Leseprobe Die Toten im Palazzo

Kapitel 1

Der Septembermorgen war äußerst hochsommerlich, und die Piazza della Signoria füllte sich langsam mit Touristen. Louis und ich saßen in einem der kleinen Cafés, schlürften unsere vollkommen überteuerten, aber dennoch köstlichen Espressi und genossen den Blick auf all die Sehenswürdigkeiten, die hier geradezu miteinander wetteiferten. Der Palazzo Vecchio mit seinem imposanten Turm, die Loggia dei Lanzi, eine Art Freiluftmuseum voller beeindruckender Marmorstatuen, der Neptunbrunnen und zahlreiche traumhaft schöne Palazzi, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte. Ich wurde mit Ende zwanzig anscheinend schon langsam senil.

Louis zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, tippte aufs Display und schaute nach der Uhrzeit. „Gleich neun Uhr dreißig”, verkündete er mir.

Einen Moment lang sah ich ihn verständnislos an, und machte mir jetzt wirklich Sorgen, dass mein Gehirn anscheinend das reinste Nudelsieb war, doch dann verstand ich, was er mir damit sagen wollte. „Unser Videotelefonat mit Adele!”

„Ganz genau”, erwiderte Louis mit seinem spitzbübischen Lächeln, das ihn stets wie einen Fünfzehnjährigen aussehen ließ. In Wahrheit war er sogar ein paar Jahre älter als ich, doch das männliche Aussehen ließ noch auf sich warten. Schuld daran waren vermutlich seine Stupsnase, seine großen grauen Augen, die immer irgendwie unschuldig dreinblickten, und sein goldblondes Haar, das oft so verwuschelt war, als wäre er eben erst aus dem Bett gekrochen. Und natürlich das schelmische Grinsen, das er so häufig im Gesicht trug. Louis hatte eben ein sonniges Gemüt.

„Ich bin gespannt, was Adele uns heute wieder zu erzählen hat”, sagte er. „Bei ihren Berichten kommt man sich vor wie in einer Seifenoper, findest du nicht? Sie wäre die perfekte Klatschreporterin!”

„Auf jeden Fall”, pflichtete ich ihm bei.

Adele Ottenfels, Louis Neuhoff und ich, hatten einen Reiseclub gegründet. Das war vor zwei Monaten im englischen Dartmoor gewesen, wo wir gemeinsam einen Mordfall aufgeklärt hatten.

Also vielleicht ist Reiseclub die falsche Bezeichnung … aber dazu komme ich noch.

Mein Name ist übrigens Anna Pilgram, falls ich das noch nicht erwähnt habe – am Ende werden Sie mich noch für eine dieser unzuverlässigen Erzählerinnen halten, die derzeit so überhandnehmen. Frauen mit psychischen Problemen, Wahnvorstellungen, einem Alkoholproblem von epischen Ausmaßen …

Ich gehöre in keine dieser Kategorien, das versichere ich Ihnen!

Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei unserem Club.

Adele, Louis und ich haben uns den Namen Mauerblümchen gegeben, weil wir alle drei in der Liebe … nun ja, so unsere Schwierigkeiten hatten. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass besagter Trip, auf dem wir uns kennengelernt hatten, eine als Krimitour getarnte Singlereise gewesen war – auf der ich ausschließlich wegen meiner hinterhältigen Schwester Veronika gelandet war.

Louis war von seiner Mutter zu dieser Reise genötigt worden, da diese sich eine Schwiegertochter und ein paar hübsche Enkelkinder wünschte, und Adele … die hatte immerhin aus freien Stücken an der Turtel-Tour teilgenommen. Sie ging schon auf die siebzig zu, war Witwe, und hätte gern einen netten Mann kennengelernt, um mit ihm gemeinsam den Herbst des Lebens zu genießen, wie man so schön sagt.

