Leseprobe Die Wogen des Schicksals

Prolog

Effie

Bath, England

Februar 1785

»Du hast dich verändert, Eliza. Wo ist die Frau, die sich immer gegen die Gesellschaft und ihre Normen auflehnte?« Effie stellte die Teetasse auf das verzierte Tischchen vor sich und hoffte, ihre Schwester deutete den vorwurfsvollen Ton korrekt.

Sie fühlte sich fehl am Platze in der Stadt, in diesem eleganten Herrenhaus. Allein das gute Kleid, das sie hier anziehen musste, trug einen großen Teil zu dem Unwohlsein bei. Die Rolle unter dem aufgeplusterten Rock behinderte bequemes Sitzen, und die eng geschnürte Taille drückte ihr die Luft ab, sodass sie trotz der Kühle des hohen Raumes ins Schwitzen geriet.

Eliza hingegen schien an dieser zwanghaften und unpraktischen Tradition mit aller Macht festhalten zu wollen.

»Ich bin erwachsen geworden«, erwiderte ihre Schwester kühl. Sie wirkte fremd auf Effie mit dem voluminösen Rock und der hochgestellten Frisur, die zu errichten gewiss Stunden in Anspruch nahm. »Außerdem war ich nie so extrem wie du.«

Effie lachte leise. »Nicht extrem? Du hattest immerhin ein uneheliches Verhältnis mit einem Freibeuter.«

Eliza riss erschreckt die Augen auf. »Psst, nicht so laut, Elfreda!«, zischte sie zwischen den Zähnen hervor. »Wenn uns jemand hört! Du weißt doch, wie geschwätzig das Dienstmädchen ist.« Sie wedelte sich mit der behandschuhten Hand Luft zu. »Abgesehen davon war er damals noch ein einfacher Seemann und wollte mich heiraten, nachdem ich schwanger wurde.«

»Und warum hast du es abgelehnt? Das werde ich nie verstehen können, er war ehrgeizig und ein Bild von einem Mann.« Effie presste die Lippen zusammen. Sie erinnerte sich noch heute an die Hitze in ihren Wangen, als sie Mr Farson zum ersten Mal sah. Die dunklen Haare, und darunter dieser Blick seiner blauen Augen, die an das Meer erinnerten. »Zudem hat er dich wirklich geliebt. Ihr beide saht immer sehr glücklich aus.« Sie verdrängte rasch die aufflammende Eifersucht.

»Ach, Effie, du und deine Schwärmereien.« Ihre Schwester winkte ab. »Ich war jung und dumm und beging mit dieser Affäre einen großen Fehler. Als ich ein Kind erwartete, wurde mir klar, dass Liebe allein in der heutigen Zeit nichts zählt. Was hätte aus mir werden sollen? Er war fast mittellos, noch dazu ständig auf See. Solch ein Leben konnte und wollte ich weder mir noch meiner Tochter zumuten.« Trotz des kühlen Tonfalls bildete Effie sich ein, ein leichtes Bedauern herauszuhören.

»Du hast Liliana doch immer nur als ein Klotz am Bein betrachtet.«

»Jetzt gehst du aber zu weit!« Eliza stellte mit einer Wucht die Teetasse auf den Tisch, dass es klirrte und braune Flüssigkeit auf den Unterteller schwappte. Ihre hellbraunen Augen wurden schmal.

Effie bedauerte die harten Worte, doch der eisige Stich der Eifersucht verwehte den Anflug von Mitleid. »Du hast einen Mann geheiratet, der von dir verlangte, dein Kind zu verleugnen.«

»Ich kann froh sein, dass er mich überhaupt genommen hat, nachdem er von meiner Vergangenheit erfahren hatte.« Eliza blickte sie mit erhobenem Kinn an. Ihre Stimme blieb jedoch gedämpft und der hastige Blick zur Tür zeigte, dass sie noch immer Lauscher fürchtete. »Was hätte aus mir werden sollen? Eine unverheiratete Frau mit Kind! Ich hätte mit Liliana in Schande gelebt. Wir wären Aussätzige gewesen …«

Effie war noch immer nicht überzeugt. Sie erinnerte sich daran, wie scheu und unsicher Elizas kleine Tochter bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, wie sie sich stets bemüht hatte, ihrer Mutter zu gefallen und ihr gerecht zu werden … bei ihr bleiben zu dürfen. Sie schüttelte abweisend den Kopf. »Du hast dich der Gesellschaft gebeugt, die du selbst immer so sehr verachtet hast.«

»Ich bin lediglich von meinen kindlichen Tagträumen erwacht. Sollte ich so enden wie du? Verschrien als alte Jungfer?«

Effie sprang empört auf. Der schwere, roséfarben gepolsterte Sessel aus Eichenholz fiel beinahe um. »Aber um deine Tochter zu mir zu nehmen und für sie zu sorgen, dazu war ich gut genug?«

Eliza hob die Arme und stand ebenfalls auf. »Es tut mir leid, Effie«, sagte sie beschwichtigend und nahm ihre ältere Schwester an den Händen. »Es ist wirklich nicht einfach für mich gewesen, Liliana aufzugeben. Ich bin dir sehr, sehr dankbar für alles, was du für sie getan hast. Aber du musstest dein Leben ja in keiner Weise umstellen.«

Effie schnappte nach Luft. »Mit einem Kind muss man sein Leben sehr wohl umstellen!« Einen Mann fand man dann auch nicht mehr so einfach. Diesen Gedanken sprach sie jedoch nicht laut aus. Es wäre zu unangenehm.

»Du hast dafür das Gut unserer Eltern bekommen«, sagte ihre jüngere Schwester und nahm wieder auf dem Sessel Platz. »Und Richard zahlt immerhin für Lilianas Unkosten.«

»Schweigegeld.« Effie pustete abwertend eine ausgebüxte Strähne aus der Stirn, setzte sich aber ebenfalls.

»Ich bin nun mal nicht so wie du«, rechtfertigte Eliza sich empört, doch es klang nicht überzeugend. Zu gespielt. Sie zog einen Schmollmund und stemmte ihre rüschenbehangenen Arme in die geschnürte Taille. »Ich ließ mich früher von dir leiten, aber es war nicht das Leben, das ich mir tatsächlich gewünscht hatte. Richard ist ein guter Mann. Er sorgt für mich und macht mir nie Vorwürfe wegen meiner Vergangenheit.«

»Doch er verlangte von dir, dass du dein Kind verleugnest.«

»Was hätte er denn sonst tun sollen? Er ist ein angesehener Offizier. Du weißt doch, wie die Leute reden. Sie war nun mal schon viel zu alt, um als Richards Tochter durchzugehen, und hier im eher beschaulichen Bath kannte mich niemand. Liliana ist doch sehr gut aufgehoben bei dir, bei ihrer Familie. Du bist ihre Tante, und du wolltest immer Kinder.«

»Ich beschwere mich ja nicht, Liz.« Im Gegenteil, im Grunde ihres Herzens war Effie überglücklich, das Mädchen bei sich zu haben. Ihre Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen und ihre Extravaganz hatten sie bis auf wenige sehr gute Freunde allein bleiben lassen. Obgleich dies ihre eigene Wahl gewesen war, freute es sie, jemanden zu haben, für den sie sorgen konnte. Es gab ihrem Leben einen tieferen Sinn.

Sie liebte Liliana wie eine Tochter, und dennoch, oder gerade deswegen, konnte sie die Beweggründe ihrer Schwester nicht nachvollziehen. Sosehr diese Situation auch zu ihren Gunsten war, Effie wollte einfach nicht verstehen, wie jemand sein eigenes Kind weggeben konnte. Noch dazu für einen Mann, für den man zwar Freundschaft und Respekt, jedoch keine Liebe empfand. Dafür sprachen nicht nur die weitere Kinderlosigkeit und getrennte Schlafzimmer, sondern auch das distanzierte Verhalten ihrem Gatten gegenüber. Dabei hatte Eliza einst wahre Liebe kennengelernt. Diese Tatsache machte alles für Effie noch unbegreiflicher.

»Wie dem auch sei«, schien Eliza die Diskussion beenden zu wollen. »Wir können es nicht länger hinausschieben. Liliana wird im nächsten Monat bereits neunzehn und ist längst zu einer Frau herangereift. Wenn wir nicht bald einen Mann für sie finden …«

»Wir werden gar nichts für sie suchen, sie soll ihren Weg gehen, auf eigenen Beinen stehen, und wenn, aus wahrer Liebe heiraten …«

»Und so enden wie du?«

Effie hob stolz das Kinn. »Wenn sie das möchte.«

»Ich weiß wohl am besten, was gut für sie ist.«

»Du hast dich all die Jahre kaum um sie gekümmert und willst auf einmal ihr Leben bestimmen?«

Eliza rümpfte die Nase. »Ich konnte mich nicht kümmern, aber ich habe sie nie verlassen und kann ihr dadurch nun viele Möglichkeiten bieten.« Ihre Augen weiteten sich enthusiastisch. »Der Sohn von Richards Schwester zum Beispiel, er ist kaum älter als sie und wird das Geschäft seines Vaters übernehmen. Sie kann ihn doch wenigstens einmal kennenlernen. Was spricht dagegen?«

Effie schwieg. Sie wusste, dass Eliza ihre Tochter nur finanziell versorgt und abgesichert sehen wollte, doch dieses einst so lebensfrohe Mädchen in eine Heirat ohne Liebe zu drängen, schien ihr falsch. Normal oder nicht, sie würde es nicht übers Herz bringen.

