Leseprobe Die wilde Sehnsucht der Lady

Erstes Kapitel

Im kühlen und staubigen Esszimmer von Grove House in Sussex saßen drei Personen gemeinsam am Frühstückstisch. Die ungehobelten Allbright-Brüder spülten schmatzend Rindfleisch mit Bier hinunter. Ihre Schwester, Serena Riverton, zog ihren schweren Wollschal fester um sich und vertiefte sich in einen Gedichtband, während sie an einem Stück Toast knabberte und an ihrem Tee nippte.

Will Allbright starrte beim Kauen und Schlürfen ausdruckslos ins Leere, während sein älterer Bruder Tom beim Durchsehen der Post vor sich hin murmelte.

»Mahnungen, Mahnungen, nichts als Mahnungen.« Er warf drei der Briefe achtlos ins Feuer. »Ah, das ist schon eher nach meinem Geschmack!« Er riss einen Brief auf und las ihn begierig. »Endlich! Hey, Serry, Samuel Seale möchte dich heiraten.«

Seine Schwester, eine außergewöhnlich schöne Frau, sah von ihrer Lektüre auf. »Was hast du gesagt?« Dann wich alle Farbe aus ihren Wangen, sie erhob sich und wich vom Tisch zurück. »O nein, Tom. Auf gar keinen Fall. Ich werde auf keinen Fall noch einmal heiraten!«

»Nein?«, fragte ihr Bruder und stopfte sich den Mund erneut mit Essen voll. »Und was wirst du dann tun, Schwesterherz? Als Straßenhure arbeiten?«

Serena Riverton schüttelte verzweifelt den Kopf, sprachlos vor Entsetzen. »Ich kann von dem Geld leben, das Matthew mir hinterlassen hat.«

Ihr jüngerer Bruder Will, der von schlichtem Gemüt war, drehte sich um und sah sie an. »Davon ist nichts mehr übrig, Serry.« Er schien überrascht, dass sie nichts davon wusste, und machte einen fast reumütigen Eindruck. Doch Serena kannte ihre Brüder. In ihrem ganzen selbstsüchtigen Leben hatten die beiden großen, korpulenten Männer mit den derben Gesichtszügen nicht auch nur eine einzige Verfehlung bereut, es sei denn, sie hatten deswegen Unannehmlichkeiten bekommen.

Während Serena noch völlig sprachlos dastand, schaufelte Will sich ein letztes riesiges Stück Brot in den Mund und erhob sich vom Tisch, um sich vor dem Kamin zu wärmen. Nachdem er das spärliche Feuer erfolgreich zum Auflodern gebracht hatte, holte er eine Guinee aus der Tasche und begann, sie in die Luft zu werfen.

Serena folgte der glitzernden Münze benommen mit den Augen und versuchte zu begreifen, was sie soeben gehört hatte. »Nichts mehr übrig?«, wiederholte sie. »Wie kann von all dem Geld nichts mehr übrig sein? Mein Mann ist erst seit drei Monaten tot. Wie ist es möglich, dass von dem Geld nichts mehr übrig ist?«

Aber schon als sie die Worte aussprach, kannte sie die Antwort. Das Geld war für das ausgegeben worden, wofür alles Geld in diesem heruntergekommenen Haus ausgegeben wurde: für das Wirtshaus, fürs Würfelspiel, das Pferderennen und das Freudenhaus!

Sie wandte die Augen von Wills Münze ab, um Tom einen zornigen Blick zuzuwerfen. »Das ist gemeiner Diebstahl!« Ihr Bruder lud sich ein weiteres großes Stück Rindfleisch auf die Gabel. »Versuchst du mir ein schlechtes Gewissen zu machen, Serry? Wird dir nicht viel nützen. Steine lassen sich nicht erweichen.«

Steine, dachte Serena verzweifelt. Genau das waren sie. Herzlos wie Steine, und genauso dumm.

»Von dem Geld hättest du sowieso nicht lange leben können«, sagte Will. »Was sind schon dreitausend Guineen? Etwas Kleingeld, mehr nicht.«

Tom stimmte grunzend zu. »Wer hätte schon vermutet, dass Riverton sein Vermögen so durchbringt? Wir dachten, du wärst eine reiche Witwe, Serry, sonst wären wir doch gar nicht so erpicht darauf gewesen, dich wieder nach Hause zu holen. Von dreitausend Guineen kannst du nicht mal deine Kleider bezahlen.« Seine schmalen Augen wanderten über ihr Gewand aus erlesenem, handgewebtem Tuch.

Serena wusste nur zu gut, wie sehr der Schnitt ihres Kleides ihre Figur betonte, doch sie hätte nicht erwartet, dass einer ihrer Brüder sie auf diese Weise ansehen würde.

Sie schlug ihren schweren Wollschal fester um sich, um seine Blicke abzuwehren. »Dafür würde es allemal reichen«, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Auch wenn es für euch unvorstellbar ist, bin ich sicher, dass man durchaus ein anständiges Leben von dem bloßen Zins von dreitausend Pfund bestreiten kann.«

»Das wäre aber ein verdammt langweiliges Leben«, sagte Will in liebenswürdigem Unverständnis. »Das wäre sicher nichts für dich, Serry.«

Serena schlich sich von hinten an und griff schnell nach der sich in der Luft drehenden Münze. »Doch, das wäre es, Will.« Sie wandte sich an Tom. »Ich verlange mein Geld zurück. Wenn ihr es mir nicht zurückzahlt, bringe ich euch vor Gericht.«

Ihr Bruder brach in schallendes Gelächter aus und spuckte dabei Essensreste über den ganzen Tisch. »Um jemanden vor Gericht zu bringen, brauchst du Geld, Serry, und selbst wenn du gewinnst, dauert es Jahre, bis die Angelegenheit erledigt ist. In der Zwischenzeit wirst du mit Wills Guinee nicht weit kommen.«

»Es ist besser als gar nichts.« Serena umfasste die Münze fester, aber Will griff grob nach ihrem Handgelenk.

»Das ist meine Glücksmünze!« Sie hielt ihm stand, doch er drehte ihr brutal den Arm um, bis sie aufschrie und ihm die Münze überließ.

Serena wich zurück, Tränen in den Augen, und hielt sich ihr schmerzendes Handgelenk. All die brutalen Übergriffe ihres Bruders kamen ihr schlagartig wieder in den Sinn. Sie war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, als sie ihr Elternhaus verlassen hatte, aber sie erinnerte sich nur zu gut an alles. Wie hatte sie nur annehmen können, irgendetwas hätte sich geändert, nur weil sie nun eine erwachsene Frau war?

