Leseprobe Doppelt verliebt hält besser

Kapitel 1

Wärmflaschen, Nutellabrote und Gasexplosionen

Es ist Sonntagabend und ich habe es mir in meinem Wohnzimmer mit einem Glas Merlot, einer Tafel Schokolade und einer flauschigen Wärmflasche gemütlich gemacht. Die Wärmflasche steckt in einem schwarz-gelb gestreiften Tigerenten-Fell, ich in einer schlabbrigen Jogginghose, die an manchen Stellen schon ziemlich abgewetzt ist, und das letzte Stückchen Nougat-Schokolade in meinem Mund. Ich sitze vor meinem Laptop, während im Hintergrund Ed Sheeran von der perfekten Liebe singt (der Glückliche hat sie ganz offensichtlich schon gefunden) und der Herbstregen in sanftem Rhythmus an meine Fensterscheiben prasselt. Unermüdlich flackern, verteilt im ganzen Zimmer, eine Unmenge Teelichter vor sich hin, um für mildes Licht zu sorgen. Milde ist dringend nötig, da ich schon seit Tagen nicht mehr zum Aufräumen gekommen bin. Wie denn auch? Schließlich hänge ich ja die ganze Zeit vor diesem Laptop rum!

Miss Marple, meine viel zu dicke Katze, sitzt schwer auf meinem Schoß. Ich sollte sie baldmöglichst auf Diät setzen. Und mich auch gleich. Neugierig beobachtet sie mein Treiben mit der Maus. Die Süße hat ihren Spaß, ich dagegen leider nicht so sehr. Tapfer scrolle ich mich durch eine Million Profile einer Dating-Seite. Wahrscheinlich ist es gar keine Million, aber mittlerweile habe ich den Überblick wie auch jeglichen Durchblick verloren.

Meine Augen sind müde und mein Hintern ist schon ganz taub vom langen Sitzen. Wenn ich mich jetzt vom Stuhl erhebe, werden meine Beine aufgrund der mangelnden Durchblutung ganz sicher zusammensacken. Ich will auch nur noch ein paar Minuten online verbringen, danach muss ich dringend das Wohnzimmer aufräumen. Und die Küche leider auch noch. Dort herrscht das reinste Schlachtfeld! Erst dann geht es ab auf die Couch, einen romantischen Liebesfilm gucken. Rosamunde Pilcher wäre heute genau nach meinem Geschmack. Irgendetwas Leichtes schwebt mir vor, bloß keiner dieser düsteren, bluttriefenden Krimis von Jussi Adler-Olsen oder Hakan Nesser, die zurzeit abwechselnd und in Dauerschleife über die Mattscheibe flimmern. Nein, raue Küstenlandschaften in Cornwall und heiße Küsse im Cottage. Das wär’s jetzt.

Aber plötzlich öffnet sich ein Bild auf meinem Schirm, und von einer Sekunde auf die andere spüre ich in meinem Bauch wild herumflatternde Schmetterlinge. Wie damals, als ich mich auf dem Pausenhof der Klosterschule in den süßen Michi verliebt hatte.

Liebe auf den ersten Blick soll es ja bekanntlich geben, aber doch nicht für ein Profil in einer Singlebörse! Also komm erst mal wieder runter, Fanny!

Der Mann nennt sich Luxusausgabe. Unter Selbstzweifeln leidet er offensichtlich nicht. Aber gut, die Männer schießen gern mal übers Ziel hinaus, wenn sie sich für ein Pseudonym entscheiden. So sind sie nun mal …

„So ein männliches Selbstbewusstsein gefällt uns doch sogar, nicht wahr, Miss Marple?“, wende ich mich an meine Katze. Ich ernte zustimmendes Miauen. Das bilde ich mir zumindest ein.

Dieses Selbstbewusstsein spiegelt sich auch in seinen Bildern wider, in denen ich augenblicklich und mit einem lustvollen Stöhnen versinke, kaum erscheinen sie auf meinem Schirm. Tschuldigung, aber meine Dürrezeit dauert mittlerweile schon viel zu lange. Abgesehen davon, wer könnte Luxusausgabe schon wiederstehen? Er wirkt kraftvoll und vital. Seine Gesichtszüge strahlen Entschlossenheit und Willenskraft aus, wobei es die frechen Augen und das jungenhaft verschmitzte Lächeln sind, an denen ich hängenbleibe. Sie stehen im absoluten Kontrast zu seiner ansonsten sehr präsenten Männlichkeit. Aber es ist wohl genau diese Mischung aus Lausbub und ganzem Kerl, die mich fasziniert und in ihren Bann zieht.

Und erst diese Lippen! Nicht schmal, sondern voll und sinnlich. Beim ausgiebigen Betrachten derselben (auch die zufrieden vor sich hin schnurrende Miss Marple kann ihren Blick nicht abwenden) überkommt mich urplötzlich ein ungestümes Verlangen, sie zu küssen. Also die Lippen, nicht die Katze. Dieses Verlangen ist viel stärker als das, die Küche aufzuräumen. Verständlich, schließlich kann ich mich nicht mal im Entferntesten daran erinnern, wann ein Mann zuletzt auch nur in die Nähe meiner Lippen gekommen ist – abgesehen von meinem Zahnarzt. Und den will ich nicht küssen. Er mich wahrscheinlich auch nicht.

Und noch ein weiteres Verlangen überkommt mich.

Also Fanny, schäm dich! Dafür ist es noch viel zu früh! Die Kinder sind ja gerade erst ins Bett gegangen.

Ja, selbst ist die Frau! Das habe ich seit meiner Scheidung gelernt. Ob es sich um das Auswechseln der Glühbirnen handelt oder um die Befriedigung der weiblichen Bedürfnisse.

Da fällt mir ein, dass ich vergessen habe, neue Batterien zu kaufen. Dann nehme ich eben die aus der Fernbedienung. Im Leben muss man nun mal Prioritäten setzen. Mit anderen Worten: Sex oder Glotze. Wobei mir die Frage in den Kopf schießt, ob Sex alleine, also nur mit mir selbst, auch Sex ist. Wahrscheinlich nicht.

