Leseprobe Dunkle Pfade

Prolog

„Wir sind in acht Minuten auf Sendung, Harry! Beeil dich!“ Die Stimme des Regieassistenten klang dumpf durch das dünne Holz. Es folgten zwei Schläge mit der Faust gegen die geschlossene Garderobentür.

„Hetz mich nicht, Junge. Die Maske ist noch nicht fertig. Ich mach den Job lange genug. Ich weiß, wann ich fertig sein muss.“ Harry konnte das gezischte: „Arschloch!“, zwar nicht hören, aber er wusste, dass es gesagt wurde. Würde ihn dieses Würstchen nur so weit interessieren, dass er sich seinen Namen gemerkt hätte – er würde ihn feuern lassen! Aber es war die Mühe nicht wert. Er hatte andere Prioritäten. Er hatte Wichtigeres zu tun. Immerhin war er das Gesicht von Westheim Lokal TV. Er war das Zugpferd, das mit seiner Talkshow top Einschaltquoten an Land zog. Und auch diese Sendung würde wieder unvergesslich werden.

Die Visagistin ließ mit ihrem Pinsel die letzten glänzenden Stellen auf Schneiders Gesicht verschwinden. „Fertig für die Kamera.“ Sie beugte sich nach vorne, um ihre Tasche zu packen. Harry stand von seinem Stuhl auf und schlug der Visagistin mit der flachen Hand auf den Hintern.

„Hey! Ich hab dir gesagt, du sollst das lassen.“ Die junge Frau stemmte brüskiert die Hände in die Seiten.

„Reg dich ab, Süße. Du hast deinen Job nur wegen mir und ich kann schnell dafür sorgen, dass du wieder an der Tankstelle Kippen verkaufst. Also zisch ab, ich hab jetzt eine Show zu moderieren.“ Harry Schneider verließ seine Garderobe und machte sich auf den Weg durch den schäbigen Backstagebereich zur Bühne. Dort ließ er sich lässig auf das rote Sofa fallen, auf dem er seine Gäste begrüßte. Der kalte Stahl in seiner Tasche bohrte sich unsanft in seine Seite. Er zuckte unmerklich zusammen. Harry Schneider blickte sich um; dort wo bei den großen Sendern das Publikum saß, standen bei Westheim Lokal TV nur ein paar Klappstühle für die Produzentin und deren Mitarbeiter. Schneider nahm die Moderationskarten in die Hand und blätterte sie durch. Wer würden denn heute seine Gäste sein? Zuerst die Vorsitzende der Initiative Rettet den Rheynauer Forst, Judith Gerber. Er konnte sich die Frau lebhaft vorstellen, ohne sie jemals getroffen zu haben. Mitte vierzig, Brille, Klamotten aus Hanf. So eine Ökoschreckschraube. Er verabscheute solche Menschen aus tiefstem Herzen. Die Menschheit hatte nicht die ganzen Technologien entwickelt, damit man sie nicht nutzte. Wer unbedingt in ein Erdloch kacken wollte, konnte ja in den Wald ziehen. Der Rheynauer Forst war ein Tummelplatz von zwielichtigen Subjekten. Ein Schandfleck in Westheim. Schneider war dafür, dass die Bäume gefällt wurden, am liebsten würde er selbst die Axt schwingen. Zwar brauchte Westheim nicht noch ein Einkaufszentrum, aber besser als der Straßenstrich am Forst war es allemal.