Tom bemerkte ihre Angst, und seine Augen funkelten. »Vielleicht wird Seale für deine Rechte kämpfen, Serry.«

Sie hielt seinem Blick stand. »Du kannst mich auf keinen Fall zu einer weiteren Heirat zwingen, Tom, und schon gar nicht zu einer Heirat mit Samuel Seale.«

»Gefällt dir wohl nicht, hm?« Tom schien ernsthaft überrascht. »Sieht für sein Alter doch gar nicht mal schlecht aus und ist reich wie Krösus. All die Minen, weißt du. Dachte, ein älterer Mann wäre dir lieber. Mit dem ersten warst du doch immer ganz zufrieden.«

»Zufrieden?« Serena wiederholte das Wort kaum hörbar, und ihr schwindelte angesichts eines solch gewaltigen Missverständnisses.

»Na schön«, sagte Tom. »Dann werden wir auf andere Angebote warten.«

»Das würdet ihr tun?« Serena war erstaunt, gewonnen zu haben. Dann begriff sie seine Worte. »Angebote? Was für Angebote

Tom griff nach dem Brief, der geöffnet auf dem Tisch neben seinem Teller lag. »Seale hat zehntausend geboten. Gutes Geschäft, wirklich nicht übel. Vater hat bei der ersten Runde dreißigtausend bekommen, aber so viel wird diesmal keiner mehr bieten. Schließlich bist du keine Jungfrau mehr.«

»Dreißigtausend Pfund?« Serena hörte, wie ihre Stimme einen hysterischen Klang annahm. »Vater hat mich für dreißigtausend Pfund an Matthew Riverton verkauft

»Guineen«, verbesserte Will sie gewissenhaft und spielte mit der Münze in seiner Hand. »Hat uns damals aus einer finanziellen Misere gerettet, wusstest du denn nichts davon? Allerdings warst du ja auch erst fünfzehn. Ein dummes kleines Ding.«

Serena griff sich fassungslos an die Stirn und konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Dummes kleines Ding. Ihr war schon vor Jahren klar geworden, dass sie in der Tat nichts als ein naives Kind gewesen war, das freudig eine Ehe eingegangen war, ohne zu wissen, was für ein Albtraum sie erwarten würde. Wie stolz war sie gewesen, die Erste ihrer Freundinnen zu sein, die heiratete!

Aber verkauft worden zu sein …

Dreißigtausend Pfund, nein, Guineen. Kein Wunder, dass Matthew außer sich vor Wut war, wenn sie sich weigerte, ihm zu Willen zu sein. Wenn sie sich geweigert hatte …

»Sieh den Tatsachen ins Auge, Serry«, sagte Tom. »Nimm Seale. Wir stecken wieder bis zum Hals in Schulden, und du bist jetzt nicht mehr ein solcher Hauptgewinn. Zwar noch immer eine Schönheit, das ist unbestritten, aber deine Jungmädchenzeit ist vorbei. Und die meisten Männer wollen eine Frau mit Mitgift, die Kinder gebären kann. Du hast nichts von beidem zu bieten.«

»Ich hatte dreitausend Pfund«, sagte sie bitter, doch es war die andere Bemerkung ihres Bruders, die sie zutiefst verletzt hatte.

Unfruchtbar. Sie war unfruchtbar. Als wäre es gestern gewesen, konnte sie noch die Diagnose des Arztes hören – wie ein Richter, der leichtfertig ein Todesurteil fällt. Und sie erinnerte sich an Matthews Wut. »Unfruchtbar! Welchen verdammten Nutzen hat eine unfruchtbare Frau? Besonders eine, die im Bett zu nichts taugt!«

Von diesem Moment an hatte sich sein Verhalten ihr gegenüber geändert. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er sie nur lieblos und unsensibel behandelt. Nach der ärztlichen Diagnose aber hatte er mehr und mehr Leistung eingefordert, die über ihre ehelichen Pflichten bei Weitem hinausging.

Wäre es ihr vergönnt, Kinder zu gebären – diese Freude wäre womöglich ein Grund für eine erneute Heirat, aber da dies nicht der Fall war, würde sie niemals wieder eine verbindliche Beziehung eingehen.

Doch blieb ihr, mittellos wie sie nun war, überhaupt etwas anderes übrig?

Gab es einen Ausweg?

Zumindest konnte sie diesen Raum verlassen, um ihren Brüdern nicht die Genugtuung zu bereiten, sie in Tränen aufgelöst zu sehen.

Serena wandte sich blindlings zur Tür und brachte die Worte hervor: »Die Antwort ist immer noch nein, Tom, du kannst die Sklavenauktion also absagen.«

Trotz seiner Größe war Tom schnell auf den Beinen. Er kam Serena zuvor und schloss die Tür mit seiner schmierigen Hand. »Deine Meinung ist hier nicht gefragt, Serry. Du sollst nur gehorchen.« Seine Augen, die hinter den fettgepolsterten Lidern fast verschwanden, fixierten sie bedrohlich.

Vor Verzweiflung hätte Serena am liebsten nach ihm geschlagen, doch sie war klein, und ihre Brüder waren groß und brutal. »Das kannst du nicht machen!«, protestierte sie. »Ich bin nicht mehr fünfzehn, Tom. Ich bin eine Frau von dreiundzwanzig Jahren und in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu fällen.«

»Red keinen Unsinn.«

»Du bist es, der Unsinn redet! Es ist nicht mehr möglich, eine Frau gegen ihren Willen vor den Altar zu schleppen, und auf andere Weise bekommt ihr mich nicht dorthin.«

»Führ dich nicht so auf«, wiederholte Tom schroff. »Wenn du mir Scherereien machst, schicke ich dich in ein Freudenhaus. Einen halben Riesen bekomme ich dort auch noch für dich.«

Serena wurde unsicher, da sie wusste, er meinte, was er sagte.

Er öffnete die Tür mit hämischer Höflichkeit. »Ich sage dir Bescheid, wenn die Angebote abgegeben wurden.«

Serena ging wie betäubt hinaus, und die schwere Eichentür schlug hinter ihr zu. Das schallende Gelächter ihrer Brüder war im ganzen Haus zu hören.

Sie floh auf ihr Zimmer. Dummes, törichtes Ding. Sie hatte die Worte noch deutlich im Ohr. Sie hatte gedacht, acht Jahre Ehe – Jahre der Sklaverei, Jahre des Schreckens – hätten sie zumindest etwas gelehrt, sie klüger gemacht. Doch hier war sie nun – noch immer ein dummes Ding.

Sie war so erleichtert gewesen, so überglücklich, als Tom ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatte, dass sie keine Sekunde nachgedacht hatte. Sie hatte einfach ihr Hab und Gut gepackt und war unverzüglich mit Tom in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Nicht einen Moment lang waren ihr die rechtlichen Umstände in den Sinn gekommen. Nicht einmal die Tatsache, dass Matthew beinahe sein gesamtes Vermögen durchgebracht hatte, hatte sie beunruhigt.

Welche Bedeutung hatte schon Geld?

Sie war frei.

Matthew würde niemals wieder nach Stokeley Manor zurückkehren und verlangen, dass sie die Hure für ihn spielte. Er würde sie nie wieder dafür bestrafen, dass sie sich einer unzumutbaren Demütigung widersetzte.

Sie war frei.

