. Die Verkaufsräume sollten umgestaltet werden, und Sophies Vorstellungen würden berücksichtigt werden. Sie hatte einen widerstandsfähigen Parkettboden aus Schiffsplanken im Sinn. Die Regalreihen sollten aus aufbereitetem Holz von ehemaligen Weinfässern gebaut werden. Alles würde in warmen Farben gehalten sein.

Nach den Bildern zu urteilen, die sie bisher von den Renovierungsarbeiten in den Galeries Jouvet gesehen hatte, würde sie sich dort ebenfalls sehr wohl fühlen. Sie konnte sich für die Eröffnungsfeier in Metz lichtdurchflutete Räume vorstellen, über und über mit Frühlingsblumen geschmückt. Den Kunden würden Häppchen gereicht, dazu ein Glas Crémant. Wie weit die Vorbereitungen wohl schon vorangeschritten waren? Ihre Vorfreude wuchs.

„Oh, das ist ja großartig“, sagte ihre Mutter lahm.

„Ja, das ist es. Freust du dich für mich?“

„Hm, das muss ich wohl?“ Sie ließ es wie eine Frage klingen. „Drei Monate, sagtest du? Wann geht es denn los?“

„Nächsten Montag.“

Was?

Sophie lachte auf. „Ja, und ich habe vorher noch viel zu erledigen. Ist das nicht aufregend?“ Sie wollte sich nicht vom offensichtlichen Entsetzen ihrer Mutter runterziehen lassen. „Ich muss noch Kleidung kaufen, damit ich was zum Anziehen habe.“ Sophie bemerkte nur am Rande, wie ungewöhnlich das aus ihrem Mund klingen musste, da sie sich nie groß Gedanken um Garderobe gemacht hatte. „Außerdem muss ich sehen, ob meine Papiere gültig sind, mein Pensum hier im Büro erledigen, mit dem Chef und der Konzernleitung besprechen, worauf es ankommt, und, ach, ich weiß gar nicht, woran ich noch alles denken muss.“

„Dann sehen wir dich nur noch ein einziges Mal? Oder kannst du unter der Woche noch vorbeikommen? Du musst uns doch genau erzählen …“ Sie brach ab.

„Weißt du was, ich komme am Mittwochabend vorbei, zeige dir meine neuen Kleider und erzähle alles, was du wissen willst. Okay?“

„Also, ich bin ein bisschen überrumpelt, um die Wahrheit zu sagen.“

„Du und Papa, ihr habt ja noch Zeit, euch an den Gedanken zu gewöhnen. Und im Sommer bin ich schon zurück.“ An das Ende des Aufenthalts wollte sie noch gar nicht denken.

„Wie war nochmal der Name dieser Galerien?“

Sophie stutzte. Hatte ihre Mutter etwa …? „Jouvet. Es gibt mehrere solcher Kaufhäuser, unter anderem in Lyon, Marseille und Paris. Und jetzt eröffnet eines in Metz.“

Jouvet sagtest du?“

Sophie war es leichtgefallen, den Namen auszusprechen, aber als sie ihn aus dem Mund ihrer Mutter hörte, beschleunigte sich unverhofft ihr Puls. „Ja“, sagte sie leise.

„Etwa Yannis Jouvet?“ Sie hatte sich den Namen gemerkt, obwohl es fast zehn Jahre her war.

„So heißen die Besitzer, ja. Yannis Jouvet ist der Chef in Metz.“ Sie räusperte sich. „Aber das ist kein Problem. Bitte wärm die alte Geschichte nicht auf. Ich weiß sehr genau, was ich tue.“

„Wenn du dir sicher bist, Kind … Bist du das?“

Sophie drückte den Rücken durch und winkte Mia herbei, die offenbar mit dem Abwasch fertig war und – eine Weinflasche und zwei Gläser in Händen – in der Tür zum Wohnzimmer stand.

„Ja“, sagte Sophie mit fester Stimme ins Telefon, „ich bin mir vollkommen sicher. Monsieur Jouvet ist ein angesehener Geschäftsmann, und außerdem hat er mir nie etwas getan. Vermutlich kann er sich nicht mal daran erinnern, dass er mich damals kennengelernt hat.“ Bei der Erinnerung daran, unter welchen Bedingungen sie beide sich getroffen hatten, errötete sie zwar, aber das konnte ihre Mutter zum Glück nicht sehen. „Außerdem“, sie machte eine kleine Kunstpause, „bin ich nicht weit weg von Zuhause. Wenn etwas ist, mit dir oder mit Papa, kann ich jederzeit herkommen.“

Mia hatte sich neben Sophie gesetzt und die Gläser auf dem Tisch abgestellt. Jetzt schenkte sie Wein ein und wackelte mit dem Kopf, um anzudeuten, dass Sophie ihre Tochterrolle eingenommen hatte und dabei war, sich zu rechtfertigen. Sophie zwinkerte ihr zu.

