Leseprobe Der verführerische Kuss des Duke

1. Kapitel

Yorkshire, England, 1860

Lord Edward Rawlings, zweiter und einziger überlebender Sohn des verblichenen Herzogs von Rawlings, war nicht glücklich.

Yorkshire war nicht gerade der angenehmste Ort, den Winter zu verbringen; manchmal kam es einem wochenlang so vor, als schiene die Sonne überhaupt nicht mehr. Doch das war nicht der Grund. Es lag auch nicht daran, dass Lady Arabella Ashbury – deren Gatte ein Anwesen in unmittelbarer Nachbarschaft von Rawlings Manor besaß – gegenwärtig zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um ihm ihre werte Aufmerksamkeit zu schenken.

Nein, Edward war aus Gründen unglücklich, die er wahrscheinlich nicht in Worte zu fassen vermocht hätte, selbst wenn er es gewollt hätte. Und er wollte nicht, denn die einzige momentan verfügbare Person war eben die Vicomtesse von Ashbury. Obschon bekannt in ganz England für ihre feineren Attribute, beispielsweise ein elfenhafter Teint und elegante Fesseln, gehörte ein verständnisvolles Ohr nicht zu ihren Vorzügen.

»Ich werde Mrs. Praehurst anweisen, genügend Leberpastete für fünfzig Personen zu bestellen«, sagte Lady Ashbury und machte ein Häkchen auf ihrer Liste ausgewählter Dinge; diese war dazu bestimmt, von Edward zwecks Beschaffung der gewünschten Güter an seine Haushälterin übergeben zu werden, bevor ihre gemeinsamen Freunde aus London zur Jagd am Wochenende in Yorkshire einträfen. »Ich habe festgestellt, dass sich die Leute auf dem Lande oft nichts aus Leberpastete machen. Die Herbert-Töchter könnten keine Leberpastete von einem Hackbraten unterscheiden.«

Edward, ausgestreckt auf der Chaiselongue vor dem Kaminfeuer im goldenen Salon, entfuhr ein Gähnen. Er versuchte, es zu unterdrücken, aber es war zu spät. Zum Glück hatte es Lady Ashbury, die es keinesfalls gewohnt war, dass Männer in ihrer Gesellschaft gähnten, nicht mitbekommen.

»Ich sehe gar nicht ein, warum du die Herbert-Töchter einladen solltest«, fuhr Lady Ashbury fort. Sie klang zwar nicht verdrießlich, aber auch nicht leichthin. »Ihr Vater mag zwar dein Verwalter sein, aber ich kann nicht behaupten, das Gefühl zu haben, dass er dir gute Dienste erweist.«

Edward beugte sich auf der Chaiselongue nach vorne, um sich aus der Karaffe einen weiteren Schwenker Brandy zu genehmigen. Die Karaffe hatte er in Reichweite auf dem Beistelltisch platziert. Er war schon ziemlich betrunken und hatte vor, diesen Zustand noch zu steigern, bevor der Nachmittag in den Abend überging. Eine der angenehmen Eigenschaften der Vicomtesse von Ashbury war, dass sie ein derartiges Benehmen offenbar nicht störte.

»Schließlich, Edward«, fuhr Lady Ashbury fort, »wenn Sir Arthur Herberts sogenannten unermüdlichen Anstrengungen im Dienste des Rawlings-Anwesens nicht wären, dann wärst du jetzt Herzog anstelle dieser Brut deines Bruders.«

Edward lehnte sich zurück, nippte an seinem Brandy und richtete den Blick himmelwärts. Die Decke des goldenen Salons war von gedämpftem Gelb, passend zu den schweren Samtvorhängen der Fenster. Er räusperte sich lautstark und sagte in seiner tiefsten Stimmlage – derjenigen, welche die Stalljungen von Rawlings Manor in Angst und Schrecken versetzte: »Jedermann scheint zu vergessen, dass Johns Sohn der rechtmäßige Erbe des Titels und auch des Anwesens ist.«

Lady Ashbury war nicht anzumerken, dass sie seinen warnenden Ton zur Kenntnis nahm. »Aber niemand hatte überhaupt eine Ahnung, wo der Junge steckt, bis Sir Arthur anfing, seine abscheuliche Nase in die Sache …«

»Auf meine Anweisung, erinnerst du dich, Arabella?«

»Oh, Edward, behandle mich nicht so herablassend.«

Lady Ashbury warf ihren Stift auf die polierte Oberfläche des Sekretärs und erhob sich unter lautem Rascheln ihres blassblauen Satinkleids. Sie schritt Richtung Chaiselongue, wobei ihr blasser Teint und die weißblonden Korkenzieherlocken ein recht hübsches Bild des Kontrastes zu den goldbraunen Vorhängen im Hintergrund abgaben. Das war natürlich auch der Grund, warum die Vicomtesse stets darauf bestand, dass sie sich hier trafen statt im komfortableren blauen Morgensalon, der die Vorzüge ihres Teints jedoch nicht angemessen hervorhob.