Der nächste Gast war ihm um einiges lieber. Es ging um ein Thema, das nun schon seit Monaten heiß diskutiert wurde. Der Wiederbeginn des Spielbetriebs des SFC Westheim. Nach dem Skandal im letzten Herbst war der Verein offiziell aufgelöst worden. Fast alle Funktionäre und viele Spieler wurden gesperrt, manche für immer. Der Rest war im Ausland abgetaucht oder verhaftet worden. Nach der Auflösung war eine hitzige Diskussion um die Nutzung des Stadions und der anderen Immobilien des SFC entbrannt. Stimmen wurden laut, die Gebäude für soziale Zwecke zu nutzen, als Flüchtlingsheime oder Sozialstationen. Inmitten dieses Tumults hatte sein nächster Gast, Waldemar Schrock, einen neuen Verein gegründet: Quasi aus den Trümmern des SFC war Fortuna Westheim entstanden. Somit hatte Westheim den Verbandsligisten mit dem größten Stadion. Der Spielbetrieb lief schon seit geraumer Zeit und die Fortuna hing im Mittelfeld der Liga fest. Die Ränge des Stadions blieben leer, niemand interessierte sich für den neuen Verein. Nur eintausendzweihundert Fans waren zum ersten Pflichtspiel der Fortuna erschienen. Das könnte ein interessantes Gespräch werden. Schneider blätterte die Moderationskarten nicht weiter durch. Über seinen dritten Gast informierte er sich nicht mehr.

Die Uhr über der Kamera zählte die Sekunden bis zum Start der Liveübertragung herunter. Drei, zwei, eins. Das LIVEÜBERTRAGUNG-Schild flammte auf. Die Anfangsmelodie erklang, Applaus wurde eingespielt. Schneider stand vom Sofa auf und begrüßte die Zuschauer gewohnt weltmännisch und gestenreich.

„Doch nun zu den Themen unserer heutigen Sendung. Mein erster Gast wird Frau Judith Gerber sein. Sie setzt sich mit ihrer Petition gegen die Abholzung des Rheynauer Forsts ein.“

Ein Begrüßungsjingle lief vom Band, begleitet von noch mehr Applaus aus der Retorte. Judith Gerber betrat die Bühne. Sie wirkte nicht so schlimm, wie Schneider sie sich vorgestellt hatte. Sie wirkte doppelt so schlimm - mindestens. Wenn man ihm sagen würde, die Frau würde in einem Bauwagen in der Natur leben, er hätte es sofort geglaubt. Wie es sich gehörte, stand Schneider auf und gab ihr die Hand, er war ein Profi und stolz darauf.

„Auch von mir ein herzliches Willkommen im Regiotalk.“ Das Klatschen wurde vom Regieassistenten stümperhaft abgewürgt, vielleicht hätte Harry diesen Nichtsnutz doch feuern lassen sollen, jetzt war es zu spät. Wenig motiviert brachte Schneider das Interview über die Bühne. Er stellte seinem Gast die vorgefertigten Fragen, ohne, wie er das sonst tat, bissig nachzuhaken. Es gab keine kritischen Fragen, obwohl Judith Gerber gerade bei der Drogenproblematik und dem Straßenstrich Angriffsfläche bot. Schneider ließ sie ausreden, anschließend schüttelte er ihre Hand und verabschiedete sich. Er blickte direkt in die Kamera. „Bleiben Sie dran, nach der Werbung gibt es weitere Gäste – und eine große Überraschung.“ Das LIVEÜBERTRAGUNG-Schild erlosch.

„Was soll der Müll?“, fragte die Produzentin des Regiotalks. Der erste Werbespot hatte noch nicht begonnen, da stürmte sie schon wutentbrannt die Bühne.

„Was meinst du?“

„Was ich meine? Das weißt du genau! Wo Harry Schneider drauf steht, muss auch Harry Schneider drin sein. Deshalb schalten die Zuschauer ein. Sie wollen die wilde Bestie sehen, die ihre Gäste in die Enge treibt, keinen Stubentiger, der durch Reifen springt. Das ist los!“

„Bleib ruhig, Nele.“ Schneider war cool wie eh und je. „Ja, ich hätte ein paar unangenehme Fragen stellen können. Muss ich aber nicht. Dieser Wald ist für’n Arsch und das wissen alle. Nur diese Hippies wollen das einfach nicht wahrhaben. Da muss ich nichts zertrampeln, das machen die schon selbst. Ich verspreche dir, die Leute werden von der Show reden – wie immer.“

Nele Winter schüttelte resigniert den Kopf. „Was ist das eigentlich für eine Überraschung, die du angekündigt hast?“

Schneider lachte. „Wenn ich sie dir verrate, ist es doch keine mehr. Ich sag nur so viel: Sie wird dich aus den Socken hauen.“

„Das hoffe ich!“

„Wir sind in dreißig Sekunden wieder drauf“, rief eine Stimme aus dem Off. Nele Winter bedachte Schneider erneut mit einem strengen Blick, dann verließ sie die Bühne. Der Begrüßungsjingle ertönte, der Applaus flachte ab, Schneider sprach direkt in die Kamera.