„Mutsch, mach dir keine Sorgen. Das wird eine großartige Erfahrung für mich werden. Die Unterkunft wird gestellt, und ich freue mich auch darauf, mein Französisch aufzubessern. Sei so lieb und erzähl es Papa, damit er schon mal Bescheid weiß. Ich besuche euch übermorgen, dann könnt ihr mich mit Fragen löchern. Versuch doch, dich ein bisschen für mich zu freuen.“

Ihre Mutter atmete hörbar ein und aus. „Ich freue mich für dich. Dein Vater wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, aber … du bist ja nicht aus der Welt, falls etwas mit seinem Herzen sein sollte …“

Sophie kämpfte gegen die Furcht an, die sie sofort befiel. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass ihre Eltern die Herzprobleme ihres Vaters gezielt einsetzten, wenn sie bei ihr etwas erreichen wollten. „Genau. Bis übermorgen“, flötete sie also ins Handy und legte auf. Sie griff nach dem Weinglas und prostete Mia zu.

„Sag mal, habe ich den Namen Yannis Jouvet gehört?“ Mia deutete mit dem Mundwinkel ein schiefes Lächeln an.

Sophie pustete laut die Luft aus. „Ja, hast du. Wie heißt der alte, abgegriffene Spruch? Man sieht sich immer zweimal im Leben. Da das ein Naturgesetz zu sein scheint, komme ich eh nicht drum herum, also nehme ich das in Kauf. Oder soll ich mich etwa von dem großen Jouvet davon abhalten lassen, eine wunderschöne Zeit in Metz zu verbringen?“ Sie sprach überzeugter, als sie innerlich war.

„Nein, das sollst du definitiv nicht. Außerdem hast du recht, er weiß vermutlich nicht mal deinen Namen, geschweige denn, wie du aussiehst. Du warst damals fast noch ein Kind.“

„Eben! Und jetzt lass uns lieber im Internet nach einem guten Reiseführer suchen. Oder sollen wir uns einen französischen Schmachtfetzen ansehen?“

„Wie wäre es mit der fabelhaften Welt der Amélie?“

„Oh ja, den haben wir lange nicht mehr gesehen.“

„Aber zuerst lass uns anstoßen. Es kommt schließlich nicht oft vor, dass meine Freundin ein Glas Wein mit mir trinkt. Auf Metz!“

Sophie hob ebenfalls ihr Glas und betrachtete die tiefrote Flüssigkeit darin. Mia hatte nur einen großzügig bemessenen Schluck hineingefüllt. Sophie lächelte, dann ließ sie ihr Glas gegen das von Mia klingen. „Auf Metz! Und auf die beste Freundin der Welt, die alles über mich weiß.“

Kapitel 2

Eine vollgestopfte Woche lag hinter Sophie. Am Montagmorgen spürte sie nochmals das etwas mulmige Gefühl, das der Besuch bei ihren Eltern am Mittwochabend und das Mittagessen gestern in ihr ausgelöst hatten. Beim gemeinsamen Frühstück redete Mia auf sie ein.

„Ich fasse es nicht. Wenn du dein Gesicht sehen könntest!“ Sie beugte sich vor und griff nach Sophies Hand. „Es wird wirklich höchste Zeit, dass du hier rauskommst! Sophie Thielen, du musst endlich von Mamsi und Papsi weg.“

Sophie schnaubte, sagte aber nichts.

„Seit gestern läufst du mit hängenden Schultern herum. Muss ich dir erst in den Hintern treten, damit du dich streckst? Das wird eine super Zeit, du wirst sehen.“ Mia streichelte über Sophies Handrücken, dann zog sie die Finger zurück, um nach ihrer Kaffeetasse zu greifen.

Sophie lächelte. Mia hatte recht. Warum zweifelte sie immer an ihrer eigenen Entschlossenheit?

Sie verabschiedeten sich „ohne viel Getöse“, wie ihre Mutter immer sagte, danach ging Sophie hinunter und stieg in ihren Wagen. Der altersschwache, treue Twingo war vollgepackt mit neuen Kleidern, Büchern und DVDs, sein Tank gefüllt, der Reifendruck überprüft. Das hatte ihr Vater sich nicht nehmen lassen und an der Tanke um die Ecke für seine Tochter erledigt – mit einem Stöhnen bei jedem In-die-Knie-Gehen. Ein letztes Mal tastete Sophie nach der Geldbörse in ihrer Handtasche, dann schnallte sie sich an und machte sich auf den Weg. Und endlich befiel sie wieder das Hochgefühl, das sie die gesamte letzte Woche bei ihren Erledigungen begleitet hatte.

 

Fast viereinhalb Stunden später erschien ihr die Metzer Kathedrale über den Häuserdächern wie eine Verheißung, bevor sie um eine Ecke fuhr und sie schließlich in ihrer ganzen Größe bewundern konnte. Nach dem tristen Aachener Frühling war das in Sonnenlicht getauchte, hell strahlende Gotteshaus wie ein Willkommensgruß aus einer anderen, fröhlicheren Welt. Es fühlte sich wie Urlaub an, nicht wie der Beginn eines neuen Jobs.

Sophie hatte ihr Navigationsgerät so programmiert, dass sie an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz vorbeikam. Sie hatte das Traditionskaufhaus im Zentrum von Metz vage aus Kindheitstagen in Erinnerung, seither hatte sich vieles verändert. Dankbar für eine rote Ampel, die ihr Gelegenheit bot, kurz anzuhalten, beugte sie sich vor und warf nochmals einen ausgedehnten Blick auf die Kathedrale, bevor sie sie nur noch im Rückspiegel bewundern konnte.