»Effie«, ihre Schwester ergriff ihre Hände. »Mach dir nicht einen solchen Kopf deswegen. Du hast doch selbst erfahren müssen, wo kindliche Träumerei und naive Romantik hinführen … und ich ebenso! Er ist wirklich zuvorkommend und wohlerzogen. Sie kann sich gewiss arrangieren und sehr glücklich mit ihm werden.«

Effie schüttelte betrübt den Kopf. Sie war es müde, mit ihrer Schwester weiter über dieses Thema zu diskutieren. Sie wollte ihre Kräfte nicht unnütz vergeuden und den letzten Tag in der Stadt noch ein wenig genießen. Die lange Kutschfahrt zurück aufs Land am nächsten Tag würde anstrengend genug werden.

Ihr Blick wanderte zum Fenster und von dort über die Straße. Winzige Schneeflocken wirbelten lautlos in der Luft umher und ließen sich auf den Kleidern der wenigen Passanten nieder. Die Nüstern der Pferde dampften, während sie über das Kopfsteinpflaster trabten.

Liliana

Wiltshire, England

April 1785

Liliana hatte den ganzen Nachmittag mit Ben neue Beerensträucher gesetzt und erhob sich nun erschöpft vom letzten Beet. Sie zog die Handschuhe aus und strich sich über die Stirn. »Ich werde morgen gewiss jeden Muskel spüren.«

Ben lachte. Der breitschulterige ältere Mann war die Seele des Landguts, er kümmerte sich um alles, vom Gärtnern bis zum Bereiten der Pferde. Effie erwähnte oft, dass sie verloren wäre ohne seine Hilfe. »Wenn Ihre Tante erst einmal die leckeren Kuchen und Gelees davon macht, ist alles vergessen.«

Liliana lächelte. »Ganz sicher. Ich hoffe, sie tragen diesen Sommer schon.«

Sie winkte Ben zu und ging müde, aber gut gelaunt vom großen ummauerten Garten zum Gutshaus zurück.

Auf dem Weg setzte sie sich noch kurz auf die kleine verzierte Holzbank vor dem Pavillon. Die Tulpen und Narzissen davor blühten im frühlingshaften April bereits in Gelb und Weiß und erfüllten die Landschaft mit frischer Farbe und Blütenduft. Lächelnd schloss sie die Augen und ließ die Frühlingssonne ihr Gesicht wärmen.

Wie gut sie es doch hatte, hier bei ihrer Tante. Keine unter ständiger Beobachtung stehende Stadtgesellschaft, in der man sich nach strengen Regeln benehmen und rüschenüberladene Kleider mit Schnürmiedern sowie alberne Perücken oder Frisuren tragen musste. Zwar zeigten die Privatlehrer, die Mutter für sie bezahlte, eine gewisse Strenge, aber damit kam sie zurecht. Hier auf dem Gestüt durfte sie sich frei bewegen, mit den Mädchen im Dorf befreundet sein und sogar rittlings reiten, wenn kein Gast zugegen war. Auf dem Land mit all den Tieren um sich herum war sie glücklich.

Ein wenig trauerte sie dennoch ihrer Kindheit nach. Sie sah, wie ihre Freundinnen inzwischen ihre Zukunft mit Ehemann und Kindern planten. Einige hatten sich sogar bereits verlobt. Sie wollte all dies nicht, hatte andere Träume.

Zwei Herzen schlugen in ihrer Brust. Sie war hin- und hergerissen. Das eine Herz war das des kleinen Mädchens in ihr, das weiter hier bei ihrer Tante und den Pferden leben wollte. Für ewig frei und ungebunden sein, ohne die Verantwortung der Erwachsenen tragen zu müssen.

Das andere war voller Feuer und Tatendrang. Es schrie nach Abenteuern, wollte ausbrechen aus dem gewohnten Leben, die Welt bereisen, fremde Menschen und Länder kennenlernen.

Sich niederzulassen und eine Familie zu gründen, danach verlangte jedoch nichts in ihr.

Warum erging es ihren Freundinnen nicht auch so? War sie selbst anders oder verdrängten diese ihre wahren Gefühle nur?

Seufzend erhob sie sich und setzte den Weg zum Haus fort.

Auf dem Hof begrüßten sie die beiden Deerhounds fröhlich. Liliana gab besonders dem alten Rover noch ein paar Streicheleinheiten, bevor sie sich am Brunnen die Erde von Händen und Gesicht wusch und in das Wohnhaus ging.

Als sie das Foyer betrat, hörte sie Stimmen aus dem Kaminzimmer. Hatten sie Besuch? Es stand doch gar keine Kutsche im Hof. Sollte sie sich noch schnell umziehen? Das einfache Kleid aus dünnem Leinenstoff wies Falten und einige Erdflecken auf. Auch ihre Haare rutschten bereits aus dem Zopf und eine Haube trug sie ebenfalls nicht.

Neugierig spitzte sie die Ohren. Ihre Tante Effie unterhielt sich mit einem Mann, dessen Tonfall ihr vertraut vorkam, doch sie konnte ihn nicht einordnen.

»Tante Effie? Bist du da?«, rief sie vorsichtshalber noch im Flur. Liliana wollte nicht unbemerkt in ein Gespräch hereinplatzen, das wäre unhöflich.

Die Stimmen verstummten und erst nach einem seltsam langen Augenblick antwortete Effie ungewohnt tonlos: »Komm zu uns, Schätzchen. Ich möchte dich jemandem vorstellen.«

Liliana vergaß vor Neugier ihr Aussehen und betrat das Empfangszimmer. Mit großen Augen betrachtete sie den fremden Mann, der ihrer Tante gegenüberstand. Es war ein Gentleman mittleren Alters in eleganter Kleidung mit Umhang und Kniehosen. Alles in Schwarz mit goldenen Knöpfen und Schnallen. Den Dreispitz hielt er vor Effie höflich in der Hand.

Etwas an den Zügen des glatt rasierten Gesichts wirkte vertraut, doch sie vermochte nicht zu sagen, an wen er sie erinnerte.

Der Mann stand einfach da und starrte sie derart forschend an, dass Liliana etwas mulmig wurde. Ihr unangemessener Aufzug vor diesem eleganten Herrn kam ihr erneut in den Sinn, doch er schien ihre Kleidung gar nicht wahrzunehmen, sondern betrachtete nur ihr Gesicht.

Konnte das sein? Der Fremde hatte dunkle, fast schwarze Haare, die im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden waren, doch seine Augen waren stahlblau wie die ihren.

»Hallo, Lily«, sagte er mit gepresster Stimme und schluckte hart. »Erkennst du mich wieder?«

Lilianas Augen wurden feucht, und ohne darüber nachzudenken, ob ihre Vermutung richtig sein mochte, flüsterte sie: »Vater?«

Der Mann nickte. Er breitete die Arme aus und Liliana flog hinein. Die Tränen flossen, während ihr gesamter Körper bebte. Wie sehr hatte sie sich nach ihm gesehnt und gehofft, dass er irgendwann wiederkommen würde! Eine Erwartung, die sie mit den Jahren fast aufgegeben hatte.

»Vater«, schluchzte sie, mehr bekam sie nicht über die Lippen.

Er hielt sie fest an sich gedrückt und strich ihr über die langen Haare. »Meine Kleine«, flüsterte er. »Wie sehr hab ich dich vermisst – und wie groß und erwachsen du geworden bist.«

Langsam löste sie sich aus der Umarmung. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und blickte ihn sodann mit gerunzelter Stirn an. Ihre Erziehung kam ihr in den Sinn, sie hätte sich nicht derart gehen lassen sollen. »Weiß Mutter, dass Sie hier sind, Mr Farson?«

»Nein. Es ist auch besser, wenn sie es nicht erfährt.«

»Wollen Sie sie nicht wiedersehen?«

Er zögerte mit einer Antwort.

Effie trat dazwischen. »Ich denke, das ist ein Thema für nach dem Essen. Lass Jack erst einmal ankommen.«

»Schon gut.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Meine Tochter hat ein Recht darauf, alle Fragen beantwortet zu bekommen. Aber setzen wir uns erst.« Er legte seinen Hut zur Seite und nahm zusammen mit Liliana auf dem mit grünem Samt gepolsterten Sofa Platz. Effie setzte sich in den Sessel daneben.

Jack umfasste Lilianas Hand. »Zuallererst möchte ich, dass du eine vertrautere Anrede verwendest. Ich bin Jack, dein Vater. Ich verabscheue diese Distanziertheit unter Freunden oder Familienmitgliedern.«

Liliana nickte, auch wenn sie wusste, dass es ihr schwerfallen würde. Immerhin besaß sie kaum eine klare Erinnerung an diesen Mann, den sie seit über zehn Jahren nicht gesehen hatte. Er wirkte so fremd …

Ihr Vater blickte sie mit ernster Miene an. »Um zu deiner Frage zurückzukehren: Nein, Eliza informierte ich nicht über diesen Besuch.« Er atmete tief durch. »Ich habe nicht das Verlangen, die Person, die deine Mutter heute verkörpert, wiederzusehen.«

Liliana schaute betreten zu Boden. Sie wusste, dass sie nur eine Last für ihre Mutter war. Dachte ihr Vater ebenso? Der Mann, den sie als Kind so bewundert und nach dessen Rückkehr sie sich jahrelang gesehnt hatte?

Mit einem strengen Blick sah sie auf. »Wo warst du all die Jahre? Warum hast du uns alleingelassen?« Es kam anklagender aus ihrem Mund als beabsichtigt.