Unruhig lief sie in ihrem kühlen Zimmer hin und her und rang vor Verzweiflung die Hände. Was konnte sie nur tun, um ihre eben gewonnene Freiheit nicht wieder aufgeben zu müssen?

Samuel Seale. Sie schloss die Augen voller Entsetzen. Ein Mann wie ihr verstorbener Ehemann. Ein großer, derber Kerl über fünfzig und äußerst verdorben. Und sie vermutete, dass Seale die Syphilis hatte. Wenigstens das hatte Matthew ihr erspart.

Sie hielt inne und umklammerte einen Bettpfosten.

Aber was?

Fliehen.

Ja, sie musste gehen. Irgendwohin gehen.

Aber wohin?

Fieberhaft zermarterte sie sich den Kopf – doch ein Zufluchtsort wollte ihr nicht einfallen.

Sie hatte nur wenige Verwandte, und darunter war kein Vertrauter, der sie vor ihren Brüdern beschützen würde. Während ihrer Ehe hatte ihr Mann sie praktisch als Gefangene in Stokeley in Lincolnshire gehalten und ihr den Kontakt mit Freunden oder dem ortsansässigen Adel untersagt. Und um die Wahrheit zu sagen – nur wenige dieser reichen Leute wären gewillt gewesen, jemanden von Stokeley Manor in ihren Kreis aufzunehmen. Nein, von dort war keine Hilfe zu erwarten.

Miss Mallory.

Serena hatte Miss Mallorys Schule in Cheltenham besucht. Von dort hatte man sie eines Tages abgeholt und geradewegs zu ihrer Hochzeit gebracht. Die kleine Schule war der letzte Ort gewesen, an dem sie sich behütet gefühlt hatte. Miss Emma Mallory war ihr als strenge, wenngleich freundliche, Schulleiterin und als energische Verfechterin der Frauenrechte im Gedächtnis geblieben. Sicherlich würde Miss Mallory ihr helfen.

Vorausgesetzt, Serena konnte sie ausfindig machen. Es war ein langer Weg von Sussex nach Gloucestershire.

Geld. Sie brauchte Geld.

Als sie ihr Zimmer durchsuchte, fand sie zwei Pfundnoten, eine Guinee und etwas Kleingeld. Nicht genug. Wo konnte sie bloß mehr Geld auftreiben?

Ihre nachlässigen Brüder ließen trotz Schulden überall Münzen herumliegen. Sie würde sie finden.

Kleidung.

Sie war bereits beim Packen einer Reisetasche, als ihr bewusst wurde, dass sie das Haus unmöglich mit Gepäck verlassen konnte, ohne Argwohn zu erregen. Sie hängte die Kleidungsstücke zurück in den Schrank. Es war schrecklich, mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib trug, fliehen zu müssen, aber alles in allem war sie froh, ihre Garderobe los zu sein.

Jedes Kleidungsstück, das sie besaß, war von Matthew, je nach Lust und Laune, in London ausgewählt und nach Stokeley gesandt worden. Alle Modelle waren von hervorragender Qualität, doch absichtlich so geschnitten, dass möglichst viel von ihren weiblichen Reizen zur Schau gestellt wurde.

Serena blickte in den Spiegel und ließ ihren Schal fallen. Wie konnte dieser teure Stoff nur so ordinär aussehen? Das Mieder betonte ihren vollen Busen, das Kleid lag eng am Körper an, und der weiche Stoff schmiegte sich an ihre Hüften. Am schlimmsten jedoch war das Parfüm.

Bevor man Serena die Kleider ausgehändigt hatte, waren sie mit diesem Parfüm getränkt worden. Ihre Zofe, besser gesagt ihre Gefängniswärterin, war angewiesen worden, die Prozedur regelmäßig zu wiederholen. Serena war die Zusammensetzung des Parfüms nicht bekannt, aber sein Geruch erinnerte keineswegs an Blumen. Sie wusste, es war ein Parfüm, das Huren benutzten, und dass Matthew der Gedanke amüsiert hatte, dass seine prüde Gattin danach stank.

Seit Matthews Tod hatte Serena den Gestank aus ihren Unterkleidern und den Baumwollstoffen waschen können, bei den schweren Kleidern würde ihr das jedoch nicht gelingen, ohne sie zu ruinieren. Und ohne das Geld, das ihre Brüder durchgebracht hatten, konnte sie sich nichts Neues kaufen …

Bitter rief sie sich ins Gedächtnis, dass von ihrem Geld nichts mehr übrig war.

Schließlich legte sie etwas Unterwäsche zusammen und stopfte sie in ihren Beutel. Sicher würde es keinen Argwohn erregen, wenn sie ihren Beutel bei sich trug. Ihr Schmuck! Matthew hatte ihr viele Schmuckstücke geschenkt, die er dann zu einem Teil seiner entwürdigenden Spielchen gemacht hatte. Die Erinnerung an diese Schmuckstücke ließ Serena erschaudern, doch der Schmuck gehörte ihr, und sie konnte ihn verkaufen.

Enttäuscht ballte sie die Hände zu Fäusten, als ihr einfiel, dass sie nicht wusste, wo sich die Schmuckstücke befanden. Bisher hatte sie nichts von ihnen wissen wollen, aber nun würden sie ihr Überleben sichern.

Ob sie in Toms Zimmer waren?

Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Sie hatte Angst, dass ihre Brüder kommen würden, um sie vor den Traualtar zu schleppen, oder dass sie bemerken würden, dass sie fliehen wollte. Sie griff nach ihrem prachtvollen, zobelgefütterten Seidenumhang und war dankbar, dass er sie so gut wärmte.

Eine andere Erinnerung kam ihr in den Sinn: Matthew hatte von ihr verlangt, dass sie ihn nackt – nur mit dem Zobelumhang bekleidet – auf einen Spaziergang in den Garten begleitete. Wie hatte er sich amüsiert, wenn sie mit hochrotem Kopf zu den Bediensteten sprach, während das seidige Fell ihre nackte Haut kitzelte.

Noch eines seiner harmloseren Vergnügen …

Sie versuchte, diese quälenden Gedanken zu verscheuchen. Ihre dicksten Handschuhe. Ihre robustesten Stiefel. Einige wenige Münzen in der Tasche. Da Matthew Hüten nichts hatte abgewinnen können, besaß sie nur einen einzigen, und der war sehr hoch und hatte eine breite Krempe. Sie wollte ihr Gesicht in der Kapuze ihres Umhangs verbergen, doch der Hut war zu groß, als dass die Kapuze ihn bedecken könnte.

Sie ließ ihn zurück.

Ihr Blick fiel auf ihre Ringe – einen großen Smaragd und den goldenen Ehering. Ein bitteres Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie waren schon so sehr zu einem Teil von ihr geworden, dass sie sie vergessen hatte. Sie würde die beiden Schmuckstücke verkaufen; sicher könnte sie von dem Erlös einige Zeit leben.