„Auf den nächsten Gast freue ich mich ganz besonders. Er ist der Mann, der trotz des Widerstandes vieler Interessengruppen Fortuna Westheim gegründet hat. Herr Waldemar Schrock.“ Schneider streckte seinen Arm aus und deutete zum Besuchereingang. Applaus brandete aus dem Off auf. Der Mann, der auf die Bühne kam, war Mitte vierzig und sportlich-elegant gekleidet. Er trabte zum Sofa, gab Schneider die Hand und ließ sich lässig auf seinen Platz fallen.

„Danke, dass ich hier sein kann.“

„Das Vergnügen liegt ganz auf der Seite des Regiotalk-Teams.“ Harry warf Nele einen schnellen Blick zu, diese verdrehte die Augen und machte eine rotierende Handbewegung.

Das Gespräch zwischen den beiden Männern entwickelte sich langsam. Ab und an warf Schneider eine unangenehme Frage ein, aber nichts, was einem Angriff à la Harry Schneider gleichkam.

„Sollte ein neuer Club, der sich von den alten illegalen Praktiken distanziert, nicht darauf verzichten, die alten Trainingsstätten zu nutzen?“

Die Frage hatte gesessen. Schneider hakte weiter nach, er fragte nach den Finanzen von Fortuna Westheim. War es hundertprozentig sicher, dass kein Geld aus zwielichtigen Geschäften auf dem Konto der Fortuna eingegangen war?

Sein Gesprächspartner hatte sich gut auf die Sendung vorbereitet. Er war kein Narr, diese Fragen hörte er sicher nicht zum ersten Mal. Gekonnt navigierte er sich durch das Gespräch, gab eloquent und gewissenhaft Auskunft. Harry warf einen weiteren Blick zu Nele hinüber, dieses Mal gab es einen Daumen hoch. Es war schade, dass es so enden musste. Eines der wenigen Dinge, die Harry Schneider wirklich bereute, war, dass er es nie geschafft hatte, Nele zu verführen.

Das Gespräch neigte sich dem Ende, und Harry wusste, dass es eines der besseren war, das er in letzter Zeit geführt hatte. Er verabschiedete sich von seinem Gast, der nach einem harten, aber fairen Kampf mit erhobenem Kopf die Bühne verließ.

Harry Schneider blickte erneut direkt in die Kamera. Er sollte die nächste Werbepause ankündigen, stattdessen sagte er mit einer gewissen Anspannung in seiner Stimme: „Ich hatte Ihnen eine Überraschung versprochen, meine lieben und treuen Zuschauer. Seit fünf Jahren mache ich diese Sendung. Mein Anspruch war immer, Ihnen das Beste zu liefern, was ich kann.“

***

Nele runzelte die Stirn. Was sollte das?

„Soll ich die Werbung zuschalten?“, fragte eine Stimme über ihr Headset.

„Nein, bleibt on air“, gab sie konzentriert zurück.

„Ich muss zu meinem Bedauern sagen, dass dies meine letzte Sendung sein wird. Seien Sie mir bitte nicht böse, ich habe meine Gründe.“

Nele hielt inne.

„Auf Wiedersehen.“ Harry Schneider zog einen Revolver aus der Innenseite seines Anzugs, steckte ihn in den Mund und drückte ab.