Ihr Vater blickte sie lange an. Seine stahlblauen Augen schauten so sanft, dass Liliana kaum zu schlucken vermochte. Die Hand auf ihrer wog schwer. »Ich habe dich nicht verlassen, sondern gesucht, Liliana«, sagte er mit deutlich bebender Stimme. »Ich habe dich überall gesucht.«

»Was?« Sie stutzte. »Ist das wahr?«

»Ich wusste nicht, dass du hier auf dem Land bei Effie bist. Ich lernte Eliza in Bristol kennen. Sie hatte mir zwar einst von einem Landgut berichtet, das ihren Eltern gehörte, doch niemals, wo genau es sich befindet. Deine Mutter erzählte mir bei meinem letzten Treffen vor gut zehn Jahren nur, dass sie dich zu Pflegeeltern gegeben habe, und ich glaubte ihr.« Der Druck auf Lilianas Hand nahm zu. Er sah sie direkt an. »Ich hatte ihr gesagt, dass ich für dich sorgen würde, aber das schien ihr nicht recht zu sein.« Jack schloss kurz die Augen.

»Aber warum hat es so lange gedauert? Bis heute!« Liliana wollte es nicht derart vorwurfsvoll klingen lassen, doch dieses düstere Grübeln, das sie in all diesen Jahren begleitet hatte, erwachte in seiner Anwesenheit zu neuem Leben. Die ewigen Schuldgefühle, die sie peinigten … Die Suche nach dem Grund, warum ihre Eltern sie nicht bei sich behalten wollten. Vor allem ihr Vater, dieser geheimnisvolle Mann, der ihr stets solch wundervolle Geschenke aus aller Welt mitgebracht hatte. Bei seinen Besuchen hatte sie sich niemals überflüssig oder lästig wie ein Kind gefühlt, das die kostbare Zeit der Erwachsenen stahl oder ihrer Mutter jede Möglichkeit eines angenehmen Lebens raubte. Er gab ihr das für sie seltene Gefühl, eine im Mittelpunkt stehende Prinzessin zu sein. Und dann hatte dies alles ohne Vorwarnung geendet.

Jack lächelte schwach bei ihrem vorwurfsvollen Blick. »Ich könnte mich nun herausreden und behaupten, ich sei viele Jahre auf See gewesen, lange Zeit in Asien und Afrika. Die seltenen Tage hier in England seien gefüllt gewesen mit Aufträgen und Terminen …« Seine Stimme wurde leise. »Die Wahrheit lautet jedoch: Es war eine Flucht.« Er atmete tief durch. »Aber nun habe ich dich wieder und bin sehr erleichtert, dass du lebst und es dir gut geht.« Er tätschelte leicht ihre Hand, als würde der letzte Satz jegliche Fragen beantworten und die Unterredung abschließen.

Liliana ließ sich darauf ein. Sie verscheuchte die düsteren Gedanken und wendete sich dem glücklichen Moment zu. Ihr Vater war zurück und wohlauf; saß neben ihr. »Wie lange kannst du bleiben?«

»Leider nicht lange. Ich muss wieder zum Hafen, wir haben eine wichtige Reise vor uns. Aber das gibt uns dennoch etwas Gelegenheit, die versäumte Zeit nachzuholen.«

Liliana strahlte. Ihr Herz begann vor Freude zu klopfen. »Ich bin so froh, dich zu sehen! Ich wollte noch ausreiten heute Abend, kommst du mit? Dann kann ich dir ein wenig von meiner Heimat zeigen.«

»Liebes«, warf ihre Tante ein. »Dein Vater ist gerade mehrere Stunden hierhergeritten. Ich denke nicht, dass er weiter im Sattel sitzen …«

Jack winkte ab. »Ich würde gerne noch einen bequemen Ausritt mit meiner Tochter unternehmen.«

»Aber erst mal wird zu Abend gegessen«, mischte sich Effie heiter ein und klatschte in die Hände. »Anna ist schon bei den Vorbereitungen.«

***

Nach dem Essen holte Ben Jacks Fuchswallach und Lilianas hübsche Schimmelstute in den Hof.

Liliana war froh, dass der alte Mann ihr Pferd mit dem Damensattel bestückt hatte, wie immer, wenn Besuch zugegen war, und zwinkerte ihm dankend zu. Auch wenn sie es verabscheute; vor ihrem Vater rittlings zu reiten wie ein Kind, wäre ihr doch unangenehm gewesen. Sie wollte erwachsen und damenhaft wirken.

Jack half ihr sogar galant auf die Stute, bevor er selbst auf den Wallach stieg, was ihre Stimmung weiter hob.

Das Wetter spielte ebenfalls mit. Die Abendsonne färbte die hügelige Landschaft Wiltshires in ein sanftes Orange.

»Du bist eine hervorragende Reiterin«, staunte ihr Vater, als sie zusammen über die Wiesen trabten.

Liliana lächelte kokett. »Ganz so schlecht bist du aber auch nicht. Für einen Seemann …«

Jack lachte und ließ seinen Wallach in Schritt übergehen. »Brrr. Keine gekünstelten Komplimente bitte, ich kenne meine Grenzen.« Er winkte ab. »Ich habe lieber Schiffsplanken unter mir, Pferde dienen lediglich der schnelleren Fortbewegung auf dem Land. Der Gaul hier ist auch nur gemietet.«

»Rede nicht so abfällig über diese herrlichen Tiere!« Sie hob tadelnd den Zeigefinger. »Ich bin mit Pferden aufgewachsen. Effie bildet Reit- und Fahrpferde auf dem Gut aus, seit die Zucht reduziert wurde. Lady hier ist meine Freundin, ich kenne sie, seit sie ein Fohlen war.« Sie tätschelte der Stute den Hals. »Deine Tochter ist nun einmal eine echte Landratte.«

»Das ist in der Tat verwunderlich … bei einem waschechten Kapitän als Vater.«

»Du bist inzwischen Kapitän?« Lilianas Augen weiteten sich. »Hast du auch ein eigenes Schiff?«

Jack lachte laut auf. »Nein, ich befehlige ein Ruderboot! Natürlich habe ich ein Schiff!«

»Aber gehört es dir auch so ganz oder fährst du es nur?«

»Ich bin in der Tat der stolze Besitzer. Sie ist eine Fregatte und meine treue Gefährtin. Ihr Name lautet Nemesis

»Nemesis?« Liliana legte die Stirn in Falten. »Die Göttin des gerechten Zorns? Das klingt sehr düster. Hast du sie so genannt?«

»Ja. Es erschien mir passend zu der Zeit. Ich spielte mit dem Gedanken, sie Liliana zu taufen, wollte deinen Namen jedoch nicht mit meinen Geschäften in Verbindung bringen.« Ein seltsames Lächeln legte sich auf sein Gesicht, das Liliana nicht zu interpretieren vermochte.

»Ich würde sie gerne mal in natura sehen, deine Nemesis

»Das lässt sich gewiss einrichten.«

»Wirklich?« Sie zügelte die Stute und starrte ihren Vater mit offenem Mund an. Das Abenteuerherz in ihr begann heftig zu klopfen. Doch dann meldete sich das kleine Mädchen warnend, und sie besann sich. Das musste ein Scherz gewesen sein. »Könnte ich mit dir auf Fahrt gehen?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein, das ist leider unmöglich.«

Sie schluckte betreten. »Frauen an Bord bringen Unglück, nicht wahr?«

Jack lachte herzhaft auf. »So ein Unfug. Ich lasse mir gewiss nicht von einem Aberglauben vorschreiben, wen ich mit auf mein Schiff nehme und wen nicht. Meine Leute können sich benehmen. Außerdem haben wir eine Köchin an Bord – wenn auch sie nicht mehr so begehrenswert jung ist –, und ab und zu nehmen ein paar der Männer ihre Ehefrauen oder Liebschaften mit auf Fahrt. Meine Mannschaft ist recht klein für solch ein Schiff, es sind alles zivilisierte Leute und Freunde, zumindest der Führungsstab. Wer von den kurzzeitig angeheuerten Seemännern Ärger macht, muss am nächsten Hafen das Schiff verlassen. Du brauchst also diesbezüglich keine Angst zu haben.«

»Warum darf ich dann nicht mitfahren?«

»Weil ich kein Passagierschiff durch die Gegend schippere, sondern eine Fregatte kommandiere.« Sein Tonfall wurde fest, beinahe energisch. »Auf dem Meer ist es gefährlich, man ist Stürmen oder gar Kämpfen ausgesetzt. Da darf kein Ungeübter im Weg herumstehen.«

Liliana presste die Lippen zusammen und hatte das Gefühl, um einige Jahre zu schrumpfen vor diesem Mann. Seine Worte klangen hart, aber natürlich würde ihre Anwesenheit die Arbeiter auf einem Schiff nur behindern. Wie ungebildet und naiv sie wirken musste. Sie versuchte, sich das Deck mit all dem Trubel vorzustellen, und sah auf. »Wie groß ist deine Mannschaft?«

»Die Nemesis ist nicht gerade klein.« Ihr Vater richtete seinen Oberkörper auf, als erfüllte ihn Stolz beim Erzählen. »Sie hat zwei Decks und ist für bis zu vierhundertfünfzig Besatzungsmitglieder ausgelegt, doch so viele werden nicht zwingend benötigt, wenn man in keinen Krieg zieht. Da nutzen wir lieber den Raum für Frachten. Würde auch sonst verdammt eng werden.«

»Vierhundertfünfzig Menschen auf einem einzigen Schiff?« Liliana kannte ganze Dörfer, die weniger Leute beherbergten.