Die breite, rötliche Betontrasse mitten auf der Hauptstraße war neu. Darauf fuhren lange Gelenkbusse, die an Straßenbahnen erinnerten. Mettis nannten sich diese futuristisch wirkenden Busse. Sophie beschloss, dieses Transportsystem mit dem modernen Namen „le Metʼ“ zu nutzen, wenn das Haus, in dem für sie ein kleines Appartement angemietet worden war, in Reichweite der Trasse lag. Man hatte ihr einen kostenlosen Stellplatz in der Nähe ihrer Wohnung zugesichert, was in Metz anscheinend keine Kleinigkeit war. Es würde auf jeden Fall unkomplizierter sein, den Mettis zu nehmen, als in der Nähe der Galeries Jouvet einen Parkplatz zu finden und zu zahlen, wenn sie zur Arbeit musste.

So langsam sie konnte fuhr sie weiter, sich ständig der Gefahr bewusst, dass sie gleich von der Straße gehupt werden würde. Sophie grinste. Beim Fahrstil der Franzosen half nur die Gelassenheit eines Ochsen. Sie versuchte das Gehupe und die genervten Blicke zu ignorieren, mit denen sie bedacht wurde. Ihr fiel eine Bemerkung ein, die ihr Französisch-Leistungskurs-Lehrer mal im Unterricht hatte fallen lassen: Die Franzosen würden so Liebe machen, wie sie Auto fuhren. Was genau der Lehrer damit gemeint hatte, wusste sie bis heute nicht. Woher auch, sie hatte nie einen französischen Mann näher kennengelernt. Aber die chaotischen Verhältnisse auf den Straßen gaben ihr jetzt eine Ahnung. Ungestüm war wohl das passende Wort. Sie lächelte. Ob das, was in den französischen Liebesfilmen gezeigt wurde, der Wahrheit entsprach? Sophie schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, und hielt weiter nach den Galeries Jouvet Ausschau.

Das da vorn mussten sie sein: ein großes Gebäude mit unterschiedlichen architektonischen Einflüssen, teilweise eingerüstet. Es stand am Ende der Rue Serpenoise, die zur Fußgängerzone gehörte, und wie erhofft, konnte Sophie von der anderen Seite heranfahren. Eigentlich gab es hier keine Gelegenheit, um zu parken. Ihr Navi forderte sie auf, am Ende der Straße links abzubiegen, womit sie die Galeries dann im Rücken hätte. Kurz entschlossen schaltete sie den Warnblinker ein und hielt im hinteren Bereich einer Haltestelle an, um das Gebäude genauer zu betrachten. Die renovierte Fassade erstrahlte in einem frischen Sandton. Zwischen den hohen, schlanken Fenstern erblickte sie liebevoll restaurierte Jugendstilreliefs. Der alte Name des Kaufhauses, der als Fliesenmosaik über dem ehemaligen Haupteingang angebracht war, verstärkte diesen Retro-Charme noch. Oberhalb des neuen, verbreiterten Eingangsbereichs, der um die Straßenecke ging, prangte in großen, kobaltblau leuchtenden Buchstaben der neue Namenszug: Galeries Jouvet. Darunter standen ein paar Männer in Arbeitskleidung und Schutzhelmen, die über eine Mappe gebeugt miteinander sprachen.

Wie auf Zuruf drehten sie sich plötzlich um und blickten in Sophies Richtung. Sie lüftete kurz ihre Sonnenbrille, deren Gläser von innen beschlugen. Erst als sich ein Mann von dem Grüppchen der Arbeiter löste und mit ausholenden Schritten auf sie zukam, hörte Sophie das Hupen um sich herum. Ein Transporter hinter ihr konnte offenbar nicht vorbei, weil sie halb auf der Fahrbahn stand. Wer weiß, wie lange sie schon den Verkehr blockierte! Sie fluchte leise, wobei ihre Brille auf dem Nasenrücken nach unten rutschte. Noch während sie hastig den Gang einlegte, hob der herbeieilende Mann, der seinen blauen Bauarbeiterhelm zu Jeans und Sakko trug, den Arm und gestikulierte in Sophies Richtung.

„Ja, ja, schon gut.“ Sie pustete eine einzelne Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus der Stirn und drehte den Zündschlüssel. Der Motor brummelte kurz, sprang aber nicht an. Ausgerechnet jetzt! Ihr Twingo meuterte nach langen Fahrten gelegentlich, aber dies war nun wirklich ein ganz schlechter Moment.

Der Transporter hinter ihr ließ ein Dauerhupen erdröhnen. Gott sei Dank erbarmte sich ein Fahrer auf der Gegenfahrbahn und blieb stehen, damit der Transporter an Sophies Twingo vorbeifahren konnte. Inzwischen war der behelmte Mann bei ihrem Wagen angekommen. Noch bevor er sich vorbeugte, um ans Beifahrerfenster zu klopfen, machte ihr Herz einen Satz. War es seine Haltung, seine Gestalt oder etwas in seinem Gesicht, das sie bisher nur schemenhaft hatte sehen können? Ihre Nervosität wuchs, und das lag nicht allein daran, dass sie sich als akutes Verkehrshindernis in einer denkbar unangenehmen Situation befand. Sie hatte das Gefühl, den Mann zu kennen, der selbst in der unvorteilhaften, gebückten Pose, in der er neben ihrem klapprigen Auto stand, auffallend gut aussah.