Arabella seufzte. »Es wäre doch ein Kinderspiel für dich gewesen, dem Herzog einfach zu sagen, dass Johns Sohn – wie seine Mutter und sein Vater – ebenfalls tot ist, und dann hättest du den Titel selbst annehmen können.«

Edward hob spöttisch eine Braue. »Die leichteste Sache in der Welt, was, Arabella? Meinen Vater auf dem Sterbebett anlügen? Nachdem er seine letzten zehn Jahre damit verbracht hat, John dafür zu verfluchen, die Tochter eines schottischen Vikars geheiratet zu haben, und er den Waisen später nicht einmal hier in Rawlings Manor sehen wollte, obwohl er der rechtmäßige Erbe ist. Und dann, als er auf dem Sterbebett weich wurde und nachgab … Also bitte, Arabella! Es wäre doch höchst unehrenhaft von mir gewesen, nicht einmal zu versuchen, dem alten Herrn seinen letzten Wunsch zu erfüllen.«

»Ach, zum Teufel mit der Ehre!«, rief Lady Arabella. »Du hast den Jungen doch noch nicht einmal gesehen!«

»Nein«, stimmte Edward zu. Er war mit dem vierten Brandy fertig und schenkte sich einen fünften ein. »Aber das werde ich, wenn Herbert morgen mit ihm zurückkehrt.« Mit nach innen gewandtem Lächeln sinnierte er: »Was du anscheinend nicht in dein hübsches Köpfchen bekommen willst, Arabella, ist, dass ich überhaupt nicht Herzog werden will. Anders als dir, und – da bin ich sicher – deiner Mama, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, dir einen Ehemann mit Adelstitel zu verschaffen, reicht es mir völlig aus, nur ein ›Mister‹ zu sein.«

Lady Ashbury entfuhr ein ärgerliches Schnauben. »Und wie, bitte schön, willst du dir von dem Gehalt eines bloßen Misters, die Sorte von Pferden erlauben, die in deinen Ställen steht, Lord Edward? Oder das Haus auf der Park Lane in London? Ganz zu schweigen von dieser zugigen Monstrosität, die du als Landgut bezeichnest. Der einzige mir bekannte Mister, der sich ebenfalls leisten kann, was du besitzt, ist Mr. Alistair Cartwright, und – wie du genau weißt – sein Reichtum ist genauso ererbt wie deiner. Nein, Edward, du bist der Sohn eines Herzogs, und folglich hast du auch den entsprechenden Geschmack. Dein einziges Unglück ist, dass du nicht vor deinem missratenen Bruder John geboren wurdest.«

Edward warf ihr mit hochgezogener Braue einen süffisanten Blick zu. »Verdammt, Arabella. Glaubst du ernsthaft, mir würde es Spaß machen, Herzog zu sein? Den ganzen Tag über die Angelegenheiten der Anwesen grübeln? Ständig auf der Flucht vor Männern wie Herbert, die meine Zeit mit Buchhaltung verplempern wollen? Mich unablässig mit den Pächtern rumschlagen, dafür sorgen zu müssen, dass ihre Dächer jedes Jahr ausgebessert werden, ihre Kinder was lernen, ihre Ehefrauen glücklich sind?« Seine breiten Schultern hoben sich, geschüttelt von Abscheu. »Diese Art zu leben hat meinen Vater zu einem alten Mann gemacht, hat ihn vor seiner Zeit ins Grab gebracht. Ich werde nicht zulassen, dass mir das auch passiert. Soll doch dieses Balg von meinem dahingeschiedenen Bruder den Titel haben. Herbert wird schon aufpassen, dass Rawlings in der Zwischenzeit nicht vor die Hunde geht, und in zehn Jahren, wenn der Junge mit Oxford fertig ist, kann er herkommen und seinen rechtmäßigen Platz in diesen heiligen Hallen antreten.«

»Und was, Edward, willst du mit dir selbst anfangen?«, fragte Arabella, ihre Schroffheit kaum verhehlend. »Jagen kannst du nur von November bis März, und London ist im Sommer widerwärtig. Was du brauchst, Liebling, ist eine Beschäftigung.«

»Was glaubst du, was ich bin? Ein Amerikaner?« Edward lachte hämisch und leerte sein Glas. »Ich bewundere es immer, wenn du so gnädig bist, mir Ratschläge zu erteilen, Arabella. Es führt mir unseren Altersunterschied so deutlich vor Augen. Sag mal, stört es deinen Gatten eigentlich nicht, wenn du ständig übers Moor davoneilst, um einen Mann zu besuchen, der halb so alt ist wie er und eine Dekade jünger als du?«