»Das ist nicht allzu viel, es gibt Dreidecker-Fregatten mit achthundertfünfzig Mann, die HMS Victory der königlichen Marine zum Beispiel. Die benötigen viel Platz für die Soldaten. Aber wie gesagt, man hockt sich dann wirklich sehr auf der Pelle. Das hält nicht jeder aus. Für eine bequeme, ereignislose Fahrt brauche ich lediglich fünfzig bis sechzig Mann. Allerdings dürfen dann nicht viele Kräfte ausfallen, sonst müssen die anderen rund um die Uhr ackern. Daher segle ich in der Regel mit einer Mannschaft von etwa hundert bis hundertfünfzig. Die leitende Besatzung besteht aus knapp zwanzig Seelen, alle gut ausgebildet und Meister ihres Fachs. Etwa die gleiche Menge an Männern steht mir bei Bedarf zur Verfügung. Hinzu kommen einfache Matrosen und Schiffsjungen, die wir zusätzlich anheuern. Einige bleiben länger, andere gehen nach der Fahrt wieder ihrer Wege.«

Liliana lenkte ihre Stute neben den Wallach und hing gebannt an den Lippen ihres Vaters. Dies alles klang wie eine völlig neue und unbekannte Welt für sie. »Ist das nicht riskant, eine immer wechselnde Mannschaft zu haben?«

»Nein, die Kernmannschaft kenne ich gut und ich vertraue denen vollkommen. Falls unter den neuen Matrosen mal ein faules Ei sein sollte, hätte dieser keine Chance. Das sind die Männer fürs Grobe sozusagen. Aber es ist zu riskant, auf jeder Fahrt über zweihundert Mann durchzufüttern. Sauberes Wasser und gute Nahrungsmittel sind kostbar. Zudem muss man wirtschaftlich denken. Neulinge sind wesentlich günstiger und dennoch motiviert. Die wollen was lernen.«

»Eine Fregatte ist doch ein leichtes Kriegsschiff, oder? Mutter sagt, du wärst ein Pirat.«

Jack lächelte so breit, dass seine weißen Zähne blitzten. Es erreichte jedoch nicht seine Augen. »So? Sagt sie das?«

»Bist du ein Pirat?«

»Nicht im eigentlichen Sinne, nein. Ich halte mich nur nicht immer an die von irgendwelchen Regierenden willkürlich gemachten Gesetze. Böse Zungen könnten uns vielleicht als Schmuggler bezeichnen, da ich auch Handel mit Ländern treibe, die kein Abkommen mit der Krone haben. Aber gewöhnliche Piraten sind wir nicht.«

»Schade.« Liliana verzog den Mund und blickte hinunter auf den weißen Mähnenkamm der Stute, der in der Bewegung auf und ab wippte.

»Liliana«, hörte sie die ernste Stimme ihres Vaters und sah wieder auf. »Ich weiß nicht, von wem du solche Flausen hast – nun ja, ich kann es mir denken –, aber du musst eines wissen: Die meisten Piraten sind skrupellose und blutrünstige Mörder und Diebe, die Lust am Foltern von Menschen haben, um ihre Aggressionen abzureagieren. Sie leben in Suff und Dreck. Sie plündern und töten harmlose Seefahrer, vergewaltigen Frauen und verkaufen Menschen als Sklaven. Das hat wirklich nichts Romantisches an sich, Kind! Das ist die bittere Realität. Wünsche dir nur, dass du nie solchen Piraten begegnen wirst!«

***

»Na, wie war der Ausritt?«, fragte Effie, als Jack und Liliana ins Haus zurückkamen.

»Sehr angenehm.« Jack betrachte Liliana von oben bis unten und rieb sich das Kinn. »Mir gefällt, was ich sehe.«

Diese Worte ließen ihren Brustkorb schwellen. Ein derartiges Lob aus dem Mund ihres Vaters erfüllte ihr Herz mit solchem Stolz, dass es zu zerbersten schien.

»Das gilt für alle hier im Raum«, fügte er charmant hinzu.

Ihre Tante lächelte ihn an. War da ein verzögerter Augenaufschlag zu erkennen? Liliana spürte eine leichte Eifersucht. Ihr Vater war wegen ihr hier, nicht für Effie! Gleichzeitig schämte sie sich für diese Gedanken. Mutter tadelte sie stets, dass eine Dame nicht zu selbstbezogen sein durfte. Tante Effie tat so viel für sie, da sollte sie dankbar sein und ihr die Freude gönnen.

»Ich habe dir von Mary das vordere Gästezimmer herrichten lassen«, sagte ihre Tante, den Blick nicht von Jacks blauen Augen lassend, wie Liliana mit leichtem Missmut bemerkte. »Du bist hier stets willkommen – das weißt du –, und du kannst deine Tochter sehen, wann immer du möchtest.«

»Danke, aber ich muss morgen wieder zurück nach Bristol. Mein Schiff wartet.«

Diese Worte trafen Liliana wie ein Schlag in die Magengrube. »So früh schon?«

Jack drehte sich zu ihr und nickte.

»Kann ich dich begleiten?«

Sein Blick verfinsterte sich, und Liliana hob abwehrend die Arme. »Nur bis zum Hafen. Ich möchte so gerne dein Schiff sehen und wir könnten noch etwas Zeit miteinander verbringen, bevor du wieder auf dem Meer verschwindest.« Sie nahm all ihren Mut zusammen und presste den letzten Satz beinahe heraus. »Ich denke, du schuldest mir dies.«

Jacks Miene blieb dennoch verhärmt, als könnte er sich nicht wirklich mit diesem Gedanken anfreunden.

»Ich werde mitkommen«, warf Effie ein. »Auch ich würde gerne deine Fregatte bewundern dürfen.«

Er atmete tief durch. »Nun gut. Ihr könnt gerne eine Nacht auf meinem Schiff bleiben, ansonsten ist die Reise zu beschwerlich. Wir legen erst am Mittwoch ab.«

Effie nickte froh. »Ben kann uns alle mit der Kutsche hinbringen, er wird dann bei meiner Schwester und Richard in Bath übernachten.«

»Wie schön!« Liliana sprang auf und klatschte jauchzend in die Hände. »Ich gehe sogleich packen.«

***

Was sollte sie nur für Kleidung wählen?

Lilianas Herz sprang in ihrem Brustkorb umher wie ein junges Fohlen auf der Weide. Bristol war gewiss keine Kleinstadt. Wie sah das Leben dort wohl aus? Was sollte sie dort tragen? Welch ein Verhalten erwartete ihr Vater von ihr? Immerhin war er der Kapitän …

Sie blickte auf die Gewänder in ihrem Schrank. Die passende Garderobe für eine Seefahrt besaß sie sicherlich nicht … Konnte man in Stiefeln herumlaufen? Die Zeichnungen in ihren Büchern zeigten oft barfüßige Matrosen. Lief man auf einem Schiff gar ohne Schuhe herum, um die Balance halten zu können? Schwankten Segelschiffe sehr? Nun, vertäut im Hafen hoffentlich nicht, und mit auf Fahrt würde sie kaum dürfen. Sie seufzte innerlich. Schade, dass ihr Vater hier derart streng reagierte. Aber den Erzählungen ihrer Freundin Mary nach, deren älterer Bruder zur Marine ging, musste es auf Schiffen wirklich rau und gefährlich zugehen. Da passte eine junge Frau schlichtweg nicht hin.

Wie diese Köchin ihres Vaters wohl aussah? Liliana stellte sich eine große, kräftige Dame vor, ähnlich der Waschfrau ihrer Mutter, mit Kochlöffel in der Hand wie einen Knüppel. Anders könnte man sich zwischen all den Matrosen sicher nicht behaupten.

Beschämt sah sie auf den kleinen Holzkoffer vor sich auf ihrem Bett. Das einzige Boot, in dem sie je gesessen hatte, war das Ruderboot am See gewesen. Sie kannte kaum etwas von ihrem eigenen Land, geschweige denn von der Welt.

Liliana riss sich zusammen und straffte die Schultern. Genau das sollte sich nun ändern.

Sie packte einige einfache, bequeme Kleider und eines ihrer besseren Gewänder ein. Schließlich konnte man ja nie wissen. Es war zwar nur eine Nacht, aber dann hätte sie die Möglichkeit, die äußere Erscheinung entsprechend anzupassen.

Liliana spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie würde echte Matrosen sehen! Aus der Nähe! Starke, schwitzende Männer bei der Arbeit, mit vielleicht entblößtem Oberkörper, wie einige Farmer während der Heuernte, die sie jedoch immer nur von Weitem betrachten konnte – keine so steifen und spießigen Gentlemen wie bei Mutters Gartenpartys. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie kicherte trotz ihrer neunzehn Jahre in sich hinein wie ein Schulmädchen. Du liebe Güte, wie albern sie diese Aufregung werden ließ.

***

Nach dem Mittagessen des folgenden Tages bereitete Ben die Kutsche vor, um Effie, Liliana und ihren Vater nach Bristol zu fahren. Der Wallach, den Jack von einem Freund in Bristol ausgeborgt hatte, wurde an der Kabine angebunden.

Liliana platzte vor Aufregung. So viele Fragen schwirrten seit Jahren in ihrem Kopf umher, durfte sie diese ihrem noch so fremden Vater stellen?

Sie blickte fragend zu Effie, die ihre Gedanken zu erraten schien und ihr aufmunternd zunickte, bevor sie wieder nach draußen sah, wie um den beiden eine gewisse Privatsphäre zu ermöglichen.

Liliana nahm ihren Mut zusammen. »Vater?«

»Ja?« Sein Blick blieb ausdruckslos, was ihr Herzklopfen nicht gerade milderte.

Sie faltete die Hände im Schoß zusammen, um nicht nervös auf der Armlehne zu tippen. Das würde kindisch wirken. »Ich weiß so gar nichts über dich, wie bist du zur See gekommen? Hast du noch mehr Familie?«

Jack lächelte geduldig, dennoch verrieten seine angespannten Mundwinkel, dass ihm dieses Gespräch nicht angenehm war. »Ich stamme aus der Nähe von Bristol. Leider gibt es keine direkte Familie mehr, nur noch einen Cousin in London, zu dem ich ab und zu Kontakt habe. William. Er ist Richter. Mein Vater Anthony Farson war ein angesehener Admiral.«

»Ich hatte einen richtigen Admiral als Großvater?« Liliana riss erstaunt die Augen auf. »Mutter hat immer angedeutet, du seist ein mittelloser Matrose gewesen.«

Ihr Vater atmete tief durch. »Es ist kompliziert. Mit zehn Jahren bin ich von zu Hause fortgelaufen und habe mich gemeinsam mit meinem älteren Bruder als einfacher Seemann durchgeschlagen. Du musst wissen, dein Großvater spielte nach außen hin den Gentleman und angesehenen Offizier, doch zu Hause war er ein wahrer Tyrann, der seine Frau und seinen älteren Sohn letztendlich in den Tod getrieben hat.«

Liliana öffnete erstaunt den Mund, brachte aber kein Wort hervor.