Er war groß und schlank, hatte sonnengebräunte Haut, die Jeans saßen lässig auf seinen Hüften. Die Sakkoärmel umspannten muskulöse Arme, und der Hals, der aus dem weißen Kragen herausragte, wirkte ebenfalls stark. Er klopfte nochmals an die Scheibe. Sophie musste sich hinüberbeugen, um das Fenster herunterzukurbeln. Sie schielte über den Rand der Sonnenbrille nach oben. Die gelösten, kürzeren Haare kringelten sich feucht um ihr erhitztes Gesicht und kitzelten ihre Haut. Sophie fühlte sich klebrig. Na prima. Als ob es darauf jetzt ankäme, sagte sie sich und versuchte dem Typen ein unverbindliches Lächeln zu schenken, aber dazu war sie nicht entspannt genug.

Er legte den Kopf schief und fixierte sie aus sehr dunklen Augen, in denen ein belustigtes Glitzern aufleuchtete. Etwas in ihrer Brust flackerte wie eine Kerzenflamme. Es war nur ein winziger Hauch, aber sie spürte ihn trotzdem. Mit einer angenehmen Baritonstimme sprudelte er französische Sätze hervor, die für Sophie wie Musik klangen. Der Herzschlag in ihren Ohren und der Verkehrslärm um sie herum verhinderten, dass sie mehr verstand als ein paar einzelne Wörter, darunter „pardon“, „Madame“ und „vite“. Sie zeigte auf ihre Ohren, um anzudeuten, dass sie ihn nicht hören konnte. Sein Lächeln verschwand. Er redete etwas lauter und hektischer, fuchtelte mit den Händen vor und hinter ihrem Wagen herum und wirkte nun nicht mehr amüsiert, sondern eher sauer.

Sie verstand, dass es um den Straßenverkehr ging, den sie mit ihrem Kleinwagen blockierte. Seine Äußerungen klangen immer weniger nach Musik, aber sie konnte kaum etwas verstehen. Sie hörte eindeutig ein paar Flüche heraus.

„Ja. JA!“, grummelte sie in seine Richtung, setzte sich wieder gerade hin und versuchte den Twingo zu starten. Hätte sie sich bloß rechtzeitig von der Karre getrennt. Nicht nur Leon, auch ihr Vater hatte ihr damit in den Ohren gelegen. Musste sich ausgerechnet in diesem Moment erweisen, dass die beiden recht gehabt hatten? Bei ihrem ersten Versuch gab es nur ein Klicken, als sie den Schlüssel drehte. Beim zweiten Versuch das Gleiche. Die Beifahrertür öffnete sich und der Typ beugte sich in den Wagen vor. Der Helm jedoch war ein Hindernis, mit dem er am Rahmen hängenblieb. Er zog den Kopf zurück und setzte sich kurzerhand neben Sophie. Sie konnte in letzter Sekunde ihre Handtasche vom Vordersitz auf die Rückbank in Sicherheit bringen.

Er wirkte viel zu groß für ihren Twingo. Sein Helm berührte die Wagendecke, er musste den Kopf einziehen, den er ihr zugewandt hatte. Er musterte sie nachdenklich. Sie war sich sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein, konnte das Gesicht jedoch nicht zuordnen. Ihre Aufgeregtheit wuchs nicht nur, weil sie den Wagen nicht starten konnte und da draußen gerade wieder ein Hupkonzert begann. Es war auch sein Geruch. Er hatte ein Aftershave oder Deo benutzt, dessen Sandelholzton sich mit seinem frischen Schweiß mischte. Das alles musste sie in kürzester Zeit wahrgenommen haben, denn zum Denken ließ er ihr kaum Gelegenheit.

„Mais vous nʼécoutez pas?“, fragte er.

Ob sie ihm nicht zuhörte? Und ob! Allerdings war es der erste Satz, den sie verstand.

„Pardon, mais ce n’est pas ma faute.“ Typisch, sie begann sich zu rechtfertigen. Genau das, was Mia ihr immer vorwarf. Natürlich war es ihr Fehler, sie hätte hier ja nicht anhalten müssen. Er setzte den Helm ab, und zum Vorschein kamen seine dichten, glänzend schwarzen Haare. Und da wusste sie auch, wen sie vor sich hatte. Ihren neuen Chef höchstpersönlich.

„Pas votre faute? C’est drôle, ça.“ Ein Lachen schwang in seiner Stimme mit.

Sie schluckte. Lustig fand sie diesen Moment nicht gerade. Obwohl ihre Nervosität durch seine Nähe einen aufregenden Charakter bekam. Ihre Brillengläser waren inzwischen noch mehr beschlagen. Sie atmete tief durch und tauschte die Sonnenbrille gegen ihre andere, die sie in die Halterung am Armaturenbrett gelegt hatte. Dann versuchte sie abermals, den Wagen zu starten. Diesmal sprang der Motor an, erstarb jedoch im nächsten Moment wieder.

„Mist“, zischte sie.

Yannis Jouvet hatte offenbar anhand ihrer wenigen Worte bemerkt, dass sie Deutsche war, denn er wechselte sogleich die Sprache. „Ah, die Wagen tut es nischt mehr?“

Obwohl sie hektisch war und sich gerade ganz woanders hinwünschte, musste Sophie über seinen Akzent lächeln. „Ist etwas in die Jahre gekommen, mein kleiner Franzose.“ Erschrocken hielt sie den Atem an. Das würde er doch hoffentlich nicht auf sich beziehen, sondern auf ihr Auto?