Ich nehme einen großen Schluck Rotwein, während ich zu einem Bild weiterklicke, das Luxusausgabe auf einem schweren Motorrad zeigt. Bedeutungsschwanger und mit einem geheimnisvollen, leicht ironischen Grinsen blickt er in die Ferne und strahlt dabei Verwegenheit und Erotik aus.

„Musst du bei seinem Anblick nicht auch an James Bond denken?“, frage ich Miss Marple. Sie hüllt sich in Schweigen. „Also ich schon!“

Und zwar an Sean Connery auf einem heißen Motorbike, kurz bevor er den Bösewicht zur Strecke bringt, eine kompliziert verdrahtete, alles vernichtende Megabombe entschärft und in letzter Sekunde die Briten vor der Ausrottung rettet. Das nenn’ ich mal Stress! Armer James. Klar, dass er auf einer Singlebörse ein bisschen Ablenkung von all den Anstrengungen seines Lebens suchen muss.

Nun, dieser Mann ist zwar doch nicht solch ein Adonis wie James Bond, trotzdem besitzt er eine sehr sinnliche Ausstrahlung. Hoffentlich liegt meine Empfänglichkeit seinen Reizen gegenüber nicht nur an der Wirkung des Rotweins. Die Flasche leert sich viel zu schnell.

Neugierig klicke ich mich von einem Foto zum nächsten. Auf manchen Bildern trägt Luxusausgabe einen Anzug, auf anderen ein Hemd mit schicker Hose, auch mal eine edle Jeans.

Ich stehe auf Männer, die sich gut kleiden.

Mit Turnschuhen, Karo- oder Mottohemd zum Date …

Von mir aus, Hauptsache nicht zu meinem!

Aber Lederslipper und ein Jackett oder auch ein Anzug, und schon schlägt mein Herz höher. Ich kann auch nichts dafür. Ist halt so.

„Was meinst du, Miss Marple, sollen wir mal lesen, was er in seinem Profil schreibt?“

Gelangweilt hüpft sie von meinem Schoß. Dann eben nicht … Ich dagegen richte mein ganzes Augenmerk auf Luxusausgabe. Die Fakten sind gefragt.

Er ist geschieden, 1,90 Meter groß, sportlich und Akademiker. Er geht gern ins Theater, mag Tiere und kann nicht kochen. Er fährt Rad und Ski. Er hat blaue Augen, pechschwarze Haare, spricht Französisch, Spanisch und Englisch. Er engagiert sich ehrenamtlich für benachteiligte Mitmenschen, und auch der Umweltschutz liegt ihm am Herzen …

So ist’s gut, Fanny! Konzentriere dich auf das Wesentliche!

Ich versuche so nüchtern wie möglich an das Profil heranzugehen, um nicht dauernd an James denken zu müssen. So ist das immer bei mir. Ein paar wohlformulierte Sätze, und schon mutiert mein Flirt zu meinem ganz persönlichen Superhelden, der nicht nur in cooler 007-Manier gefährliche Bomben entschärfen, sondern obendrein auch noch die Hungersnot in Afrika beseitigen, die Rodung des brasilianischen Urwalds stoppen und die Ermordung des russischen Ex-Doppelagenten Skripal aufklären wird. Wenn nicht heute, dann ganz sicher morgen. Oder übermorgen.

Aber nüchtern betrachtet – ganz ohne Rotwein, Bomben und Vernichtung des Brasilianischen Urwalds – dieser Mann könnte es wert sein, mich noch einmal ins Liebesabenteuer zu stürzen. Vorausgesetzt, er würde sich auch mit mir stürzen wollen. Das muss ich ja erst noch herausfinden.

Bestimmt steht er auf einen ganz anderen Typ Frau als ich es bin: schick oder hipp, selbstbewusst, erfolgreich, schön, intellektuell. Vielleicht auch reich und berühmt.

„Wobei man das bei den Männern ja nie so genau weiß“, seufze ich in mein Weinglas. „Oftmals reicht jung, blond und sexy auch schon aus.“

Ich dagegen bin … nun ja, nicht blond, sondern brünett und nicht mehr ganz so jung, sondern schon ein bisschen älter, genauer gesagt einundvierzig Jahre alt. Zudem Mutter zweier Kinder, Teilzeitkraft beim Finanzamt, wohnhaft in einem renovierungsbedürftigen Reihenhäuschen auf dem Lande, alter Golf in der Garage, Minus auf dem Bankkonto, leere rechte Seite im Doppelbett.

Sprich – auch nicht wirklich sexy. Tja, dumm gelaufen …

Mit Wehmut streiche ich Luxusausgabe von meiner A-Liste, denn ein Mann wie er hätte bestimmt kein Interesse an einer D-Frau wie mir. Und mit D meine ich keineswegs meine Körbchengröße, leider.

Nein, er hätte sicher kein Interesse an mir. Außer … außer er hat von all den reichen, berühmten und intellektuellen Superfrauen wie auch von all den blonden, vollbusigen jungen Sexbomben auf gut Deutsch gesagt ‚die Schnauze voll’. Ob das tatsächlich so ist, werde ich allerdings nie herausfinden, wenn ich nicht endlich in die Gänge komme.

Also tippe ich ein paar Zeilen in meinen PC. Bevor ich die Nachricht allerdings verschicken kann, überkommt mich aus dem Nichts heraus die pure Panik. Was, wenn er mich unattraktiv oder uninteressant findet und mir einen Korb gibt?

Oder wenn er mir gar nicht antwortet? Das wäre noch schlimmer als ein Korb: tagelang, vielleicht sogar wochenlang, auf eine Nachricht zu warten, die dann doch nie kommt!

„Fanny, halt die Klappe! Was hast du schon zu verlieren?“, schimpfe ich lautstark mit mir. „Du musst im Leben auch mal was wagen!“

Miss Marple wird auch schon ganz ungeduldig. Nicht wegen meines brach liegenden Liebeslebens, sondern weil sie noch eine Runde um die Häuser ziehen will. Die hat wenigstens noch ein Liebesleben!

Kurz entschlossen schicke ich Luxusausgabe doch eine Nachricht: Schade, dass du noch nicht über mein Profil gestolpert bist.