Sie sah sich noch einmal in dem Raum um, um sich zu vergewissern, dass sie alles mitgenommen hatte, was von Nutzen für sie sein konnte. Als sie als Witwe mit Tom hierher zurückgekehrt war, war ihr diese düstere Kammer, ihr Mädchenzimmer, als Ort der Zuflucht erschienen – eine Rückkehr zur Unschuld ihrer allzu kurzen Kindheit. Sie erkannte nun, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Mit klopfendem Herzen warf sie einen verstohlenen Blick auf den kalten, düsteren Korridor. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Sie lief den Flur hinunter zu Toms Zimmer und trat ein, ließ die Tür aber offen stehen. Ihr Bruder hatte einen lauten Schritt; sie würde ihn kommen hören.

Sie durchkämmte jeden Winkel des Zimmers und fand noch ein paar Guineen. Als sie im Staub hinter Toms Waschgestell auf eine goldene Taschenuhr stieß, zögerte sie nicht, sie einzustecken. Von ihren Schmuckstücken war jedoch weit und breit keine Spur zu entdecken. Verzweifelt suchten ihre Augen den ganzen Raum ab, doch sie konnte kein Versteck ausmachen und wagte nicht, sich noch länger dort aufzuhalten.

Als Nächstes nahm sie sich Wills Zimmer vor und ließ noch ein paar Münzen mitgehen. Mittlerweile hatte sie beinahe zehn Guineen beisammen.

Nur mühsam gelang es ihr, einen verzweifelten Aufschrei zu unterdrücken. Zehn Guineen waren eine beträchtliche Summe, aber keineswegs genug, um sie vor dem Hungertod zu bewahren.

Lieber sterben als entehrt werden.

War eine Heirat wirklich ein schlimmeres Schicksal als der Tod? Schließlich konnte ihre riskante Flucht ihren Tod bedeuten.

Serena wurde bewusst, dass sie auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg bereits zu lange gedankenverloren herumgestanden hatte. Es gab keinen. Sie zwang sich weiterzugehen, die Treppen hinabzusteigen und ihr Elternhaus für immer zu verlassen.

Auf dem Weg zum Seitenausgang blieb sie vor der Bibliothek stehen. Manchmal verbrachten die Brüder hier ihre Abende – natürlich nicht in Bücher, sondern ins Glücksspiel vertieft. Sie lächelte bitter, als sie eine Guinee und eine Krone auf dem Boden entdeckte.

Ihr Fund zeigte, dass das faule Personal heute nicht geputzt hatte, aber das sollte nicht mehr länger ihre Sorge sein. Als sie sich in Richtung Tür wandte, hörte sie schwere Fußtritte näher kommen. Schuldbewusste Panik nahm ihr den Atem. Sie lief eilends in die Bibliothek zurück und griff willkürlich nach dem nächsten Buch. Tom betrat den Raum.

»Steckst du deine Nase schon wieder in die Bücher?«, fragte er höhnisch. »Ich verstehe nicht, warum Matthew dir das erlaubt hat. Du wirst noch alt und buckelig werden, wenn du den ganzen Tag über Büchern brütest.«

Mit klopfendem Herzen schloss Serena das Buch. Er wird es erraten. Er weiß, was ich vorhabe. »Matthew war es egal, was ich während seiner Abwesenheit tat, und ich hätte nichts dagegen, anders auszusehen.«

»Sei nicht so verdammt dumm, Serry. Wenn du keine so atemberaubende Schönheit wärst, würde ich dich zum Putzen schicken. Da würde dir eine Heirat bald als die bessere Alternative erscheinen. Ich glaube, der alte Riverton hat dich ganz schön verzogen.«

Er kam auf sie zu und nahm ihr mit einem Ruck das Buch aus der Hand. »Was ist es denn diesmal? Byron? Keats?« Dann ließ er das Buch offen auf den Tisch fallen und brach in schallendes Gelächter aus. »Oh, Serry, du bist mir eine! Wohl auf den Geschmack gekommen, was? Verstehe nur nicht, warum du dich dann so gegen eine Heirat sträubst?« Serena stellte mit Entsetzen fest, dass das Buch, das sie wahllos aus dem Regal genommen hatte, einer der stupiden erotischen Wälzer ihrer Brüder war. Tom hielt ihr triumphierend eine der Illustrationen unter die Nase. »Gefällt dir wohl, was?«, fragte er und betrachtete das anstößige Bild eingehend.

Serena konnte dies nicht verneinen, ohne Verdacht zu erregen, sich aber auch nicht überwinden, ihm beizupflichten.

Ihr Bruder sah in ihr tief errötetes Gesicht und schüttelte den Kopf. »Und du kannst noch immer erröten. Du bist mir vielleicht eine merkwürdige Person, Serry. Aber ich kann verstehen, warum die Männer so verrückt nach dir sind. Fräulein Etepetete mit dem Körper und den Augen einer Hure. Und den Gedanken einer Hure, wie ich sehe. Das ist die Rolle, die dir das Leben zugedacht hat, weißt du. Hure. Mit deiner Figur, der Art, wie du dich bewegst, dem Blick in deinen Augen, als wärst du gerade aus einem leidenschaftlich zerwühlten Bett aufgestanden …«

Wieder wanderten seine Blicke lüstern über ihren Körper.

»Vielleicht sollten wir die Angebote erweitern«, sagte er nachdenklich. »Es gibt nicht viele Männer, die dich zur Ehefrau möchten, aber als Mätresse, nun, das ist eine andere Sache. Als Mätresse könntest du es weit bringen – sogar einem Lord, einem Herzog zu Diensten sein. Unfruchtbarkeit ist für eine Mätresse nur noch ein zusätzlicher Pluspunkt.«

Serena ließ seine Worte über sich ergehen. Sie würde fliehen. Nichts von alledem würde ihr zustoßen.

Ihr Bruder gab ihr das Buch zurück und tätschelte ihre Hand mit höhnischer Zuneigung. »Na los, Schwesterherz, studier dein Gewerbe.«

Das Buch umklammernd eilte Serena aus der Bibliothek, das schmutzige Gelächter ihres Bruders noch in den Ohren. Als sie sich außerhalb des Hauses befand, zwang sie sich, betont langsam und scheinbar ohne Ziel durch den kühlen spätherbstlichen Garten zu gehen.

Innerlich war sie jedoch keineswegs ruhig. Ihre Flucht war nun dringlicher als je zuvor. Wie sollte sie nur am besten vorgehen?

Sie hatte Zeit. Weder sie noch ihre Brüder aßen regelmäßig zu Mittag, und die Dienstboten würden nicht nach Arbeit suchen. Es war durchaus möglich, dass man sie bis zum Abend nicht vermissen würde. Bis dahin war sie bereits über alle Berge.

Sie zweifelte jedoch nicht daran, dass ihre Brüder nach ihr suchen würden. Schließlich konnten sie mit ihr, wenn sie sie an ein Freudenhaus verkauften, mindestens fünfhundert Pfund verdienen. Eigentlich war sie mindestens zehntausend Pfund wert, denn um diesem Schicksal zu entgehen, würde sie sogar Seale heiraten.

