Leseprobe Doktorspiele

Die Pimmelparade

Der Schnee lag auf den Schwarzwaldhügeln wie ein großer Doktorkittel. Anfang März und höchste Zeit, den weißen Rock auszuziehen.

„Zieh das Höschen aus!“, sagte Tim.

„Na, gut!“, sagte Lilli, hob ihren Bauch hoch, als baute sie eine Brücke, und zog sich das Höschen runter. Wir guckten uns ihr Ding aus der Nähe an. Sah saukomisch aus.

„Und jetzt du!“, sagte Lilli.

„Ich bin der Doktor!“, sagte Tim.

Lilli guckte mich an. „Ich auch“, sagte ich.

„Der Doktor kann auch krank sein!“

„Das stimmt“, sagte Tim und schlüpfte aus seiner Pyjamahose.

„Nicht du!“, sagte Lilli zu ihm. „Dich kenne ich schon.“ Sie zeigte mit dem Finger auf mich. „Der andere Doktor!“

„Ich bin ganz gesund!“, rief ich.

Tim schüttelte den Kopf: „Alle müssen es zeigen!“

Ich holte mein Ding raus. Lilli beglotzte ein Weilchen meine sechsjährige Nudel und seufzte dann. „Sind die alle so klein?“

„Die wachsen noch!“, sagte ich.

„Bestimmt!“, sagte Tim.

„Glaube ich nicht!“, sagte Lilli.

Die Holztreppe knarrte. Lilli schnappte sich ihre Daunendecke vom Boden und deckte sich zu. Tim und ich sprangen in unsere Betten.

Die Tür unseres Dachbodenzimmers flog auf. „Genug des Faulenzens, ihr Schlafmützen!“, rief Lillis und Tims Mutter Diana. „Ihr solltet langsam mal wieder herunterkommen.“ Sie trippelte nach unten zu Oma und dem Rest der Familie. Wir schlüpften in unsere Klamotten und jagten ihr nach.

Das Wochenende bei Oma verglomm wie eine Wunderkerze. Schon verbrannten wir uns die Finger daran. Der Sonntag. Am Abend würden wir wieder nach Hause fahren. Meine Eltern, meine drei Schwestern und ich nach München, Lilli und Tim mit ihren Eltern nach Kiel. Und am Montag wieder in die Schule.

Schade. Noch hatte ich Lilli meine großen Ausstellungsstücke nicht gezeigt – das Museum hinten auf dem Dachboden. Früher war hier ein Gasthaus gewesen, und Oma schmiss nie was weg. Mein bestes Exponat war ein uralter Nachttopf, in den Goethe geschissen haben soll, als er mal durch den Schwarzwald gewandert war.

Neben der Kackschüssel des Wanderers Goethe stellte ich eine große Tonfigur des Heiligen Jakob auf, weil Oma meinte, der Heilige Jakob sei der Patron der Wanderer. Daneben alte Glasnegativaufnahmen. Die hatte ich auf dem Dachboden unter alten Zeitschriften mit Hitlerfotos vergraben gefunden: eine nackte Frau, leider ganz schwarz – sie war ja ein Negativ. Kann aber sein, dass sie gar nicht nackt war. Sonst hätte das Negativ in Omas Giftschrank gelegen, wo Oma viele krasse Sachen vor mir versteckte.

Aber darüber möchte ich mich jetzt nicht näher auslassen. Damit ihr nicht denkt, meine Oma sei ein Luder gewesen oder ein alter Nazi oder so was.

Auch ein paar Holzbilder mit saufenden Schwaben darauf gab’s in meinem Museum. Auf einem hob ein Mann in einem Jägerhut ein Schnapsglas hoch und sagte:

„Wo’s Saufa a Ehr,

isch’s Kotza koi Schand!“

Lilli wäre von meinem Museum sicher beeindruckt gewesen. Sie schien sich ja sehr für Wissenschaften zu interessieren. Nur leider mussten wir jetzt wieder nach Hause. Dort wollte ich nach dem Mittagessen nie ins Bett gehen. Hier im Schwarzwald bei Oma hat mir das Mittagsschläfchen aber echt Spaß gemacht!

Einen Monat später hatten die Doktoren im Schwarzwald bei uns für immer ausgespielt: Ein Blutgerinnsel aus Omas Krampfadern ist bis zu ihrem Herzen gewandert. Oma konnte immer schlechter atmen.