Zack! Kaum fünf Minuten später landet seine Antwort in meinem Postfach.

Hilfe! Ich habe eigentlich gar nicht mit einer Antwort gerechnet und schon bin ich überfordert! Nervös hüpfe ich vom Stuhl hoch. Erst mal ein Glas Wasser aus der Küche holen. Wie sich allerdings herausstellt, ist Wasser in so einer Situation nicht wirklich das Mittel der Wahl, denn mein Herz schlägt mir immer noch bis zum Hals. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Also setze ich mich wieder an den Laptop und drücke kurzentschlossen und mit festem Druck auf seine Mail, bevor ich es mir anders überlegen kann.

 

Ja, das ist tatsächlich schade, denn was ich in deinem Profil lese, gefällt mir! Ich würde dich gern so schnell wie möglich kennenlernen, da ich schon bald für längere Zeit in China und in den USA unterwegs sein werde. Hast du am Samstag schon etwas vor? Schick mir deine Telefonnummer, ich würde mich freuen, deine Stimme zu hören.

Lieben Gruß,

Sergej

Mann, der geht aber ran!

Aber Moment mal! China? USA?

Na prima! Kaum finde ich einen Mann, der mir so richtig gut gefällt, zieht es ihn auch schon in die Ferne. Liegt wohl an meinem Karma.

Ja, Sergej nimmt Reißaus, auch wenn seine Formulierung auf den ersten Blick höflich erscheint: Übersetzt heißt seine Mail trotzdem etwas ganz anderes, nämlich:

Ich würd’ dich wahnsinnig gern kennenlernen, aber mir ist gerade jetzt nach Auswandern zumute. Möglichst weit weg. Sayonara and see you later, alligator.

Nun gut, das war’s dann wohl. Ich verabschiede mich jetzt wohl besser, bevor er es tut und mein Selbstwertgefühl nicht nur in den Keller, sondern bis zum Erdkern sinkt.

Lieber Sergej, sorry, so schnell gebe ich meine Telefonnummer nicht raus. Schon gar nicht einem Mann, der eine Woche, einen Monat oder womöglich sogar bis zum Sankt Nimmerleinstag auf einem anderen oder sogar auf mehreren anderen Kontinenten weilen wird. Schließlich ist „eine längere Zeit“ ein ganz schön vager Begriff. Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück bei deiner Suche.

Drei Minuten später folgt prompt die Erklärung:

Keine Sorge, ich bin nur geschäftlich in China und in den USA unterwegs und das auch nur für drei Wochen. Und ans Auswandern habe ich bisher noch nie gedacht. Wenn du mir bitte doch deine Telefonnummer anvertrauen magst …

Ach, was ziere ich mich so! Jane Austen, lass mal locker! Ich wusste von Anfang an, dass ich ihm meine Nummer geben würde. Er hat mich schon in der ersten Zeile seines Profils mit einem Zitat geködert.

Ich stehe auf Zitate.

Ich bin ein Wortfetischist.

Und ich stehe auf Oscar Wilde.

Männer können analysiert werden, Frauen nur angebetet.

Oh ja, ich würde mich gern anbeten lassen! Nur mal so zur Abwechslung.

Tja, so einfach ist es, an meine Telefonnummer ranzukommen.

Ganz Ü40-Teenie, der ich nun mal bin, überlege ich kurz, mein WhatsApp-Profilbild aufzumotzen, lasse es aber sein. Ich will ja um meiner selbst willen geliebt werden.

Kaum habe ich ihm meine Handynummer geschickt, kommt postwendend eine WhatsApp von ihm:

Liebes, ich muss früher fliegen. Ich fahre jetzt zum Flughafen. Rufe dich morgen an.

Dein Sergej

Mist! Hätte eben doch mein Profilbild auftunen sollen. Von wegen um meiner selbst willen geliebt werden! Pffft! Jetzt ist es zu spät.

Enttäuschung, hängende Schultern, Griff zum Weinglas.

Fanny, du hast’s verbockt. Mal ganz was Neues.

Ernüchtert fahre ich meinen Laptop runter.

Nun gut, dann halt kein Abenteuer mit James Bond …

Stattdessen wieder einsames Kuscheln im übergroßen Ehebett. Vorher muss ich mich aber noch auf die Suche nach Batterien machen ...

Im Flur schlurft müden Schrittes mein Jüngster mit halbgeschlossenen Augen auf mich zu.

„Peterle, was geisterst du denn noch hier rum?“

„Nutella-Brot …“, brummelt er mit letzter Kraft, als hätte er einen dreiwöchigen Kerkeraufenthalt samt Nulldiät und Skorbut hinter sich. Zudem bildet Peterle nie ganze Sätze. Aber zum Glück verstehe ich ihn auch ohne korrekte Grammatik. Ich mag gar nicht an die anstrengende Schulzeit denken, die vor uns liegt. Im Herbst beginnt für Peterle der Ernst des Lebens. Klein und blond gelockt steht er vor mir, und allein schon bei seinem Anblick könnte ich ihn niederschmusen. Gerade möchte ich ihn in meine Arme drücken, da lenkt mich ein Gedanke ab, den ich dringend in die Tat umsetzen muss.

Ich schleiche mich in Peterles Zimmer, während er sich das Nutella zentimeterdick aufs Brot schmiert, und entwende schamlos die Batterien aus seinem ferngesteuerten Lamborghini. Dann gehe ich zurück in die Küche, als sei nichts gewesen. Gemeinsam mümmeln wir ein Nutellabrot. Natürlich ist Peter jetzt viel zu müde, um sich die Zähne zu putzen, und ich bin viel zu müde, die Rolle der Vorzeigemama zu erfüllen und ihn zum Putzen zu zwingen. Also bringe ich ihn in sein Zimmer, decke ihn zu, schmatze ihm einen dicken Kuss auf seine nach Schoko riechende Backe und verkrümele mich schnellstens, bevor ihm auffällt, dass es ausgerechnet seine Lamborghini-Batterien sind, die meine Jogginghose ausbeulen.