»Es ist keine schöne Geschichte, die unsere kurze Zeit zusammen nur überschatten würde.«

»Ich wünschte mir dennoch, mehr über meine Familie zu erfahren … wenn es dich nicht zu sehr betrübt, darüber zu sprechen.«

Jack winkte ab. »Es ist lange her. Er fiel 1765 in der Seeschlacht gegen die Niederlande. Ich habe mit ihm abgeschlossen.«

»Hattest du noch mehr Geschwister?«

»Nein, nur Joseph. Er war fünf Jahre älter als ich und ging wie Vater zur königlichen Marine, obgleich er dieses Leben verabscheute.«

»Verlangte dein Vater das von ihm?«

Jack nickte. »Als ältester Sohn war es sozusagen Gesetz für ihn. Joseph litt sehr darunter. Im Gegensatz zu mir, den die Schifffahrt stets faszinierte, wollte er niemals aufs Meer oder zum Militär. Er war ein Freigeist und Rebell in seinem Herzen sowie ein wahrer Künstler, jedoch zu gebrochen von Vater, um seine Kreativität aufblühen zu lassen.«

»Was ist mit deinem Bruder geschehen?« Liliana bemerkte aus den Augenwinkeln, dass auch ihre Tante aufhorchte, den Blick aber höflich weiter nach draußen richtete.

»Er desertierte und wehrte sich bei einer Konfrontation auch körperlich gegen Vaters Angriffe. Der Admiral ließ ihn zur Strafe ins Gefängnis sperren, wo er schließlich einer Krankheit erlag.« Jack presste die Kiefer zusammen. »Der völlig sinnlose Tod eines wundervollen Menschen.«

»Das tut mir leid«, sagte Liliana leise. »Dies alles muss schrecklich gewesen sein.«

»Eliza half mir sehr über diese schwere Zeit hinweg, wie ich zugeben muss. Obgleich sie all dies nie erfuhr, aber ich fand in ihren Armen Frieden.«

Liliana wollte sich ihre Eltern nicht in dieser vertrauten Art zusammen vorstellen und wechselte schnell das Thema. »Bist du denn ein Offizier der Marine?«

Jack neigte den Kopf zur Seite. »Ja und nein«, sagte er. »Ich schloss die Ausbildung zum nautischen Offizier mit Erfolg ab. Doch ich verpflichtete mich nicht zum Dienst in der königlichen Marine. Obgleich es alle von mir erwarteten. Auch als ich nach Vaters Tod zu unserem Anwesen zurückkehrte, verstand niemand in seinem Umfeld, warum ich diesem bewundernswert erfolgreichen Menschen nicht nacheiferte.« Seine Stimme klang deutlich bissig. »Ich bereue jedoch nichts. Ich hatte durch mein Ausbrechen die Arbeit auf einem Schiff aus Sicht der Matrosen gesehen und lernte danach, wie die Offiziere denken. Eine solche Erfahrung kann für einen guten Kapitän nur von Nutzen sein.«

 

Bristol, England

Liliana kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als die Kutsche am Nachmittag den Binnenhafen von Bristol erreichte. Das bisher eher einschläfernde Klappern der Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster ging im Lärm um sie herum nun beinahe völlig unter. Gebannt hing sie an dem kleinen Kutschfenster und schaute hinaus. Trotz all der Bücher über die Seefahrt, die sie gelesen hatte, und der Zeichnungen und Gemälde, war sie nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich ihr bot.

Einige Schiffe löschten gerade ihre Ladung. Es herrschte reges Treiben und Ben ließ die Pferde in Schritt übergehen. Überall wimmelte es von den verschiedensten Menschen, Tieren und Gütern. Auch ihr Geruchssinn wurde mit neuen Aromen bombardiert. Es roch nach Teer, Moder, Fisch, Schweiß, orientalischen Gewürzen und Parfums. Am intensivsten jedoch nahm sie den salzig-algigen Duft des Meeres wahr. Es regte sich eine tiefe Sehnsucht in ihr, die Geschichten aus den Büchern nun endlich selbst zu erleben. Das Kreischen der vielen Möwen, die sich um die Fische stritten, das Knarren der Schiffsbalken, das Wehen der Fahnen im Wind, das Knarzen der Festmacherleinen, dies alles klang wie die Instrumente eines gewaltigen Orchesters in ihren Ohren. Eine Symphonie aus Freiheit und Abenteuer.

Mit offenem Mund bestaunte sie die Schiffe. Was für ein Unterschied, wenn man nur darüber gelesen hatte und es nun leibhaftig vor sich sah …

Ihr Vater stieß sie leicht am Arm. »Das dort ist die Nemesis.« Er beugte sich ein wenig vor und zeigte auf einen großen Zweidecker mit schlankem, schwarz gestrichenem Rumpf, weißem Anstrich um die Fenster und drei Masten. Die Galionsfigur war eine wunderschön geschnitzte Meerjungfrau mit langen, schwarzen Haaren und goldenem Fischschwanz, ihr Blick wirkte finster, aber auch anmutig.

Ein Steg, der an einem verzierten Durchgang endete, führte in das Innere der Fregatte.

Liliana schnappte nach Luft. »Dieses Riesenschiff? Wahnsinn, wie elegant es ist!«

»Danke. Sie ist mein ganzer Stolz. Nach dir natürlich«, fügte er schmunzelnd hinzu. Jack lehnte sich zum Fenster und wies den Mann auf dem Kutschbock an, stehen zu bleiben.

Wenig später öffnete Ben die Türen und half Effie und ihr beim Aussteigen. Dann schnallte er die Koffer ab und stellte sie neben die Passagiere. Jack wies ihn an, wo er den Wallach abliefern sollte, und gab ihm noch ein Trinkgeld. Der ältere Mann zog lächelnd den Hut. »Vielen Dank, Mr Farson.«

Als die Kutsche fort war, rieb sich ihr Vater die Hände. Seine gesamte Gestik strahlte Entschlossenheit aus, als hätte der Anblick des Schiffs eine andere Person in ihm geweckt: den Kapitän.

Liliana bestaunte die Fregatte vor sich, die aus der Nähe noch größer wirkte. Der elegante Anstrich glänzte feucht in der Sonne, die sich gerade wieder aus den dicken Wolken kämpfte. Effie öffnete ihren Sonnenschirm aus weißem Stoff, wohl auch, um den Wind abzuhalten, der drohte, ihr den Hut vom Kopf zu wehen. Liliana war froh, lediglich eine Haube zu tragen.

Auf Jacks Wink hin liefen zwei Matrosen im flotten Schritt den Steg hinunter, begrüßten ihren Kapitän und ergriffen die Koffer, um sie an Bord zu schleppen.

Jack wandte sich Effie und Liliana zu. »Ich zeige euch erst einmal mein Schiff und die Kajüte, in der ihr übernachten könnt. Die ist allerdings nicht sehr groß, der Platz für Passagiere wird durch den Frachtraum beschränkt.«

Effie winkte ab. »Es ist ja nur für eine Nacht, mach dir unseretwegen bitte keine Umstände.«

»Oh, ich bin so aufgeregt.« Liliana klatschte in die behandschuhten Hände und wäre beinahe dabei in die Luft gesprungen wie ein kleines Mädchen. »Auf einem echten Schiff übernachten! Das klingt wie ein Traum.« Schade, dass sie nicht mit ablegen durfte.

Ihr Vater lachte amüsiert. »Wer weiß, vielleicht wirst du seekrank, dann wäre der Traum jäh vorüber.«

Liliana riss die Augen auf. Man konnte von der See krank werden? »Was ist das?«

»Manche Menschen vertragen den Wellengang nicht«, erklärte Jack. »Etwas flau im Magen wird anfangs jedem, aber bei einigen verschwindet die Übelkeit nie. Horatio Nelson leidet darunter. Er ist ein leidenschaftlicher Seemann, der sich trotz Seekrankheit schon früh zum Marinedienst verpflichtete. Dafür muss man allerdings sehr ehrgeizig und äußerst leidensfähig sein.« Er schüttelte amüsiert den Kopf.

Liliana stellte sich das weniger witzig vor. Sie seufzte. »Ich hoffe, das blüht mir nicht. Ich bin nicht scharf auf Leid.«

Jack lachte, als er ihr Gesicht sah. »Keine Sorge, noch liegen wir im Hafen, und als meine Tochter solltest du dagegen gefeit sein.«

Sie liefen über den hölzernen Steg auf das Schiff zu, das sich bereits leicht hin und her bewegte. Liliana schaute nach unten. Das Meerwasser plätscherte trüb gegen den hölzernen Rumpf und es roch modrig.

»Komm mit«, sagte er. »Ich stelle euch meine Mannschaft vor.« Sie gingen durch den Eingang an Bord. Das Schwanken war auf dem großen Schiff weit weniger stark, als Liliana anfangs befürchtet hatte. Doch noch lagen sie vertäut am Hafen. Wer wusste schon, wie es auf hoher See wäre?

Der Durchgang endete unter Deck vor einem breiten Gang an einer Holztreppe, die nach oben führte. Alles war in gewachstem Eichenholz gehalten und wirkte zwar weniger elegant als der gestrichene Rumpf, aber auch irgendwie gemütlich auf Liliana.

