Leseprobe Die Toten der Vergangenheit

EINS

Florenz, Italien 1873

Sein Brief erreichte mich just in dem Moment, als ich dachte, der Tod sei meine einzige Option.

Die Armut hatte sich herangeschlichen wie ein Schatten, der das Licht vertreibt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie das, was von meinem Leben noch geblieben war, überfluten und damit jegliche Aussicht darauf, dass das Schicksal mir einen Ausweg bieten könnte, auslöschen würde. Ich konnte keinen Weg mehr sehen, der mich zu einem verlorenen, aber sehr willkommenen Land der Träume hätte führen können – besonders, da ich zu alt war, um ein Abenteuer zu packen, das mir einen Neuanfang bieten würde.

Dafür war ich zu alt.

Ein solches Leben gehörte jugendlichen Zeiten an, in denen eine glückliche Fügung jedem ein goldenes Schicksal versprach, der den Mut hatte, einem großen Ziel zu folgen. Die Realität meiner Umstände jedoch hatte damit kaum etwas zu tun.

Und doch brachte der Brief einen Hoffnungsschimmer … die wilde Fantasie, dass ich sogar noch in diesem späten Lebensabschnitt die Dinge würde zum Guten wenden können. Allerdings erkannte ich nicht, dass er mich in die frühen Tage meines Lebens zurückwerfen würde. Er würde ein Gespinst von Betrug und Intrigen aufdecken, das den Lauf meiner gesamten Existenz geändert hatte. Aber ich schweife ab …

 

Ich muss ganz am Anfang beginnen, denn der Nachhall der eigenen Herkunft verklingt niemals, ganz gleich wie sehr wir es uns wünschen. Ich kannte meine Abstammung nicht, weil ich meinen Vater nicht kannte. Nicht, dass es notwendig gewesen wäre, seine Identität zu erfahren, aber es hätte meiner Welt zumindest einen Anfangspunkt verliehen. Einen Kompass für mein Leben. Einen Moment, in dem ich zum ersten Mal bewusst erkannt hätte, dass ich atmete.

Unglücklicherweise ist dies nie geschehen.

Mein Nachname ist Clairmont. Zweifellos ein wohlklingender Beiname, doch meine Mutter hatte ihn einfach wie ein passendes Band zum Mieder eines Kleides ausgewählt. Er klang ansprechend und erzeugte den richtigen Eindruck von gesellschaftlichem Rang und Ehrbarkeit. Nichtsdestoweniger war der Name nur Blendwerk, da meine Mutter nie einen Mann mit Namen Clairmont geheiratet hatte. Nicht dass mich ihre Wahl besonders gestört hätte. Ich schätzte selbstbewusstes Auftreten. Meiner Ansicht nach wurde Bescheidenheit bei Frauen hoffnungslos überbewertet, auch wenn niemand in meiner Familie meine Meinung teilte. Aber ich, Clara Mary Jane Clairmont, bin immer meinen eigenen Weg gegangen – auch ohne Kompass, und darauf bin ich stolzer als auf alles andere in meinen achtundsiebzig Lebensjahren auf dieser Erde.

So habe ich auch meine eigene Version meines Namens gewählt: Claire Clairmont.

Il mio nome.

»Tante Claire, überanstrenge dich nicht«, sagte meine Nichte Paula, als sie in den warmen, leicht stickigen Raum geschlendert kam, eine Tasse mit Oolong-Tee, meiner liebsten Sorte, in der Hand. Es war später Vormittag – noch nicht schrecklich heiß, aber bis zum Nachmittag würde der florentinische Hochsommer die Temperaturen so in die Höhe treiben, dass jeder drinnen Zuflucht suchen würde, um sich auszuruhen und zur heiligen Clara von Assisi um einen Atemzug frischer Luft zu beten. Meine angemietete Wohnung lag gegenüber dem Boboli-Garten – einem üppig bewachsenen Park am Rand von Florenz. Er schmiegte sich an einen Hügel, und eine leichte Brise, die oft von dort herab wehte, erzeugte ein Wispern in den jahrhundertealten Zypressen und verborgenen Grotten.

Paula stellte eine Porzellantasse mit feinem, blau-weißem Dekor auf meinen Teetisch, der bereits mit Briefen, Büchern und einem Tintenfass vollstand. »Du musst dich mehr bewegen, Tante. Dein Knöchel schwillt schon wieder an, und wenn du nicht gehen kannst, muss ich Raphael rufen, damit er dich in dein Bett trägt.« Die Stimme meiner Nichte nahm diesen gewissen mir bereits bekannten Tonfall an: eine Mischung aus Liebe und Ärger junger Menschen, die an eine alte Person gefesselt sind. Sie war mir tief verbunden, aber wenn ich mich weigerte, ihren Rat anzunehmen, stellte ich ihre Geduld auf die Probe. Das geschah ziemlich oft. Ich war noch nicht bereit, meine Unabhängigkeit aufzugeben.

Übrigens würde es ihr nicht wirklich etwas ausmachen, unseren Hausdiener Raphael zu rufen. Ich hatte das süße Sehnen in den Blicken gesehen, mit denen sie ihn betrachtete, wenn er durch seine Arbeit in der Küche abgelenkt war. Paula mochte die Tochter meines lieben verstorbenen Bruders Charles sein, aber sie war letztendlich auch meine Nichte. Romantische Fantasien um ein anziehendes Gesicht zu spinnen lag in ihrer Natur. Ganz gewiss hatte ich selbst das zwei oder drei Mal im Lauf meines Lebens getan – was manchmal in Reue über meine impulsiven Gefühle mündete, manchmal nicht. Aber ich war meiner Leidenschaft immer treu geblieben.

Rasch ließ ich den Brief unter dem Bücherstapel verschwinden, lehnte mich in meinem Sessel zurück und strich mein verblasstes blaues Baumwollkleid glatt. Ich war noch nicht bereit, das, was dieser Brief barg, mit ihr zu teilen.

»Ist das das Schreiben, das du heute Morgen empfangen hast?«, fragte sie abwesend, beugte sich herunter und schob das mit feiner Stickerei versehene Kissen unter meinen verstauchten Knöchel, der auf einem Fußschemel ruhte.

»Nichts Wichtiges.« Um den Anschein von Gelassenheit bemüht, zuckte ich mit den Schultern. »Nur ein Brief von einem meiner vielen alten Freunde, Edward Trelawny, der sich nach unserem Wohlergehen erkundigt.«

Mit einem Seufzen richtete sich Paula auf. »Haben wir außer Trelawny überhaupt noch alte Freunde, die uns nicht wegen unserer Armut aufgegeben haben?«

»Besten Dank, meine Liebe, dass du mich eigens darauf hinweist. Ich bin mir des verarmten Zustands durchaus bewusst, in den meine letzte, fehlgeleitete Investition in die Farm uns versetzt hat.« Ihr Seufzen aufnehmend, verschränkte ich meine runzligen Hände im Schoß. Es war eine verrückte Idee gewesen, in die Farm meines Neffen in Österreich zu investieren. Eine Verrücktheit, die ich mir schwerlich hatte leisten können, doch ich konnte nie dem Wunsch widerstehen, meine Familie zu unterstützen, auch wenn es mich an den Rand des Bankrotts brachte.