„Ha!“ Er stieß ein Lachen aus wie einen Ruf. „Läuft er noch mit Zwischengas, Ihr kleiner Franzose?“ Die letzten drei Worte sprach er langsam und betont aus. Als sie ihm einen Seitenblick zuwarf, entdeckte sie tiefe Grübchen, die sich wie schwarze Punkte in seine Wangen gruben.

„So in etwa.“ Nochmals versuchte sie den Twingo zu starten, doch er weigerte sich hartnäckig.

„Das klingt nischt gut. Vielleischt sollten Sie ihren kleinen Franzosen gegen einen größeren eintauschen. Oder einen jüngeren.“ Sein Lachen begleitete ein winziger Grunzer, der in ihr eine verschwommene Erinnerung, eher ein Gefühl weckte.

„Komiker“, stieß sie hervor und starrte geradeaus, ohne wirklich wahrzunehmen, was vor ihrer Windschutzscheibe passierte. Verbissen schob sie den rechten Fuß von der Bremse aufs Gaspedal. Während sie den Schlüssel drehte, gab sie vorsichtig Gas. Der Motor sprang an und lief ruckelnd im Leerlauf.

„Jetzt raus mit Ihnen, schnell!“ Wenn sie nicht gleich anfuhr, würde der Motor womöglich wieder ausgehen. Sie wedelte mit der Hand in seine Richtung. Er grinste noch einmal, bevor er rasch aus dem Wagen ausstieg und die Tür zuschlug. Sophie setzte den Blinker und fuhr auf die Straße. Ihre Spur war ja frei. Als sie langsam davonrollte, wurde Yannis Jouvet im Rückspiegel immer kleiner. Seltsam, dass sie ihn ausgerechnet auf diese Weise hatte wiedersehen müssen. Noch seltsamer fand sie das Gefühl, das die Begegnung in ihr ausgelöst hatte.

Ob er sie erkannt hatte?

Er blickte ihr nach, setzte den Helm wieder auf und schlenderte zurück zu den Arbeitern, die allesamt ihrem Twingo hinterherstarrten.

 

Nur wenige Momente später fand Sophie sich unverhofft mitten auf der Trasse der Stadtbahn Mettis wieder, was ihr erst bewusst wurde, als ein paar Menschen ihr von den Bürgersteigen aus übertrieben zuwinkten und sie kopfschüttelnd musterten. Zum Glück fand sie eine Lücke, durch die sie die Trasse verlassen konnte. Der Blick des Fahrers hinter der riesigen Windschutzscheibe des fast bedrohlich wirkenden Busses würde sie sicherlich bis in ihre Träume verfolgen. Was für ein großartiger Start in dieser Stadt, die sie viel beschaulicher in Erinnerung gehabt hatte! Damals hatte sie nicht selbst fahren müssen, sondern nur verträumt vom Rücksitz aus den blauen Himmel über den hohen Häusern betrachtet.

Tatsächlich brummte es nur so von Leben. Die ganz eigene Mischung aus Stilrichtungen, die die Stadt ausmachte, fiel ihr auf, und erst heute begriff sie, was ihr Vater ihr damals hatte klarmachen wollen, als sie hier gewesen waren. Metz war älter als Paris und verbarg viele Geheimnisse, die sich in den architektonischen Besonderheiten nur andeuteten. Sie fand das alles sehr aufregend. Hoffentlich würde sie die Zeit finden, die Stadt zu erkunden, während sie hier lebte und arbeitete. Eine beinahe resignative Gelassenheit erfasste sie. Sie hatte die Mettis-Trasse überlebt, und sah sie im Gesicht des jungen Mannes, der dort am Straßenrand stand und ihren Twingo mit seinen Blicken verfolgte, nicht ein Lächeln? Was war schon dabei, wenn sie sich bis auf die Knochen blamierte? Eigentlich nichts.

Es kostete Sophie trotz Navigationsgerät einige Mühe, doch schließlich fand sie den winzigen Innenhof, auf dem sie parken durfte, und der zu dem Stadthaus gehörte, in dem sie die nächsten drei Monate wohnen würde. Wahrscheinlich war es eine gute Idee, in Zukunft mit „le Metʼ“ zu fahren. Damit würde sie viel schneller von hier in die City gelangen, als wenn sie sich mit dem Wagen durch die vollgestopften Straßen drängeln musste. Und es würde ihre Nerven schonen. Der Twingo gehörte in die Autowerkstatt, aber jetzt konnte er erst mal stehen bleiben.

Sophie fühlte sich auf angenehme Art angespannt, als sie auf die altmodische Klingel neben der dunklen, rustikalen Holztür drückte. Ein Türöffner summte, sie musste sich gegen das Holzblatt pressen, damit es sich schließlich öffnete. Nicht nur das Portal und die Fassade aus Buntsandstein wirkten wie aus einer anderen Zeit, auch das Treppenhaus mit seinen schwarzen und weißen, in Karomuster verlegten Fliesen und dem massiven Holzhandlauf an der schmalen Wendeltreppe verströmten einen etwas angestaubten Charme. Die Wohnungstür im Erdgeschoss öffnete sich. Die Frau, die Sophie mit strahlendem Lächeln die Hand entgegenstreckte, war das genaue Gegenteil von angestaubt. Ungefähr im gleichen Alter wie sie selbst, hatte sie lange, großzügige blonde Locken und ein helles, aufgeschlossenes Gesicht. Sie trug ein schlichtes, mintfarbenes Sommerkleid, das ihr weibliches Erscheinungsbild perfekt unterstrich. Diesen Chic, den auch Mia gemeint hatte, sogen die Französinnen anscheinend mit der Muttermilch ein. Sophie fühlte sich an Schauspielerinnen wie Catherine Deneuve oder Carole Bouquet erinnert.