„Werbung!“, schrie Nele in das Mikrofon ihres Headsets, aber es war zu spät. Mit einem lauten Knall explodierte der Hinterkopf des Moderators. Blut und Hirn verteilten sich in einem Sprühregen über dem roten Sofa. Harry Schneider fiel auf die Knie, kippte nach vorn und die Waffe fiel polternd aus seiner Hand. Dann flimmerte das Testbild über alle Bildschirme am Set:

Technische Störung, wir bitten um Ihre Geduld.

Kapitel 1

Mit federndem Schritt nahm Rolf die letzten beiden Stufen zum Bahnsteig hinauf. Wer sagte, dass Romantik tot sei? Dass es in Zeiten von Dating-Apps und Co. keine wahre Liebe mehr geben würde? Noch nie waren Liebe und Romantik so lebendig gewesen wie in diesem Moment. Selbst der Blick auf den sonst so tristen Bahnsteig löste in Rolf ein lang verloren geglaubtes Glücksgefühl aus. Er könnte die ganze Welt umarmen, wie der Papst auf die Knie fallen und den Boden küssen. Es war endlich wieder ein großartiges Gefühl, am Leben zu sein. Das letzte Jahr war die Hölle gewesen, seit jenem verdammten Tag, der seine gesamte Welt aus den Angeln gehoben hatte.

Dieses Jahr jedoch gab es zumindest ein paar Augenblicke, in denen er das alles vergessen konnte. Die er nicht der Suche und dem Wahnsinn opfern musste.

Es hatte mit der ersten Sekunde des Jahres begonnen. Dabei hatte er eigentlich gar nicht vor, an Silvester auf eine Party zu gehen, nicht nach diesem Jahr. Einer seiner Freunde hatte ihn solange bequatscht, bis er am Ende doch mitging. Er könne nicht ewig Trübsal blasen und Melissa hätte nicht gewollt, dass er sich hängen ließe. Rolf hatte nachgegeben und es war die beste Entscheidung des Jahres gewesen.

Die Stunden des Abends waren verstrichen so wie die von Millionen anderen Menschen in diesem Land. Raclette und Wein, Bleigießen und Partyklopfer. Er würde dieses Jahr einen Schlussstrich ziehen, zumindest sagte das der Bleiklumpen in Form eines Messers. Das neue Jahr war nah, der Countdown wurde gestartet. Drei, zwei, eins: frohes neues Jahr. Im Endeffekt wäre alles so weitergelaufen wie bisher, wenn nicht seine Traumfrau aufgetaucht wäre. In der mit Pulverdampf durchzogenen Dunkelheit stand sie. Sarah Cassato, ein Name wie ein Gedicht, ein Gesicht wie dem Gemälde eines alten Meisters entsprungen. Rolf hatte viele dieser Frauen kennengelernt und sie alle hatten sich einen Scheiß für ihn interessiert, solange sie keine Probleme mit ihrem Computer hatten, warum auch? Er war ein Nerd, schlank, schon fast dürr, mit Brille und schüchtern wie kein Zweiter. Er war ein Mensch, der chronisch übersehen wurde, der Nächste bitte. Dieses Mal aber nicht. Dieses Mal kam die schöne Frau auf ihn zu, lächelte ihn an und hob ihr Glas. Sie sahen sich in die Augen, stießen an und Sarah gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Frohes neues Jahr.“

Die Raketen zauberten unentwegt die schönsten Farben an den Nachthimmel und Rolf wusste, dass es ein besseres Jahr werden würde.

Nun waren zwei Monate vergangen und an seiner Einschätzung hatte sich nichts geändert.