»Ich bitte um Verzeihung – das war herzlos, Tante.« Sie legte die Hand auf meinen Oberarm und sah mit schuldbewusstem Blick aus ihren dunklen Augen auf mich herab.

»Ich verzeihe dir, allerdings muss ich dich daran erinnern, dass Freundschaften im Lauf der Jahre Höhen und Tiefen durchlaufen können, und zwar unabhängig vom finanziellen Status. Selbst diejenigen, die uns am nächsten stehen, können uns enttäuschen.« Natürlich spielte ich damit auf die Mitglieder des Byron-Shelley-Kreises in meiner Jugend an: auf Byron, den großen Dichter, der mir das Herz gebrochen hatte, und Shelley, den Ehemann meiner Stiefschwester Mary, dessen Brillanz mein Leben zum Leuchten gebracht hatte und dessen kleine Rente, die er mir zugewiesen hatte, mich in meinen fortgeschrittenen Jahren rettete. Ich habe sie alle geliebt – besonders meine kultivierte und schöne Stiefschwester Mary. Obwohl Mary in ihrem Roman Frankenstein ein scheußliches Monster erschaffen hatte, besaß sie selbst diesen stillen Liebreiz, der alle um sie herum unwiderstehlich anzog.

Serenità, wie die Italiener es nennen würden.

Im Gegensatz zu mir.

Ich konnte nie stillsitzen.

Ich redete ununterbrochen.

Und ich ließ es nie zu, dass mein Kopf über meine Gefühle herrschte, was mein Herz mehr hat leiden lassen, als ich sagen kann. Aber mein Leben war nie düster.

Genf, Wien, London, Sankt Petersburg – ich habe die Welt gesehen und viele Männer geliebt, wenn meine Wahl auch nicht immer weise war.

»Ich habe gehört, dass Trelawny kaum noch lesen kann, seit seine Augen so schlecht geworden sind«, sagte Paula mit einem Kopfschütteln. »Er ist …«

»Alt und klapprig? Wie ich?« Ich zog die Brauen hoch und wartete darauf, dass die Wahrheit aus ihr herausbrach. Niemand würde leugnen, dass meine einst glänzenden schwarzen Locken jetzt von Grau durchzogen waren, dass meine samtige, olivfarbene Haut unzählige Runzeln trug und dass mein Körper an einer Vielzahl von Zipperlein und Schmerzen litt. Doch in meinen Augen lag noch das gleiche Funkeln wie in meiner Jugend – nur ein kleines bisschen gedimmt. So zeigte es mir jedenfalls der Spiegel. Ich wusste das alles. Paula würde es nicht aussprechen, weil sie mir tief in ihrem Herzen zugeneigt war, ebenso sehr wie ich ihr und ihrer kleinen Tochter Georgiana. Meine Nichte und ich waren gleichermaßen in gegenseitiger Zuneigung sowie in Armut verbunden, doch weigerte ich mich, mich von Letzterem niederschlagen zu lassen. »Tatsächlich bin ich hochbetagt …«

»Kaum. Du bist nur an den Sessel gefesselt, weil du dir im Garten den Knöchel verstaucht hast. Du solltest es besser wissen, als allein hinauszugehen. Die Pfade sind durch die verdrehten Wurzeln unter der Erde uneben, besonders unter den Zitronenbäumen.« Sie vermied es, meine arthritischen Glieder und mein Unvermögen, mehr als kurze Wege zu gehen, zu erwähnen. Ich liebte sie für ihre realitätsleugnende Rücksichtnahme. Doch wir wussten es beide.

»Oh, aber der Sonnenuntergang gestern war so schön. Ich konnte einem kleinen Spaziergang über die Wiese zum Weiher mit der Insel einfach nicht widerstehen.«

Als ich sah, wie ihr Mund sich verkniff, empfand ich volles Verständnis für die Irritation meiner armen Nichte über mein Verhalten. Die Jungen sollten nicht an die Alten gebunden sein, gefesselt und gefangen. Tatsächlich hätte ich es gehasst, als ich in ihrem Alter war. Doch ich hatte meine Mutter und meinen Stiefvater im Alter von siebzehn Jahren verlassen und deshalb nie solche Verpflichtungen erlebt.

Ich drückte kurz ihre Hand und fügte hinzu: »Der Garten spricht zu meiner Seele, und ich kann ihm nicht immer widerstehen.« Zu viele süße Erinnerungen hingen daran, um ihnen nicht nachzugeben, egal um welchen Preis. Ich ließ meinen Blick durch die rückwärtigen Fenster über die sanften Terrassen des Boboli-Gartens schweifen, die von Zypressen und Oleanderbüschen flankiert wurden, und konnte beinahe die süß duftenden Rosen riechen, die um die Judasbäume herum wuchsen. Und unmittelbar dahinter erstreckte sich eine üppige Landschaft mit Kamelien, Azaleen und Hortensien, also noch mehr aromatisch duftenden Sinnenfreuden. Über allem prangte der Ägyptische Obelisk, von einer goldenen Kugel gekrönt. Er reckte sich hinter dem Palazzo Pitti groß und kerzengerade in den Himmel hinauf. Diese prächtige Residenz hatten die Medici erbaut, als sie Florenz mit Wohlstand und Macht regierten.

Ich schloss die Augen.

Lieber Gott, ich wünsche mir, wieder ein kleines Mädchen zu sein, das mit der Leichtigkeit der sorglosen Jugend durch diesen Garten schlendert.

Der Boboli-Garten war der Grund, weshalb ich hierher zurückgekehrt war, um meine alten Tage in diesen schäbigen Räumen des Palazzo Cruciato zu verbringen. So konnte ich über die schattigen Pfade des Gartens schlendern, dem verträumten Plätschern der Brunnen lauschen und den Blick über ganz Florenz wandern lassen. Und ich konnte mich an die Vergangenheit erinnern.

Ein Hüsteln von Paula riss mich aus meiner Versunkenheit. Sie klopfte auf die geprägte Lederhülle eines Buches, das ganz oben auf dem Stapel lag. »Denkst du an ihn? Wie kannst du nur?«

Ich zuckte innerlich.

Sie meinte Byron. George Gordon, Lord Byron.

Mein Liebhaber. Mein Feind. Meine Qual.

Er hatte vor anderen behauptet, er hätte mich nie geliebt, aber ich wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Auf seine Art hatte er mich sehr wohl geliebt. Und er hatte mich auf jede erdenkliche Art verletzt.

Paula kannte die Details meiner großen Liebesaffäre genauso wie das Kind, das daraus hervorgegangen war. Meine geliebte Tochter Allegra. Ich hielt es meiner Nichte zugute, dass sie mich niemals verurteilte. Anders als die viktorianischen Touristinnen mit ihren verkniffenen Gesichtern, die mitleidige (und neugierige) Blicke aus dem Augenwinkel auf mich warfen, wenn ich durch die engen, gewundenen Gassen von Florenz ging. Ich sah, wie sie hinter ihren Fächern miteinander über mich redeten, doch ich gab vor, es nicht zu bemerken, und nickte jeder von ihnen lächelnd zu.

Zweifellos redeten sie über Paula und deren uneheliches Kind genauso.

L’amore è cieco. Liebe ist blind.

