Leseprobe Die Toten der King Charles Street

Kapitel 1

Freitag, 24. Juli 1812

Ein kalter Wind kam auf und ließ die Zweige der Bäume über ihm rascheln. Er brachte das unverwechselbare Rattern hölzerner Räder, die über Kopfsteinpflaster heranrollten, mit sich. Paul Gibson, der dicht vor der offenen Pforte zur Gasse stand, löschte seine Lampe und strengte die Augen an, als er in die Dunkelheit starrte, in der sich der Nebel verwirbelte. Am Himmel ballten sich dicke Wolken zusammen, verdunkelten Mond und Sterne und kündigten noch mehr Regen an. Er konnte nichts weiter erkennen als hohe, steinerne Mauern und einen von Unrat übersäten, schmutzigen Weg, der sich in die Dunkelheit schlängelte.

Irgendwo bellte ein Hund in der Nacht. Ganz gegen seine Art überlief Gibson ein Schaudern. Es war ein schmutziges Geschäft. Doch solange die Regierung die Gesetze über die Sektion menschlicher Leichen nicht änderte, konnten Anatomen wie Gibson entweder resignieren und sich mit Unwissenheit abfinden, oder sie konnten sich in den dunkelsten Stunden vor der Morgendämmerung mit Totenausgräbern treffen.

Paul Gibson schätzte Unwissenheit nicht.

Er war ein schlanker, dunkelhaariger Mann von mittlerer Größe, in Irland geboren und in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr. Zum Chirurgen ausgebildet, hatte er seine Fähigkeiten auf den Schlachtfeldern Europas verfeinert. Doch eine französische Kanonenkugel hatte ihm einen Unterschenkel zerfetzt, ihm stetig wiederkehrende Schmerzen und eine Schwäche für die süße Linderung hinterlassen, die Mohn dem Menschen brachte. Heutzutage lehrte er seine Kenntnisse über die Anatomie des Menschen in Hospitälern wie dem St. Thomas’s und St. Bartholomew’s. Außerdem arbeitete er in seiner kleinen chirurgischen Praxis am Fuß von Tower Hill.

Der Hund bellte erneut, dieses Mal gefolgt vom leisen Fluch eines Mannes. Ein zweirädriger Wagen schälte sich aus dem Nebel, das grobknochige Maultier zwischen den Stangen schnaubte und riss an der Trense, als der Fahrer die Zügel anzog und gepresst zischte: »Brrr, du verflixter Idiot. Was denkste, wo wir hin müssen? Wir müssen noch einmal abliefern, bevor du heim in dein Stall kannst.«

Ein großer, klapperdürrer Mann in gestreiften Hosen und einem adretten Mantel sprang vom Wagen herunter, verbeugte sich formvollendet und tippte sich an den Zylinder. Als er sich wieder aufrichtete, trug der Wind einen Hauch von Gin, unterlegt mit dem süßlichen Geruch des Verfalls, zu Gibson. »Hier haben wir ihn, Doktor«, sagte Jumpin’ Jack Cochran mit einem beredten Augenzwinkern. »Wohlgemerkt, er ist nich so frisch wie die Ware eigentlich sein soll, aber Sie sagten ja, Sie wollten diesen speziellen Gentleman.«

Gibson blickte über den Rand des Wagens auf den mannsgroßen Leinensack, der darauf lag. Man nannte die Leichenräuber auch Einsacker. »Sicher, dass ihr den Richtigen habt?«

»Klar, das isser.« Cochran gab dem stämmigen Kerl, der ihn begleitete, ein Zeichen. »Pack am anderen Ende an, Ben.«

Leise stöhnend zogen die beiden Männer die in Sackleinen gewickelte Ware vom hinteren Teil des Wagens herunter. Sie landete schwer im dichten Gras neben dem Tor.

»Vorsicht«, sagte Gibson.