Rolf war verliebt - und dreißig Minuten zu früh. Der Bahnsteig war so gut wie leer, nur ein paar versprengte Reisende bevölkerten die grauen Pflastersteine. Der Morgen war jung und die meisten Menschen waren in der Stille ihrer morgendlichen Routine gefangen. Rolf trank seinen Kaffee aus und warf den Pappbecher in einen Mülleimer. Er hatte sich gefragt, ob er Sarah zu ihrem Treffen Rosen mitbringen sollte. Sie liebte die Schönheit aller Wesen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, aber Rosen liebte sie besonders. Am Ende hatte er sich gegen die Rosen und für eine Schachtel Pralinen entschieden. Die Rosen wären über den Tag nur eine Last gewesen, die Pralinen waren jedoch die perfekte Überraschung, wenn sie irgendwo Pause machten. Zwar gab es da, wo Sarah mit ihm hinwollte, genug Wasser, doch war es unmöglich, dort ein paar Blumen hineinzustellen. Rolf lachte bei dem Gedanken. Sicher würden die Delfine die Blumen auffressen, wenn er sie in ihren Tank stellen würde. Fraßen Delfine überhaupt Pflanzen oder fraßen sie nur Fische? Rolf beschloss, dass er das beizeiten prüfen würde, schließlich wollte er nicht vollkommen ahnungslos sein. Zwar hatte Sarah das Aquarium vorgeschlagen, sie war Biologin, trotzdem wollte er nicht so dumm aus der Wäsche schauen wie bei der Sache mit dem Blauwal.

Sarah hatte ihm gesagt, dass es in dem Aquarium sogar einen Blauwal gab. Er musste sie völlig entgeistert angesehen haben, denn sie war in schallendes Gelächter ausgebrochen.

„Keinen echten Wal, nur ein Modell in Lebensgröße. Man kann durch den Wal hindurchgehen. Das Herz ist so groß, dass ich nicht an die Decke komme, selbst wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle.“

Sie hatte sich gestreckt und ihn umarmt; es waren diese Kleinigkeiten, die Sarah so besonders machten.

„Erst wenn man das erlebt hat, merkt man, wie klein und unbedeutend der Mensch eigentlich ist.“

 

Rolf zog sein Ticket aus der Manteltasche und prüfte Gleis, Bahnsteig und Zugnummer. Er war am richtigen Gleis und der Zug würde pünktlich kommen. Perfekt. Heute würde er nichts dem Zufall überlassen, es musste einfach klappen. Er war auf alles vorbereitet. Heute würde er Sarah sagen, was er für sie fühlte. Die bisherigen Dates mit ihr waren wunderbar gelaufen, sie hatten so viele Gemeinsamkeiten, denselben Humor und die gleichen Interessen. Sie gab ihm das Gefühl, dass sie sich schon ewig kannten. Täglich schrieben sie sich Nachrichten und wenn er einen interessanten Filmtrailer gesehen hatte, konnte er sicher sein, dass Sarah in ihrer nächsten Nachricht einen Kinobesuch vorschlug. Es war der Wahnsinn.

Ein Mann trat neben Rolf auf den Bahnsteig. Er war in eine dicke, dunkelblaue Bomberjacke gehüllt und hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Er warf Rolf einen flüchtigen Blick zu, musterte ihn und als er ihn von der Seite anschaute, trafen sich ihre Blicke. Der Mann nickte, brummte ein leises: „Guten Morgen“, und wandte sich den Fahrplanaushängen zu. Ein behandschuhter Finger fuhr über das Glas und tippte ab und zu dagegen. Anscheinend hatte der Mann seinen Zug noch nicht gefunden. Rolf überlegte kurz, ob er dem Mann helfen sollte, entschied sich aber dagegen. Er hatte keine Ahnung von den Zugfahrplänen und fuhr so selten Bahn, dass er auch keinen guten Rat hatte. Stattdessen zog er seinen MP3-Player aus der Tasche, stöpselte die Kopfhörer ein und ließ die Welt die Welt sein. Die ersten Akkorde seines Lieblingsliedes katapultierten ihn in andere Sphären. Er war glücklich, er war frei, er konnte fliegen. Für einen kurzen Moment spürte er den Luftzug, den Gegenwind, der einem fliegenden Vogel entgegenkommen musste, wenn er die Erde mit all ihren Problemen hinter sich ließ. Dann schlug er auf dem Boden auf. Der MP3-Player wurde ihm aus der Hand geschleudert, die Kopfhörer unsanft aus den Ohren gerissen. Die grauen Pflastersteine waren hart und kalt. Sein Gesicht wurde auf den Beton gedrückt. Er konnte die raue Textur des Bodens schmecken. Eine kraftvolle Hand riss seine Arme nach hinten und ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen unteren Rücken. Von irgendwoher glaubte er, eine Frau schreien zu hören. Kaltes Metall legte sich um Rolfs Handgelenke und schnitt ihm scharf in die Haut. Er wurde ruppig nach oben gerissen, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Rolfs Augen zuckten wild in den Höhlen hin und her, unfähig zu erkennen, was gerade passierte, während ihn eine unbändige Kraft an das taufeuchte Glas des Fahrplanaushanges presste. Grobe Schläge deckten seinen gesamten Körper ein, mit einem Ruck wurde die Pralinenschachtel aus dem Inneren seiner Jacke gerissen. Er wollte etwas sagen, jedoch versagte seine Stimme genauso wie seine Knie. Nur die fremde Kraft, die er in einem klaren Moment als den Mann in der dunkelblauen Bomberjacke erkannte, hielt ihn auf den Beinen. Ein zweiter Mann hatte sich zu ihnen gesellt. Auch dieser war dunkel gekleidet. Er hielt die Pralinenschachtel in seinen Händen. Die Kälte in den Augen des Mannes verwirrte Rolf im selben Maße, wie sie ihn verängstigte. Doch das Schlimmste waren seine Worte. Kalte Wut brach sich in jedem einzelnen davon Bahn.