„Bonjour.“ Die Frau nahm Sophies Hand und erwiderte ihren Druck, „Sie müssen Sophie Thielen sein. Ich bin Florence Aubrun. Enchantée!“

Ah, dann war das die Vermieterin persönlich, die ebenfalls in den Galeries Jouvet arbeitete, wie Sophie wusste. Sie antwortete auf Französisch und freute sich darüber, dass es ihr leicht fiel.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Appartement. Es ist klein und kuschelig, perfekt für eine Person. Aber natürlich können Sie mal jemanden einladen.“ Damit huschte sie zurück hinter ihre Tür und kam kurz darauf mit einem Schlüssel heraus. „Folgen Sie mir.“ Sie griff nach Sophies Trolley, ohne sich um deren Einwände zu kümmern, und führte sie drei Stockwerke höher. Auf jedem Geschoss gab es nur eine Wohnungstür. Florence führte sie bis unters Dach. Perfekt, dachte Sophie. Sie liebte Dachwohnungen.

Ihre Vermieterin schloss die Tür aus Holz und Glas auf und ruckelte am Griff, bis er nachgab. Sophie schmunzelte. Für sie gehörten diese alten, etwas widerspenstigen Beschläge an Fenstern und Türen einfach zu Frankreich dazu. Jedenfalls in den älteren Häusern. Sie erinnerten sie an die Sommerferien mit ihren Eltern in Frankreich.

„Herzlich Willkommen!“ Florence lud Sophie mit einer ausholenden Geste ein, die Wohnung zu betreten.

Sophie betrachtete den Raum und hatte dabei das Gefühl, durch die Augen ihres Vaters zu blicken, der sie schon als Kind auf Tricks aufmerksam gemacht hatte, mit denen man Häuser von innen größer oder kleiner wirken lassen konnte, als sie tatsächlich waren. Riesige Dachgauben ließen auf beiden Seiten viel Licht herein. Das abgestoßene Parkett verlieh dem Raum einen warmen Grundton. Die gesamte Wohnung bestand aus diesem einen Zimmer. Lediglich eine schmale Tür führte davon ab, sicherlich ins Bad. Vermutlich handelte es sich bei dem Appartement um ein ehemaliges Chambre de bonne, ein Hausmeister- oder Bedienstetenzimmer.

Neben der schmalen Tür schloss sich eine Küchenzeile mit einem kleinen Dachfenster über der Arbeitsplatte an. Die Spüle war aus Porzellan und eckig geformt. Die weiß und blau gemusterten Fliesen an der Wand mussten schon sehr alt sein, wie alles hier.

Sophie blickte sich staunend um, dann ging sie zu dem schmalen Tisch, um den vier Stühle gruppiert waren, und stellte ihre Handtasche ab. „Ist das Eiche?“, fragte sie und streichelte nach dem zustimmenden Nicken von Florence Aubrun über das Holz, das stark gemasert und abgegriffen war. Das Möbelstück wirkte auf sie, als habe es ein eigenes Leben, das weit in vergangene Jahrhunderte zurückreichte. Die bunt durcheinandergewürfelten Stühle passten nicht zu dem Tisch. Oder, korrigierte Sophie einen Moment später ihren ersten Eindruck, sie passten gerade deshalb dazu. Und zu dem gesamten Rest der Wohnung, die alle Stilbrüche wagte, die man sich vorstellen konnte. Jeder Stuhl musste aus einer anderen Zeit und vielleicht auch aus einem anderen Land stammen. Und jeder hatte sicherlich eine eigene Geschichte zu erzählen. Sophie erkannte sofort, welcher ihr Lieblingsstuhl sein würde: der hochlehnige mit der lederbezogenen Sitzfläche und dem schwarzbraunen Holzrahmen. Ihre Oma hatte solche Stühle besessen. Sie waren nicht gut für die Unterseite der Oberschenkel, wenn man sehr lange darauf saß, weil die breiten Nieten ins Fleisch drückten, mit denen das Leder am Rand der Sitzfläche auf dem Holz befestigt war. Aber alles andere daran war bequem. Sophie atmete tief ein.

„Gefällt es Ihnen nicht?“ Florence Aubrun klang ängstlich. „Ich mag die Wohnung sehr, sie birgt viele Erinnerungen.“ Sie zog die Schultern hoch. „Natürlich ist das nicht jedermanns Geschmack. Wenn Sie möchten, können Sie die Möbel in den Keller schaffen und eigene Stücke …“

„Oh nein, ich mag sie. Sehr sogar!“ Sophie spürte, dass sie sich hier wohlfühlen würde. Das Bett, das in einer der dunkleren Ecken stand, war hoch und breit und mit einem Moskitonetz versehen. „Darf ich?“ Sie machte ein paar Schritte darauf zu.