»Musst du immer so viel trinken?«, schnappte die Vicomtesse, und Edward subtrahierte mit einem resignierten Seufzer eines ihrer Attribute. »Es ist ziemlich abstoßend, einen jungen Mann dabei zu beobachten, wie er immer aufgedunsener und pummeliger wird.«

Edward ließ den Blick über die weiße, fachmännisch gebundene Krawatte gleiten und betrachtete seinen kraftvollen Brustkorb und den flachen Bauch, der von einer Weste bedeckt war.

»Pummelig?«, echote er ungläubig. »Wo?«

»Du hast Tränensäcke unter den Augen.« Arabella trat vor und schnappte ihm den Brandyschwenker aus der Hand. »Und es ist klar zu erkennen, dass du Hängebacken bekommst, genau wie dein Vater.«

Edward fluchte und sprang von der Couch auf. Der Brandy hatte ihn etwas wacklig auf den Beinen werden lassen. Größer als sechs Fuß war Edward immer eine beeindruckende Erscheinung, und das galt umso mehr im goldenen Salon von Rawlings Manor. Seine große, kraftvolle Erscheinung ließ die zierlichen vergoldeten und mit grünem Samt bezogenen Möbel zwergenhaft erscheinen. Seine Füße – in glänzenden schwarzen Reitstiefeln – wirkten auf den sorgsam gekämmten Perserteppichen schwer. Nach wenigen Schritten stand er vor dem Wandspiegel mit den schräg geschliffenen Kanten und suchte sein Ebenbild nach Zeichen von Pummeligkeit ab.

»Ernsthaft, Arabella«, sagte er und sah vom Spiegel zur Vicomtesse hinüber, »ich weiß nicht, wovon du redest. Was für Hängebacken?«

Er war sicher, dass es nicht Eitelkeit war, die ihn für sichtbare Konsequenzen seiner Ausschweifungen blind machte. Wenn sie da wären, würde er sie auch bemerken. Edward machte sich nicht viel aus seinem Aussehen, obwohl er – weil viele Frauen es ihm gesagt hatten – wusste, dass es angenehm war. Natürlich wusste er auch, dass er trotz seiner exquisit geschneiderten Kleidung in jedem Salon fehl am Platz wirkte, ob vergoldet oder nicht. Er hatte den dunklen Teint und die finstere Ausstrahlung eines Piraten oder Brigadiers, dazu längeres, pechschwarzes Haar mit der Tendenz, sich widerspenstig auf dem Mantelkragen zu kräuseln. Im scharfen Gegensatz zu Lady Ashbury, deren ganze Erscheinung so licht war wie die eines Lamms, waren bei Edward nur die Augen hell; von einem Grau wie die Nebelschwaden, die beständig aus dem an Rawlings Manor angrenzenden Moor waberten.

»Ich habe nicht direkt gemeint, dass du schon Hängebacken und Doppelkinn hast«, sagte die Vicomtesse von Ashbury, die plötzlich mit irgendetwas, das auf dem elfenbeinverzierten Schreibtisch lag, ziemlich beschäftigt war. »Ich meinte nur, dass, wenn du nicht aufpasst …«

»Das hast du nicht gesagt.«

Edward war nicht sicher, was er bestürzender finden sollte; die Tatsache, dass sie ihn dazu gebracht hatte, von der Couch aufzustehen, oder den Gedanken, dass er – wo er schon einmal stand – auch gleich nach oben gehen könnte. In der gemütlichen Atmosphäre seiner Bibliothek könnte er seinem Unglück frönen viel besser, oder gar im Billardzimmer, wo er rauchen und trinken konnte, wie es ihm gefiel. Und zwar ohne lamentierende Weibsbilder in der Nähe, die ihn vor seinem körperlichen Verfall warnten.

Doch bevor ihm eine Entschuldigung einfiel, mit der er die leicht beleidigte Vicomtesse beschwichtigen könnte – mit der er am Vormittag immerhin schon einige anregende Stunden in einem Gästezimmer im dritten Stock verbracht hatte –, trat Evers in den Salon und räusperte sich lautstark.

»Sir Arthur Herbert möchte Sie sehen, Mylord.« Der Butler, der Edwards Vater fünfzig Jahre lang gedient hatte und dem neuen Herzog von Rawlings zweifelsohne weitere zwanzig Jahre schenken würde, hob nicht einmal die Braue ob des alkoholisierten Zustands seines Arbeitgebers so früh am Nachmittag.