„Haben wir dich endlich, du perverses Schwein. Damit wirst du kein Kind mehr in deinen Keller locken.“

Kapitel 2

„Wie geht es Ihnen heute, Herr Doktor Gusenberg?“

Nicht schon wieder diese Frage. Klar, es war eine gute Frage, es war eine wichtige Frage und gleichzeitig die penetranteste Frage, die ihm seit fast einem halben Jahr jeder stellte, den er privat oder beruflich traf. Und obwohl die Frage bis ins Innere des Seins eindringen konnte, wurde sie doch so oft zu banalem Small Talk degradiert. Gusenberg lehnte sich in den Kissen des Sofas zurück.

„Unser Treffen ist zwar eine Zwangsmaßnahme, trotzdem sollen Sie wissen, dass ich Ihnen nicht ablehnend gegenüberstehe. Ich weiß, dass Sie im Grunde nur das Beste für mich wollen.“ Gusenberg machte eine Pause. Er ordnete seine Gedanken. Was war die passende Antwort auf diese eine Frage? Ein einfaches: „Gut“, würde ihm der Psychologe sicher nicht abkaufen, aber was, wenn es die Wahrheit war? Was war, wenn es ihm wirklich gut ging? Nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht. Sondern eben dieses einfache gut, mit dem der normale Mensch sein Leben bestritt. Schließlich waren die wenigsten Menschen auf dieser Welt glücklich, ein gut war mehr, als man erwarten konnte.

Eine gemütliche Stille flutete den Raum. Die hohen Fenster, die warmen Farben der Möbel und der weiche Teppich, der wie weihnachtlicher Schnee den Lärm der Welt dämpfte, sie alle versuchten, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Und mittendrin saß Gusenberg und versuchte, eine ehrliche Antwort auf eine sehr schwere Frage zu finden.

„Ich glaube, es geht mir gut.“

Doktor Morgenstern machte sich eine Notiz.

„Ich bekomme kaum noch Todesdrohungen“, fuhr Gusenberg gelassen fort. „Die gesamte Wut dieser Menschen richtet sich jetzt auf die neuen Investoren oder die seelenlosen Leichenfledderer, wie sie im Internet genannt werden. Ich bin vorerst aus der Schusslinie. Das ist meiner Meinung nach eine positive Entwicklung.“

„Haben Sie Angst, Emil?“

Gusenberg schaute den Psychiater fragend an. „Wie meinen Sie das? Jeder Mensch hat Angst, Angst ist eine der stärksten menschlichen Emotionen überhaupt.“

„Haben Sie Angst um ihr Leben? Angst, dass jemand die Morddrohungen wahr macht?“, konkretisierte Doktor Morgenstern die Frage, während er weiter Notizen machte. Gusenberg setzte zu einer Antwort an, hielt inne und dachte nach. Es gab vieles abzuwägen. Nach einer längeren Pause formten die Lippen des Ermittlers eine Antwort.