Jack führte sie auf das Oberdeck und wandte sich an die Leute an Bord, von denen einige schon herüberblickten, als warteten sie nur auf einen Wink ihres Kapitäns. Er pfiff zweimal kurz und laut.

Etwa fünfzehn Männer und eine Frau traten herbei und stellten sich neben dem Kapitän auf. Es waren Menschen verschiedenster Hautfarbe und Größe. Auch ihre Kleidung unterschied sich. Von einfachen Leinenhemden und -hosen bis hin zu bunt gemusterter, afrikanisch oder orientalisch anmutender Baumwollkleidung. Einige der Männer trugen einen oder gar zwei Goldringe im Ohr. Der blonde Mann, der alle um einen Kopf überragte, hatte sogar eines dieser polynesischen Tintenstichmuster auf dem muskulösen Körper gezeichnet. Dieser Hüne war ihr beinahe noch unheimlicher als der nur unwesentlich kleinere Afrikaner in der bunten Kleidung.

Liliana, die nie jemand anders als die Bewohner des nahe gelegenen Dorfes oder Mutters sehr britische Bekannte gesehen hatte, wurde etwas flau im Magen beim Anblick der Gruppe. Gleichzeitig roch dies alles so aufregend nach Abenteuer, dass ihr Herz raste.

Die restlichen Seeleute – auch die, die ihre Koffer geholt hatten – gingen weiter ihrer Arbeit nach, behielten das Geschehen aber dennoch im Auge. Liliana vermutete, dass dies die einfachen Matrosen waren.

Ihr Vater legte den Arm um sie und wandte sich an die leitende Mannschaft. »Darf ich vorstellen? Meine Tochter Liliana Preston und ihre Tante Elfreda Preston. Die beiden werden bis morgen an Bord verweilen, und ich will keine Klagen von den Damen über euch hören, verstanden?«

Liliana spürte, wie ihre Wangen glühten. Sie fürchtete, nach diesen Worten von der Mannschaft als etwas Lästiges angesehen zu werden, das man für seinen Kapitän bei Laune halten musste. Doch die Männer und Frau nickten ihr allesamt freundlich zu.

»Das ist meine Kernbesatzung«, fuhr Jack fort und ging die Reihe ab. »Bootsmann, Steuermann, Schiffsarzt, Quartiermeister, Kanonier, Zimmermann, Segelmacher … die Fachleute eben und deren Gehilfen. Ich denke, ein Vorstellen wäre müßig. Grace?« Er winkte die ältere Frau mit den grauen Locken und dunkelbrauner Hautfarbe zu sich. Liliana hatte nie zuvor einen dunkelhäutigen Menschen gesehen und beäugte die Köchin neugierig. Sie war klein und drahtig, doch das breite Lächeln in dem faltigen Gesicht wirkte freundlich und einnehmend. Eine etwas gruselige Narbe zog sich über ihre rechte Wange und sah aus wie von einer alten Schnittverletzung. An ihrer linken Hand fehlte der kleine Finger. Liliana wollte lieber nicht wissen, wie es zu diesen Verletzungen gekommen war.

»Kannst du meiner Tochter und Effie bitte die vordere Kajüte zeigen?« Jack drehte sich zu Liliana. »Grace ist unsere Köchin. Natürlich muss sie nicht allein die ganze Mannschaft füttern, dazu hat sie ein paar Jungs unter sich. Aber als Kapitän genieße ich das Privileg, von der Meisterin ihres Fachs persönlich bekocht zu werden, und ihr werdet ebenfalls in diesen Genuss kommen.« Er lächelte. »Nicht erschrecken, das Ding da auf ihrem Arm ist keine zerrupfte Stola, sondern ihre Katze.«

Abgelenkt von dem exotischen Aussehen der Frau erkannte Liliana erst jetzt die braun getigerte Katze auf deren Arm. Das Tier schmiegte sich so in die weiten Ärmel ihres Mantels, dass nur der Rücken und die Ohren zu erkennen waren. »Sie haben eine Katze, Miss Grace?« Ein Tier an Bord zu wissen wäre wundervoll. Sie vermisste ihre Hunde und Pferde jetzt schon.

Die Katze wandte den Kopf und sah sie mit gelbgrünen Augen an, blinzelte und drehte sich wieder weg.

Grace lächelte. »Grace genügt, Miss Preston.« Sie kraulte den Hals des Tieres. »Auma gehört zur Mannschaft, auch wenn sich Ihr Vater nur schwer daran gewöhnen konnte. Aber heute ist er dankbar dafür. Sie hält die Ratten im Zaum und verhindert Mäusefraß.«

Jack hob warnend den Zeigefinger. »Solange das Vieh nicht wieder eines der Hühner klaut.« Liliana spitzte die Ohren. Hühner gab es auch? Sicher für die Nahrungsversorgung mit Eiern und Fleisch. Jack schnaubte. »Zumindest lässt sie sich nicht in meinem Arbeitsraum blicken, daher ist es erträglich.«

»Ein cleveres Tierchen eben«, tönte der tätowierte Hüne. Liliana fühlte sich gleich einen Kopf kleiner, als sie ihn ansah. Selbst ihr Vater wirkte schmächtig neben ihm.

Jacks Augen verengten sich. »Noch so ein Spruch, und du kannst die Nacht im Krähennest verbringen.«

Liliana schluckte. Würde es zu einem Streit kommen? Gleich an ihrem ersten Tag?

Das folgende Schmunzeln ihres Vaters ließ sie jedoch erahnen, dass dieses Wortgefecht rein freundschaftlich war. »Das Großmaul ist übrigens Ove, mein Steuermann und ältester Freund an Bord«, erklärte er. »Eine Tatsache, die ihm gerade das Leben gerettet hat.« Er warf dem Hünen einen vielsagenden Blick zu.

Liliana fiel auf, wie ihr Vater seine Art zu sprechen vor der Mannschaft veränderte. Es klang energischer, weniger elegant, aber auch vertrauter.

»Auf, mach dich nützlich und hilf Enrique, die Vorräte zu berechnen«, rief er dem Hünen zu, »und vergiss nicht: Bis morgen sind zwei Personen mehr an Bord!«

Ove salutierte. »Aye, Kapitän.« Er zwinkerte Liliana zu, die nun endgültig rot wurde. Dann klopfte er einem südländisch aussehenden Mann auf die Schulter, und die beiden gingen davon.

 

Den Rest des Tages wanderte Liliana über das Schiff und beäugte neugierig alle Stationen.

Die Länge der Nemesis betrug etwas mehr als sechzig ihrer Schritte, ihre Breite etwa fünfzehn. Es kam Liliana vor wie ein gigantisches Schloss. Sie wanderte durch die Gänge und über die Decks in ständiger Sorge, sich zu verlaufen. Der hintere Bereich, der bei diesem Schiffstyp im Vergleich zu anderen nicht erhöht war, gefiel ihr am besten. Hier am Heck, begrenzt von den hohen, verzierten Fenstern, befanden sich der Speisesaal der leitenden Seeleute und das Arbeitszimmer ihres Vaters, das so viele interessante Gegenstände beherbergte, wie Sextanten und Zirkel, einen Globus, etliche Weltkarten und ein riesiges Regal mit Büchern. Auch seine Schlafkabine und die Kajüten für Gäste, von denen sich Liliana die größte mit ihrer Tante teilte, entdeckte sie hier.

Das Deck darunter, das sogenannte Batteriedeck, war Liliana hingegen etwas unheimlich. Sie lief schnell an den vielen Kanonen vorbei, ohne über deren Nutzung nachdenken zu wollen. Es roch nach Schießpulver und Schweiß.

Hier befand sich auch Graces Reich, die Kombüse, die wesentlich verführerischer duftete. Sie war in zwei Bereiche unterteilt, einen Raum mit einem langen Tisch und großer, mit Kohle befeuerter Kochstelle, an der Graces Lehrling Rinaldo und zwei weitere Gehilfen für die große Crew das Essen zubereiteten, und eine kleinere, abschließbare Kammer, zu der kein anderer außer Grace Zutritt hatte. Hier kochte und backte nur sie, und Liliana bekam den Eindruck, sie wohnte da auch.

Am Bug dieses Decks befand sich das Arztzimmer mit Lazarett. Die vielen Instrumente, Messer, Klemmen und Knochensägen flößten ihr Angst ein und sie ging schnell weiter, ohne einen weiteren Blick hineinzuwerfen.

Im Unterdeck, das keine Fenster hatte, waren Lade- und Pulverraum. Auch die Schlafplätze der Matrosen, die teilweise lediglich aus Hängematten in den Gängen bestanden, befanden sich in diesem Bereich.

Dazwischen wimmelte es von Konstruktionen, die Liliana nicht einordnen konnte: Seilzüge, Ketten und riesige Trommelwinden.

Sich die Gesichter und die vielen – oft ungewöhnlichen – Namen zu merken, denen sie begegnete, gelang ihr nur bei wenigen der für sie riesigen Besatzung.

Neben Grace und dem Steuermann Ove Gjertsen fiel ihr noch der Spanier Enrique Ortega auf, der sowohl Quartier- als auch Zahlmeister war. Er kümmerte sich um die Waren an Bord, behielt den Überblick über die Vorräte und verteilte die Heuer am Ende jeder Woche.

Als sie durch das Batteriedeck zurück zum Heck gehen wollte, stand plötzlich der große Afrikaner vor ihr.

Erschreckt riss sie die Augen auf.

Der Mann aber lachte freundlich. »Keine Angst, Miss Preston, ich verspeise nur kleine Kinder und habe bereits gegessen heute.« Seine weißen Zähne leuchteten unter der dunklen Hautfarbe noch heller als die buntgemusterte Kleidung.