Cochran entblößte grinsend lange, vom Tabak verfärbte Zähne. »Ich verbürg mich dafür, dass er nichts gespürt hat, Doktor.«

Die beiden Männer hoben den schweren Sack an, trugen die Ware zwischen sich in das steinerne Nebengebäude am Ende von Gibsons überwuchertem Garten und wuchteten sie auf die Granitplatte des Tischs, der im Zentrum des Raums stand. Sie arbeiteten hurtig, zogen den schmutzverkrusteten Sack weg und enthüllten den schlaffen Leichnam eines jungen Mannes mit dunklem, modisch geschnittenem Haar und weichen und gut manikürten Händen, wie es sich für einen Gentleman gehörte. Sein blasses, nacktes Fleisch war über und über mit Schmutz verschmiert, denn die Leichenräuber hatten ihm das Leichentuch und seine Grabbekleidung ausgezogen und sie in seinen Sarg zurückgelegt, bevor sie das Grab wieder zuschaufelten. Es gab kein Gesetz, das es verbot, einen toten Körper durch die Straßen Londons zu karren. Aber einen Leichnam mitsamt seiner Grabbekleidung zu stehlen, konnte einem Mann sieben Jahre in Botany Bay einbringen.

»Entschuldigen Sie den Dreck«, sagte Cochran. »Hatten heute mächtig viel Regen.«

»Verstehe. Vielen Dank, Gentlemen«, sagte Gibson. »Bitte sehr, Ihre zwanzig Guineen.«

Das war der gängige Preis für einen männlichen Erwachsenen; weibliche Erwachsene gingen für gewöhnlich für fünfzehn über den Tisch, der Preis für Kinder ging nach der Größe. Cochran schüttelte den Kopf, zog einen Mundvoll Schleim hoch und spuckte zur Tür hinaus. »Ne. Machen Sie achtzehn. Ich hab mein Berufsstolz, und er is nich so frisch wie ich sie normalerweise mag, obwohl er vorm Begraben auf Eis gelegen hat. Aber Sie wollten ja unbedingt den da.«

Gibson blickte auf das attraktive, bleiche Gesicht des Leichnams auf seinem Seziertisch. »Es kommt nicht oft vor, dass ein gesunder junger Mann einem schwachen Herzen erliegt. Der Leichnam dieses Gentlemans kann uns viel über Krankheiten des Blutkreislaufsystems lehren.«

»Bestimmt närrisch spannend«, sagte Cochran und hob seinen schmutzigen Sack hoch. »Vielen Dank für den Geschäftsabschluss, und Ihnen eine sehr angenehme Nacht, Sir.«

Nachdem die Männer gegangen waren, zündete Gibson seine Lampe wieder an und hängte sie an der Kette über dem Tisch auf. Die Lampe schaukelte sanft vor und zurück, und ihr goldenes Licht glitt über das blasse Fleisch des Leichnams. Zu Lebzeiten war sein Name Alexander Ross gewesen. Er war ein wohlproportionierter Gentleman Mitte zwanzig mit schlanken, muskulösen Armen und Beinen und breitem Brustkorb, der sich zu einem schlanken Bauch und einer schmalen Hüfte verengte. Er sah aus wie der Inbegriff von Gesundheit. Und doch hatte vor fünf Tagen, als er friedlich in seinem Bett schlief, sein Herz aufgehört zu schlagen.

Die minutiöse Sektion des schadhaften Herzens würde bis zum hellen Tag warten müssten. Doch Gibson begann, mit einer Schale warmen Wassers und einem Stofftuch zu arbeiten. Er wusch den Schmutz des Friedhofs von dem Leichnam und unterzog ihn einer vorläufigen routinierten Inaugenscheinnahme.

Als er die Erde vom Nacken des Mannes abwusch, entdeckte er etwas: einen schmalen, violetten Schlitz an der Schädelbasis. Mit gerunzelter Stirn griff Gibson nach einem Messstab und sah mit Schrecken, dass er zehn Zentimeter tief hineinglitt. Er folgte ohne Hindernisse dem Schnitt, der dem Fleisch von einem Stilett zugefügt worden sein musste.