Adele war das, was man eine Grande Dame nennt. Gebildet, kultiviert, immer perfekt gestylt und in der High Society zu Hause. Dabei war sie aber gleichzeitig auch sehr bodenständig geblieben. Keine Spur von Überheblichkeit, und ihr Humor war ausgesprochen schwarz.

Louis hatte mit Frau und Kindern nichts am Hut, denn er war mit Anfang dreißig noch auf der Suche nach seiner sexuellen Identität. Heterosexuell, homosexuell oder vielleicht doch asexuell? Wir wussten es nicht, und er ebenso wenig.

Er kleidete sich gern exzentrisch – milde ausgedrückt – von Goth bis Rock Star, von Rapper-Look bis Amadeus. Alles, nur nicht gewöhnlich. Leder, Lack, Samt, manchmal tiefschwarz, manchmal grellbunter Paradiesvogel.

Und was nun mich und meine romantischen Neigungen betrifft, falls Sie das unbedingt wissen möchten: Ich bin Single und das aus Leidenschaft. Männer können mir gestohlen bleiben. Freunde, wie ich sie in Louis und Adele gefunden habe, sind viel besser. Mein Modegeschmack lässt sich in wenigen Worten beschreiben: Ich bin Team Jeans und T-Shirt. So gut wie immer.

Adele war aktuell in einem traumhaft schönen Renaissance-Palast in den Hügeln von Florenz zu Gast, den eine alte Freundin von ihr sich als Sommerresidenz eingerichtet hatte, und erstattete uns laufend Bericht von ihren Erlebnissen in diesem Märchenschloss.

Adele war keine technophobe alte Frau, die moderne Kommunikationstechnologien scheute. Ganz im Gegenteil, sie hielt via Chatnachrichten und mittels Videotelefonie den Kontakt mit uns, um uns live aus dem herrlichen Palazzo zu berichten. Dabei wusste sie auch die zahllosen Gäste zu kommentieren, die sich nach einem Who-is-Who des europäischen Geldadels anhörten. Kunstkenner, Blaublüter, Industriemagnaten, Filmsternchen und andere Promis – Adele kannte sie fast alle und ließ sich gern über sie aus.

In der Zwischenzeit besichtigten Louis und ich als eifrige Touristen Florenz. Wir hatten – neben zahllosen kleineren Attraktionen – schon die Uffizien hinter uns und den Duomo, und ich hatte noch niemals zuvor in derart langen Menschenschlangen angestanden. Natürlich hätte ich mich niemals darüber beschwert, schließlich will man sich ja nicht als Kunstbanausin outen, nicht wahr?

In ein paar Tagen wollten wir uns mit Adele treffen und eine Tour durch die Toskana und Umbrien unternehmen. Abseits der ausgetretenen Touristenpfade natürlich, denn Louis war Reiseblogger, der seinen Followern gern Geheimtipps servierte. Was in der Toskana meiner Meinung nach eine Herausforderung war. Jedes Dorf mit hundert Seelen war hier eine Touristenattraktion, die von Menschen aus allen Teilen der Welt belagert wurde.

Adele, die sehr vermögend war, hatte die Idee für diese gemeinsame Reise gehabt und sie auch gleich zur Gänze finanziert, bevor Louis oder ich hatten Protest einlegen können. Das war unglaublich großzügig von ihr, und ich war fest entschlossen, die Mauerblümchen-Tour in vollen Zügen zu genießen.

In diesem Augenblick gab Louis’ Mobiltelefon einen leisen, melodiösen Ton von sich. Er tippte aufs Display, und im nächsten Moment füllten bereits Adeles Gesicht und ihr kurzer blonder Haarschopf das Bild. Sie begrüßte uns herzlich, wie es ihre Art war, doch irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das war mir sofort klar.

In den Tagen zuvor hatte sie gelächelt und gestrahlt wie eine 100-Watt-Glühbirne und hatte immer sogleich wild drauflosgeredet, und uns von ihren neuesten Erlebnissen berichtet. Ich hatte das Gefühl, bereits jeden Gast des Palazzos, und die gesamte Familie Grunwald zu kennen, auch wenn das bestimmt nicht der Fall war. Zuzüglich einer ganzen Menge jener illustren Gäste, die derzeit im Haus weilten oder an den Abenden zu den festlichen Dinnerpartys erschienen.