Liliana spürte, wie ihre Wangen brannten. »Bitte verzeihen Sie meine Schreckhaftigkeit. Es ist alles noch so neu und fremdartig hier.« Sie senkte verschämt den Blick.

Der Mann lachte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Miss Preston.« Er verbeugte sich. »Mein Name ist Kweku, ich bin hier der Kanonier und behalte Waffen und Artillerie im Blick.«

Sie sah auf. Das freundliche Gesicht des Mannes nahm ihr die Angst. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Kweku.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist ein ungewöhnlicher Name, was bedeutet er?«

Kweku zuckte die Schultern. »Dass ich in der Mitte der Woche geboren wurde.«

Liliana hatte mit einer mystischeren Antwort gerechnet, wie der Kämpfer oder den Bezug zu einer Gottheit, und musste schmunzeln. »Ist das so üblich in Afrika?« Sie besann sich. »Sie kommen aus Afrika, oder?«

»Afrika ist ein riesiger Kontinent und besteht aus vielen unterschiedlichen Stammesgebieten. Ich komme von der westafrikanischen Goldküste und gehöre dem Aschantistamm an.«

Liliana staunte. Sie musste sich immer wieder aufs Neue bewusst machen, wie groß die Welt doch war. »Wie kamen Sie an Bord dieses Schiffes?«

»Das frage ich mich manchmal auch.« Kweku lachte. »Die Aschanti leben eher im Binnenland und finden eure Belagerung ihrer Küsten nicht sonderlich nett. Ihr Vater wollte damals allerdings einen üblen Sklavenhändler ausfindig machen und heuerte mich als Führer durch die Wildnis an. Er überzeugte mich, mit auf sein Schiff zu kommen.« Er grinste breit. »Bis heute eine Entscheidung, die ich nicht bereue.«

 

Am Abend saßen diejenigen Matrosen, die niemanden an Land besuchten, unter Deck in einem großen Raum beisammen, in dem sie auch aßen und schliefen. Die Männer genossen sichtlich die Zeit im Hafen, sie wurde offenbar zum geselligen Beisammensein und Feiern genutzt, bevor die harte Arbeit auf See wieder begann. Bis auf einige Reparaturen, Wartungen und das Verladen von Vorräten war nicht viel zu tun.

Ein kleiner Teil Jacks sogenannter Kernmannschaft zog sich getrennt von den einfachen Matrosen zurück. Sie versammelten sich im Messraum. Liliana traf auf die Gruppe, als sie sich einen Apfel holen wollte. Zögernd stand sie an der Tür und überlegte, wieder zu gehen.

»Kommen Sie ruhig rein, Miss Liliana«, forderte Grace sie auf. »Setzen Sie sich zu uns.« Sie klopfte neben sich auf den Stuhl. »Sie stören nicht, wir sind jeden Abend hier und jeder ist eingeladen.«

Liliana lächelte und setzte sich. Etwas beklommen fühlte sie sich durchaus unter den vielen Männern.

Die ältere Frau schien das zu bemerken. »Keine Angst, ich passe auf, dass die Bengel sich benehmen.« Sie zwinkerte ihr zu.

»Grace schafft das, sie ist eine Hexe«, raunte der Quartiermeister Enrique mit geisterhaft aufgerissenen Augen und zupfte sich an dem goldenen Ohrring. »Verärgern Sie sie nie, sonst baut sie eine Voodoo-Puppe von Ihnen oder braut einen Gifttrank.«

»Ich glaube, ich sollte deine Puppe mal wieder aus der Kiste holen, Enrique«, erwiderte die alte Frau scharf, und die anderen lachten.

»Lass das lieber, dann hat er wieder Albträume wie neulich«, spottete der Bootsmann Brian, ein muskulöser Engländer mit Yorkshire-Akzent, hellbraunen Locken und Dreitagebart.

»So ein Quatsch, wenn ich nachts mal stöhne, dann sind das ganz andere Träume, aber davon verstehst du ja nix mit deiner Xanthippe daheim!«, tönte der Spanier.

»Du bettelst nur darum, was aufs Maul zu bekommen, was?«, rief Brian zurück, grinste aber.

»Hey, Leute«, tadelte der blonde Zimmermann Kai. »Reißt euch mal am Riemen, immerhin haben wir Damen am Tisch.«

»Seit wann bist du denn so höflich?«, spottete Enrique.

»Seit er mich hat kommen sehen«, grinste Jack, der mit Effie zusammen hinter Enrique die Messe betreten hatte.

»Oh«, meinte der Spanier verschämt und sprang auf. »’hoy, Kapitän!«

Jack lachte. »Wenn du das wiedergutmachen willst, dann rück was vom Wein deines Bruders raus, wir haben schließlich etwas zu feiern!«

Die Gruppe jubelte zustimmend.

»Aye, Kapitän«, sagte Enrique grinsend und verschwand, um den Wein zu holen.

»Holla, ohne Diskussion?« Ove hob die Brauen. »Die Flaschen sind ihm doch heilig.«

Der Segelmacher, ein dunkelhaariger, vollbärtiger Russe namens Vladimir, lachte laut. »Sein Imponiergehabe geht ihm über den Geiz, wie es scheint.«

Als kurz darauf jeder ein Glas vor sich hatte, stießen sie auf die Gäste an.

»Jetzt hab ich den Wein gespendet, jetzt muss der Preuße, der mir das eingebrockt hat, uns was vorspielen«, sagte der Quartiermeister darauf feierlich.

»Kai ist Hamburger, kein Preuße«, bemerkte der Hüne.

Der Zimmerer seufzte. »Danke, Ove, aber ich hab’s schon aufgegeben, einen Spanier in Politik zu unterweisen.«

»Genau, wir unterteilen nur in noch zu erobern oder bereits erobert.« Enrique zeigte die Zähne.

Kai ignorierte ihn. Er trat an die große Holztruhe in der Ecke und holte einen langen, rechteckigen Behälter hervor. Liliana streckte den Hals, so neugierig war sie zu sehen, was der junge Matrose da aus dem Kästchen holen würde. Es kam eine wunderschöne Querflöte zum Vorschein, schwarz mit silbernen Beschlägen und mehr Klappen, als Liliana es kannte. Ob dies eine Version aus seiner Heimat war? Konnte dieser Seemann tatsächlich ein solch filigranes Instrument spielen?

Kai sah zu dem Norweger. »Ove? Bist du dabei?«

Der Hüne lachte auf. »Du willst mich nur wieder bloßstellen!« Trotz der Worte holte er grinsend eine Maultrommel aus seiner Hemdtasche.

»Kai spielt wie der Rattenfänger von Hamburg«, erklärte Enrique feierlich.

»Das war Hameln.« Der Zimmermann schüttelte den Kopf. »Wie jemand mit deinem Namensgedächtnis Quartiermeister werden konnte, ist mir schleierhaft.«

Der Spanier lachte. »Vorsicht, Konrad! Sonst kannst du gleich durch Zahnlücken flöten, dann brauchst du das Ding nicht mehr!«

Kai zwinkerte ihm nur beinahe kokett zu und begann zu spielen.

Liliana bewunderte staunend, wie der Zimmermann in das Instrument blies, seine schlanken Finger sich hoben und senkten und dabei wundervoll klingende Melodien hervorzauberten. Sicher brauchte der Deutsche auch bei seinen Arbeiten mit Holz solche geschickten Hände.

Sie genoss den Rest des Abends. Kai spielte ein Lied nach dem anderen auf der Querflöte, und Ove begleitete ihn mit der Maultrommel. Sie tranken Wein und sangen zu den Melodien, bis Liliana sich verabschieden musste. Sie fühlte sich zu schummrig vom Alkohol.

»Morgen Abend wieder?«, fragte Grace freundlich, und sie nickte.

»Gerne.«

Effie

Später, als Liliana sich schon in der Kajüte schlafen gelegt hatte, ging Effie noch mal über Deck. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf herum.

Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Jack vor so vielen Jahren hier in Bristol. Dieser junge, gut aussehende Matrose in einfacher Leinenkleidung, der dennoch wirkte, als gehöre ihm die Welt. Er strahlte schon damals eine unwiderstehliche Anziehung auf sie aus, weshalb sie sich nur mehr von ihm distanzierte. Er machte immerhin ihrer Schwester den Hof, da waren solche Gefühle unangebracht … und sinnlos.

Effie erinnerte sich, wie Eliza sie in eine Ecke der Näherei gezogen hatte, in der ihre Schwester eine Ausbildung machte, und mit flehendem Ton auf sie eingeredet hatte, es ihren pflegebedürftigen Eltern nicht zu verraten. Oh, wie hatte sie ihre Schwester beneidet … und später bemitleidet, als sie nach dem Tod der Eltern ohne familiären Rückhalt mit dem Kind in dieser Stadt lebte. Erst als sie Richard kennengelernt und ihre Tochter bei Effie abgeladen hatte, wandelte sich das Mitleid in Unverständnis, und der Kontakt reduzierte sich.

Nach dieser langen, eher ereignislosen Zeit auf dem Gutshof wirkten die Eindrücke des letzten Tages wie ein Rausch auf sie. So viele neue Gesichter, Gerüche und Töne. Auch wusste sie nicht, ob die Entscheidung, Liliana ihrem Vater vorzustellen, die richtige gewesen war. Eliza würde fuchsteufelswild, erführe sie davon. Dennoch, beide hatten ein Recht darauf.

Sie trat an die Reling und atmete tief die salzige Meeresluft ein. Es war eine sternenklare Nacht und der fast volle Mond schien heller als die schwachen Lichter im Hafen. Das feuchte Deck des Schiffes, von den schwachen Wellen hin und her gewiegt, schimmerte im Mondlicht. Beinahe einschläfernd plätscherte der leichte Seegang gegen die Fregatte und ließ das Holz knarren.