Dreißigtausend Guineen. Ihr Vater hatte sie für dreißigtausend Guineen verkauft

Der Gedanke an diesen schmerzlichen Verrat brachte sie beinahe um den Verstand, aber sie zwang sich, an die Gegenwart zu denken.

Flucht.

Sie lief durch den Obstgarten und beschleunigte dann ihren Schritt. Als sie bemerkte, dass sie das ekelhafte Buch noch immer in den Händen hielt, schleuderte sie es in einen Brennnesselbusch und kletterte über einen Zaun aufs offene Feld hinaus. Bis zum nächsten Halteplatz der Postkutsche waren es drei Meilen. Sie konnte nur hoffen, dass sie eine vorbeifahrende Postkutsche mitnehmen würde. Sie glaubte sich zu erinnern, dass die Kutschen alle paar Stunden verkehrten, aber vermutlich benötigte man eine Fahrkarte.

Serena war sich ihrer entsetzlichen Unwissenheit in weltlichen Angelegenheiten nur allzu bewusst. Man hatte sie mit fünfzehn aus der Schule genommen und in Stokeley Manor eingekerkert. Von diesem Tag an war es ihr, bis auf die letzten drei Monate, als sie versucht hatte, im Haus ihrer Brüder Ordnung zu schaffen, nie erlaubt worden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

War sie überhaupt fähig, alleine zu überleben?

Es würde ihr keine andere Wahl bleiben.

Nachdem sie ein zweites Mal über einen Zaun geklettert war, gelangte sie auf die Landstraße. Serena vergewisserte sich, dass sie ihre Kapuze weit ins Gesicht gezogen hatte, falls jemand vorbeikam, der sie vielleicht erkennen könnte, und lief entschlossen weiter.

Zweites Kapitel

Was halten Sie von einem Ritt nach Canholme, Middlethorpe?«

Francis, Lord Middlethorpe, sah von seinen gegrillten Nierchen auf und antwortete Lord Uffham, dem Sohn seines Gastgebers. »Warum nicht? Es wird wohl ein schöner Tag.« Dann wandte er sich an die junge Dame am Tisch. »Würden Sie uns begleiten, Lady Anne?«

Lady Anne war eine blasse, zierliche Person und obwohl nicht schüchtern, sehr still. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Sehr gerne, Mylord.«

Lord Middlethorpe beabsichtigte, sie zu seiner Frau zu machen.

Die Angelegenheit war jedoch noch nicht spruchreif. Francis hatte noch nicht offiziell bei Annes Vater um ihre Hand angehalten. Die bevorstehende Heirat der beiden war jedoch ein offenes Geheimnis. Bevor Francis Lea Park verließ, würde er um Annes Hand anhalten und die Einwilligung des Herzogs erhalten.

Die beiden waren ein perfektes Paar. Anne gehörte zu einer der angesehensten Familien des Landes, und ihre Mitgift war dementsprechend großzügig. Beide Familien waren gut miteinander bekannt und von der Verbindung sehr angetan. Anne war liebenswürdig, intelligent, ohne ein Bücherwurm zu sein, und auf eine unaufdringliche Art und Weise hübsch. Die Tatsache, dass sie hinkte, störte ihren zukünftigen Gatten nicht im Geringsten.

Angesichts dieser allzu perfekten Verbindung verspürte Francis jedoch ein gewisses Unbehagen, tat dies aber als töricht ab. Nur weil seine Freunde sich in Abenteuer und Leidenschaften verstrickten, bedeutete das noch lange nicht, dass er dasselbe tun musste. Francis hatte immer gewusst, dass dies nicht sein Weg im Leben war.

Er war bereits im Alter von zwölf Jahren zu Besitz und Titel gekommen. Seit dieser Zeit hatte er für seine Mutter und seine drei Schwestern ganz allein die Verantwortung getragen. Seine Mutter verwaltete Thorpe Priory mit großer Kompetenz, doch ihr zukünftiges Wohlergehen lag in seinen Händen. Seine Schwestern waren mittlerweile gottlob verheiratet, und er war somit seiner Verantwortung enthoben. Francis hatte immer gewusst, dass es seine Pflicht war, auf seine Gesundheit achtzugeben, weise mit seinem Vermögen umzugehen, seinen Besitz zu vergrößern und standesgemäß zu heiraten, um Erben hervorzubringen. Vermutlich hatte er eine Heirat länger hinausgezögert, als es klug gewesen war. Sollte er sterben, ohne einen Erben gezeugt zu haben, würde das Anwesen an einen entfernten Cousin fallen, der eine eigene große Familie besaß. In diesem Fall würde seine Mutter jede Verbindung zu dem geliebten Anwesen verlieren, auf dem sie so viele glückliche Jahre mit seinem Vater verbracht hatte.

Es wäre jedoch schön gewesen, dachte er wehmütig, ein oder zwei Abenteuer im Leben erfahren zu haben. Sein Freund Nicholas Delaney hatte die Welt bereist und sich zweimal in großer Gefahr befunden, bevor er sesshaft geworden war …

Er wurde sich bewusst, dass man ihn angesprochen hatte, und wandte sich lächelnd Anne zu.

»Hätten Sie etwas dagegen, Mylord, wenn wir einen kleinen Umweg machten? Ich habe der Schule in Kings Lea ein paar Bücher versprochen und würde sie gerne persönlich dort abgeben.«

»Natürlich nicht. Gelehrige Wälzer? Bibeln?« Er zog sie auf, doch sie antwortete ihm ernsthaft.

»Damit ist man dort bereits bestens versorgt. Wie konnten Sie etwas anderes annehmen? Nein, es sind Geschichten in Reimform für die Jüngeren, einige Geografiebücher und derlei. Bücher, die man die nächsten Jahre in unserem Schulzimmer nicht benötigen wird, besonders da Uffham seiner Pflicht nicht nachkommt.« Der ernst gemeinte Vorwurf war an ihren ältesten Bruder gerichtet.

»Du meine Güte, Annie, ich bin noch nicht mal fünfundzwanzig! Gib einem jungen Mann doch die Chance, sich etwas auszutoben, bevor du ihn lebenslänglich in Ketten legst.«

»Die Ehe ist kein Gefängnis«, erwiderte Lady Anne mit sanfter Entschlossenheit und einem verstohlenen, verräterischen Blick in Francis’ Richtung.

Glücklicher Uffham. Auch seine Zukunft war vorherbestimmt – er würde heiraten und seinen Pflichten als Herzog nachkommen –, doch wenigstens bestand für ihn kein Grund zur Eile. Er hatte sogar noch zwei gesunde jüngere Brüder, um sein Gewissen zu beruhigen.