Elsa Grunwald, Adeles Freundin und Hausherrin des Palazzos, beging dieser Tage nämlich ihren siebzigsten Geburtstag – mit einem rauschenden Fest, das sich über fast eine ganze Woche erstreckte.

Bis jetzt war Adele also in bester Feierlaune gewesen, heute jedoch lag ihre Stirn in tiefen Falten, und bevor sie zu sprechen begann, blickte sie sich wie eine Verschwörerin nervös um. Zuerst links über ihre Schulter, dann rechts, wohl um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurde.

„Alessandro Pagano ist verschwunden”, flüsterte sie mit todernster Miene. „Heute Nacht. Er wurde ermordet, vermute ich.”

Kapitel 2

Louis starrte auf den Handybildschirm.

„Woahh!”, entfuhr es ihm. „Nicht so schnell! Was sagst du da? Ist das dein Ernst?”

Er warf mir einen unauffälligen, fragenden Seitenblick zu, und ich wusste genau, was er damit sagen wollte.

Unsere liebe Adele besaß nämlich eine überbordende und ausgesprochen morbide Fantasie. Sie liebte es, sich Gedanken über wildfremde Menschen zu machen, sich Geschichten über sie auszudenken – und im Zweifelsfall gleich das Schlimmste anzunehmen.

Was nicht hieß, dass sie damit nicht gelegentlich richtig lag. Bei der Reise ins englische Dartmoor, bei der wir drei uns kennengelernt hatten, waren wir in einem Krimihotel gewesen, dort aber unvermittelt in einen echten Mordfall hineingestolpert, den wir dann mit vereinten Kräften gelöst hatten. Ich konnte es immer noch nicht glauben.

Jetzt wollte Adele uns weismachen, dass erneut ein Mord in ihrem Umfeld geschehen war? Ausgerechnet im Palazzo ihrer Freundin?

„Ich bin mir ganz sicher”, flüsterte sie aufgeregt weiter. „Das ist ein Fall für die Mörderblümchen, sage ich euch. Ihr müsst sofort hierherkommen. Ich habe auch schon eine Idee, wie ich euch einschleusen werde.”

Mauerblümchen … Mörderblümchen. Wir waren nicht bloß Singles, sondern anscheinend auch irgendwie dazu bestimmt, Verbrechen magisch anzuziehen, sobald wir zusammenkamen. Ich hatte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, je wieder in einen Mordfall verwickelt zu werden. So etwas geschah im wahren Leben einfach nicht, nur in jenen Krimis, die wir alle drei so gern lasen. Sollte ich mich geirrt haben?

Unmöglich, sagte ich mir. Adele musste sich da in etwas hineingesteigert haben.

„Was ist denn überhaupt passiert?”, fragte ich sie. „Wer war dieser Alessandro Pagano?”

Bestimmt hatte sie uns in den letzten Tagen schon von dem Mann erzählt. Denn der Name kam mir irgendwie vertraut vor, doch ich konnte mir die Details zu seiner Person einfach nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Adele hatte zu viele Leute unter die Lupe genommen, um uns dann alles über sie zu erzählen, ob wir es nun wissen wollten oder nicht. Oder es war – Sie wissen schon – meine beginnende Demenz. Aber jetzt höre ich mit diesem Thema auf, versprochen! Sonst glaube ich am Ende noch selbst daran.

„Der Kunstexperte”, wisperte sie aufgeregt. „Der das Gutachten für das Botticelli Gemälde erstellt hat. Ein sehr angesehener Mann, auch weit über die Grenzen Italiens hinaus.”

Mit dieser Erklärung kehrte meine Erinnerung zurück. Seit Tagen schwärmte Adele uns schon von dem Gemälde vor und hatte uns auch bereits mehrere Schnappschüsse davon geschickt.