„Ja, die Matratze ist noch nicht alt, eine Sonderanfertigung, weil das Bett keine genormte Größe hat. Mein Urgroßvater war ein hochgewachsener Mann und ließ es sich von einem Schreiner bauen. Ebenfalls aus Eiche, weil er den kleinen Esstisch so liebte, den er aus dem ersten Weltkrieg mit nach Hause gebracht hatte.“ Nun war es Florence, die liebevoll den Tisch streichelte. „Meine Uroma hat immer darüber geschimpft, dass der Tisch viel zu schmal wäre, wenn die ganze Familie daran saß. Aber ihm war er heilig.“

Sophie hatte sich inzwischen auf den Bettrand gesetzt. Hatte sie damit gerechnet, einzusinken und wie auf einem kleinen Boot hin und her gewiegt zu werden, so hatte sie sich getäuscht. Im Gegensatz zu sämtlichen alten französischen Betten, in denen sie jemals gelegen hatte, war dieses angenehm fest. Die Matratze gab nur wenig nach. Oh ja, sie würde sich hier wohlfühlen.

Mit einem spontanen kleinen Kichern ließ sie sich nach hinten fallen. Und bemerkte noch ein weiteres angenehmes Detail: Die Wohnung sah nicht nur schön und gemütlich aus, sie roch auch gut. Es hing kein alter Mief darin. Eine winzige Spur von Bienenwachs – vermutlich vom Parkettboden – mischte sich mit der frischen Frühlingsluft, die durch den angelehnten Flügel einer Dachgaube hereindrang, den Holzgerüchen der alten Möbel und dem Waschmittel, nach dem die Tagesdecke auf dem Bett duftete. Ja, nicht einmal Bettwäsche hatte sie mitbringen müssen. Die gehörte zur Wohnung dazu, genau wie Geschirr für vier Personen und die gesamte Küchenausstattung.

Sie setzte sich auf. „Cʼest for-mi-da-ble!“, rief sie aus.

Florence Aubruns Gesicht erhellte ein umwerfendes Lächeln. „Das freut mich, wirklich! Sie haben das Bad noch nicht gesehen.“ Damit machte sie zwei schnelle kleine Schritte zu der Tür, hinter der Sophie das Bad vermutet hatte, und öffnete sie. „Es ist vor drei Jahren eingebaut worden. Davor haben meine Eltern dieses Stockwerk noch bewohnt, zusammen mit der Wohnung darunter.“ Wo ihre Eltern jetzt lebten, erwähnte sie nicht, und Sophie fragte nicht nach, da sie nicht neugierig wirken wollte. Stattdessen stand sie rasch auf, um sich das kleine Badezimmer anzusehen, das farblich auf die Küchenzeile abgestimmt war. Eine Badewanne hatte hier keinen Platz gefunden, doch die kleine Dusche unter der Schräge war neu und einladend.

Sophie strahlte Florence Aubrun mit einem breiten Lächeln an. „Einfach wunderbar! Ich werde mich hier ganz schnell einleben.“

„Ja, das glaube ich auch. Sollen wir Ihre Sachen hereinholen, und danach lade ich Sie auf eine Tasse Tee ein?“

„Oh, Tee klingt großartig. Aber wie wäre es damit: Ich hole meine Sachen herein, und in der Zwischenzeit können Sie den Tee kochen? Es ist nicht mehr viel.“

Zwanzig Minuten später hatte Sophie ihr Gepäck nach oben geschleppt und mitten im Raum abgestellt. Ihr Scannerblick hatte ihr bereits verraten, wo sie alles unterbringen würde, und mit einem Juchzer begrüßte sie den kleinen, auf geschwungenen Beinen stehenden Jugendstilsekretär, der gerade genug Platz für ihr Notebook bot. Sie betrat das Bad, machte sich ein bisschen frisch, dann nahm sie ihre Haare in einem lockeren Knoten zusammen und steckte ihn mit einer Klammer fest. Bevor sie die Wohnung wieder verließ, um hinunter zu Florence zu gehen, zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen, herzukommen. Und bevor sie sich morgen offiziell ihrem Chef vorstellte, wollte sie Florence nach ihm ausfragen.

 

„Ja, so kam das.“ Florence lehnte sich zurück und betrachtete versonnen die Teetasse, die sie in der Hand hielt. „Die Lothringer sind manchmal etwas misstrauisch, wenn es um Bestimmungen aus Paris geht. Oder um Trends und Moden aus den anderen französischen Départements. Wir sind hier im Grand Est“, sie lächelte bei der noch recht neuen Bezeichnung der Großregion, „ein bisschen eigen. Aber das ist nicht unbedingt ein Fehler, n’est‑ce pas?“

„Nein, sicher nicht. Ich verstehe, dass man sich in Metz über die Investition der Galeries Jouvet nicht nur gefreut hat.“ Sophie zog die Schultern hoch. „Damit war nun mal viel Ungewisses verbunden. Andererseits – eine Pleite ist auch nicht schön.“

Florence lachte auf. „Da sagst du was.“ Sie waren nach dem ersten Schluck Tee zum Du übergegangen. „Aber jetzt gefällt das Gebäude den Metzern! Die Renovierungen sind mit viel Feingefühl durchgeführt worden. Der Chef wollte alles behindertengerecht haben. Der große Haupteingang war von den Dumonts, den Vorbesitzern, schon geplant gewesen. Das einzige Neue an der Fassade ist im Grunde der Namenszug.“

Sophie spürte, wie sich ihr Puls bei ihrer nächsten Frage beschleunigte. „Kennst du den neuen Chef bereits?“

„Yannis Jouvet? Natürlich! Es gibt viel zu tun, weil es mit Riesensprüngen auf die Neueröffnung zu geht.“

„Wie kommst du mit ihm zurecht? Ist er … nett?“ Sie grinste. Nett. Was für eine Vokabel für Yannis Jouvet!