Dienstboten brachten frischen Kaffee und räumten benutztes Geschirr und erkaltetes Essen ab, während die Familie am Tisch sitzen blieb und Pläne für den Tag schmiedete. Der Sekretär des Herzogs kam mit der persönlichen Post herein und verteilte sie. Francis war überrascht, selbst einen Brief zu erhalten, denn er hatte seiner Mutter für die Zeit seiner Abwesenheit die Vollmacht erteilt, sich um alle den Besitz betreffenden Angelegenheiten zu kümmern und die persönliche Korrespondenz zu öffnen.

Dieser Brief war jedoch nicht von Thorpe Priory an ihn weitergeschickt worden, sondern direkt an seine momentane Adresse gerichtet. Es war ihm etwas unbehaglich zumute, als er das Siegel aufbrach und den Brief entfaltete.

Mylord,

ich vermute, man hat Sie von den Geschehnissen nicht in Kenntnis gesetzt, und Täuschung nutzt niemandem. Im Interesse aller bitte ich Sie, sich bei Ihrer Mutter nach mir zu erkundigen. Sollte sie Ihnen keine Antwort geben, werde ich es tun. Ich befinde mich während der nächsten Woche im Crown and Anchor in Weymouth.

Charles Ferncliff

Francis war so überrascht, dass ihm die Worte »Was zum Teufel?«, entglitten. Eilig entschuldigte er sich.

»Haben Sie schlechte Nachrichten erhalten, Mylord?«, erkundigte sich Anne.

»Das kann ich kaum sagen.« Francis konnte diese seltsame Botschaft hier unmöglich enthüllen. Das Einzige, was er tatsächlich tun konnte, war, den Brief seiner Mutter zu zeigen, um zu sehen, ob sie eine Erklärung dafür hatte. »Ich fürchte, ich muss mich in Priory um eine Familienangelegenheit kümmern. Wenn Sie einem solch ungefälligen Gast vergeben, hoffe ich, noch vor heute Abend zurückzukehren.«

»Natürlich«, antwortete der Herzog. »Keine Frage, mein Junge. Familienangelegenheiten sind vorrangig. Hoffentlich gibt es keine ernsthaften Schwierigkeiten.«

»Ich denke nicht, Herzog«, antwortete Francis und erhob sich. Wer um Himmels willen war Charles Ferncliff, und welche mögliche Verbindung bestand zu seiner Mutter?

Er bat um seinen offenen Zweispänner und ließ sich Mantel, Handschuhe und Hut bringen, nahm aber sonst nichts mit. Zweifelsohne würde er in Kürze zurückkehren. In stillschweigendem Einverständnis begleitete Anne ihn zur Tür.

»Ich bedauere dies zutiefst, Lady Anne.« Er bediente sich einer Notlüge. »Es handelt sich um eine Angelegenheit, die meine Mutter nicht alleine regeln kann.«

»Dann muss es sich zweifelsohne um eine schwerwiegende Sache handeln«, bemerkte Anne lächelnd. »Lady Middlethorpe verfügt über eine so außerordentliche Kompetenz.«

»In der Tat.« Es war ausgezeichnet, dass Anne und seine Mutter einander so viel Sympathie und Respekt entgegenbrachten. Sie ähnelten sich sogar in ihrem Wesen und Geschmack. Beide waren der Inbegriff guten Benehmens, von angenehmer Zurückhaltung, untadeligem Äußeren und verhielten sich stets vorbildlich. Francis vermutete, wenn Anne erst einmal Herrin ihres eigenen Anwesens war, würde sie es an Kompetenz durchaus mit Lady Middlethorpe aufnehmen können.

Am liebsten hätte er sofort mit Lady Anne gesprochen, um die Angelegenheit zu regeln, rief sich aber zur Vernunft. Es schickte sich kaum, auf dem Flur, in Anwesenheit des Kammerdieners und zweier Bediensteter, in aller Eile um ihre Hand anzuhalten. Doch er spürte, dass es Zeit zum Handeln war. Noch an diesem Abend würde er mit dem Herzog sprechen. Er würde seine Zustimmung ersuchen, die Vorbereitungen treffen und dann mit Anne den Bund fürs Leben schließen.

Er nahm ihre Hand und küsste diese innig. »Ich werde so bald als möglich zurückkehren. Sie wissen das.«

Sie verstand wohl, was er damit zu sagen beabsichtigte, und senkte verlegen den Kopf. Eine sanfte Röte flog über ihr Gesicht. Dann hörte sie die Pferde draußen auf dem Kies vor der Tür. Die Dienstboten halfen Francis in den Mantel, und er verließ das Anwesen.

 

Zwei Stunden später tauchten vor Francis die großen schmiedeeisernen Tore seines Zuhauses, Thorpe Priory, auf. Der Pförtner öffnete sie in Windeseile, und die Familie des Mannes lief herbei, um sich in Ehrerbietung zu verbeugen und zu knicksen.

Francis erhob die Hand zum Gruß, verlangsamte sein Tempo jedoch nicht. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, sein Gespann auf die lange, gerade Zufahrt zum Anwesen zu lenken. Im Laufe der vergangenen Stunden hatte sich auch seine Anspannung verstärkt. Etwas ausgesprochen Seltsames war hier im Gange.

Er brachte das schnaubende Gespann vor dem Eingangstor zum Stehen, warf seinem Reitknecht die Zügel zu und schritt ins Haus. Dienstboten erwarteten ihn bereits, um ihm aus seiner Reitkleidung zu helfen.

»Wo befindet sich meine Mutter?«

»In ihren Gemächern, Mylord.«

Er stieg eilig die Stufen hinauf, klopfte an und trat ein.

Lady Middlethorpe, eine ansehnliche Frau, die ihrem Sohn das schwarze Haar und die feingliedrige Gestalt vererbt hatte, saß vor dem Kamin und schien völlig überrascht. »Francis! Was um alles in der Welt tust du hier?«

Ihr Sohn war erstaunt, seine Mutter, sonst stets eine Dame von großer Selbstbeherrschung, so aufgeregt zu sehen. Ihre Finger spielten nervös mit ihrer Stola, eine Angewohnheit, die sie sonst verabscheute. Er durchquerte den Raum und reichte ihr den Brief. »Diese Nachricht habe ich heute erhalten.«

Lady Middlethorpe warf einen Blick darauf, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie schien die Zeilen sehr viel länger zu lesen, als es die knappen Worte erforderlich machten, ließ sich dann auf einer Chaiselongue nieder und bedachte Francis mit ihrem liebenswürdigsten, verbindlichsten Lächeln. »Bist du gerade erst angekommen? Du musst halb verdurstet sein, mein lieber Junge. Soll ich Tee bringen lassen?«

Francis traute seinen Ohren kaum. »Nein danke. Komm bitte zur Sache, Mutter. Was hat es mit dem Brief auf sich?«

»Ich würde es begrüßen, wenn du dich in meiner Gegenwart um einen gemäßigteren Ton bemühen würdest, Francis!«

»Ich werde mich einer sehr viel direkteren Ausdrucksweise bedienen müssen, wenn du mir nicht mitteilst, was hier vor sich geht!«