Er trat einen Schritt zurück, legte den Messstab mit leisem Klappern beiseite und biss sich auf die Unterlippe, als er den Blick erneut auf das alabasterfarbene Antlitz des Mannes richtete. »Heilige Muttergottes«, flüsterte er. »Du bist nicht an einem schwachen Herzen gestorben, sondern umgebracht worden.«

Kapitel 2

Die ersten Strahlen der erwachenden Sonne verwandelten den schweren Nebel über der Themse in aufsteigende, schimmernde Wölkchen aus Gold und Rosa, die die nassen Dächer und Kirchtürme der City umarmten. Sebastian St. Cyr Viscount Devlin stand an seinem Schlafzimmerfenster und hielt ein Brandyglas in der Hand. Das Bett hinter ihm war zerwühlt, ein einziges Tohuwabohu. Er hatte nicht geschlafen.

Sebastian war ein großer, schlank gebauter Mann. Noch nicht ganz dreißig Jahre alt, hatte er dunkles Haar und eigenartig gelbe Augen mit der übernatürlichen Fähigkeit, auf große Entfernung und bei Dunkelheit, wenn für die meisten Menschen die Wirklichkeit zu undeutlichen Schattierungen von Grau verschwamm, scharf zu sehen. Jetzt, da die Welt außerhalb des Fensters immer heller leuchtete, hob er den Brandy an die Lippen, zögerte und setzte ihn dann wieder ab, unangetastet.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen die Erinnerungen aus der Vergangenheit seinen Schlaf folterten und ihn aus dem Bett trieben, Zeiten, während deren in seinen Träumen der Donner von Kanonenkugeln und die Schreie gequälter Männer widerhallten. Träume, in denen der durchdringende Geruch des Todes ihn verfolgte und nicht mehr losließ. Doch in dieser Nacht war es anders gewesen. In dieser Nacht hatte ihn die Gegenwart mehr gequält als die Vergangenheit. Mit einer lebensverändernden Wahrheit, die zu spät enthüllt worden war und einer Zukunft, die er sich nicht wünschte, die er jedoch aus Gründen der Ehre eingehen musste.

Er streckte erneut die Hand nach seinem Brandy aus, hielt jedoch bei dem durchs ganze Haus hallenden Geräusch eines anhaltenden und lauten Klopfens inne. Er öffnete den Fensterflügel, lehnte sich hinaus, und die kühle Morgenluft biss in sein nacktes Fleisch, als er der Gestalt unten auf den Stufen zurief: »Was zur Hölle wollen Sie?«

Der Mann legte den Kopf in den Nacken und enthüllte vertraute Züge. »Bist du das, Devlin?«

»Gibson?« Schlagartig war Sebastian schmerzlich nüchtern. »Ich bin sofort unten.«

Er nahm sich nur die Zeit, in ein Paar Hosen zu steigen und sich einen seidenen Morgenrock überzuwerfen, dann hastete er die Treppen hinunter. Er traf auf seinen Majordomus Morey, der in einen Hausmantel mit verblüffend grellem, rotblau gefärbtem Paisleymuster gekleidet war und eine flackernde Kerze hielt, die in gefährliche Schieflage geriet, als er sich abmühte, die Riegel an der Haustür zurückzuziehen.

»Gehen Sie zurück zu Bett, Morey«, sagte Sebastian. »Ich kümmere mich um das hier.«

»Jawohl, Mylord.« Der Majordomus, ein ehemaliger Artilleriesergeant, verbeugte sich würdevoll und zog sich zurück.

Sebastian zog schwungvoll die Haustür auf. Sein Freund fiel praktisch in die mit Marmor geflieste Eingangshalle. »Was zur Hölle ist geschehen, Gibson? Was ist denn nur los?«

Gibson lehnte sich gegen die Wand. Er atmete schwer, sein normalerweise lebhaftes Gesicht wirkte ausgezehrt und schweißverschmiert. Es sah aus, als hätte er keine Droschke gefunden und stattdessen zu Fuß die Entfernung vom Tower nach Mayfair zurückgelegt – keine Leichtigkeit für einen Mann mit einem Holzbein.

Er schluckte mühsam und sagte: »Ich habe mir eine winzige Schwierigkeit eingebrockt.«

 

Sebastian blickte auf den blassen Leichnam hinunter, der auf der Granitplatte seines Freundes lag, und versuchte, möglichst flach zu atmen.

Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel. Der Wind hatte die Wolken und den restlichen Nebel weggeblasen und einen leeren, blank geschrubbten, blauen Himmel zurückgelassen. Der Tag kündigte zu so früher Stunde bereits an, warm zu werden. Von der Leiche vor ihm stieg ein widerlich süßer Geruch nach Verfall auf.

»Weißt du«, sagte Sebastian und rieb sich die Nase, »hättest du den Mann in seinem Grab gelassen, wo er hingehörte, sähest du dich jetzt nicht mit dieser Schwierigkeit konfrontiert.«

Gibson stand auf der anderen Seite des Tisches, die Arme vor der Brust verschränkt. »Dazu ist es jetzt etwas zu spät.«

Sebastian schnaubte. Auf manch einen mochte es unwahrscheinlich wirken, dass diese beiden Männer Freunde waren – der Erbe eines Earls und der irische Wundarzt mit einer Passion für das Erforschen der Geheimnisse des menschlichen Körpers. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der sie beide in den Farben des Königs Seite an Seite gekämpft hatten – von den westindischen Inseln über Italien bis zu den Gebirgen in Portugal. Ihre Freundschaft war in den Schrecken von Blut und Matsch und dräuendem Tod geschmiedet worden. Dieser Tage teilten sie die Hingabe an Wahrheit und einen leidenschaftlichen Zorn über die mutwillige und selbstsüchtige gegenseitige Zerstörung der Menschen.

Gibson rieb sich mit der Hand über das Kinn. »Es ist nicht so, dass ich einfach zur Bow Street gehen und sagen könnte: ›Ach, übrigens, Freunde, ich dachte mir, es könnte euch interessieren, dass ich letzte Nacht eine Leiche gekauft habe, die vom Friedhof von St. George’s geklaut wurde. Ich weiß wohl, das ist nicht rechtens, doch jetzt kommt der springende Punkt: Es hat den Anschein, als wäre dieser Gentleman – dessen Freunde allesamt annehmen, er wäre im Schlaf verstorben – in Wirklichkeit ermordet worden.‹«

Sebastian stieß ein leises, humorloses Lachen aus. »Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Die Behörden sahen über die Tätigkeiten der Leichenräuber üblicherweise hinweg, es sei denn, sie wurden auf frischer Tat ertappt. Doch die Einwohner Londons gingen deutlich weniger leichtherzig mit der unerlaubten Sektion ihrer lieben Angehörigen um. Wenn sich das Gerücht vom Diebstahl einer Leiche ausbreitete, gab es unter Horden hysterischer Verwandter die hässliche Angewohnheit, auf die Friedhöfe der Stadt zu strömen und die Überreste ihrer Lieben auszugraben. Da sie oft nur leere Särge und zerrissene Grabbekleidung vorfanden, richtete der sich bildende Mob seinen Zorn dann gegen die Hospitäler der Stadt und gegen die Häuser bekannter Anatomen. Sie zerstörten, brandschatzten und attackierten jeden Mediziner, der das Pech hatte, ihnen in die Fänge zu geraten.

Gibson war als Anatom wohlbekannt.

Sebastian sagte: »Vielleicht hat Jumpin’ Jack die falsche Leiche ausgegraben.«

Gibson schüttelte den Kopf. »Ich werde die Statistiken der Todesursachen später sicherheitshalber noch einmal überprüfen, aber ich setze auf Jumpin’ Jack. Wenn er sagt, das ist Alexander Ross, dann ist das Alexander Ross.«

Sebastian ging um den Tisch herum, den Blick auf den blassen Leichnam gerichtet.