»Herbert?«, echote Edward ungläubig. »Warum ist der denn schon so früh zurück? Ich habe ihn frühestens morgen erwartet. Ist das Balg … ähem, Seine Lordschaft, der Herzog, bei Sir Arthur, Evers?«

Evers’ Blick haftete die ganze Zeit auf einem Punkt oberhalb der marmornen Kaminuhr. »Sir Arthur ist allein, Mylord, und – wenn ich hinzufügen darf – in einem Zustand beträchtlicher Erregung.«

»Verdammt!« Edward hob die Hand und rieb sich das Kinn, welches bereits rau von dunklen Stoppeln war. Wenn Herbert allein war, konnte das nur heißen, dass der Bericht, den sie aus Aberdeen eingeholt hatten, falsch gewesen war – wie all die anderen davor. Und Herbert hatte geschworen, dass die Quelle verlässlich war! Jetzt musste Edward wohl mehr Anstrengung – und Geld – in die Suche nach dem Erben des Herzogtitels investieren. Wie konnte es sein, dass ein zehnjähriger Junge einfach so vom Erdboden verschwand?

»Verdammt«, sagte Edward verärgert. »Dann hol ihn rein, Evers. Hol ihn rein.« Die Vicomtesse stieß einen übertriebenen Seufzer aus, kaum dass der Butler außer Hörweite war.

»Oh, Edward, wirklich. Musst du diesen ekligen Mann hier empfangen? Hättest du nicht veranlassen können, dass er in der Bibliothek auf dich wartet? Es ist nicht gerade so, als ob es mir Spaß machte, euch beiden bei eurem Gefasel über dieses elende Kind zuzuhören …«

»Ja genau, elend!« Sir Arthur, stattlich und jovial wie immer, eilte in den Raum. Er wartete kaum darauf, dass Evers ihm die Türen weit genug öffnete, bevor er sich an dem Butler und dessen steif emporgezogenen Augenbrauen vorbeidrängelte. »Oh, in der Tat ein völlig erbärmliches Kind, Lady Ashbury! Treffendere Worte sind gar nicht möglich!«

Sir Arthur war so aufgewühlt, dass er nicht einmal einem Lakaien gestattete, ihm Mantel und Hut abzunehmen. Nun glitt der Schnee an den hängenden Schultern des Mannes herab, der sich in mittleren Jahren befand.

Evers lauerte in nächster Nähe, das Gesicht eine schmerzlich verzogene Maske, während sich die nassen Flecken auf dem Teppich unter den Galoschen des Anwaltes ausdehnten.

»Guter Gott, Mann«, platzte es aus Edward heraus, der von dem zerzausten Aussehen seines Gutsverwalters erschreckt war. »Sind Sie gerade aus Schottland zurückgekehrt, Sir, oder aus der Hölle?«

»Letzteres, Mylord, Letzteres, das kann ich Ihnen versichern.«

Bevor Evers es verhindern konnte, sank Sir Arthur auf die grüne Samtcouch nieder, die Edward gerade verlassen hatte. Schnee fiel auf die dicken Kissen und schmolz in der Wärme des Kaminfeuers.

»Nie, in all diesen Monaten der Suche nach dem Erben Ihres Vaters, bin ich in eine derart unangenehme Situation geraten.«

Die Vicomtesse war den Vorgängen mit leicht geschürzten Lippen und delikat emporgehobenen Brauen gefolgt. Sie warf dem Butler einen Blick zu. »Evers, ich glaube, Sir Arthur braucht einen Brandy.«

»Nein, nein«, rief Sir Arthur und streckte eine dickliche Hand empor. »Nein, vielen Dank, Mylady. Ich trinke nie Schnäpse vor Mittag. Lady Herbert wäre gar nicht damit einverstanden, ganz und gar nicht.«

»Aber Sir Arthur«, Arabellas Lächeln war eindeutig spöttisch, »schließlich ist es schon nach eins.«

»Ah, in dem Falle …« Evers war bereits mit einem gefüllten Cognac-Schwenker zur Stelle. »Oh, danke schön, Evers, guter Mann. Ah, das tut gut … Und es gibt ja gar keinen Grund, dass Virginia davon erfährt, oder?«

Edward, der in Gegenwart des Beraters, dem sein alter Vater am meisten vertraut hatte, stets Lust bekam, etwas Zerbrechliches zu zerschlagen, fragte mit zusammengebissenen Zähnen: »Kann ich aufgrund Ihres völligen Verlusts an Haltung davon ausgehen, dass wir schon wieder übers Ohr gehauen wurden?«