„Nein. Die meisten Drohungen sind Ausscheidungen, die hirnlose Pennäler in die sozialen Medien kotzen. Sie schreiben meinen Namen falsch, wissen weder, wie ich aussehe noch wo ich wohne.“ Gusenberg machte erneut eine Pause, bevor er weniger souverän fortfuhr. „Das sagt mir zumindest mein Verstand, der rational arbeitende Teil meines Gehirns und meine kriminalistische Erfahrung.“

„Aber?“, hakte der Psychologe nach.

„Aber trotzdem drehe ich mich öfter auf der Straße um, höre keine Musik mehr in der U-Bahn und schließe vor dem Schlafen gehen die Haustür von innen ab.“

„Wie schlafen Sie im Moment?“ Doktor Morgenstern machte eine weitere Notiz.

Gusenberg lächelte. „Es geht, ich wache nicht mehr bei jedem lauten Geräusch auf und schlafe teilweise sechs Stunden am Stück.“

„Das ist gut, ein gesunder Schlaf ist die Basis für ein gesundes Leben.“

„Wissen Sie“, Gusenberg legte seine Hände auf den Oberschenkeln ab, „ich hatte bisher nie eine Schusswaffe in meiner Wohnung, nun habe ich eine Pistole in meinem Nachtkästchen. Eine alte Walther PPK wie ein Polizist in amerikanischen Filmen. Es war nicht meine Idee und ich fühle mich dadurch nicht sicherer, aber mein Vater hat sie mir überschrieben. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes Jäger und Sammler. Ich habe die Pistole noch nicht geprüft, ich zweifle aber daran, dass sie funktioniert.“

„Wenn Ihnen diese Pistole nicht das Gefühl von Sicherheit gibt, was dann?“

Gusenberg dachte nach. „Ich gebe mir Sicherheit, meine Fähigkeiten, meine Erfahrung, mein Verstand. Das Wissen, dass ich bisher immer wieder auf die Beine gekommen bin. Dass es stets weiterging.“

„Wie sieht es mit Ihrer Familie aus? Fühlen Sie sich im Kreis Ihrer Lieben geborgen? Oder fühlen Sie sich häufig einsam und haltlos? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, eine eigene Familie zu gründen?“

Die Frage des Psychologen traf Gusenberg unvorbereitet und mit voller Wucht. Eine Familie? Er? Mit echten Kindern? Die Bilder vom letzten Weihnachten schossen ihm durch den Kopf, seine Eltern, seine Schwester, sein Schwager und Max und Lena. Er hatte mit ihnen im Schnee gespielt, war mit ihnen Schlitten gefahren. Es waren schöne Momente. Zwar war ihm klar, dass jeder ihn gerne über die Vorkommnisse mit Malte Kramer ausgefragt hätte, aber keiner hatte es getan.

„Ich bin kein Einsiedler, wenn Sie das meinen“, schoss es aus ihm hervor. „Ich habe Freunde und Familie. Ich besuche regelmäßig meine Eltern, meine Schwester und ihre Kinder. Ich habe ein funktionierendes soziales Umfeld, in dem ich mich sehr wohl fühle.“

„Emil, Sie weichen meiner Frage aus. Mir ist bewusst, dass sie Teil einer Familie sind, aber die Frage war: Wollen Sie eine eigene?“

„Eine andere Frage. Glauben Sie, dass ein Mensch alles haben kann?“

Für einen kurzen Augenblick sah Doktor Morgenstern Gusenberg verwirrt an, bevor er mit einem klaren: „Nein“, antwortete.