Er schlug seiner Mutter gegenüber normalerweise nicht einen solch nachdrücklichen Tonfall an, doch anstatt ihn zu rügen, warf sie ihm einen ausgesprochen nervösen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf das Feuer im Kamin. Ihre Finger begannen erneut mit den verknoteten Fransen ihrer Stola zu spielen. »Ich verstehe nicht, warum du Lea Park so überstürzt verlassen hast. Deine Abreise muss bei den Arrans einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen haben.«

»Mutter«, fragte Francis, dessen Geduld nun auf eine harte Probe gestellt wurde, »wer ist dieser Charles Ferncliff, und was hat es mit dem Brief auf sich?«

Sie seufzte. »Er ist ein junger Mann, der die Söhne der Familie Shipley unterrichtet hat.«

Als Erklärung war dies vollkommen ungenügend. »Aber was hat es mit dem Brief auf sich? Was sollst du mir mitteilen?«

Er erwartete keine Antwort, doch seine Mutter blickte ihn an und erwiderte: »Wahrscheinlich, dass er mich erpresst.«

»Erpresst! Aus welchem Grund, um Himmels willen?«

Hochrot antwortete Lady Middlethorpe: »Er droht, mein … mein unangemessenes Verhalten an die Öffentlichkeit zu bringen.«

»Unan…« Francis musste ein Lachen unterdrücken. »Bei wem zum Teufel sollst du ein unangemessenes Verhalten an den Tag gelegt haben?«

»Francis! Diese Ausdrucksweise! Und obwohl du ganz offensichtlich anderer Meinung bist, bin ich mit meinen siebenundvierzig Jahren noch nicht altersschwach.«

Er starrte sie an und wurde sich bewusst, dass seine Mutter auf ihre Art noch immer eine sehr schöne Frau war. Sie war schlank und zierlich, ihre großen blauen Augen leuchteten, ihre Haare waren immer noch dunkel. »Natürlich nicht, Mutter. Du weißt, ich habe dich gedrängt, eine erneute Heirat zu erwägen. Aber niemand würde jemals auf den Gedanken kommen, dich unziemlichen Verhaltens zu bezichtigen.«

»Ich danke dir«, antwortete sie steif. »Was eine erneute Heirat betrifft, so hätte ich dies als Respektlosigkeit dem Andenken deines Vaters gegenüber empfunden.«

Francis konnte nicht glauben, dass dies im Sinne seines sanftmütigen, liebevollen Vaters gewesen wäre, doch nun war kaum der geeignete Zeitpunkt, darüber zu diskutieren.

»Wie du wünschst«, antwortete er. »Und was diesen Lehrer betrifft – der Mann muss verrückt sein. Warum hat er sich nur ausgerechnet dich für eine solche Dummheit ausgesucht?«

Lady Middlethorpe zuckte hilflos mit den Schultern, doch die Schamesröte stand noch immer in ihrem Gesicht. »Ich befürchte, mein Lieber, der Grund dafür ist, dass ich mit den Shipleys über ihn gesprochen habe. Er ist zwar ein sehr kluger Mann, schien den Jungen aber Flausen in den Kopf zu setzen und sie zur Aufmüpfigkeit anzustiften. Meiner Meinung nach übt er nicht gerade den besten Einfluss auf junge Menschen aus, und so unterrichtete ich die Shipleys davon. Meine Stellungnahme trug zweifellos zu ihrer Entscheidung bei, Ferncliff nach Greshams Eintritt ins Internat nicht mehr länger als Lehrer für die jungen Knaben zu behalten.«

Typisch, dachte Francis. Seine Mutter mischte sich mal wieder in anderer Leute Angelegenheiten, in der festen Überzeugung zu wissen, was für jeden das Beste war. Es klang ganz danach, als hätten die Jungen mit dem Lehrer eine ganze Menge Spaß gehabt, ganz anders als er damals mit dem langweiligen und ehrwürdigen Mr. Morstock, der ihn auf sein Internat, Harrow, vorbereitet hatte.

Doch in diesem Fall, rief er sich ins Gedächtnis, hatte sich das Urteil seiner Mutter bewahrheitet. Der Mann war ganz eindeutig ein Erpresser und ziemlich wahrscheinlich verrückt.

»Und er belästigt dich? Ich wünschte nur, du hättest mir früher davon erzählt, aber ich werde mich nun um die Angelegenheit kümmern. Was fordert er?«

Sie lachte leise auf. »Oh, Francis, es ist eine solch hässliche Angelegenheit. Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser Mann es ernst meint.«

»Ernst oder nicht, ich werde ein solch verachtungswürdiges Verhalten nicht dulden. Was verlangt er?«

Das aufgesetzte Lächeln wich aus ihrem Gesicht. »Ich bestehe darauf, dass du die Angelegenheit ignorierst, Francis.«

»Es tut mir leid, Mutter, aber das kann ich unmöglich tun. Was ist Ferncliffs Preis dafür, diese Lügen nicht zu verbreiten?« Sie starrte ihn ärgerlich an. Francis erwiderte ihren Blick mit einem Ausdruck seinerseits, der besagte, dass er diesmal darauf bestand, die Sache auf seine Weise zu regeln.

Schließlich senkte seine Mutter den Blick. »Zehntausend Pfund«, flüsterte sie.

»Zehntausend Pfund! Der Mann ist reif fürs Irrenhaus.«

»Du wirst nicht zahlen, nicht wahr?«, fragte sie ängstlich.

»Sicherlich nicht. Zumal es kein leichtes Unterfangen ist, über eine solche Summe in bar zu verfügen, und ich nicht die Absicht hege, einem debilen Erpresser nach der Pfeife zu tanzen. Schließlich sind das alles leere Drohungen. Mit einem Haufen Lügen wird er keinen großen Schaden anrichten können.«

»Um so mehr Grund, ihn zu ignorieren.«

»Keineswegs. Er soll lernen, dass er dich nicht auf diese Weise belästigen kann.«

Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. »Was hast du vor?«

»Ich werde seine kurzfristige Einladung annehmen und mich nach Weymouth begeben, um diesem Lehrer eine Lektion zu erteilen.«

Seine Mutter erhob sich eilig. »Nein, Francis! Das verbiete ich!«

Francis begann zu befürchten, dass die Angelegenheit seiner Mutter langsam den Verstand raubte. »Ich versichere dir, Mutter, das ist die wirkungsvollste Methode, der Sache ein Ende zu bereiten. Ich möchte, dass du die ganze unschöne Angelegenheit aus deinem Gedächtnis streichst.«

Sie hielt ihn am Ärmel zurück. »Aber du könntest verletzt werden, mein lieber Junge.«

Er sah sie ungläubig an. »Von einem Lehrer

»Er ist … ein ziemlich kräftiger junger Mann. Größer als du. Athletisch. Ein strenger Brief von dir wäre ebenso wirkungsvoll. Und sehr viel sicherer.«

Diese Bemerkung rief in Francis einen nur allzu vertrauten Unwillen hervor. Er war ein zierlicher, empfindsamer Junge gewesen, und seine Mutter hatte noch immer die Angewohnheit, sich übermäßige Sorgen um ihn zu machen. Er hatte geglaubt, ihre Einstellung hätte sich vielleicht mittlerweile geändert. Trotz seiner zierlichen Statur war er durchaus in der Lage, auf sich selbst und andere aufzupassen.