Sir Arthur sah von seinem Schwenker auf; sein plumpes, sanftes Gesicht wirkte fast erheitert. »Was? Übers Ohr gehauen? O nein, Mylord. Ganz und gar nicht. Nein, das ist der richtige Junge. O ja, wir haben endlich den richtigen gefunden.« Er hob die Brust zu einem zitternden Seufzen, das genauso dramatisch wie lautstark hervorkam. »Es ist schlimmer.«

Als Sir Arthur eine zittrige Hand ausstreckte, um sich einen weiteren Brandy aus der Karaffe einzugießen, die auf einem Tisch mit vergoldeten Beschlägen stand, traten sowohl Edward als auch Evers vor, um ihn aufzuhalten. Der Butler aus aufgeregtem Pflichtbewusstsein heraus und Edward aus purer Frustration. Edward war nicht zu betrunken, um sowohl mit einem fünfzigjährigen Vater von fünf Kindern als auch einem siebzigjährigen Butler fertig zu werden. Er sank neben der Couch auf ein Knie, seine Finger griffen nach dem Hals der Brandy-Karaffe. Er war so groß, dass er kniend dem sitzenden Sir Arthur in die Augen sehen konnte, und das tat er nun, sich nicht der Tatsache bewusst, dass seine grauen Augen vor unterdrücktem Ärger gefährlich glitzerten.

»Was«, begann Edward und sprach die Worte sorgfältig aus, »ist … in … Schottland … geschehen?«

Sir Arthur hörte auf, traurig auf den Grund seines Schwenkers zu starren; sein Blick war von Edwards drohend glühenden Augen gefesselt. »Nun, ich, äh«, stammelte der Anwalt. »Nun, sehen Sie, Mylord, es liegt an ihm. Dem Herzog, Mylord. Der junge Jeremy von Rawlings …«

»Sie haben ihn gefunden?« Edwards Erleichterung war offensichtlich. »Gott sei Dank.« Doch die Erleichterung verwandelte sich allmählich in Ungeduld. »Aber wenn Sie ihn doch gefunden haben, warum, zur Hölle, haben Sie ihn nicht mit nach Rawlings gebracht?«

»Er wollte nicht mitkommen.« Sir Arthur zuckte nur mit den Achseln.

Edward war nicht sicher, den Anwalt richtig gehört zu haben. »Es tut mir leid, Sir Arthur. Könnten Sie das wiederholen?«

»Er wollte nicht mitkommen«, sagte Sir Arthur erneut. »War darin auch ziemlich unnachgiebig, Mylord. Er wollte sich nicht vom Fleck bewegen ohne …«

»Er wollte nicht kommen?«, bellte Edward. Er sprang auf die Füße, die Hände zu Fäusten geballt und in die Seiten gestemmt. Er bemerkte, dass Arabella ihn alarmiert betrachtete, aber er konnte das plötzliche Verlangen, wie ein Käfigtier im Raum auf und ab zu schreiten, nicht unterdrücken.

»Er wollte nicht kommen? Der Junge hat erfahren, er sei der Erbe eines Vermögens, der Besitzer eines Gutes, das das Juwel von Yorkshire darstellt, dass er sogar in der Tat ein Herzog ist, und er wollte nicht mitkommen? Ist dieses Kind vollkommen verblödet?«, brüllte Edward und erschreckte Evers, der versuchte, die mittlerweile leere Karaffe zu entfernen. Einen idiotischen Erben zu produzieren, hätte genau zu John gepasst, dachte sich Edward wütend.

»O nein, Mylord«, schreckte Sir Arthur zurück. »Eher das Gegenteil. Gesund wie ein Pony, zehn Jahre alt, den Schalk im Nacken. Knallte mir ein rohes Ei an den Hinterkopf, kaum dass ich aus der Kutsche steigen konnte.«

Edward kämpfte um Geduld. »Also, warum wollte er dann nicht mit Ihnen kommen?«

»Nun, es lag nicht so sehr an dem Jungen, Mylord, als vielmehr an seiner Tante.«

»Tante?« Arabella hielt in der eingehenden Untersuchung ihrer Fingernägel inne und sah auf. »Der Junge hat eine Tante?«

»Ja, Mylady – er ist ein Waise, wissen Sie nicht, Lord Johns vorzeitiges Ableben vor zehn Jahren. Ich glaube, seine Mutter, Lord Johns unglückliche Ehefrau, ist kurz danach gestorben. Der Herzog wurde von der Schwester seiner Mutter und seinem Großvater mütterlicherseits aufgezogen, der nun seinerseits vor ungefähr einem Jahr gestorben ist. Schreckliche Sache, wie ich es verstanden habe. Ist auf der Kanzel tot umgefallen. Er war Vikar, wissen Sie.«

Edward bekam langsam das Gefühl, der einzige Mensch im Raum zu sein, dem noch ein wenig Realitätssinn geblieben war.