Ich vermute, dass meine Nichte mich deshalb nie verurteilt hatte: Wir waren uns zu ähnlich, außer in unserem Aussehen. Während ich die exotische Hautfärbung mediterraner Typen besaß, trug Paula die zarten Züge einer blassen Kamelie, dazu einen elfenbeinfarbenen Teint und weiches, blondgewelltes Haar. Eine englische Rose in meinem Treibhaus. Sie schlug den dicken Band auf und sah die Inschrift: Für Claire – meinen größten Herzenswunsch. B.

»Du hast mir nie erzählt, wie du Byron kennengelernt hast.«

Ich lächelte in mich hinein. »Nein, das habe ich nicht.«

Paula blickte auf, die Brauen hochgezogen. »Und ich vermute, das heißt, du wirst es auch nie tun.«

»Wodurch kommt dieses plötzliche Interesse an meiner Vergangenheit?«

»Trelawnys Brief, nehme ich an.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er war Teil eurer literarischen Gruppe, oder?«

»In Genf nicht – er trat später in unser Leben, in Pisa, aber er war sicherlich ein … interessanter Zugewinn mit seiner prägnanten, intensiven Präsenz – er war mehr Byron als der Dichter selbst.« Ich lächelte.

»Und er wollte dich heiraten?«

Trelawny. Nicht Byron. Nicht der, den ich geliebt hatte.

Ich umging eine direkte Antwort, indem ich zur Seite blickte, und fuhr fort: »Das ist lange her, meine Liebe – ein halbes Jahrhundert – deshalb gibt es keinen Grund, das alles wieder aufzurühren. Ich denke selten an Byron oder einen der anderen.« Das war natürlich gelogen. Unser kleiner Zirkel in Genf im Sommer 1816 hatte meine Welt für den größten Teil meines Lebens geformt. Es waren die wertvollsten Erinnerungen an meine Jugend, und sie hatten alles, was mir heilig war, beeinflusst – selbst zu meinem eigenen Schaden. Meine Familie, meine Freunde, mein Geliebter … sie alle hatten mich oft mit einer nachlässigen Zuneigung behandelt, die man Menschen vorbehält, die nicht die Hauptrolle, sondern nur eine Nebenrolle in ihren großen Dramen spielten. Trotzdem liebte ich sie.

1816. »Das Jahr ohne Sommer«, wie die Zeitungen es genannt hatten.

Ein Vulkan war auf der anderen Seite der Welt ausgebrochen, und bis zum Monat Juni hatte ganz Europa unter einer Staubwolke gelegen, die die Tage regnerisch und die Nächte kalt hatte werden lassen, mit einer feuchten Kälte, die einem in die Knochen kroch. Meistens hatten wir in Byrons Villa Diodati Zuflucht gesucht, einem eleganten Haus mit einem Portikus, in den Bergen am östlichen Ufer des Genfersees gelegen. Selbst nach so langer Zeit konnte ich noch die abendlichen Gespräche am gemauerten Kamin hören, in denen jeder von uns Geistergeschichten erzählte, bis wir alle den Keim einer Idee für ein Gedicht oder ein Buch in uns gefunden hatten.

Tatsächlich hatte sich jeder einzelne Tag jenes Sommers in mein Gedächtnis eingebrannt, und mit den voranschreitenden Jahren wurde die Erinnerung jedes Mal, wenn ich sie hervorholte, stärker.

Doch das wusste Paula nicht.

»Wer hätte gedacht, dass du sie alle überleben würdest?«, murmelte Paula, während sie das Buch mit dem Goldschnitt durchblätterte und bei der einen oder anderen Illustration kurz innehielt.

»Tatsächlich – ich hätte niemals geglaubt, dass ich so lange leben würde.« Bis auf Trelawny waren sie jetzt alle tot. Ich hätte mir so gewünscht, dass er vor seinem Tod Florenz besuchte, doch ich musste mich mit seinen Briefen begnügen, da das Reisen in der Sommerhitze für ihn inzwischen eine zu große Anstrengung bedeutete.

Paula schlug das Buch an der Stelle auf, an der ich ein bronzenes Lesezeichen mit einem Achat hineingelegt hatte, das an der Spitze mit einer kleinen schottischen Distel verziert war. Sie überflog die Seite und gähnte. »Ich habe Poesie nie geliebt. Sie kommt mir immer so gekünstelt vor – auch Byrons Werke, obwohl ich natürlich weiß, dass du ein Teil davon bist.« Sie warf mir einen belustigten Blick aus dem Augenwinkel zu, doch ich beherrschte meine Gesichtszüge und blieb ruhig. Innerlich protestierte ich, doch ließ ich meine Nichte nichts davon spüren. Ich hatte gelernt, mein auffahrendes Temperament zu zügeln, zumindest nach außen hin. Paula hatte keine Vorstellung davon, wie es war, wenn ein großer, brillanter Dichter seine Leidenschaft für eine Frau in seinem Werk ausdrückte. Sie hatte es nie erlebt, dass Worte über sie geschrieben wurden, die über die Sprache, in der sie verfasst waren, weit hinausreichten. Sie war der Berühmtheit niemals so nahegekommen. Eine berauschende Erfahrung.

Ich wusste genau, welches Gedicht auf der markierten Seite prangte:

There be none of Beauty’s daughters

with a magic like Thee …

Keine von der Erde Schönen

waltet zaubernd gleich dir …

Ich rezitierte die Zeilen in meinem Kopf und erinnerte mich daran, wie er mir in jenem düsteren Sommer in Genf das Gedicht zum ersten Mal gezeigt hatte. Wir waren in dem Versuch, einem heftigen Sturm zu entkommen, nach Diodati zurückgekehrt. Trotz des prasselnden Regens sprangen wir aus seiner Kutsche und hasteten in die Villa, unsere Schuhsohlen klapperten auf dem harten Steinboden. Lachend schüttelte ich das Wasser aus meinen Haaren, und unsere Blicke trafen sich. Darin flammten Leidenschaft und Sehnsucht auf, und in der Hitze unseres Begehrens vergaßen wir die Kälte und Nässe.

Danach lagen wir in seinem großen Bett und lauschten dem Donner, der die Berge herunterrollte. Da gab er mir einen dünnen Bogen Pergament, auf das er in seiner kühnen Handschrift drei Strophen gekritzelt hatte. Das Gedicht hatte keinen Titel, doch es war mit den Worten Für Claire von Albe überschrieben. Das war unser Spitzname für ihn, weil er uns so oft mit seinen Abenteuern als junger Mann in Albanien unterhielt.

Wir wussten alle, dass er die Geschichten über seine Reisen ausschmückte, aber sie hielten uns bei Laune, wenn der nicht enden wollende Regen uns zwang, im Haus zu bleiben.

Über Monate hinweg hatte ich das Gedicht an meinem Herzen getragen, sodass ich es immer und immer wieder lesen konnte. Es war der greifbare Beweis seiner Liebe. Auch später, als meine Gefühle sich in Hass gewandelt hatten, konnte ich mich nicht von dem Gedicht trennen. Es war meines, und er war der Meine gewesen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Er hatte nicht geahnt, dass ich, als er es schrieb, bereits sein Kind trug.