Er berührte zärtlich die Hand seiner Mutter. »Seine Statur spielt keine Rolle, Mutter. Ich beabsichtige nicht, mich zu duellieren, es sei denn, er besteht darauf, aber ich möchte den Mann persönlich zur Rede stellen.«

»Allmächtiger.« Sie ließ von seinem Ärmel ab und rang verzweifelt die Hände, als rechnete sie ernsthaft damit, dass ihr Sohn in seinen sicheren Tod ging.

»Mutter«, mahnte er sie eindringlich, »bitte hör auf, dich in dieser Weise zu beunruhigen. Du wirst dich noch ganz krank machen. Ich muss gestehen, ich hätte gute Lust, diesen Ferncliff grün und blau dafür zu schlagen, dass er dir solche Sorgen bereitet, aber dazu wird es nicht kommen.«

Sie wandte sich beinahe ruckartig um. »Aber was ist mit Lady Anne?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Sie wird zutiefst verletzt sein, dass du sie verlassen hast. Du musst auf dem schnellsten Wege nach Lea Park zurückkehren.«

Francis betrachtete seine Mutter mit ernsthafter Besorgnis. »Unsinn, liebe Mutter. Anne wird sich auch in ein paar Tagen noch dort befinden, und diese Angelegenheit muss unverzüglich geregelt werden. Ich werde sofort nach Weymouth aufbrechen. Du sollst dir wegen dieser Sache kein Kopfzerbrechen mehr zu machen brauchen, denn dieser Ferncliff wird dich nie mehr belästigen.« Er küsste sie auf die erröteten Wangen und verließ den Raum, bevor sie eine weitere Protestbekundung äußern konnte.

 

Als ihr Sohn gegangen war, stützte Lady Middlethorpe verzweifelt den Kopf in die Hand. Was um alles in der Welt sollte sie nun bloß tun? Warum hatte sie nicht daran gedacht, dass Charles Francis’ Aufenthaltsort ausfindig machen und ihm dorthin schreiben konnte?

Charles’ und Francis’ Aufeinandertreffen würde zweifellos in einer Katastrophe enden.

Lady Middlethorpe entnahm einem Fach ihres Sekretärs einen Brief, den sie an diesem Tag erhalten hatte, der letzte einer Reihe von Briefen, die Charles ihr geschrieben hatte.

… Ich werde Deinem Sohn alles erzählen, und ihm die Briefe zeigen, die Du mir gesandt hast. Ich bin überzeugt, wenn er erfährt, wie es um unsere Gefühle bestellt ist, wird er gegen unsere Verbindung nichts einzuwenden haben. Es wäre mir jedoch lieber, Du würdest ihm Deine Gefühle gestehen, meine Liebe. Ich weiß, dass Du über die gegenwärtige Situation so unglücklich bist wie ich. Die Erinnerung an diesen einen Nachmittag voller Leidenschaft will mich nicht loslassen. Ich leide Höllenqualen.

Es ging ihr nicht anders. Auch ihr wollten die Erinnerungen an jenen Nachmittag nicht aus dem Kopf, und im Gegensatz zu Charles musste sie in diesem Haus leben, auf der Chaiselongue sitzen, wo sie beide …

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, Schuldgefühle und Verlangen übermannten sie. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können? Wie hatte sie nur auf solch schamlose Art und Weise ihre Stellung und das Andenken ihres verstorbenen Gatten verraten können, indem sie sich von einem mittellosen jungen Mann in dem Haus, das ihr Mann und sie erbaut hatten, hatte lieben lassen?

Wie konnte sie nur das starke Verlangen verspüren, den schamlosen Akt zu wiederholen?

Das schlechte Gewissen hatte sie so geplagt, dass sie auf Charles’ Entlassung gedrungen hatte, in der Hoffnung, ihn so aus ihrem Leben verbannen zu können. Doch er hatte weiter um sie geworben.

Schließlich hatte sie vorgegeben, Francis hätte Einwände gegen diese Verbindung. Durchaus kein abwegiger Gedanke. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie ihr Sohn auf ihre Beziehung mit einem Mann wie Charles reagieren würde. Charles hatte sich auch davon nicht abschrecken lassen. Er war sich sicher gewesen, Francis von der Angemessenheit der Verbindung überzeugen zu können. Und wahrscheinlich hatte er damit sogar recht gehabt.

Panikerfüllt durch Francis’ plötzliche Ankunft hatte sie nun all ihren Lügen noch eine weitere hinzugefügt. Charles hatte sie nie erpresst, nie Geld von ihr gefordert. Das Einzige, was er je von ihr gefordert hatte, war, ihrem Sohn und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein.

Sie hatte versagt.

Und nun machte sich ihr Sohn auf, um ihren Liebhaber zur Rede zu stellen, und das konnte in einer Katastrophe enden. Das geringere Übel wäre noch, dass Charles Francis die Wahrheit erzählte und ihr Sohn sie danach verachten würde. Im schlimmsten Fall aber würde es zu einem Duell kommen, und einer der Männer würde sterben.

Francis war immer ein friedfertiger Mann gewesen, doch seit er unter dem Einfluss von Nicholas Delaney und seinen grobschlächtigen Freunden stand, war sich Lady Middlethorpe nicht mehr sicher, zu was er in der Lage war. Die Bemerkungen über eine Schlägerei hatten sie in große Unruhe versetzt, aber es war der Gedanke an Pistolen, der ihr wirklich Angst einjagte. Männer forderten sich wegen der trivialsten Dinge zum Duell heraus. Lady Middlethorpe ließ sich auf den Stuhl vor ihrem edlen Sekretär nieder und verfasste eilends zwei Nachrichten. Nur kurze Zeit nachdem sich ihr Sohn auf den Weg gemacht hatte, ritten zwei Reitknechte von Priory los, um die Briefe zu überbringen.

Der eine wurde nach Redoaks in Devon gesandt, dem Heim von Francis’ engstem Freund. Sosehr sie dem Einfluss misstraute, den Nicholas Delaney auf ihren Sohn hatte, so hielt sie ihn doch für genau den Mann, der verhindern konnte, dass sich Charles und Francis duellierten.

Die andere Nachricht war für Charles Ferncliff im Crown and Anchor in Weymouth bestimmt. Wäre Charles bei Francis’ Ankunft doch abwesend, damit ein Treffen gar nicht erst möglich würde!

Lady Middlethorpe hoffte inständig, dass dies das Ende der Angelegenheit sein würde und sie nie wieder von Charles hören müsste. Doch bei dem Gedanken traten ihr die Tränen in die Augen.