»Kannst du nicht schlafen?«, erklang Jacks Stimme hinter ihr.

Erschreckt drehte sie sich um. Er hatte den Kapitänsrock abgelegt und trug nur die schwarze Hose und das weiße Hemd. Für Effie wirkte er noch attraktiver als zuvor. Sie hoffte, dass er in der Dunkelheit die Hitze auf ihren Wangen nicht bemerkte. Effie schimpfte sich selbst dafür, dass ihr Magen bei seinem Anblick kribbelte wie der eines Schulmädchens. Wie konnte man sich in ihrem Alter noch so aufführen? Außerdem hatte er ihre Schwester geliebt und nicht sie. Effie war nicht so zierlich wie Eliza, und ihr loses Mundwerk hatte potenzielle Verehrer immer abgeschreckt. Sie hatte noch nie zu den Frauen gehört, die von Männern bevorzugt umgarnt wurden. Warum sollte dieser Mann anders denken? Mit seinem Aussehen und seiner Position konnte er gewiss so ziemlich jede Frau für sich gewinnen, nach der es ihn verlangte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Eine wunderschöne Nacht.«

Jack nickte. Er trat neben sie, stützte die Hände auf die Reling und schaute aufs dunkle Meer hinaus. Der Anblick seiner muskulösen Arme unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln verstärkte das kribbelnde Gefühl in ihrem Magen. »Allerdings zu flau, ein wenig mehr Wind würde ich mir wünschen für Mittwoch.«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an und atmete tief durch. »Was treibst du wirklich, Jack? Sei ehrlich zu mir!«, stellte sie endlich die Frage, die sie die ganze Zeit beschäftigte.

Jack blickte aus den Augenwinkeln zu ihr herüber. »Ich plündere keine redlichen Schiffe, Effie, falls du das andeuten wolltest.«

Sie seufzte theatralisch. »Ich will nicht immer hören, was du nicht tust, sondern was du tust.«

Er wandte sich ihr zu. Das Schmunzeln in seinem Gesicht half nicht gerade dabei, ihre Gefühle abzuschalten. Noch weniger sein tiefer Tonfall, der beinahe melodisch mit dem Rauschen der Wellen mitschwang. »Wir handeln mit Gütern. Hauptsächlich Afrika und Asien, aber auch in der Neuen Welt.«

Effie verschränkte die Arme. »Ich habe mich unter Deck umgesehen. Für ein Handelsschiff ist die Nemesis erstaunlich gut bewaffnet.«

»Es herrschen oft raue Sitten hier draußen, da muss man sich gut verteidigen können.« Seine Stimme blieb ruhig, doch sein sanftes Lächeln verschwand.

Effie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

Er hob abwehrend die Hand. »Das dient nur unserer Sicherheit. Ich bin kein Aggressor, aber man muss sich seinen Respekt bewahren dort draußen. Einmal Schwäche gezeigt, und sie fallen über dich her wie hungrige Wölfe und reißen dich in Stücke.«

Sie hob die Brauen. »Und dieses Bild soll mich nun beruhigen?«

Jack blickte sie derart unverfänglich an, dass sich ein tiefer Seufzer ihrer Kehle entrang.

»Sag es frei heraus! Liegt Eliza mit ihrer Behauptung richtig? Bist du Pirat oder Freibeuter?« In der Dunkelheit der Nacht löste sich ihre Zunge leichter, als womöglich gut war. Auch wenn ihr Körper bebte und das Herz ihr bis zum Hals klopfte, fühlte sie sich befreit, nachdem sie diese Fragen endlich gestellt hatte.

Jack musterte sie eine Zeit lang mit ausdruckloser Miene. »Weder noch und beides«, sagte er leise. »Wenn, dann kapere ich nur die Schiffe, die es verdient haben.«

Effies Augen verengten sich. »Welche Menschen verdienen denn deiner Ansicht nach ein solch grausames Schicksal? Franzosen?«

»Ich urteile niemals nach Herkunft«, brummte er. »Aber ich verabscheue zum Beispiel den Menschenhandel. Grace ist im Übrigen eine ehemalige Sklavin! Frag sie gerne, wenn du meinst, ihre Entführer wären von mir ungerecht behandelt worden.« Er warf ihr einen finsteren Blick zu und Effie wich diesem beschämt aus. »Und ich verabscheue auch Schiffe, die Waffen verkaufen, um Tyrannen an der Macht zu lassen oder Bürgerkriege aufrechtzuerhalten, damit das Gold und die Edelsteine in dem Land billig zu haben sind«, fuhr er unbeirrt fort, »und das alles unter dem Schutz der englischen oder spanischen Krone. Sie alle kommen nicht weit, wenn sie den Weg der Nemesis kreuzen.« Jack ballte die Fäuste.

Effie presste die Lippen zusammen. »Und dies alles tust du natürlich aus reiner Güte und nicht des Geldes wegen?« Sie atmete tief durch. »Zwar stammst du aus einer nicht gerade armen Familie, aber in nur wenigen Jahren von einem einfachen Leutnant der Marine zum Kapitän und gar Schiffseigner aufzusteigen, dazu gehört mehr als nur eine Erbschaft. Lässt sich ein derartig großes Schiff und seine Besatzung durch bloßen Handel legal erhalten? Bitte verkaufe mich nicht für dumm.«

Jack lockerte die Hände wieder und seine Mimik entspannte sich. »Ich würde es niemals wagen, dich zu unterschätzen.« Sein Blick hielt sie gefangen. »Zugegeben, der Gewinn aus einigen Überfällen ist durchaus ein angenehmer Nebeneffekt. Ich bestritt meinen Weg mit dem Erbe meines Vaters, erreichte meine Ziele jedoch durch eigener Hände Arbeit. Auf Letzteres bin ich stolz.«

Effie legte skeptisch den Kopf schief. »Und du kannst dich dennoch in England und Spanien weiterhin öffentlich zeigen?«

Jack zuckte die Achseln. »Natürlich. Ich entstamme einer angesehenen Familie und lege keinen Wert darauf, die oberen Ränge aufzuwirbeln. Allein das zählt hierzulande.« Seine Stimme klang zynisch. »Man muss nur gut darauf achten, dass man nicht allzu lästig wird und es bei dem Nebenerwerb keine Zeugen gibt.«

Ein Schrecken durchfuhr Effie bei diesen Worten und sie riss entsetzt die Augen auf. »Wie meinst du das, es gibt keine Zeugen? Du bringst die Mannschaften um?«

»Nicht zwangsläufig, nein. Viele ändern von sich aus ihre Meinung.« Seine Stimme klang ruhig, beinahe emotionslos. Sein Blick wanderte hinaus aufs weite Meer. »Ja, die Nemesis hat schon etliche Seelen gerettet.«

Effie runzelte die Stirn.

Jack sah sie mit gehobenen Brauen an. »Im Vergleich zur Marine sind wir äußerst charmant«, sagte er wie zur Erklärung.

Sie drehte leicht den Kopf zur Seite, unsicher, wie sie diese Worte interpretieren sollte. Der Kapitän war ihr in dieser Nacht auf dem dunklen Deck mehr als nur ein wenig unheimlich.

Jack trat ein Stück näher an sie heran. »Was denkst du?«, fragte er.

Effie wich dem Blick seiner blauen Augen aus. Ihr Körper bebte erneut. Diesen Schwall von Gefühlen nach jahrelanger emotionaler Eintönigkeit konnte sie kaum bändigen. »Das ist das Problem. Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

»Was ist los?«

Sie sah krampfhaft zu Boden und spürte, wie Jack ihre Hände in seine nahm. Der sanfte Druck, mit dem seine Finger über ihre Knöchel strichen, fuhr kribbelnd durch ihren gesamten Körper.

»Wie unterschiedlich ihr beiden Schwestern doch seid. Heute noch mehr als damals«, sagt er leise und Effie blickte scheu auf. Die Laternen spiegelten sich in seinen Augen wider. »Du warst so wild und voller Feuer damals«, fuhr er fort. »Humorvoll, spontan und klug. Dennoch verfiel ich der anmutigen und stolzen Grazie deiner Schwester. Eliza konnte Männer mit einem bloßen Augenaufschlag in die Knie zwingen … und ich war einer von ihnen.« Jack atmete tief ein. »Und was hat es mir eingebracht, dass ich meinen Augen mehr als meinem Kopf gefolgt bin? Nur Ärger mit einer stoischen, in der Gesellschaft festgefahrenen Person.«

Er sah Effie tief in die Augen und sie hatte Mühe, dem Blick standzuhalten. Noch weniger konnte sie sich jedoch von ihm lösen. Sie genoss diese lang vermisste Wärme, die ihr Herz erfüllte.

»Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.« Sein Flüstern glich einem Windhauch, der über ihre Haut strich. »Ich würde dich wählen … sofern du es wollen würdest.«

Effie holte tief Luft. »Ich …« Sie schluckte. »Ich hätte dich damals schon gewollt …«

Jack beugte sich hinunter und drückte seine Lippen auf ihre. Effie wäre beinahe in die Knie gesackt bei dieser Berührung. Sie erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Er schmeckte so wundervoll nach Salz und Freiheit, dass ihr schummrig wurde. Ihr Herz schien zu zerbersten vor Glück. Als seine Zunge sanft ihre Lippen trennte, tanzten Schmetterlinge in ihrem Unterleib.

»Kommst du mit in meine Kajüte?«, fragte er leise in ihr Ohr, sodass sie von seinem warmen Atem eine Gänsehaut bekam. Ein schier unbändiges Verlangen brannte in ihrem Körper.

»Ja«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Auch wenn es nur ein kurzes Abenteuer für ihn sein sollte … war es ihr gleich. Zu lange hatte sie diesen Moment in ihren Träumen herbeigesehnt.