„Halsentzündung!“, befand der Doktor und wollte das tödliche Blutgerinnsel mit Hustensaft bekämpfen.

Bei Omas Begräbnis kam die Familie zum letzten Mal zusammen. Nur ich fehlte. Mich hatte für zwei Wochen eine echte Halsentzündung hingestreckt. So habe ich seit unserer Pimmelparade meine entfernte Cousine Lilli und ihren Bruder Tim nicht mehr gesehen – ganze zehn Jahre lang.

Jetzt bin ich sechzehn

Hin und wieder fragte ich meine Mutter nach Tim – klar fragte ich damit eigentlich nach Lilli. Mit Tim, dem Pfadfinder, habe ich mich nie sonderlich gut verstanden. Doch Mutter sagte immer wieder dasselbe: „Diana ist nur eine entfernte Cousine von mir! Von dir noch entfernter. Sie wohnen zu weit weg.“

Blödsinn! Kiel liegt ja nicht auf dem Mond. Der Rest der Familie will mit uns einfach nichts mehr zu tun haben. Weil Mama spinnt! Omas Tod hat bei ihr die Hirnwindungen verknotet. Im Traum war ihr Omas Geist erschienen und hatte ihr gesagt, dass Mutter eine Heilerin sei – ’ne Hexe!

„Wenn ich über meine Kräfte Bescheid gewusst hätte“, jammerte Mutter damals, „hätte ich meine Mama retten können.“

Ein klarer Fall! Was soll Lillis Vater als berühmter Hirnchirurg mit einer Hexe anfangen? Die zu allem Überfluss studierte Mediziner als Scharlatane und Quacksalber abfertigt?

Erst vor zwei Jahren hat Mutter ihren Hexenbesen an die Wand gehängt und sich als Naturheilpraktikerin getarnt. „Ich habe mich weiterentwickelt!“, sagt sie.

Das stimmt. Gerade fährt sie auf Engel ab. Sieht die Viecher überall. Das ist bei uns in München aber nichts Ungewöhnliches. In Bayern sind Engel voll im Trend. Wir sind halt etwas föhngeschädigt. Wenn uns der warme Wind aus Italien zuföhnt und die Berge uns bis ins Wohnzimmer glotzen, spinnen wir alle.

Einmal ist ein Typ beim Föhn nackt aus einem Fenster gesprungen. Hat auch gedacht, dass er ein Engel sei, sich aber geirrt: Statt gen Himmel ist er auf die Schnauze geflogen und hat sich dabei zwei Rippen gebrochen. Das hat mein Freund Harry in der Zeitung gelesen.

„Er hätte sich nicht ausziehen müssen“, sagte Harry damals. „Engel im Himmel haben keine Pimmel! Engel haben Mösen! Und Möpse!“

„Oder gar nichts!“, sagte ich.

„Das ist dann aber nicht der Himmel!“, sagte Harry. „Das ist die Hölle!“

Mama hat bei uns, im Osten von München, eine Menge Bewunderer, vor allem Bewunderinnen. Schreibt sogar an einem Buch: „Leih dir die Flügel deines Schutzengels“.

Nur unser Vater glaubt nicht an Engel und Mamas anderes Esozeug, aber er legt sich mit ihr nie an.

Vater verdient kein Geld und ist somit ein Waschlappen! Außerdem ist er Gitarrist und Sänger, aber zu Hause gibt’s für ihn nicht viel zu singen, zu Hause muss er das Maul halten.

Meine achtzehnjährige Schwester Christine will nur eins – heiraten und aus diesem Irrenhaus hier verschwinden. Wie’s unsere älteren Schwestern Danna und Mo schon hingekriegt haben.

Trotzdem lieben wir uns alle. Obwohl … Mama spielt mit unserem Vater schon seit Langem kein Bussi-Bussi mehr, aber er stellt sich bei Frauen auch echt blöd an. Wie die letzte Lusche. Will nur ehrlich sein und zeigt der ganzen Welt damit, wie wenig Ahnung er hat.