Ich werfe noch einen Blick in Veronikas Schlafzimmer und drücke auch ihr einen dicken Knutscher auf die Backe.

„Igitt, Mama, is ja ekelig!“, verzieht sie angewidert das Gesicht und dreht sich demonstrativ weg. Teenies! Immer ist alles ekelig oder peinlich.

Als Letzte ist dann noch Miss Marple dran. Ich kraule ihr weiches Bäuchlein, dann beende ich den Tag mit einem Batteriewechsel.

In dieser Nacht schlafe ich unruhig. Ich träume von einem Date mit Luxusausgabe. Wir speisen beim Chinesen und sitzen an einem kleinen, romantischen Tisch. Gut sieht er aus, mein Sergej, genauso wie auf den Profilbildern. Stechend blaue Augen, schwarze Haare, streng nach hinten gegelt. Eigentlich mag ich kein Gel in Männerhaaren, aber zu Sergej passt dieses Styling. Es verleiht ihm ein aristokratisches Aussehen. Ja, vor mir sitzt ein Aristokrat und Gentleman, der auch noch genau das sagt, was ich hören will.

„Fanny, du bist die einzige Frau, mit der ich glücklich werden kann. Wo warst du mein ganzes Leben lang?“, fragt er mich schmachtenden Blickes.

Ich bebe und mit mir die Erde unter meinen Füßen. Aber leider ist der Auslöser nicht die Wucht unserer Liebe, sondern eine waschechte Naturkatastrophe. Erschrocken sieht Sergej mich an. Er lässt die Stäbchen fallen, springt von seinem Stuhl hoch wie von der Tarantel gestochen und rennt ohne ein Wort des Abschieds davon. Er sprintet durch das Restaurant, durch die Tür und auf die Straße. Er läuft, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Er läuft und läuft und läuft, bis ich ihn aus den Augen verliere. Ich dagegen rühre mich keinen Zentimeter, schließlich wird Sergej jeden Moment zurückkommen, um mich zu retten. Aber nix Rettung, denn da werde ich auch schon von der herabstürzenden, mit asiatischen Ornamenten reich verzierten Decke erschlagen. Und mein Held? Der ist schon längst über alle Berge!

Am nächsten Morgen schlage ich die Titelseite der Tageszeitung auf …

Gasexplosion in chinesischer Kohlemine

Eine Gasexplosion in China kommt einem Erdbeben in einem chinesischen Restaurant ziemlich nahe, zumindest, was chinesische Katastrophen betrifft, und schon fällt mir mein Traum wieder ein. Sergejs Abfuhr hat mich wohl tiefer getroffen als erwartet. Und sollte er wider Erwarten doch noch Interesse zeigen, sagt mir dieser Traum, dass er nicht der Richtige für mich ist, wenn er schon bei dem ersten Erdbeben Reißaus nimmt.

Aber jetzt habe ich keine Zeit, über das ferne China nachzudenken. Meine Tochter erklärt mir gerade in hohen Schluchztönen („Schatz, bitte eine Oktave tiefer, meine Ohren!“) nie wieder ein Tier essen zu wollen („Schatz, in deinem Müsli ist aber gar kein Tier drin!“).

Zu dieser Krise muss Peterle natürlich auch seinen Senf dazugeben.

„Wenn Veronika Vegetarierin werden darf, dann will ich Fleischarier werden und nie mehr Gemüse essen, denn das ist ja sowas von Folter, und Folter verstößt ganz klar gegen die Menschenrechtsorganisation“, teilt er mir mit pathetischer Stimme mit und das sogar in ganzen Sätzen. Ich bin beeindruckt.

„Peterle, Folter verstößt nicht gegen die Menschenrechtsorganisation, sondern gegen die Menschenrechte, wenn Gemüse essen denn Folter wäre, was es aber nicht ist. Gemüse essen ist gesund. Aus, basta, Amen.“

Über manche Dinge darf eine Mutter nicht diskutieren. Was allerdings nur dazu führt, dass Peterle über die Qualen seiner unglücklichen Kindheit lamentiert, während Veronika sich immer noch lautstark ihrer unermesslichen Trauer um all die armen Küken, Schweinchen und Kälbchen hingibt. Tochter heult, Sohn redet ohne Punkt und Komma, und für den Bruchteil einer Sekunde, aber wirklich nur für den Bruchteil, sehne ich mich nach der herabstürzenden, mit asiatischen Ornamenten reich verzierten Decke aus meinem Traum zurück.

Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen, leider, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als die Herausforderungen eines Montagmorgens zu meistern. Schließlich muss ich rechtzeitig im Büro erscheinen, um von dort aus die deutsche Wirtschaft zugrunde zu richten.

Denn ich bin Buchhalterin beim Finanzamt. Und das mit einer Zahlenschwäche! Wie ich damit zu diesem Job gekommen bin? Keine Ahnung.

Ich hatte mich dort ursprünglich als Sekretärin beworben und erst nach der Einstellung erfahren, dass achtzig Prozent meiner Tätigkeiten buchhalterisch sein würden.

Nun werden einer Mutter, die zwei Drittel ihres Lebens Windeln gewechselt, diverse Kinderkrankheiten, wie auch diverse Kinderlaunen durchgestanden hat, die unzählige Nachmittage, oft auch Abende, vor verschlossenen Lehrer- und Arzttüren rumgesessen und ansonsten sehr viel Zeit damit verbracht hat, dank endlos vieler Fahrten mit dem Mama-Taxi einen beträchtlichen Beitrag zur Umweltverschmutzung zu leisten, nicht unbedingt eine große Palette an Traumjobs angeboten.

Zur Auswahl hatten dieser Job oder der im Seniorenstift „Zur immergrünen Wiese“ gestanden. Mit anderen Worten: wieder Windeln wechseln, nur dass diese Windeln, wie auch die Ärsche um einiges größer gewesen wären, als die meiner Kinder.

Ich musste also nur abwägen, welches Übel das größere war, und schon machte das Finanzamt das Rennen.

Wie auch immer – dieser Job ist anstrengend, und ich kann es mir nicht leisten, geistig derangiert im Büro zu sitzen. Besonders nicht heute, wo ein wichtiger Abschluss bevorsteht.