Paula schlug das Buch zu, ließ es auf den Stapel fallen und schnalzte mit der Zunge. »Zu schade, dass man mit Wörtern auf einem Blatt Papier keine Rechnungen zahlen kann …«

»Vielleicht kann man das doch«, widersprach ich. »Zumindest ganz bestimmte Worte können zu Gold gemacht werden.«

»Nur wenn man so berühmt ist wie dein geliebter Dichter.« Sie schickte sich an, den Raum zu verlassen.

»Oder … wenn man mit einem berühmten Dichter befreundet war«, sagte ich mit süßer Stimme.

Paula hielt inne, dann drehte sie sich langsam zu mir um. »Was sagst du da? Diesen Ausdruck habe ich in deinem Gesicht schon gesehen, und wie ich weiß, bedeutet er, dass du einen Plan ausheckst.«

»Möglicherweise.« Ich zog den Brief unter dem Bücherstapel hervor. »Trelawnys Brief enthält einen interessanten Vorschlag: Jemand will aus England herkommen, um mich kennenzulernen. Ein Mann, der daran interessiert sein könnte, einige Relikte aus alten Zeiten zu kaufen … nämlich meine Briefe.«

»Wer will die haben?« Paulas Augen strahlten aufgeregt, als sie die Hand nach dem Brief ausstreckte. Ich zog ihn zurück, gerade bis außerhalb ihrer Reichweite.

»Du wirst es erfahren, und zwar bald.«

»Hör auf, Spielchen zu spielen, Tante Claire. Du weißt, dass wir unmittelbar vorm finanziellen Ruin stehen. Wir können uns kaum Lebensmittel vom Markt leisten. Die Wohnungsmiete können wir nur noch diesen Monat zahlen. Und die kleinen Annehmlichkeiten, die wir als britische Damen in Italien genießen sollten, können wir uns erst recht nicht leisten. Möchtest du Georgiana und mir vielleicht beim Verhungern zusehen?« Am Satzende brach ihre Stimme, und ich hörte auf, die Augen zu verdrehen. Ganz offensichtlich war ich nicht das einzige Familienmitglied mit schauspielerischem Talent. Aber sie hatte recht: Unsere Zeit in Florenz würde sehr rasch enden, wenn nicht bald Bares in unsere Taschen floss, und ich konnte es nicht zulassen, dass meine Nichte und ihre Tochter litten.

»Der Name des Mannes ist William Michael Rossetti. Ich kenne ihn nicht, aber Trelawny, der ihn in London getroffen hat, bittet mich in seinem Brief, Mister Rossetti zu empfangen.« Ich machte eine Pause. »Allem Anschein nach ist dieser Mann, Rossetti, daran interessiert, einen Teil meiner Briefwechsel mit Shelley zu kaufen … und noch einige andere Dinge.« Doch nicht das Gedicht; das darf er nicht haben. »Vermutlich haben die Menschen erkannt, dass es recht lukrativ sein kann, über berühmte Persönlichkeiten zu schreiben. Jedes Jahr erscheinen Biografien von Byron und Shelley.« Mein Blick fiel auf das zierliche silberne Tintenfass, das Shelley mir geschenkt hatte. Mit seinem fein gearbeiteten Deckel und dem filigranen Fässchen war es wunderhübsch. Es sah aus wie das Schreibutensil eines Poeten, doch tatsächlich hatte er es nie benutzt. Ich hatte das getan. Shelley hingegen benutzte bei seinen Entwürfen gern ein altes hölzernes Tintenfass aus seiner Studentenzeit in Oxford – er sagte, es brächte die Muse zu ihm, wenn er sie brauchte. Und nun besaß ich das silberne Tintenfass. Wenn ich mich dazu durchringen könnte, es zu verkaufen, würde ich mich nicht nur von einer Erinnerung trennen, sondern ein Symbol der Liebe und Freundschaft aufgeben.

Andererseits konnte ich mit Erinnerungen keine Miete zahlen, und ich musste sicherstellen, dass Paula und Georgiana ein Zuhause hatten.

»Schreib sofort an Mister Rossetti, und ich finde heraus, ob er bereits in Florenz ist«, rief Paula aus. Sie suchte meine Feder und mein Schreibpapier, während sie vor sich hin murmelte: »Wir müssen die Wohnung blitzblank putzen lassen. Er darf nicht hierherkommen und denken, wir wären so verzweifelt, ihm unsere Erinnerungsstücke zu jedem Preis zu verkaufen. Nein … Er muss dich als jemanden wahrnehmen, der einfach daran interessiert ist, seine Erinnerungen mit der Welt zu teilen – und mich als deine dir ergebene Partnerin, die all deinen Marotten nachgibt.« Sie durchmaß den Raum zwei Mal, dann drehte sie sich wieder zu mir und hielt Feder und Papier in die Höhe. »Ich glaube, du solltest ihm noch heute schreiben.«

Ich blickte hinauf in ihr Gesicht, in dem ihre Augen jetzt strahlten und ihre Mundwinkel sich voller Hoffnung nach oben gezogen hatten.

Das machte mich im Herzen glücklich, und doch zögerte ich noch, Trelawnys Brief fest in meiner Hand. Die harte Realität, dass ich davorstand, meine Vergangenheit zu verhökern, überflutete mich mit Verzweiflung.

Konnte ich das tun, ohne meine Seele zu verkaufen?

Paula stieß ein ungeduldiges Schnauben aus und wedelte mit dem Briefpapier. »Bitte, Tante, schreib diesen Brief. Wenn du es nicht für mich tust, dann für Georgiana.« In diesem Moment hüpfte ihre kleine Tochter in den Raum, ihre grinsende, aus Stofffetzen genähte Puppe fest in der Hand. Ihre hellen Locken sprangen auf und ab, als sie zu mir rannte und mich fest mit ihren kleinen Armen umschlang.

Ihrem Liebreiz konnte ich nicht widerstehen, und Paula wusste das. Ihre Tochter Georgiana erinnerte mich zu sehr an meine lang verlorene Allegra.

Ich muss es für uns alle tun.

Ich nickte, und in diesem Moment glitt draußen im Flur jemand aus meiner Sichtweite. Ich dachte, ich hätte einen Blick auf das grobe Baumwollhemd und das rabenschwarze Haar unseres Dieners Raphael erhascht. Doch als ich blinzelte, war er weg. Oder vielleicht hatte ich mir seine vorbeihuschende Gestalt nur eingebildet. Manchmal ließ meine Sehkraft mich im Stich … aber eine warnende Stimme in meinem Kopf sagte mir, ich müsse auf der Hut sein. Sei vorsichtig.

Paula räusperte sich betont.

Langsam griff ich nach der Feder, seufzte innerlich und tunkte sie in das silberne Tintenfass.

Nun gab es kein Zurück mehr.

 

Wie sich herausstellte, musste ich nicht lange auf eine Antwort von Mister Rossetti warten.

Paula hatte beim britischen Konsulat nachgefragt und herausgefunden, dass er bereits in Florenz weilte und in einem Palazzo in der Nähe des Duomo wohnte, der prachtvollen mittelalterlichen Kathedrale im Zentrum des ältesten Stadtteils. Paula war vor atemloser Erwartung außer sich und übergab meine Nachricht persönlich an den Direttore seines Hotels. Sie wartete vor Ort auf eine Antwort, die auch sogleich kam: Mister William Rossetti würde uns zwei Tage später, am folgenden Sonntagnachmittag, einen Besuch abstatten.