Es war eine Sensation in der Kunstwelt gewesen. Vor einigen Wochen hatte man bei Bauarbeiten in Elsa Grunwalds toskanischem Palazzo eine Wandmalerei entdeckt. Eine Anbetung der Heiligen Drei Könige. Das Fresko war zwar prächtig, aber in schlechtem Zustand gewesen, also hatte Elsas Tochter Caterina einen Restaurator angeheuert. Der wiederum hatte den Verdacht geäußert, dass es sich bei dem Werk um eine Arbeit des berühmten Sandro Botticelli handeln könnte.

Der Palazzo, den Elsa Grunwald gekauft hatte, war einst von einem Mitglied einer Nebenlinie der Medici erbaut worden. Anscheinend hatten selbst diese entfernteren Verwandten über immense Vermögenswerte verfügt, und Botticelli hatte im 15. Jahrhundert mehr als nur eine Auftragsarbeit für die Familie angefertigt. Dass eine Malerei von ihm in dem Palazzo aufgetaucht war, kam also nicht vollkommen überraschend, und auch das Sujet des Freskos – die Heiligen Drei Könige – hatte Botticelli mehr als nur einmal auf die Leinwand gebannt.

Alessandro Pagano, der Kunstexperte von Florenz, war mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden – und kurz darauf war die Sensation perfekt gewesen. Er hatte bestätigt, dass es sich bei der Anbetung der Heiligen Drei Könige tatsächlich um ein Werk von Botticelli handelte und hatte Elsa damit zur stolzesten Kunstbesitzerin in ganz Europa gemacht.

Der Wert eines solchen Bildes ging natürlich ins Unermessliche. Botticelli hatte so weltberühmte Bilder wie den Frühling oder die Geburt der Venus gemalt, doch er hatte nicht am Fließband, beziehungsweise mithilfe einer riesigen Werkstatt voller Assistenten produziert, wie beispielsweise Rubens es getan hatte.

Sprich: es gab nur eine überschaubare Anzahl von Meisterwerken, die ihm zugeschrieben wurden, und die Mehrzahl davon war im Besitz von Museen.

Außerdem musste ich als eingefleischter Dan Brown Fan bei dem Namen Botticelli natürlich sofort an das berühmte Inferno denken, das der Künstler illustriert hatte und das in dem gleichnamigen Thriller von Dan Brown eine entscheidende Rolle spielte.

Dass jemand bei sich zu Hause im Wohnzimmer mit einem Botticelli prahlen konnte … das hatte die Welt der Kunstsammler in Ekstase versetzt. Adele hatte uns ausgiebig darüber berichtet.

Und jetzt sollte ausgerechnet dieser Kunstexperte verschwunden sein? Entführt … oder ermordet gar, wenn es nach Adele ging?

„Er war so ein netter junger Mann”, sagte Adele jetzt, fuhr sich durchs Haar und brachte es damit in Unordnung.

Als Louis auf diese Aussage hin zu grinsen begann, fügte sie rasch hinzu: „Nein, nicht, was du schon wieder denkst! Nichts Amouröses. Er war einfach nur ein netter junger Mann, und wirklich sehr gut auf seinem Fachgebiet. Ich habe in den wenigen kurzen Gesprächen mit ihm unglaublich viel über die Kunst des – ach, das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.”

Sie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und verzog das Gesicht.

„Gestern Abend saß ich beim Dinner wieder neben Alessandro”, fuhr sie fort, „und … nun, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … er sah irgendwie verstört aus, versteht ihr? Vollkommen durch den Wind. Ich meine, er ist – er war, muss ich wohl sagen – ein eher ernster junger Mann, nicht zu Späßen aufgelegt, aber gestern Abend, das war mehr als bloß schlechte Laune! Ich habe ihn gefragt, ob ihn etwas bedrücke, und ob ich ihm irgendwie helfen könne. Wisst ihr, was er da gesagt hat?”