Also übe ich mich wieder mal in Diplomatie.

„Veronika, Schatz, such doch nach der Schule ein paar vegetarische Rezepte aus dem Internet raus, und am Abend zeigst du sie mir dann.“

Kaum habe ich ihr den Vorschlag unterbreitet, verstummt sie mit glücklich glänzenden Augen. Und auch ich bin glücklich, denn mein Vorschlag ist mit Aufwand verbunden, und wenn meine Tochter etwas scheut, dann ist es Aufwand. Tofu ade!

„Und Peterle, du musst dein Gemüse auch nicht ganz aufessen, nur ein bisschen. Einverstanden?“ Dass ich dieses ‚bisschen’ nach Gutdünken definieren werde, verschweige ich ihm natürlich …

Warum ich noch nicht für den deutschen Bundestag aufgestellt wurde, ist mir ein absolutes Rätsel.

Und so lasse ich zwei glückliche Kinder zurück, um im Bad letzte Hand anzulegen, wobei ich mir beim Blick in den Spiegel viele letzte Hände wünsche. Ich fordere die Kinder auf, endlich einen Gang zuzulegen, dann stecke ich hektisch Terminkalender, Faltencreme und Smartphone in meine große, ausgebeulte Handtasche. Aber Moment mal … das Smartphone blinkt!

Eine Nachricht von Luxusausgabe … huch, was fühle ich mich plötzlich jung und lebendig!

Jetzt nur nicht vor Freude durchdrehen! Vielleicht will er mir nur mitteilen, dass er sich nun doch entschlossen hat auszuwandern.

Ohne WhatsApp vollständig zu öffnen, kann ich leider nur die ersten Worte lesen: Guten Morgen, meine L …

Wüsste ich jetzt, dass er mich abservieren will, würde ich ihm gar nicht erst die Genugtuung geben, mich für seine Nachricht zu interessieren. Ich würde sie ungelesen bis zum Sankt Nimmerleinstag auf meinem Handy schmoren lassen.

Also beschließe ich, cool zu bleiben und erst in der Kaffeepause zu lesen, was er mir schon am frühen Morgen mitteilen wollte. Oder auf der Damentoilette. Da bin ich wenigstens ungestört. Es sei denn, Mechthild hat ihre ‚Sauerkraut und Ananas’-Diät immer noch nicht abgeschlossen. Dann doch lieber Kaffeeküche.

Vielleicht will er ja auch gar nicht auswandern, sondern ein Date ausmachen. Gleich für den Tag, an dem er aus den USA zurückgekehrt ist. Oh, how wonderful!

Freudig stecke ich das Handy in meine Tasche und schwebe höhenflugmäßig an meinen Kindern vorbei, mit den mild mahnenden Worten, sie müssten sich jetzt auf den Weg machen.

Meine Worte verhallen ungehört.

„Du blöde Kuh!“, kreischt Peterle in einer Tonlage, durch die ich befürchte, augenblicklich taub zu werden. Aber erstaunlicherweise kann ich ihn immer noch hören.

„Ich hab’ genau gesehen, dass du meine Gummibärchen abgeschleckt und dann wieder in die Tüte gesteckt hast.“

„Chill mal deine Nippel, du Parasit!“, keift meine Tochter zurück.

„Ich hab’ gar keine Nippel! DU hast Nippel! Mama, hast du gehört, was sie gesagt hat? Dass ich Nippel habe!“

„Du alte Petze! Immer gleich zu Mama rennen!“

Streiten sie schon wieder? Hört sich irgendwie danach an. Interessiert mich das? Nicht die Bohne! Schließlich befinde ich mich dank höhenflugmäßigen Schwebens außerhalb ihrer Reichweite. Was sich prompt als Irrtum erweist, als ich im depressiven Sturzflug wieder auf dem Boden der Tatsachen lande. Aber das liegt ausnahmsweise gar nicht mal an meinen Kindern, sondern an meinem Gedankenkarussell, das plötzlich wieder mächtig an Fahrt zugenommen hat. Was, wenn Sergej sich nur verabschieden und mir alles Gute für die Zukunft wünschen will?

Oh, how shitty!

Jetzt reiß dich zusammen, Fanny! Hör endlich mit dem bescheuerten Affenzirkus auf und lies seine Nachricht!

Nein, so zwischendrin will ich sie nicht lesen.

Wenn er mich nämlich doch um ein Date bittet und wir dann in Liebe zueinander entflammen, will ich diesen besonderen Moment in einem gebührenden Rahmen erleben.

Nun gut, das Klo auf dem Finanzamt ist alles andere als ein gebührender Rahmen. Und mittags kann ich mich auch nicht ungestört zurückziehen – da geht die ganze Abteilung immer und ohne Ausnahme geschlossen in die Kantine.

Dann eben erst am Abend. Bin nun mal eine vielbeschäftigte Karrierefrau, daran kann er sich schon mal gewöhnen.

Tja, was soll ich sagen – es wurde dann doch das Klo und ja, Mechthild hat weder abgenommen noch ihre Diät abgebrochen, und der Rahmen war somit auch alles andere als würdig. Und trotzdem werde ich diesen Moment nie vergessen.

Guten Morgen Liebes,

ich habe heute Nacht von dir geträumt. Hoffe, ich darf heute Abend deine Stimme hören.

Dein Sergej

Ich habe auch von Sergej geträumt, verschweige ihm aber sowohl das Erdbeben in China wie auch sein hasenfüßiges Verhalten. Schließlich träume ich gerade jetzt etwas ganz, ganz Wundervolles von ihm, während ich auf dem Klodeckel hinter verschlossener Kabinentür sitze, glücklich vor mich hin lächelnd.

Etwas ganz Wundervolles …

Sergej und ich genießen den Tag bei einem Picknick im Englischen Garten. Wir flanieren unter schattigen Bäumen umher und unterhalten uns. Er ist galant, ich bin witzig …

„So ein Mist!“, platzt Mechthild fluchend in meinen Traum. Gerade ist sie zur Damentoilette hereingestürzt. Ich ignoriere sie jetzt einfach … Sergej nimmt meine Hand und blickt mir tief in die Augen. Tief, tiefer, noch tiefer. In Erwartung dieses einen, ganz besonderen Moments, des Augenblicks des ersten Kusses, wage ich kaum zu atmen. Gleich wird mein Herz vor Glück stehenbleiben.