Meine Mutter will keinen ehrlichen, unwissenden Mann haben, sie will einen Mann haben, der alles weiß! So wie dieser Scheißvampir … Eeh … Verdammt! Da hab ich was zu früh verraten! Den Vampir darf ich noch nicht bringen, der ist erst später in der Geschichte dran.

Ach, egal! Zumindest habt ihr jetzt eine ungefähre Ahnung davon, was für ein Chaos hier herrscht. Also: Weil mein Vater von nichts ‘ne Ahnung hat, muss meine Mutter immer ihren Schutzengel fragen, wenn sie was wissen will.

Und ich? Ich sehne mich nach den guten alten Zeiten – als Mama noch nicht an Engel und Geister glaubte und Papa Geld verdiente und sich hin und wieder seinen Stoff kaufen durfte, uralte Bücher, von denen sein Zimmer aus allen Nähten platzt und im Keller einige hundert Bananenkisten voll gestapelt sind. Nach etwas Handfestem sehne ich mich, nach Lillis Möse und so – sie ist jetzt ja auch sechzehn. So wie ich.

Quatsch! Klar denke ich nicht an Lilli. Ich denke an Katja aus unserer Parallelklasse, der 10b. Schon seit einem halben Jahr denke ich an sie, seit dem Winter.

Damals fror ich mir an der Busstation vor den Perlacher Einkaufspassagen, dem PEP, einen ab. Hatte kurz davor gebadet, und mein nasses Haar war zu einer Eismütze gefroren – hätte mir gar kein Gel ins Haar schmieren müssen.

Eine normale Mütze trage ich nicht, weil ich blöd bin, wie Mutter sagt. Wozu auch eine Mütze? Die macht dir nur die Frisur kaputt. Und ich wollte zu einer Party.

Saukalt war’s! Wann würde der blöde Bus kommen, verdammt? Auf der anderen Seite der Stationsinsel hielt ein 55-er an. Im Bus hockte Katja aus der 10b und machte das Busfenster schön – mit einer Eisblume!

Eine Strähne ihres blonden Haars fiel ihr vor die Augen. Sie schob das Kinn ganz nach vorne, stülpte die untere Lippe heraus und versuchte, die Haarsträhne so von unten mit dem Mund wegzublasen. Dann guckte sie weiter vor sich hin, kein einziges Mal schaute sie zu mir hinaus, nur vor sich hin guckte sie – so wie ich es auch manchmal mache.

Echt! Manchmal find ich keinen einzigen Gedanken im Hirn, und so glotz ich halt nur vor mich hin. Das wird bei Katja nicht viel anders sein. Sie ist sechzehn wie ich und spielt Volleyball – sie muss nicht viel denken.

Wie sie also vor sich hin glotzte, hob sie ihren Zeigefinger und bohrte sich damit in der Nase, als wäre sie auf Schatzsuche. Das haute mich echt um. Hab mich in sie sofort verknallt. Keiner kann sich so schön in der Nase bohren wie Katja! Bin ich etwa pervers?

Neue Medizin

Ich klimperte etwas auf Papas elektrischer Gitarre, nur so, ohne sie anzuschließen. Meine Mutter hätte mich glatt enterbt, wenn ich so früh am Morgen die fünfhundert Watt aus meiner Anlage voll aufdrehte und einen auf Rock im Park machte. Ich guckte auf die Uhr. Halb acht! Fuck! Ich flitzte runter.

„Hier! Nimm die zwei Phosphor-D30-Globuli, Andi!“, sagte Mama. „Du siehst ganz schön blass aus!“

„Aber Mama“, sagte ich. „Ich will keine homöopathischen Pillen mehr essen. Ist sowieso nur Zucker drin!“ Das hat mir mein Vater gesagt, aber ich darf ihn nicht verraten, sonst flippt Mama aus und knöpft ihn sich vor. Ich kann so ’nen Spruch locker bringen. Mich liebt die Mutti. Ich bin ja ihr Sohn.

„Zumindest schaden die Pillen nicht!“, sagte meine Mutter.