„Was denn?”, fragte Louis prompt.

„Er sagte: Adele, Sie haben mir doch neulich erzählt, dass Sie schon einmal ein Verbrechen aufgeklärt haben, gemeinsam mit Ihren Freunden.”

Ein entschuldigendes Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. „Ich habe ihm von unserer Dartmoor-Reise erzählt, wisst ihr. Aber wirklich nur ganz kurz. Ich wollte nicht mit unseren detektivischen Leistungen prahlen.”

„Natürlich nicht”, sagte Louis, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Adele nickte und sprach rasch weiter. „Plötzlich sagte Alessandro zu mir: Ich bin vielleicht Zeuge eines abscheulichen Kapitalverbrechens geworden, und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.”

„Ein abscheuliches Kapitalverbrechen?”, warf ich neugierig ein. „Sprach er von Mord?”

Adeles runzelte erneut die Stirn. „Was denn sonst? Details habe ich leider keine aus ihm herausbekommen, obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben und ihn ganz schön mit Fragen gelöchert habe. Ihr wisst ja, ich kann recht, ähm, beharrlich sein.”

Oh ja, das konnte sie. Sie führte mitunter Verhöre wie ein Großinquisitor, und man hatte dabei trotzdem immer den Eindruck, bloß eine nette Plauderei mit einer älteren Lady zu führen. Dass dieser Alessandro Pagano ihr widerstanden hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

„Er kippte bloß ein paar Gläser Wein hinunter, wollte mir aber partout nicht mehr über diesen Mord erzählen, den er angeblich bezeugt hatte.”

„Was immer bezeugt genau heißen mag”, warf Louis ein. „Mitangesehen? Belauscht?”

„Keine Ahnung”, sagte Adele.

Louis warf mir einen kurzen Blick zu, dann wandte er sich wieder an Adele auf dem Bildschirm. „Aber du hast natürlich nicht aufgegeben und diesen Alessandro, ähm, ein wenig in die Mangel genommen, nehme ich an. Ganz behutsam natürlich.”

„Selbstverständlich! Sehr behutsam. Ich habe ihn wie ein rohes Ei behandelt. Aber schließlich brachte ich ihn so weit, dass er sich mit mir unter vier Augen treffen wollte. Nach dem Dinner, im Botticelli Salon. Dieser wurde nach dem Bild neu benannt, als man es dort hinter dem alten Wandverputz entdeckt hatte. Um 23.00 Uhr. Denn um diese Zeit wären wir ungestört, meinte er.”

„Er tauchte dann aber nicht auf, stimmt’s?”, mutmaßte ich.

„Ganz genau. Ich wartete und wartete. Dann dachte ich mir, dass er es sich wahrscheinlich anders überlegt hatte, und dass er doch nicht mit mir reden wollte über dieses Verbrechen, das er erwähnt hatte.”

„Vielleicht war er sich nicht sicher, ob wirklich ein Verbrechen geschehen war”, warf Louis ein.

„Nicht auszuschließen”, erwiderte Adele.

Doch in ihren warmen braunen Augen, die jetzt zu dunklen Schlitzen verengt waren, konnte ich erkennen, dass sie keine Sekunde an diese Möglichkeit glaubte. Wie gesagt, meine Freundin hatte eine ausgeprägte Fantasie, wenn es um Verbrechen aller Art ging, insbesondere um Mord.

„Ich ging also auf sein Zimmer”, fuhr Adele fort. „Elsa hat ihn diese Woche, für ihre großen Geburtstagsfestlichkeiten, im Palazzo einquartiert, wisst ihr. Jeder Gast, der das Gemälde bewundern will, sollte auch die Möglichkeit haben, mit einem erstrangigen Kunstexperten darüber philosophieren zu können. Deswegen wollte sie Alessandro im Haus haben. Wie auch immer, er war jedenfalls nicht auf seinem Zimmer. Seine Tür war nicht versperrt, deshalb habe ich einen kleinen Blick hineingewagt. Sein Gepäck war noch da, alles sah unberührt aus. In einem Palazzo gibt es bestimmt keine Gäste, die etwas mitgehen lassen, versteht ihr. Also schließt auch niemand sein Zimmer ab.”