Eine leichte Brise weht durch mein Haar, Kirschblüten fallen auf uns herab, Sergej beugt sich zu mir hinunter, um mich leidenschaftlich, heiß und inniglich zu küssen …

„Fanny, ich hab’ kein Klopapier mehr! Fanny?!“

Ja, würdig ist was anderes.

Der Tag im Büro geht schnell vorüber, schließlich muss ich meine Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen, da ich die andere Hälfte in meinem Kopfkino verbringe.

Um vier Uhr hole ich Peterle vom Turnverein ab, schleppe ihn unter Androhung roher Gewalt zum Kieferorthopäden, dann weiter zu Aldi, was mir dank meines pädagogisch wertlosen Versprechens auf eine Schokoladen-Orgie besser gelingt, als der Gang zum Zahnarzt ohne Schoko-Orgie. Weiter geht’s zur Apotheke, bis ich mich um sechs Uhr an den heimischen Herd stellen darf, um das Abendessen zu kochen.

„Dinner is served“, rufe ich die Kinder an den Tisch. Hungrig spachteln sie das Abendessen, natürlich ohne Messer, manchmal auch ohne Gabel, während sich Ketchupflecken und allerlei Brösel mühelos über den ganzen Tisch verteilen und sie wild durcheinanderbrabbeln, ohne den anderen ausreden zu lassen oder auch mal höflich nach meinem Tag und meinem Befinden zu fragen. So ist das immer bei uns. Und auch wenn ich das Abendessen stets mit Dinner ist served einleite, wird uns die Queen niemals an ihren Tisch bitten – nicht in hundert Jahren, so ungebührlich wie sich meine Rotzlöffel aufführen.

„Wer hilft mir, die Spülmaschine einzuräumen?“

Weg sind sie, so schnell wie der Wind, aber man soll die Hoffnung bekanntlich ja nie aufgeben. Ich verbringe den Abend mit dem üblichen Hausfrauenkram, bis ich um 21 Uhr endlich mit allem fertig bin. Eigentlich bin ich jetzt, nach diesem langen Tag, viel zu erschöpft, um ein halbwegs intelligentes Gespräch zu führen. Obendrein fühle ich mich auch noch so seltsam flatterig, als bekäme mein Gehirn nicht genügend Sauerstoff, weswegen meine Gedanken ohne jegliche Struktur wild umherwirbeln.

Bei dem ganzen Durcheinander in meinem Kopf werde ich sicher keinen einzigen klaren Satz formulieren können.

Plötzlich zwitschert mein Handy. Sergej!

Er fragt, ob ich Zeit für das Telefonat habe. Keine Sekunde später klingelt schon mein Handy. Der hat es aber eilig!

Keine Ahnung, wie spät es gerade in den USA oder in China ist, aber offensichtlich schon sehr spät und Sergej muss schnell ins Bettchen oder ins Büro und time is money.

Kurz sammle ich mich, dann hauche ich ein freundliches, gleichzeitig hoffentlich verführerisches „Hello Sergej“ in den Hörer. Hätte ich doch nur einen kurzen Blick auf das Display geworfen …

„Sergej? Wer ist Sergej? Und wieso sprichst du auf einmal Englisch?“, fragt mich meine Mutter in schroffem Oberfeldwebel-Ton. „Und warum telefonierst du abends mit einem Sergej und ich weiß nichts davon?“

„Mama, du musst nicht immer alles wissen!“

„Müssen nicht, sollen schon!“

Ich habe meiner Mutter von der Dating-Seite erzählt. Da ich aber nicht lebensmüde bin, habe ich ihr wohlweislich verschwiegen, dass es auf dieser Plattform nicht immer nur um Liebe geht. Ich höre, wie sie tief Luft holt.

„Wer sonst soll mit deinen Kindern auf die Lösegeldforderung warten, wenn dich einer dieser Verrückten verschleppt?“ Meine Mutter, die Drama-Queen.

„Du wirst es als Erste erfahren, wenn mich endlich einer verschleppt – versprochen. Aber noch ist es nicht soweit. Und wird es auch nie sein, wenn du die Leitung nicht endlich freigibst.“

„Sich mit irgend so einem Fremden aus dem Internet zu treffen! Sowas Unverantwortliches! Noch dazu in deinem Alter! Da sollte man doch wirklich klüger sein, Kind. Ich verstehe dich nicht.“

„Aber Mama, das hatten wir doch schon alles. Wo sonst soll ich einen Mann kennenlernen? Und ich treffe mich ja auch nur, wenn ich Adresse, Autokennzeichen, Vorstrafenregister, Schuhgröße und Kinderkrankheiten kenne. Aber jetzt muss ich auflegen. Er wird gleich anrufen.“

„Vergiss nicht das Lebenszeichen!“

„Mamilein, ich sitze brav in meinem Wohnzimmer und werde nur ein bisschen telefonieren.“

„Dann telefonier schön. Und pass gut auf dich auf! Und denk an das Lebenszeichen.“

Mütter! Fluch und Segen zugleich. Seit meiner Scheidung ist meine Mutter wieder auf Halbachtstellung, schlimmer als zu meiner Teenagerzeit. Sie hat Angst, dass ich ohne Manfred die falschen Entscheidungen treffe, ohne Manfred mein Geld für die falschen Dinge ausgebe, dass jeder Mann der Falsche ist oder noch schlimmer, ein potenzieller Vergewaltiger.

Selbst mein 84-jähriger Nachbar ist eine Gefahr. Vor dem warnt sie mich mindestens drei Mal wöchentlich, vor allem, seitdem ich versehentlich die Leiter im Garten stehen ließ.

„Schatz, da kann man nachts ganz leicht in dein Fenster einsteigen, selbst der alte Herr Schmidl kann das noch.“

Ach, käme doch endlich einer zum Fensterln! Natürlich nicht mein 84-jähriger Nachbar … so verzweifelt bin ich nun auch wieder nicht. Obwohl …

Ts, nein, natürlich nicht!