Putzen, Staubwischen und Einkaufen füllten den nächsten Tag aus.

Ohne viel zu sagen, kehrte Raphael die Böden. Ich fragte ihn auf Englisch und Italienisch, ob er am Tag zuvor gelauscht hätte, doch er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Vielleicht hatten meine Augen mich doch getrogen.

Bis zum späten Nachmittag war mir das auch nicht mehr wichtig, so sehr erfreuten wir uns alle an unserer kleinen Wohnung in der Via Romana; noch nie hatte sie so gut ausgesehen – trotz der alten Möbel und der gesprungenen Steinfußböden. Unsere Wohnung war ursprünglich Teil des Palazzo Cruciato gewesen, eines Herrenhauses, das zu seinen Hoch-Zeiten vor zweihundert Jahren elegant gewesen war. Doch seit es nicht mehr im Besitz der ursprünglichen Familie war, hatte es harte Zeiten erlebt. Es war in mehrere Wohnungen für Menschen aufgeteilt worden, die als »vornehm verarmt« galten.

Nichtsdestoweniger hatte Paula sogar frische Blumen gekauft – gelbe Margeriten -, die den Teetisch in meiner Kammer schmücken sollten. Es war beschlossen worden (wegen meines verstauchten Knöchels), dass ich Mister Rossetti dort empfangen sollte, dekorativ auf meinem Bett sitzend. Ich würde mein bestes, graugestreiftes Kleid tragen (dasjenige ohne Flecken und ausgefransten Saum), dazu meine Spitzenhaube. Wir hätten nicht gründlicher proben können, wenn wir die Szene auf einer Bühne hätten vorführen wollen. Wir übten sogar unsere Unterhaltung, bis sie sich wie ein Dialog aus dem Teatro anhörte. Zur Schlafenszeit hatte mich allerdings eine bleierne Müdigkeit erfasst, und mein Knöchel pochte.

Nur Paula sprühte noch immer vor Energie – und unzähligen Warnungen.

Verscheuch ihn nicht, Tante.

Nein, versprochen.

Stimme keinem Verkauf der Briefe zu, bevor ich den Preis kenne.

Nein, versprochen.

Rede nicht zu viel.

Das kann ich nicht versprechen.

Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls aufgeregt war, weil ein Besucher aus England unsere Wohnung aufsuchen würde, auch wenn er nur Relikte aus meiner Vergangenheit kaufen wollte. Verrückt, dass diese Wirkung des eigenen Heimatlandes nie ganz verschwand.

Und so erschien Mister Rossetti am 14. Juni 1873 um zwei Uhr nachmittags an unserer Tür.

Wie geplant, begrüßte ihn Paula und geleitete ihn dann in meine große Schlafkammer, wo eine Kanne Tee und zwei Tassen auf meinem Schreibtisch bereitstanden. Die Fenster waren weit geöffnet, um die nachmittägliche Brise hereinzulassen. Ein feiner Duft nach Jasmin wehte durch den Raum, und in der Ferne konnte ich die Glocken der Kathedrale für die Stadt die Stunde des Tages läuten hören. Wäre ich nicht schon halb senil gewesen, hätte es mich beinahe in eine delikate Stimmung versetzt, einen Mann zu empfangen, der jung genug war, mein Sohn zu sein. Beinahe. Unglücklicherweise löschte mein Alter jeglichen Gedanken an so etwas aus.

Die Schöne der Erde ist verblasst.

»Miss Clairmont?«

Ich betrachtete den schlanken Gentleman auf der Schwelle meiner Kammer. Er war zurückhaltend in einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit sorgfältig gebundener Krawatte gekleidet. Sein Haaransatz ging bereits zurück, doch aus seinem kantigen Gesicht blickten freundliche Augen. »Darf ich eintreten?«

Paula bewegte sich hinter ihm hin und her und warf mir einen ärgerlichen Blick zu. »Natürlich dürfen Sie. Meine Tante hat sich auf Ihren Besuch gefreut«, antwortete sie an meiner statt. »Nach dem Tee werde ich Sie wieder abholen, Mister Rossetti.«

Er deutete eine Verbeugung vor meiner Nichte an.

Sobald Paula den Raum verlassen hatte, bedeutete ich ihm, im geblümten Ohrensessel beim Fenster Platz zu nehmen, und plauderte dabei: »Die Hitze in Florenz muss im Vergleich zu England sehr drückend sein – wir haben einen besonders warmen Juni.« Natürlich eröffnete ich unser Tête-à-tête mit dem Wetter – noch ein Überbleibsel aus meiner Heimat.

»Ich empfinde den italienischen Sommer als eine recht erfrischende Abwechslung zur sogenannten Sommersaison in London, Miss Clairmont.« Mit einem Lächeln schob er den Sessel ein Stückchen näher zu mir und setzte sich. »Ich möchte hinzufügen, dass Florenz auch in anderer Hinsicht eine große Freude für mich ist. Die Stadt großer Maler und Bildhauer – Giotto, Michelangelo, Botticelli … was könnte entzückender sein? Mein Bruder ist Künstler, weshalb ich all die Schönheiten der Stadt für uns beide besichtige.«

»Wie schön für Sie – und für ihn.« Ich richtete die Falten meines Kleids, um den geschwollenen Knöchel zu bedecken. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht aufstehe, um Sie zu begrüßen.«

»Das scheint mir sehr weise, wenn man Ihre Verletzung bedenkt.« Freundliche Anteilnahme zeigte sich in seinen angenehmen Gesichtszügen. Paula musste ihn über den verstauchten Knöchel informiert haben – vielleicht, um Mitleid zu erregen? Ich würde seine Anteilnahme natürlich annehmen. Verzweifelte Zeiten erforderten verzweifelte Maßnahmen.

»Es ist … unangenehm«, gab ich zu.

»Deshalb bin ich überaus dankbar, dass Sie zugestimmt haben, mich zu empfangen …« Mister Rossetti richtete die Schöße seines Jacketts.

»Tatsächlich habe ich mich sehr darauf gefreut, Sie kennenzulernen, nachdem mein Freund Edward Trelawny mich sehr eindringlich gebeten hat, Sie zu empfangen.« Ich lehnte mich zurück in die weichen Kissen. »Wie kann ich Ihnen helfen, Mister Rossetti?«

Er lachte auf. »Ihre Direktheit ist sehr erfrischend … Wie Sie von Mister Trelawny erfahren haben dürften, habe ich einige unveröffentlichte Materialien gesammelt, die Percy Bysshe Shelley, der mit Ihrer Schwester verheiratet war, geschrieben hat …«

»Er war mit meiner Stiefschwester Mary verheiratet. Sie und ich waren keine Blutsverwandten, obwohl ihr Vater, Godwin, meine Mutter ehelichte.« Während ich ihn korrigierte, seufzte ich innerlich. Ich hatte keinen echten Vater. »Es ist jedoch richtig, dass ich Shelley nach der Trauung als meinen Schwager betrachtete – und noch mehr als meinen liebsten Freund.« Sehr zu Marys Missfallen, fügte ich gedanklich hinzu. Ihrer Ansicht nach hatten wir uns immer zu nahegestanden, und ich kannte die Gerüchte, die über die Jahre hinweg im Umlauf waren: Man hatte mich bezichtigt, Shelleys Geliebte und die Mutter seines unehelichen Kindes gewesen zu sein. Das war völlig falsch und eine Missachtung seines Andenkens, aber die Menschen liebten es, über uns zu tratschen.