Sie machte eine kurze Pause, in der sie erneut misstrauisch nach rechts und links über ihre Schulter blickte, dann fuhr sie fort: „Ich habe nach Alessandro gesucht, ihn aber auch sonst nirgendwo im ganzen Palazzo oder im Garten gefunden. Nirgendwo, versteht ihr? Er war wie vom Erdboden verschluckt.”

„Wirklich seltsam”, murmelte Louis.

„Das ist aber noch nicht alles”, sagte Adele. „Heute Morgen sagte man mir, dass Alessandro gestern Abend abgereist sei. Ich fragte nach, um wie viel Uhr. Oh, spät, ich weiß es nicht mehr genau, sagte mir Elsa. Anscheinend hat er sich nicht einmal bei ihr verabschiedet, aber sein Zimmer war heute Morgen tatsächlich leer … alles verschwunden. Aber das passt doch vorne und hinten nicht, was meint ihr? Gestern Abend beim Essen hat er kein Wort davon erwähnt, dass er abreisen wollte, und sein Gepäck war nach elf Uhr nachts, als ich nach ihm gesucht habe, noch in seinem Zimmer. Nein, da muss es ja eigentlich sogar schon fast Mitternacht gewesen sein. Ich habe nämlich ewig lang bei unserem Treffpunkt auf ihn gewartet und bin erst danach zu seinem Zimmer gegangen. Wie auch immer …” Sie holte tief Luft und näherte sich ihrer Handykamera, bis ihr Gesicht fast den ganzen Bildschirm ausfüllte.

„Bestimmt ist dem armen Mann etwas zugestoßen, Freunde! Er wurde mundtot gemacht, wegen dieses Verbrechens, von dem er mir leider nicht mehr erzählen konnte. Ich habe heute Morgen im Internet schon die Telefonnummer seines Büros herausgesucht. Ich habe angerufen und seine Sekretärin erreicht, aber die wusste nichts davon, dass er früher zurückkommen wollte. Er sei bis Dienstag im Palazzo von Signora Grunwald zugegen, sagte die Dame mir am Telefon. Ein sehr steifes junges Fräulein. Immerhin konnte ich sie überzeugen, mir seine Mobilnummer zu geben, aber das Handy war ausgeschaltet. Der Mann ist tot, das sage ich euch! Und wir müssen seinen Mörder finden.”

„Aber auf welchen Mord hat er sich mit seinen Andeutungen bezogen?”, fragte ich. „Fehlt denn außer ihm noch jemand von den Bewohnern oder den Gästen des Palazzos?”

„Die Bewohner sind noch alle vollzählig vorhanden”, sagte Adele. „Gäste sind im Moment einfach zu viele dort, als dass ich den Überblick hätte, wer vielleicht fehlen könnte. Die meisten von ihnen wohnen ja nicht hier im Haus. Sie kommen, um sich den Botticelli anzusehen, bleiben zum Nachmittagskaffee oder zum Abendessen und verschwinden dann wieder. Wenn einer von denen abgemurkst wurde, wäre es mir womöglich gar nicht aufgefallen, fürchte ich. Wir müssen die Sache unbedingt in die Hand nehmen … Untersuchungen anstellen, Spuren finden und hartnäckig schnüffeln, ihr wisst schon. Das ist ein Fall für die Mörderblümchen.”

„Sollten wir nicht …”, begann Louis, doch er hatte keine Chance, einen Einwand vorzubringen.

Denn Adele redete, ohne Atem zu schöpfen, weiter: „Ich habe schon den perfekten Vorwand gefunden, unter dem ich euch in den Palazzo einschleusen kann. Wenn ihr jetzt in eurem Hotel auscheckt, könntet ihr in einer knappen Stunde hier sein, nicht wahr?”