Ich frage mich gerade, ob ein Mann mit vierundachtzig tatsächlich noch eine Gefahr sein könnte – so weit ist es mit mir dank meiner paranoiden Mutter schon gekommen –, da klingelt das Telefon.

Neuer Versuch.

„Hallo Sergej. Hier ist Fanny.“

Ich vernehme zunächst nur ein Rauschen in der Leitung.

Und dann höre ich ihn, und mir wird plötzlich ganz wohlig ums Herz. Er hat eine tiefe, melodische Stimme. Bei ihrem Klang fühle ich mich angenehm umschlungen, wie vom warmen Wasser eines duftenden Schaumbades, in das ich lustvoll eintauche.

„Süße, wie geht es dir?“

Süße? Ich mag keine Kosenamen, erst recht nicht diesen. Ich finde ihn sogar abwertend, so mädchenhaft zuckerig, als würde man mich nicht ernst nehmen oder sich nicht die Mühe machen wollen, sich meinen Namen zu merken. Aber als Sergej mich jetzt Süße nennt, geht trotz dieser späten Stunde die Sonne auf. Sie wärmt mein einsames Herz und meine kalten Füße und scheint in meinem Wohnzimmer bis zum letzten Wort unseres Gesprächs.

„Ich freue mich schon den ganzen Tag auf unsere Begegnung und auf deine Stimme.“ Sergej rollt das R, betont das U und spricht das CH hart aus. Ich entdecke einen leichten Akzent. Russisch, vielleicht auch Tschechisch. Sein Deutsch ist trotzdem mehr als perfekt.

„Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit für mich.“

Aus ein bisschen Zeit werden fünf Stunden. Und keine Minute ist langweilig, keine Minute ist von Schweigen oder Befangenheit erfüllt. Stattdessen habe ich sogar das Gefühl, diesen Mann bereits mein Leben lang zu kennen.

Sergej ist Inhaber einer Firma, die Waffensysteme produziert. China und USA sind seine größten Abnehmer.

„Alle paar Wochen fliege ich ins Ausland, um mit Kunden zu verhandeln und neue Aufträge an Land zu ziehen“, erklärt er mir.

Aufmerksam höre ich ihm zu, wie er über unbemannte Systeme, Synchronisationsmechanismen, Granatwerfer und Radaranlagen spricht. Obwohl ich nicht mal die Hälfte von all dem technischen Zeug verstehe, finde ich unser Gespräch sehr unterhaltsam, fast schon prickelnd.

„Als junger Mann hatte ich nur einen einzigen Wunsch – ich wollte weg von zu Hause, weg von der Enge und den Traditionen auf dem Dorf. Ich komme aus Tschetschenien. Na ja, eigentlich bin ich gebürtiger Russe, aber meine Eltern sind nach Tschetschenien ausgewandert, als ich noch ein kleines Baby war. Deswegen fühle ich mich Tschetschenien näher als meinem eigentlichen Vaterland.“

Nun kann ich auch den Akzent zuordnen.

„Mit 18 Jahren bin ich nach Spanien ausgewandert. Dann ging es weiter nach Frankreich. Dank einer deutschen Freundin konnte ich von dort aus nach München weiterreisen. Sie hat mir einen Job als Kellner auf dem Oktoberfest verschafft.

Aber immer nur Gelegenheitsjobs und wechselnde Freundinnen – irgendwann hatte ich das Vagabundenleben satt. Ich wollte ankommen und sesshaft werden, aber nicht mehr zurück nach Tschetschenien, erst recht nicht mehr zurück in die Armut. Ich wollte mehr im Leben erreichen.“

Ich sehe ihn vor mir. Einen jungen Mann, strotzend vor Kraft, Lebens- und Abenteuerlust.

„Und so habe ich mich in München an der Uni eingeschrieben.“ Sergej macht eine Pause. Ich höre, wie er sich eine Zigarette anzündet und genussvoll inhaliert. Eine Zigarillo, wie ich später erfahre.

„Ich habe meine Entscheidung, Wehrtechnik zu studieren, nie bereut, denn ich kann sehr gut davon leben. Als der Krieg ausbrach, bin ich dann zurück nach Tschetschenien gegangen, um für mein Heimatland zu kämpfen – nicht nur hinter dem Schreibtisch, sondern auch auf dem Schlachtfeld.“

Seine Stimmer verliert an Kraft, sie wird leise und traurig. „Ich habe den Krieg überlebt, viele meiner Freunde nicht. Aber der Krieg hat mir bewusst gemacht, wie sehr ich das Leben liebe. Und dieses Leben will ich jeden Tag aufs Neue feiern.“

Dank seiner Worte offenbart sich mir seine Lebensfreude, aber auch seine Willenskraft. Er ist ganz anders als all die Männer, die ich bisher kennengelernt habe, und ich frage mich, wie es wäre, mein Leben mit so einer starken Persönlichkeit zu teilen.

Abrupt und unerwartet beendet Sergej seine Erzählung.

„Erzähl mir mehr über dich, über deine Kinder. Wo wohnst du? Was machst du den ganzen lieben Tag lang, wenn du dich mal gerade nicht im Internet herumtreibst?“

Sein Lachen ertönt kehlig aus dem Hörer. Leider habe ich nicht so viel zu erzählen wie er, schließlich ist mein Leben um einiges bescheidener als seines. Trotzdem hört er mir aufmerksam zu. Alles an mir scheint ihn aufrichtig zu interessieren – die Kinder, meine geschiedene Ehe, meine Hobbys. Erstaunlicherweise aber nicht, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Zum Glück.

Natürlich gibt es ganz andere Jobs, auf die man nicht unbedingt stolz sein sollte (wobei ein anrüchiger Beruf ein bisschen Farbe in meinen doch sehr bescheidenen Lebenslauf bringen würde), aber mit Buchhalterin assoziieren meine Mitmenschen immer nur gähnende Langeweile. Und wer will schon langweilig sein?