„Wenn ich sie weiterhin kiloweise futtere, werd ich davon noch zuckerkrank!“

„Na, schluck sie schon runter!“ Sie hielt mir die zwei kleinen weißen Kügelchen hin. „Ach übrigens, meine Cousine Diana und ihr Mann fahren für zwei Wochen nach Amerika.“

„Die Eltern von Lilli und Tim? Die aus Kiel?“

„Ja, genau die“, antwortete Mama. „Stell dir vor, Dianas Mann hat für seine Quacksalberei einen Preis gewonnen, den bekommt er in New York verliehen.“

„Woher weißt du das mit dem Preis?“, fragte ich. „Du hast doch keinen Kontakt mehr zu deiner Cousine!“

„Sie hat mich selbst angerufen. Lilli können sie nicht mit in die USA nehmen. Und Tim ist im Sommer bei den Pfadfindern in der Schweiz.“

„Bei den Pfadfindern? Der muss jetzt doch schon siebzehn sein!“

„So sind die Preußen nun mal! Die halten gern an ihren Gewohnheiten fest.“

„Und warum hat sie dich angerufen?“

„Diana? Sie hat mich gefragt, ob Lilli die zwei Wochen bei uns verbringen könnte.“

„Hä?“ Meine Fresse! Lilli sollte bei uns wohnen? Lilli? Die mir mal gesagt hatte, dass mein Pimmel zu kurz ist? Die erzählt hier sicher den ganzen Leuten aus meiner Schule, wie wir früher mal Doktor gespielt haben. Wenn unsere Mädels das über meinen Kurzen erfahren, bin ich hier ganz unten durch! Bei Katja auch! Scheiße! „Sie kommt echt zu uns?“, hakte ich nach.

„Ja!“, sagte meine Mutter. „In zehn Tagen. Gleich am Anfang der Ferien. Am Samstag nach dem letzten Schultag. Diana und ihr feiner Chirurg haben keinen aufgetrieben, bei dem sie Lilli unterbringen konnten. Jetzt ist ihnen auch eine ganzheitliche Heilerin gut genug!“

Boah! Schock, Schock! „Gib mir die Pillen!“, sagte ich, schluckte die zwei Zuckerkügelchen runter und trottete aufs Klo.

„Zwei weitere nimmst du noch mittags in der Schule!“, rief sie mir nach. „Und bring mir eine Harnprobe mit!“

„Nö!“, sagte ich. Die Harnprobe konnte sie sich abschminken. Mit so was hat sie mich schon mal in den Wahnsinn getrieben:

Kurz nach Omas Tod hatte Mama mich und meine drei Jahre ältere Schwester Christine zu einer russischen Geistheilerin getrieben. Wegen unseres Nasenblutens. Bei der Gelegenheit wollte Mutter sich bei der Alten was abgucken. Sie hatte vor, mit ein paar anderen Geschädigten für ein Gruppenseminar dort zu bleiben. Mich und Christine sollte mein Vater nach unserer Behandlung nach Hause fahren.

Die fette ukrainische Blonde packte meine Hand, sagte „hmm …“, und leckte mir den Zeigefinger ab. Das Gleiche bei Christine. Dann schüttelte die Olle den Kopf, zischte wie ’ne Kobra, „tzs, tzs …“, und guckte unseren Vater recht betrübt an. „Junge haben große Problem mit Schilddrüse!“, sagte sie. „So wie du!“

„Ich hab kein Problem mit der Schilddrüse!“, sagte mein Vater. „Ich hab überhaupt kein Problem. Ich bin nur da, um die Kinder nach Hause zu bringen.“

„Du musst bei mir auch behandeln!“, sagte sie. „Schau! Junge Hand warm und salzig. Das Schilddrüse. Mädchen Hand kalt und nicht salzig!“

„Das kann ich Ihnen gleich erklären!“, sagte Vater. „Die Kinder waren vorhin pieseln. Sicher hat sich Andi die Finger bepinkelt und vergessen, sich die Hände zu waschen. Deswegen sind seine Finger warm und salzig. Christine hat sich die Hände wohl mit kaltem Wasser gewaschen. So sind ihre Finger kalt und nicht salzig.“

„Was du sagen?“, brüllte die Geistheilerin. Ist echt ausgeflippt, die Alte. Wollte nicht mal unsere Mutter behandeln.

Zu Hause hat Mama dann meinen Vater zur Sau gemacht. Seitdem passt er auf, was er zu Mamas Spinnereien sagt. Wenn er rummäkelt, gibt’s keine Krapfen. Und ich gebe seitdem keine Harnproben ab. Ich weiß, was die Geistheiler damit anstellen.