»Ich entschuldige mich für diesen Irrtum«, fügte er hastig hinzu. »Mir war nur bekannt, dass Sie und Mary zusammen aufgewachsen sind, weshalb ich einfach dachte, sie wäre …«

»Meine Schwester? Ein weit verbreiteter Fehlschluss.« Unwillentlich versteifte ich mich, als ich mich an meine Stellung im Haushalt der Shelleys erinnerte. »Tatsächlich waren wir uns immer sehr zugetan, auch in unseren Briefwechseln in den späteren Jahren. Ich lebte den größten Teil ihrer Ehe mit ihr und Shelley unter einem Dach – wir fühlten uns wohl in unserer gegenseitigen Gesellschaft.« Die meiste Zeit. »Natürlich standen wir nach Shelleys Tod, als Mary mit ihrem Kind zurück nach England zog, vor allem über Briefe miteinander in Kontakt, bis sie starb.«

Die Traurigkeit stieß schmerzhaft in mein Inneres. Ein tiefsitzender Verlust. Niemand hatte Marys Scheiden schärfer empfunden als ich – nicht einmal ihr Sohn, der mich nicht zur Beerdigung eingeladen hatte.

Mister Rossetti verlagerte sein Gewicht im Sessel; er war von der Wendung unseres Gesprächs offensichtlich unangenehm berührt. »Die Welt hat um den Verlust der Autorin von Frankenstein sehr getrauert. Jemanden wie sie wird es kein zweites Mal geben – das Gleiche gilt zweifellos für Shelley.«

»Ja, nun gehören sie der Geschichte an«, sinnierte ich und hielt meine Emotionen dadurch in Schach, dass ich das Deckenfresko betrachtete, auf dem mehrere Cherubim mit lieblichen Gesichtern auf Wolken im Paradies trieben. »Der Ruhm erhebt selbst einfachste Menschen in eine vorzügliche Welt engelsgleicher Perfektion, doch die ist meilenweit vom Chaos eines echten Lebens entfernt.«

»Sie sprechen aus Erfahrung, nehme ich an.« Er kraulte seinen Bart und betrachtete mich prüfend wie ein Puzzle, das er noch nicht ganz zusammengesetzt hatte.

»Mehr aus der Perspektive eines Menschen, der auf ein langes Leben zurückblickt.« Ich atmete tief ein und langsam wieder aus, und dabei wurde mir bewusst, dass ich mich vom Textbuch entfernt hatte. Wie viel konnte ich diesem Mann von meinen Jugendfreunden preisgeben, die sich beim Frühstück über kaltes Essen beschwert hatten, die den Dienstboten gegenüber ungeduldig und denen die Gefühle anderer Leute egal gewesen waren? »Ich habe Byron und Shelley in ihren besten und schlechtesten Zeiten erlebt. Ich vermute, die Welt betrachtet sie heute durch das Brennglas ihrer Dichtkunst, aber ich kannte sie als lebende Männer … sehr menschliche lebende Männer. Ich glaube, Byron sagte von sich selbst, dass er kein Held sein konnte, während er sich rasierte.«

»In der Tat.« Mister Rossetti sank tiefer in den Sessel und schlug die Beine übereinander. Seine Hosen waren an den Fesseln umgeschlagen und gaben den Blick auf Schuhe frei, die auf Hochglanz poliert waren. »Ich kann mir nichts vorstellen, das weniger heroisch wäre.«

Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das er erwiderte.

Ich richtete das Kissen in meinem Nacken und entspannte mich endlich in seiner Gesellschaft. »Also zurück zu den unveröffentlichten Materialien … Ich vermute, Sie möchten gerne mehr davon erwerben?« So. Ich hatte es ausgesprochen.

Er nickte lebhaft. »Unser gemeinsamer Freund Trelawny sagte, Sie wären vielleicht daran interessiert … sich von einem Teil der Korrespondenz zu trennen, die Sie mit Mitgliedern des Byron/Shelley-Kreises geführt haben. Vielleicht wissen Sie, dass Mary und ihr einziger verbliebener Sohn Percy vor Jahren eine Biografie über ihren Ehemann geschrieben haben. Sie hat eine ganze Flut von Folgewerken über den Dichter ausgelöst. Anscheinend will alle Welt mehr über Shelley erfahren – und Byron natürlich, und kein Detail ihres Lebens ist für unsere Leser heutzutage zu unbedeutend.«

»Aber ist das nicht zu schockierend?« Ich zog die Brauen hoch. »Ich mag weit weg von England leben, aber Marys Shelley-Biografie habe ich gelesen und fand sie sehr passend für … viktorianische Befindlichkeiten.« In Wahrheit hatte ich die Biografie nicht gelesen, aber Paula hatte mir erzählt, dass sie anscheinend manche der deutlich skandalöseren Details unserer Geschichte beschönigend darstellte. Meine Rolle in ihrer aller Leben war darin beträchtlich eingedampft.

»Also fanden Sie sie nicht ganz der Wahrheit entsprechend?«, hakte er nach.

»Ist das überhaupt möglich, besonders wenn es um Familie geht?«

Eine lange Pause dehnte sich zwischen uns aus wie ein straffes Band, und wir versuchten beide, über gesellschaftlich vorgeschriebene Nettigkeiten hinweg den Weg zum wahren Kern im Charakter des anderen zu finden. Ich würde mich nicht von meinen Briefen trennen können, um sie jemandem zu überlassen, der es nicht wert war, Hüter der Wahrheit zu sein.

Die Goldbronzeuhr auf dem Kaminsims tickte vor sich hin: ein ständiges Klopfen zweier mechanischer Turteltauben, die einander jeden Schritt der Zeit in einem Spiegel zurückwarfen – Augenblick für Augenblick.

Die Stille dehnte sich aus.

Ich blickte nochmals auf seine perfekt geplätteten Hosen und die glänzenden Schuhe. Hätte sich ein unehrenhafter Mensch so viel Mühe mit seinem Äußeren gegeben? Und doch … ich zögerte.

»Wie gut ich diese familiären ›Komplikationen‹ kenne, da wir selbst eine eingewanderte Familie von italienischen Exzentrikern sind«, sinnierte er ruhig. »Mein Bruder, Dante Gabriel, ist der unberechenbare Maler, dessen Schicksal es ist, berühmt zu werden. Und meine Schwester, Christina, ist eine schwermütige, besessene Poetin, der nichts anderes bleibt, als ihr Genie auszuleben. Und dann bin da noch ich – ein Schreiber ohne großes Talent, und ein Künstler mit noch weniger Kunstfertigkeit. Vielleicht ist es unsere Bestimmung, einfach das Brennglas zu sein, durch das die Geschichte ihre Größe sieht.«

Meine Augen trafen die seinen, und in den Tiefen sah ich volles Verständnis glimmen. »Es hat den Anschein, dass wir beide das Privileg und das Pech hatten, bloß ein ›Anhang‹ der Berühmten zu sein«, murmelte ich halb zu mir selbst.