Florence lachte schallend. „Na, was glaubst du wohl? Yannis Jouvet gilt als der begehrteste Junggeselle der Region, wenn nicht sogar ganz Frankreichs. Hast du schon mal ein Foto von ihm gesehen?“

Sophie räusperte sich. „Ich bin ihm sogar schon begegnet.“ Sollte sie Florence auch die Geschichte von damals erzählen? Die fröhliche Art der sympathischen Französin hatte eine entspannende Wirkung auf sie.

„Tatsächlich? Erzähl!“

Doch in diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Beide Frauen wandten sich zur Wohnungstür um, die gleich darauf aufschwang. Ein junger, dunkelblonder Mann in Anzug und Krawatte trat herein und stellte einen Aktenkoffer ab. „Salut, chérie …“ Er unterbrach sich und trat näher. Florence war aufgestanden, ging zu ihm und begrüßte ihn mit einem Küsschen.

„Darf ich vorstellen? Das ist mein Mann Philippe. Und das ist Sophie Thielen aus Aachen, die für drei Monate hier wohnen wird.“

Florence holte eine Tasse für Philippe, während er Sophie mit Bises auf beide Wangen begrüßte. „Enchanté! Ah ja, Sie arbeiten in den Galeries Jouvet, wie meine Frau, n’est‑ce pas?“

„Wir haben gerade über den Chef gesprochen.“ Florence goss Tee in Philippes Tasse und zwinkerte ihm zu. „Sophie ist ihm schon einmal begegnet.“

„Tatsächlich? Erzählen Sie!“

„Ach, das war eigentlich eher peinlich.“ Sie schwankte einen Moment, dann sprach sie weiter. „Auf der Herfahrt bin ich am neuen Kaufhaus vorbeigekommen und habe kurz angehalten.“ Sie verdrehte die Augen. „Das war dumm von mir, denn ich hielt den Verkehr auf – nicht lang, aber es gab ein Hupkonzert. Die Fahrer hätten mich am liebsten mitsamt meinem Twingo weggesprengt.“

Florence und Philippe lachten. Sophie erzählte, dass es ausgerechnet Yannis Jouvet gewesen war, der ihr vor Ort noch die Leviten gelesen hatte.

„Wie fandest du ihn?“ Florenceʼ Blick bekam ein gespanntes Glitzern.

Sophie zog eine Grimasse. „Na ja.“ Sie musste lachen.

„Wenn Florence mir nicht jeden Tag schwören würde, dass sie nur mich liebt … also, ich weiß nicht, was ich täte. Yannis Jouvet gehört verboten. Oder wenigstens verheiratet. Damit alle Singlefrauen wieder frei atmen können.“

„Ach, komm, du übertreibst, chéri.“ Florence gab ihm einen Klaps auf den Oberarm.

Er hatte nicht ganz unrecht, dachte Sophie. Zumindest, was sie betraf. Seit sie über ihn redeten, spürte sie ein Kribbeln unter der Haut. Beim Gedanken, ihm morgen gegenüberzustehen, befiel sie Nervosität. Gleichzeitig freute sie sich darauf.

„Wir fahren dann morgen gemeinsam zur Arbeit, Florence?“ Sie stand auf. Sie musste noch auspacken und wollte sich nach dem langen, heißen Tag eine wohlverdiente Dusche gönnen.

„Ja, wir fahren mit dem Mettis. Lade dir die App für dein Portable herunter, damit du alle Fahrpläne abrufbar hast. Wir sind ja in verschiedenen Abteilungen, so musst du dich nicht von mir abhängig machen. Aber natürlich kannst du dich jederzeit melden, wenn ich dir helfen kann.“

An der Tür drehte Sophie sich noch einmal um. „Nun hast du mir doch nichts über den Chef erzählt“, sagte sie zu Florence, „außer dass er ein Schwiegermuttertraum ist.“ Sie ging mit der Stimme am Ende hoch und warf Philippe einen Blick zu, der sich zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Und schon wieder hat er eine an der Angel.“ Philippe feixte.

„Ach was, ich bin gar nicht auf der Suche nach …“, Sophie unterbrach sich. Sie sollte sich definitiv abgewöhnen, sich für alles zu rechtfertigen, was sie sagte und tat.

„Alors“, begann Florence und spitzte kurz die Lippen, als müsse sie einen Moment nachdenken. „Abgesehen davon, dass er großartig aussieht, einen durchtrainierten Körper hat, einfach alles tragen kann – selbst Bauarbeiterhelme – und stinkreich ist …“ Sie warf ihrem Mann einen Luftkuss zu. „Abgesehen davon ist er umwerfend sympathisch, weltoffen und sozial eingestellt. Er ist ein Mann, den es sonst nur im Märchen gibt.“

Beide lachten, als Philippe zu protestieren begann. Er meinte es sicher nicht ganz ernst, als er sagte: „Bestimmt hat er irgendwo eine Leiche im Keller. Ich wiederhole mich, aber ganz ehrlich: Kerle wie der gehören verboten.“ Er war neben Florence getreten, legte den Arm um ihre Taille und küsste sie in die Halsbeuge. „Mit mir bist du auf jeden Fall besser bedient, mon cœur.“