»Was ist denn mit dieser Tante?«, verlangte er in dem Versuch, das Gespräch wieder auf den springenden Punkt zu bringen. »Die Tante will den Jungen nicht gehen lassen?«

»Nicht ganz, Mylord. Der Junge will nicht ohne seine Tante kommen. Er hängt ziemlich an ihr. Das ist recht bewegend in diesen Zeiten zu sehen, wie ein Junge so nah an seiner …«

»Hölle und Verdammnis, Herbert«, polterte Edward. »Warum haben Sie der verdammten Tante nicht einfach gesagt, dass sie auch mitkommen kann?«

Sir Arthur blickte erschrocken drein. »Das habe ich, Mylord. Wirklich! Ich habe die Einladung auf sie ausgedehnt und gesagt, sie könne auf Rawlings Manor leben, so lange sie wolle. Für den Rest ihres Lebens, wenn sie das wünscht.« Der Anwalt brach ab und begann unvermittelt, sich seines Mantels zu entledigen. »Ist es nicht warm hier, Evers? Ich glaube, dieses Feuer ist etwas zu stark.«

»Und?« Edward hatte mit dem Herumlaufen aufgehört und lehnte sich mit einem Ellbogen an den Kamin. Er fand das Feuer überhaupt nicht zu stark. »Was hat diese verrückte Tante dazu gesagt?«

»Oh, sie hat meine Einladung entschieden zurückgewiesen. Wollte nichts davon hören. Und ohne sie war der Junge zu nichts zu bewegen.« Herbert zuckte die Achseln. »Tja, und nun sitze ich hier.«

»Hat Ihre Einladung abgelehnt?« Edward war nun wirklich danach, seine Fäuste zu gebrauchen. Evers hatte just einen Ofenschirm zwischen Herbert und dem Kamin aufgestellt, also ließ er seine Wut eben daran aus und schmetterte das feine, handbemalte Glas mit einem kraftvollen Schlag zu Boden.

Arabella entfuhr ein kleiner, verschreckter Schrei, und Herbert blickte wie vor den Kopf gestoßen. Evers sammelte unbewegt die Überbleibsel des Ofenschirms auf und bedachte seinen Brotgeber mit einem missbilligenden Blick.

»Ist dann die Tante idiotisch?«

»O nein, Mylord, eher das Gegenteil.« Sir Arthur schwitzte mittlerweile deutlich, entweder wegen der Hitze oder aus Nervosität ob Edwards Benehmen. Vielleicht überlegte er, dass eine dieser großen Fäuste bald in seine Richtung geschossen käme. Jedenfalls beeilte er sich, fortzufahren; sein breites Gesicht glänzte vor Schweiß. »Nein, Mylord, sie ist nicht verblödet. Sie ist eine Liberale.«

Hätte der stattliche Anwalt aufs Parkett gespuckt, Edward hätte kaum verblüffter sein können. »Eine was?«, keuchte er.

»Eine Liberale.«

Sir Arthur lächelte dankbar in Evers’ Richtung, der gekommen war, um das nasse Bündel aus Mantel und Hut zu entfernen, welches er auf der Chaiselongue neben sich deponiert hatte. »Eine ziemliche Antiroyalistin, Mylord. Will nichts mit dem Adelsstand zu tun haben.

Sie sagt, der Adel ist verantwortlich für den Reformstau und schadet den einfachen Leuten. Und dass die Konservativen die Massen in elender Armut halten, damit ein Prozent der Bevölkerung neunundneunzig Prozent des Reichtums besitzen kann. Sie sagt, Landbesitzer wie Sie sind Taugenichtse mit nichts im Kopf außer der Jagd und den Huren …« Peinlich berührt brach Sir Arthur ab und schielte Richtung Vicomtesse. »Ich bitte um Vergebung, Lady Ashbury.«

Arabella zog eine Braue empor und sagte nichts.

In einem Zustand der Fassungslosigkeit hörte Edward dem Anwalt zu. Das konnte doch nicht wahr sein. Der Erbe des Herzogs von Rawlings war gefunden, aber der Junge wollte nicht herkommen, weil seine durchgeknallte Tante eine Liberale war? Wie war das möglich?