»Sagten Sie ›Gefangene‹?«

»Touchée

»Dann werden Sie es in Erwägung ziehen, mir Ihren Briefwechsel zu verkaufen? Ich möchte meine eigene Biografie von Shelley schreiben, und dank Ihrer Briefe würde ich viele der Lücken bezüglich der Jahre in Genua und Pisa auffüllen, die jüngere Biografen vielleicht verzerrt haben …«

Plötzlich empfand ich diese Unterhaltung als anstrengend und rieb meinen Knöchel. »Ich glaube Ihnen, dass Sie das möchten. Aber ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann … oder ob es überhaupt eine gute Idee ist, der hohen Meinung, die sich jeder über Shelley gebildet hat, zu widersprechen. Wenn die Welt ihn so sehen will – wer bin ich, dieses Fantasiebild zu zerstören? Ich war in seiner Tragödie nur Nebendarstellerin …«

»Sie sind nicht einmal das«, sagte er.

Einen Moment verwirrt, zwinkerte ich und vergaß meinen Knöchel. »Was meinen Sie damit?«

»In der letzten Überarbeitung der Shelley-Biografie von seinem Sohn und dessen Frau sind Sie, wohl auf Marys Geheiß hin, nicht einmal namentlich erwähnt. Es gibt lediglich in einem Satz die Bezeichnung ›Marys Stiefschwester‹.« Er räusperte sich. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich damit so herausplatze, aber Sie sagten vorhin, Sie hätten die Biografie gelesen, sodass ich vermutete, Sie würden die … Anonymität bevorzugen.«

»Sie vermuteten falsch, Sir.« Der Schock traf mich hart und heftig, als hätte mir meine eigene Familie ins Gesicht geschlagen. Man hatte mir Unrecht getan. »Aber ich war diejenige, die sich um Marys und Shelleys Sohn kümmerte, solange er ein Kind war. Wie konnte er nur? Marys Verrat tut mir im Herzen weh. Als sie in La Spezia bei einer Fehlgeburt beinahe starb, war ich diejenige, die sie in einem Bad mit Eiswasser hielt, um die Blutungen zu stoppen. Ich habe ihr das Leben gerettet …« Bei den letzten Worten nahm meine Stimme einen entsetzten Klang an.

Wenn ich in eine Randnotiz verwiesen worden war, war meine Tochter Allegra zweifellos komplett aus der Geschichte gelöscht worden.

In meinen Augen brannten Tränen, doch ich zwinkerte sie weg. »Ich muss mich entschuldigen, Mister Rossetti, aber ich fühle mich zunehmend ermüdet. Ich habe nichts einzuwenden, wenn Sie bleiben und mit meiner Nichte Paula eine Erfrischung nehmen möchten. Ich jedoch brauche eine Pause.« Trotz meiner freundlichen Worte und meiner Haltung fühlte ich mich innerlich, als würde ich Stück für Stück aus meiner Schlafkammer verschwinden, in eine Traumwelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in der keine feste, verlässliche Realität galt. Lügen, nichts als Lügen. Sie logen durch das, was sie verschwiegen.

»Es tut mir leid, dass Ich Sie durch mein mangelndes Feingefühl aus der Fassung gebracht habe, Miss Clairmont. Das war wirklich nicht meine Absicht. Tatsächlich glaube ich, dass Familie Shelley …«

»Ich bitte Sie, ich muss darauf bestehen, dass Sie gehen.« Meine Stimme klang fest, endgültig. Ich konnte es nicht ertragen, an diesem Tag noch ein Wort zu hören.

Vielleicht nie wieder.

Er stand auf und deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht könnten wir unsere Unterhaltung zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen?«

Ich antwortete nicht, sondern gab ihm mit Zeichen zu verstehen, dass er gehen sollte – was er endlich auch tat, nachdem er mir eine Tass Tee eingeschenkt und mich angefleht hatte, ihn zu einem letzten Punkt anzuhören.

Nein. Ich würde kein einziges Wort mehr anhören.

Mein Schock hatte sich in Wut verwandelt; in puren Zorn über die »Schwester«, die nie hatte akzeptieren können, dass ihr Ehemann in mir eine Gefährtin fand, als er seine dunkelsten Momente durchlebte. Die Schwester, die Phasen tiefer Depression erleiden musste und sich nach meiner leichten Lebenseinstellung sehnte. Die Schwester, die sich danach verzehrte, auch eine kleine Tochter wie meine Allegra zur Welt zu bringen. Und diesen Neid hatte sie an ihren Sohn weitervererbt, sodass er mich für alle Zeiten aus ihrem Leben ausradieren konnte und die Welt immer weniger über meine Rolle wusste.

Es wäre, als hätte ich nie existiert oder als hätte ich nie eine Tochter geboren.

Ich wischte die Tränen weg und griff nach der Teetasse, die Mister Rossetti nah an mein Bett gestellt hatte. Doch meine Hände zitterten so sehr, dass etwas von der dunklen Flüssigkeit auf meinen Atlas-Bettüberwurf schwappte. Mit meiner freien Hand berührte ich den Rand der Tasse, als ich den scharfen Tee hinunterspülte; er rann mir durch die Kehle und breitete sich als beruhigende Welle in meinem Körper aus. Nach wenigen Minuten spürte ich, wie sich mein Herzschlag etwas normalisierte, nur meine rechte Hand, mit der ich die leere Tasse umklammerte, behielt einen leichten Tremor.

Wie konnte sie es wagen? Wie konnte auch nur einer von ihnen es wagen? Sie hatten versucht, mich wie ein vergessenes Möbelstück, das man loswerden wollte, aus der Vergangenheit herauszubrennen. Vielleicht war Trelawny sogar Teil der Verschwörung und hatte Kontakt zu Mister Rossetti aufgenommen, damit er meine Shelley-Korrespondenz aufkaufte, um sie anschließend zu zerstören. Dann würde noch weniger von mir überleben.

Das würde ich nicht geschehen lassen.

Als ich die Tasse auf die Untertasse setzen wollte, erwischte ich den Rand, sodass beide Teile zu Boden fielen und die dunkle Flüssigkeit sich auf den Teppich ergoss. Ich beobachtete, wie der Fleck größer wurde, barg mein Gesicht in den Händen und ließ den Tränen endlich freien Lauf – ich weinte um verlorene Träume und endlose Kämpfe. Welchen Sinn hatte es, um einen Platz in der Geschichte zu kämpfen, wenn alle entschlossen waren, meine Existenz auszulöschen?

Vielleicht war Unsichtbarkeit mein Schicksal.

Ich erhob mich vorsichtig vom Bett, um das zerbrochene Porzellan einzusammeln und den Teefleck wegzureiben. Da bemerkte ich ein zusammengefaltetes Stück marmoriertes Papier neben der Untertasse. Es hatte wohl unter der Tasse gelegen und war heruntergefallen, als das Porzellan auf den Boden fiel.

Ich beugte mich hinunter, hob den Zettel auf und faltete ihn auseinander, um den einzelnen Satz zu lesen, der darauf geschrieben stand: Ihre Tochter lebt.

Meine Hand griff nach dem silbernen Kreuzanhänger auf meiner Brust, ich bedeckte ihn mit den Fingern und las die Worte immer und immer wieder.