Wir nähern uns an – Wort für Wort. Wir reden, diskutieren und flirten. Ich bin erstaunt, dass man sich so schnell mit einem Menschen anfreunden kann, dem man noch gar nicht persönlich begegnet ist. Zu später Stunde träumen wir dann sogar von einer gemeinsamen Reise.

„Eines Tages fliegst du mit mir nach Amerika“, verspricht mir Sergej. „Dann zeige ich dir L.A., New York und San Francisco. All diese wundervollen Orte, die mein Herz höherschlagen lassen.“

Ich giggele wie ein verliebtes Schulmädchen. Was für eine verlockende Vorstellung! Natürlich verschweige ich ihm, dass ich weder das Geld für so eine Reise, noch eine Nanny habe, die meine Kids hütet, während ich mit meinem Liebhaber durch die USA tingele. Jetzt ist die Zeit für Träume, nicht für Fakten.

Nach fünf Stunden versagt mir doch tatsächlich die Stimme, aber meine flatternden Gedanken sind endlich zur Ruhe gekommen. Liegt das an Sergej? An seiner Stimme, die mich betört, gleichzeitig aber auch beruhigt? Eine Stimme, die ich höre, selbst wenn er nicht mit mir spricht ...

Alles wird gut, Fanny. Alles wird gut.

Vielleicht liegt es aber auch an der Ablenkung, die er mir dank seiner spannenden Geschichten bietet. Oder ganz einfach nur an diesem fünfstündigen Telefonmarathon. Wie festgebacken liege ich mittlerweile auf der Couch.

Sergej ist immer noch nicht müde. Woher nimmt der Mann nur diese Energie? Aber schon in vier Stunden wird der Wecker mich erbarmungslos aus dem Schlaf klingeln, und mir bleibt keine andere Wahl, als seinen leidenschaftlichen Wortschwall zu unterbrechen.

„Ich könnte ewig mit dir telefonieren, Fanny. Mir ist, als ob wir uns schon ein Leben lang kennen. Ich glaube … ich verliebe mich gerade in dich.“

Mir wird ganz warm ums Herz, eine wohlige Wärme, die bis in meine kalten Hände und Füße ausstrahlt. Ich fühle mich geborgen, als wäre ich in eine flauschige Decke gehüllt. Ich kuschele mich tief in meine Kissen, um dieses einmalige Gefühl zu intensivieren.

Aber schon meldet sich wieder meine innere Stimme, die alte Nörgel-Tante: Fanny, was soll das Gequatsche? Ihr kennt euch doch noch gar nicht mal. Pass bloß auf! Der Kerl ist ein Womanizer!

Nein, ich bin mir sicher, einen Zauber zwischen uns beiden zu spüren. Ich glaube an die Macht großer Gefühle, und ich glaube an die wahre Liebe.

Aber ich will die Augen natürlich auch nicht vor der Realität verschließen. Sergej ist ein Charmeur. Er ist weit gereist und weltgewandt. Er hatte in seinem Leben, wie auch in seinem Bett, schon viele Frauen. Und er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er weiß, wie er Kunden für sich gewinnt. So wie er weiß, wie man eine Frau für sich gewinnt …

Nein, das will ich ihm nicht unterstellen. Trotzdem kommen mir solche Gedanken in den Sinn, wenn er sagt, er verliebe sich gerade in mich.

Dann ist der Moment des Abschieds gekommen. Sergej will nicht als Erster auflegen. Ich auch nicht. Als könne der Bann gebrochen werden und sich das, was sich zwischen uns abspielt, mit dem Beenden des Telefonats in Luft auflösen.

Ich warte noch Sergejs letztes Goodbye ab, dann lege ich auf. Ausnahmsweise will ich nicht das letzte Wort haben.

Da sitze ich nun auf der Couch und lächele verträumt vor mich hin. Dass ich mich noch mal so fühlen darf! Begehrt, beschwingt und irgendwie auch verliebt. Ist doch verrückt, oder? Natürlich sind mir die Gefahren eines virtuellen Flirts bewusst. In den Träumen bastelt man sich einen Mann zurecht, den es in der Realität nicht gibt. Klar, dass man sich dann auch in diesen Mann verliebt! Dazu sind Traummänner schließlich da. Ach, wie gern wäre ich wieder verliebt … so richtig bis über beide Ohren.

Dabei lag mein weiterer Lebensweg schon glasklar vor mir – ganz ohne irgendeinen Mann. Kinder großziehen, dann ab ins Kloster. Zu den evangelischen Diakonissen.

Nicht dass ich sonderlich gläubig wäre, aber ich habe vor einigen Jahren eine Reportage über eine evangelische Schwesternschaft gesehen und diese Diakonissen wirkten so zufrieden, heiter und positiv, und ich dachte mir – warum nicht? Warum nicht einer religiösen Gemeinschaft beitreten? Ich hätte wieder eine Aufgabe und eine Familie, wenn auch nicht im klassischen Sinn. Und bei den Diakonissen muss man nicht mal in der Ordenstracht rumrennen. Obwohl ich mich wahrscheinlich sogar freiwillig dafür entschieden hätte. Nie mehr zum Frisör, kein Schneiden und Färben und Föhnen mehr, keine ‚Bad Hair Days’ mit Selbstmordgedanken.

Geld gespart, Zeit gespart, Depression erspart! Und alles nur dank einer simplen Kutte.

Ich will mich gerade aufraffen, meinen Hintern von der Couch zu lösen, da zwitschert mein Handy.

Ich habe den Klang deiner Stimme in jeder Sekunde genossen. Begehre dich mehr, als du erahnst.

Wow! Welcher Mann schreibt denn so eine romantische WhatsApp nach einem fünf Stunden dauernden Telefonat?

Ich kann nicht aufhören, vor mich hinzuschmunzeln.

Das hier ist mein Happy Beginning, und ich genieße es in vollen Zügen.

Morgen, gleiche Zeit? Ich freue mich auf dich, Liebste, und wünsche dir sweet dreams.

Oh ja, ich freue mich auch auf ihn, und ich kann es kaum erwarten, so schnell wie möglich wieder seine Stimme zu hören, seine Nähe trotz der Entfernung zu spüren.