»Ich versteh das nicht«, sagte Edward und kämpfte um Beherrschung. Er hatte Angst, dass sein Temperament wieder mit ihm durchginge. Es gab nichts mehr, um darauf einzuschlagen, außer Sir Arthurs dickes, grinsendes Gesicht. Aber weil er den alten Windbeutel wirklich gern hatte, wollte ihm Edward nicht wehtun. Nicht sehr jedenfalls. »Sie sagen also, diese Frau hat die Einladung abgelehnt, in einem der glänzendsten Häuser Englands zu wohnen, und das wegen ihrer politischen Neigungen?«

»Ganz recht, ganz recht«, kicherte Sir Arthur. »Und natürlich wollte der Junge nicht ohne sie gehen.«

»Aber diese …« Edward schluckte hart. »Diese Frau. Hat sie keinen Ehemann, mit dem man vernünftig reden könnte?«

»O nein, Mylord. Miss MacDougal ist unverheiratet.«

»Miss MacDougal?«

»Ja, Mylord. Pegeen MacDougal. Sie hat auf einem Gehöft in der Nähe des Pfarrhauses gelebt, seit ihr Vater starb – sie und der Junge. Ich glaube, sie leben von einem kleinen Erbe, das ihre Mutter hinterlassen hat. Bei Gott, der Vikar hat ihnen nichts hinterlassen …«

»Eine alte Jungfer«, zischte Edward durch zusammengepresste Zähne. »Abgeblitzt bei einer altjüngferlichen Tante mit liberalen Neigungen. Hölle und Verdammnis, Mann!« Edward war so weit, sich die Haare zu raufen, aber stattdessen brüllte er seinen Verwalter so laut an, dass sogar der unerschütterliche Evers erschrak.

»Sie konnten eine alleinstehende Tante, die von einem Almosen lebt, nicht davon überzeugen, dass es das Beste für ihren Neffen ist, wenn sie ihn in einem herrschaftlichen Anwesen in Yorkshire in Luxus leben lässt?«, verlangte er ungläubig zu wissen. »Sind Sie närrisch, Mann? Was könnte leichter sein? Wissen Sie denn gar nichts über Frauen? Konnten Sie sie nicht bestechen? Oder becircen? Sie mit Schmeicheleien überzeugen? Gibt es denn nichts auf der Welt, was die verdammte Frau zum Austausch für den Jungen haben will?«

Sir Arthur hatte sich zwar so weit wie möglich auf der Chaiselongue zurückgelehnt, aber er konnte dem drohenden Blick nicht entkommen, der ihn heißer werden ließ, als ein Feuer das vermocht hätte. Er steckte einen plumpen Finger unter seine Krawatte, zerrte vergeblich daran und schnappte nach Luft.

»Aber Mylord! Ich hab’s doch gesagt! Sie wollte nichts mit mir zu tun haben! Vor die Tür gesetzt hat sie mich. Sogar einen Topf hat sie nach mir geworfen!« Sir Arthur wimmerte schon fast. »Und der Junge, Mylord! Gar kein wohlerzogenes Kind, sondern ein Höllenjunge. Hat ein verdammtes Wiesel in meine Tasche gesteckt und einem der Kutschpferde einen Kieselstein unter das Geschirr geschoben. Ich dachte, ich käme nie heil nach Hause zu Lady Herbert!«

Abrupt drehte Edward seinem Anwalt den Rücken zu, die breiten Schultern herabhängend. Nun, es war ziemlich klar, was jetzt zu tun anstand. Sein Fehler war gewesen, einen Agenten für eine Aufgabe, die passenderweise er selbst hätte erledigen müssen, vorzuschicken. Hatte sein Vater ihm nicht immer gesagt, dass es ungleich einfacher sei, eine Aufgabe selbst zu erledigen, anstatt einem Lohnempfänger zu erklären, was zu tun sei? Dies war ein klassisches Beispiel. Was wusste Sir Arthur trotz seiner fünf Töchter schon über Frauen? Er hatte nicht viel Erfahrung im Umwerben von Frauen, denn er hatte die erste geheiratet, die ihn wollte; und obwohl Virginia Herbert eine feine Frau war, so war sie ihrem ungeschickten Ritter doch sicher keine große Herausforderung gewesen.

Nein, es gab nur noch einen Weg. Edward musste sich selbst nach Aberdeen aufmachen und den Jungen sowie die verrückte Tante holen.

Eine Liberale! Gott behüte ihn vor gebildeten Frauen! Was hatte sich der Vikar dabei gedacht, seine Tochter die Zeitung lesen zu lassen? Sie sollte noch nicht einmal den Unterschied zwischen Liberalen und Konservativen kennen. Kein Wunder, dass sie eine alte Jungfer war, und sie sollte auch dazu verdammt sein, eine zu bleiben, wenn die Art, wie sie mit Herbert umgegangen war, ihre übliche Art der Konversation darstellte.

Evers stand im Flur und räusperte sich. »Entschuldigung, Mylord, aber war das jetzt alles?«

Edward, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am Kamin gestanden hatte, drehte sich um.