Was bedeutete das? Allegra war vor langer Zeit gestorben, im Alter von nur fünf Jahren.

Hatte Mister Rossetti die Nachricht hier hinterlassen? Warum?

Mein Herz raste und ich fühlte mich, als hebe sich meine Welt gerade aus den Angeln und als änderten sich all meine Vorstellungen über die Vergangenheit und die Menschen, die ich liebte. Es war schon schlimm genug, von Marys herzlosem Verrat zu hören, aber jetzt erweckte jemand den Geist der Hoffnung über meine vor langer Zeit verstorbene Tochter Allegra.

Werde ich verrückt?

Ich wollte nach Paula rufen, doch dann hielt ich inne. Sie und Georgiana waren verletzlich, und wenn Mister Rossetti hergekommen war, um uns zu beschwindeln oder zu betrügen, könnten sie für einen skrupellosen Mann die idealen Opfer darstellen.

War er ein Verbündeter oder ein Feind? Das wusste ich nicht.

Sicherlich war es kein Zufall, dass diese Nachricht am Tag seines Besuchs aufgetaucht war.

Ich starrte auf die Wörter und suchte in meinem Kopf nach einem Erinnerungsfetzen, der diese Botschaft bestätigen könnte, doch ich konnte nichts Derartiges finden.

Es sei denn, Shelley und Mary hatten mich über Allegras Schicksal belogen, als sie mir mitteilten, sie wäre im Konvent von Bagnacavallo an Typhus gestorben.

War das möglich? Ich konnte diese Vorstellung kaum ertragen.

Ich hatte geglaubt, die Wahrheit über alles, was in jenen Jahren passiert war, zu kennen. Aber vielleicht hatten sie sich alle gegen mich verschworen. Ich schloss die Augen und spürte, wie die Gegenwart sich zurückzog und die Vergangenheit hervortrat. Der Sommer der Träume und der Leidenschaft. Liebe und Licht. Und der vermaledeite Vulkan, Tambora. Als er ausbrach, setzte er eine Reihe von Geschehnissen in Gang, deren Auswirkungen über seine geografischen Grenzen hinaus in eine zeitlose Wirklichkeit zu spüren waren.

Er übergoss die Welt mit Feuer und Asche.

Kapitän Parkers Logbuch

5. April 1815

Makassar (240 Meilen nordöstlich des Tambora)

Als ich den lauten Knall hörte, dachte ich an Kanonenfeuer – eine Explosion, die mich aus meinem Tiefseeschlummer riss. Mit wild pochendem Herzen fuhr ich aus meiner Koje auf und hörte noch im selben Moment einen weiteren Donnerschlag, dann den nächsten. Es waren so viele, dass mein Schiff, die Fortuna, im Wasser erzitterte. Großer Gott … Piraten hatten uns gefunden und griffen an. Die Angst überflutete mich, als ich meine Hosen anzog, nach einer Pistole griff und die Stufen hinauf hastete.

Wir lagen für zwei Wochen vor Makassar vor Anker, an der Südwestküste von Sulawesi, und waren bereit, die Segel in Richtung England zu setzen, reich beladen mit exotischen Spezereien, Tee und Öl. Doch überall im Indischen Ozean waren Korsaren gesichtet worden, sodass ich unsere Abreise verschoben hatte. Womöglich war das ein Fehler. Noch im Hinaufstürmen, außer Atem zwei Stufen auf einmal nehmend, begriff ich, dass wir möglicherweise zu lange hiergeblieben waren.

Noch mehr Donnerschläge hallten durch die Nachtluft, als ich an Deck ankam. Meine Crew drängte sich an der Reling, um das Wasser abzusuchen. Ängstliches Gemurmel war zu hören.

»Bleibt ruhig, Männer«, befahl ich mit fester Stimme. »Die Fortuna ist ein stabiles Schiff und hält allen Angriffen stand.« In Wahrheit war die Fortuna ein vierzig Fuß großes Handelsschiff mit einer Crew von weniger als 80 Mann, und sie alle waren Kaufleute, keine Soldaten. Für Piraten boten wir das perfekte Ziel, zumal unser Kreuzer eine Ladung von Seidenstoffen, Tee und Opium für die Britische East India Company an Bord hatte. Einen reichen Schatz also.

Wenn sie den Kanonenbeschuss auf uns eröffneten, konnten sie uns leicht überwältigen, da wir keine Artillerie und nur wenige Waffen mit uns führten. Unsere beste Strategie wäre, in See zu stechen, um den Piraten davonzusegeln.

Das Schiff schwankte heftig beim nächsten Knall, ein paar meiner Männer schrien vor Angst auf.

»Seid mutig! Wir beschützen unser Schiff um jeden Preis«, rief ich aus. Ich würde niemals zulassen, dass Piraten meine Ladung stahlen. Dies war meine Chance, zu Wohlstand und Ruhm zu gelangen, die mir als Sohn einer hochrangigen englischen Familie versagt geblieben waren. Ich hatte in diesem gottverlassenen Erdteil zwei Jahre zugebracht, und ich würde nicht einen einzigen Krug des wertvollen Öls aufgeben. Niemals.

In diesem Augenblick verklang das Donnern, die Fortuna hörte auf zu schwanken, und unheimliche Stille breitete sich aus.

Ich nutzte den Moment, um zum Bug zu eilen, suchte das Wasser in Richtung Norden ab und blinzelte in der mondlosen, schwarzen Nacht, um ein Piratenschiff auszumachen. Doch ich sah nichts. Ich hörte nur das leise Plätschern der Wellen gegen die Schiffshülle, ruhig und gleichmäßig.

Dann hielt ich nach den kleineren Schiffen Ausschau, die in der Nähe vor Anker lagen. Darauf sah ich keine Geschäftigkeit; höchstwahrscheinlich waren ihre Besatzungen auf Landgang.

Die Männer gesellten sich nacheinander zu mir, aber wir redeten nicht mehr.

Die schwere, feuchte Luft schien immer dichter zu werden, während ich mit meiner Crew wartete und weiter Ausschau hielt. Die Pistole fest in der Hand, gab ich mir Mühe, meine Ängste beiseitezuschieben. Die Minuten verstrichen langsam. Es war kein Kanonenfeuer mehr zu hören.

»Vielleicht war es Donner«, wisperte ein Mitglied der Mannschaft nervös.

Ich war nicht überzeugt.

Ich starrte nach oben und suchte vergeblich nach einer Lücke in den Wolken, durch die der Mond einen Moment lang auf uns scheinen konnte. Stattdessen spürte ich einen Tropfen auf meinem Gesicht. Dann einen weiteren … und noch einen. Ein leichter, sanfter Regen setzte ein. Vielleicht war es doch Donner gewesen, der einen Tropensturm angekündigt hatte.

Ich blinzelte hektisch und spürte, wie der Nieselregen stärker wurde und dann in dichten Wellen herunterging. Doch er fühlte sich eigenartig trocken und pudrig an und schmeckte wie Sandkörnchen, die aus dem Himmel fielen. Es war kein Sturm, auch kein Regen.

Es war vulkanische Asche.

Ohne es bewusst zu wollen, begann ich, zu Gott zu beten. Zum Schicksal. Ich betete um Vergebung meiner Sünden.

War dies das Ende der Welt?