„Also stimmen Sie mir zu, dass es Fälle gibt, in denen sich Beruf und Familie nicht vereinen lassen? Fälle, in denen man sich entscheiden muss? Ob man sich mit Leuten anlegen will, die einen tot sehen wollen oder ob man sein Kind seelenruhig zur Schule bringen kann?“ Gusenbergs Ton wurde bestimmter, die Zeiten der fröhlichen Plauderei waren vorüber. „Was ist, wenn ich eine Frau habe? Was ist, wenn ich ein Kind habe? Glauben Sie, dass es mein Leben besser machen würde? Bei jeder Vergewaltigung im Gesicht des Opfers meine Frau zu erkennen? Bei jeder Entführung erleichtert zu sein, dass es nicht mein Kind erwischt hat? Immer Angst davor haben zu müssen, dass Fraus und Konsorten sich aus Rache meine Familie vorknöpfen? Meinen Sie das, wenn Sie von der mentalen Stütze durch die Familie reden? Darauf kann ich verzichten.“ Mit jedem Wort hatte sich Gusenberg weiter aufgerichtet, der die Welt dämpfende Schnee war geschmolzen und einer unterschwelligen Anspannung gewichen.

„Sie wissen, dass andere Polizisten auch Familien haben, dass sie ihre Kinder in die Schule bringen und mit ihnen in den Urlaub fahren? Wie dem auch sei, Emil“, der Psychologe ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken und atmete dabei geräuschvoll aus, Gusenberg tat es ihm unumwunden gleich.

„Sie sind nicht hier, um über Ihre Verlustängste zu sprechen. Sondern damit ich Ihnen abschließend Ihre Diensttauglichkeit bescheinige und die letzten Formalitäten abhake. Ich würde Ihnen trotzdem nahelegen, Ihr selbst gewähltes Eremitentum aufzugeben. Denken Sie darüber nach, sich vielleicht ein Haustier zuzulegen, einen Hund oder eine Katze, etwas, für das Sie Verantwortung tragen außerhalb der Arbeit. Etwas, auf das Sie sich einlassen können, ohne Gefahr zu laufen, von Ihrer Angst übermannt zu werden.“

Ein Hund oder eine Katze. Gusenberg ließ die Worte des Psychologen auf sich wirken. Max und Lena würden ihn noch mehr lieben, wenn er beim nächsten Mal einen kleinen Welpen mitbringen würde.

Doktor Morgenstern schlug eine neue Seite seines Notizbuches auf.

„Eine letzte Frage noch. Wie fühlen Sie sich in Bezug auf Malte Kramer?“ Gusenberg entließ den kleinen Welpen zurück in das Reich der Fantasie.

„Wie soll ich mich fühlen? Ich habe Kramer erschossen. Auch wenn er alles dafür getan hat zu sterben, habe trotzdem ich den Abzug gedrückt.“ Gusenberg machte eine kurze Pause. Was ihn am meisten an der Nacht in der VIP-Lounge mitgenommen hatte, war nicht, dass er Malte Kramer erschossen hatte, sondern dass er blindlings auf Kramers Psychospielchen reingefallen war, dass Kramer ihn zu einem willigen Statisten degradiert hatte – dies würde ihm nie wieder passieren. So eine Demütigung würde er nicht noch einmal ertragen müssen.

„Ich tröste mich damit, dass ich keine Wahl hatte. Wie heißt es so schön: Fressen oder gefressen werden – und diese Stadt hat immer Hunger.“ Gusenbergs Handy klingelte, er zog es aus der Hosentasche und schaute auf das Display. „Siehe da, gerade ist irgendjemand gefressen worden.“ Gusenberg ging an sein Telefon. „Ja, Gusenberg hier. Ein Toter. Wo? Das ist praktisch, und der Täter? Schon verhaftet. Wozu braucht ihr dann mich? Ja, ja ich komme.“ Gusenberg legte auf.

„Es tut mir leid, dass ich die Sitzung beenden muss, aber es gab einen Mordfall in der JVA Kranenburg. Ich muss mich darum kümmern. Sie wollten doch gerade die letzten Formalitäten abhaken.“