»Nein, in der Tat noch nicht, Evers. Informieren Sie meinen Kammerdiener, dass wir schleunigst nach Schottland aufbrechen werden. Ich brauche ausreichend Hemden für mindestens drei Tage. Lassen Sie Roberts den Brougham vorfahren. Ich reise ab, sobald gepackt ist.«

Drüben beim Sekretär legte Arabella ihren Stift nieder.

»Edward, bist du verrückt? Hast du etwa vor, diese schreckliche Frau selber zu treffen?«

»Warum nicht?«, erwiderte Edward. »Traust du mir nicht genug Überzeugungskraft zu? Liegt eine liberale schottische alte Jungfer jenseits meiner Möglichkeiten?«

Lady Ashbury lachte. Ihr Lachen hatte – wie Edward bereits festgestellt hatte – einen kalten, klirrenden Klang, wie ein Tischglöckchen, fordernd und ohne Resonanz. »O nein, Mylord. Wir alle wissen, wie überzeugend du sein kannst, wenn du wirklich willst.« Ihr Blick huschte an ihm entlang, und Edward entging das Leuchten ihrer hübschen Augen nicht, als sie auf der leichten Wölbung an der Vorderseite seiner Hose ruhten. »Aber du musst schon verzweifelt sein, Liebling, wenn du bei diesem Wetter die ganze Strecke nach Schottland fahren willst. Warum bloß die Eile? Wir wissen doch jetzt, wo dieser Junge ist, und offensichtlich wird er dort auch bleiben.«

»Ich will diese Angelegenheit erledigt haben«, sagte Edward ruhig und drehte sich wieder zum Feuer. »Mein Vater ist schon fast ein Jahr tot und seitdem dümpelt Rawlings ohne Herzog vor sich hin. Das geht jetzt lange genug so, denke ich.«

Arabella lachte wieder. »Seit wann machst du dir Sorgen um Rawlings? Wirklich, Sir Arthur, Sie haben einen schlechten Einfluss auf ihn. Als Nächstes wird er noch die Schafweiden inspizieren wollen!«

Sir Arthur blickte entsetzt ob Edwards geplanter Schottlandreise. »Ich bitte Sie, Mylord, lassen Sie’s sein! Lassen Sie’s ruhen. Vielleicht kommen Sie in ein, zwei Monaten, wenn Sie sich an den Gedanken gewöhnt haben, von alleine. Wissen Sie, Miss MacDougal war nämlich felsenfest davon überzeugt, dass der Junge Ihrem Vater vollkommen egal war, und sie war überrascht, dass der Junge überhaupt im Testament bedacht war …«

»Ich habe nicht die Geduld, einen Monat zu warten, Sir Arthur«, gab Edward zurück. »Ich werde heute aufbrechen und ich wette, dass ich beide – den Jungen und die jungfräuliche Tante – innerhalb der nächsten vierzehn Tage hier in Rawlings einquartiert haben werde.«

»Wenn du noch mehr Lust hast zu wetten, dann kannst du ja deinen alten Kumpel Mr. Cartwright wecken«, bemerkte Arabella trocken. »Er schläft seinen Rausch vom Billardspielen gestern Abend noch in der Bibliothek aus. Nimmst du ihn mit, Edward? Du kannst dir vorstellen, wie er es genießen würde, mit einer schottischen Jungfer zu streiten.«

Edward funkelte sie an. »Auf dieser Reise werde ich ohne Alistairs zweifelhafte Hilfe auskommen. Du kannst ihn, so lange ich weg bin, zu deiner Unterhaltung hierbehalten, Arabella. Pass auf, dass er nichts Wertvolles zerbricht, und falls er das tut, sieh zu, dass er es ersetzt.«

»Mylord, ich muss doch bitten, das zu überdenken.« Sir Arthur war so in Sorge, dass er sich aus der Chaiselongue hochwuchtete und an Edwards Seite trat. »Ich befürchte, Sie ahnen nicht, welch unberechenbares Temperament diese Frau besitzt. Sie hegt absolute Verachtung für alles Aristokratische und weigert sich hartnäckig …«

Edward lachte und legte eine schwere Hand auf Sir Arthurs Schulter. »Herbert, alter Junge, lass mich dir etwas über Frauen sagen. Sie sind alle gleich.« Der Blick, den er der Vicomtesse schenkte, war voller Spott. »Sie alle wollen etwas. Was wir herausfinden müssen, ist, was diese Miss MacDougal will, und dann kriegt sie es eben im Austausch für ihren Neffen. Es ist alles ganz einfach.«

Sir Arthur sah nicht überzeugt aus. »Das Problem, Mylord, ist – ich glaube, was Miss MacDougal will, ist …«

»Nun, Herbert?«

»Ihren Kopf, Lord Edward. Und zwar aufgespießt.«