Gibson fragte: »Erkennst du ihn wieder?«

»Nein. Allerdings habe ich meines Wissens nie jemanden mit dem Namen Alexander Ross getroffen.«

»Ich hörte, er hatte eine Wohnung in der St. James’s Street, über dem Kaffeehaus Je Reviens

Sebastian nickte. St. James’s war eine beliebte Gegend unter jungen Edelmännern. »Wer sagte dir, er sei an einem schwachen Herzen gestorben?«

»Ein Kollege von mir vom St. Thomas-Krankenhaus, Doktor Astley Cooper. Er wurde gerufen, um die Leiche zu untersuchen. Er schwor, es hätte keine Zeichen von Gewalt oder Krankheit gegeben; der Mann lag einfach tot in seinem Bett, als sein Leibdiener ihn des Morgens aufwecken wollte. Cooper war überzeugt, dass er ein schwaches Herz gehabt haben müsse. Deshalb war ich auch so erpicht, die Leiche zu sezieren – um nachzusehen, welche Fehlbildung oder Beschädigung am Herzen vorliegen könnte.«

Sebastian beugte sich hinunter, um den verräterischen Schlitz an der Schädelbasis des Mannes zu betrachten. »Dein Dr. Cooper hat offensichtlich nicht daran gedacht, den Nacken seines Patienten zu untersuchen. Aber eine Wunde wie diese musste doch bluten. Hätten das Kissen und die Betttücher nicht blutüberströmt sein müssen?«

»Wenn Mr Ross in seinem Bett getötet worden wäre, ja. Das ist aber offenbar nicht der Fall. Jemand muss viel Mühe auf sich genommen haben, um seinen Tod natürlich aussehen zu lassen.«

»Und ohne dich wäre ihm das auch gelungen.« Sebastian richtete sich auf und trat in die Tür, von der aus man den ungepflegten Garten überblicken konnte, der sich von dem Steingebäude bis zur Praxis erstreckte.

Gibson trat neben ihn. Nach einer Weile sagte der Ire: »Es sieht aus wie das Werk eines Fachmanns, nicht?«

»Das könnte gut sein.«

»Ich kann nicht so tun, als hätte ich es nicht gesehen.«

Sebastian stieß einen langen Atemzug aus. »Das wird nicht leicht sein – einen Mord zu untersuchen, von dem niemand weiß, dass er stattgefunden hat.«

»Aber du wirst es tun?«

Sebastian blickte zurück zu dem bleichen Leichnam auf Gibsons Sektionstisch.

Der Mann sah aus, als wäre er im selben Alter wie Sebastian, vielleicht ein paar Jahre jünger. Er sollte noch Jahrzehnte eines erfüllten Lebens vor sich haben. Stattdessen war nun nichts weiter von ihm übrig als die ermordete Leiche auf dem Tisch eines Arztes. Und Sebastian verspürte einen tiefen und schmerzhaften Zorn gegenüber dem Menschen, der Ross dieses Ende beschert hatte.

»Das werde ich.«

Kapitel 3

Die Milchmädchen waren noch auf ihren Runden unterwegs. Schwere Kannen schwangen an den Jochen hin und her, die sie über den Schultern trugen. Sebastian stieg die flachen Stufen an der Vorderseite seines eleganten Hauses mit Erkerfront in der Brook Street hinauf.

»Vor wenigen Augenblicken ist eine Nachricht des Earls of Hendon angekommen«, sagte Morey, der Sebastian an der Tür mit einem Silbertablett in der Hand empfing. Ein Brief mit dem Siegel der St. Cyrs lag darauf.

Sebastian machte keine Anstalten, ihn zu nehmen. Bis vor einer Woche hatte er Hendon Vater genannt. Sebastian vermutete, dass er sich am Ende an die grausame Entdeckung gewöhnen würde: Er war nicht der, für den alle Welt ihn noch immer hielt. Er war alles andere als der legitime Sohn des Earls of Hendon, sondern vielmehr das Ergebnis eines Seitensprungs der schönen, untreuen Countess und eines unbekannten Liebhabers. Vielleicht würde er mit der Zeit lernen, die Lügen zu verstehen und zu vergeben, die Hendon ihm über die Jahre erzählt hatte. Eines wusste Sebastian hingegen ganz sicher: Er würde Hendon niemals verzeihen können, dass dieser ihn hatte glauben lassen, die Liebe seines Lebens wäre seine eigene Schwester. Denn diese Lüge hatte ihre Liebe in etwas Schmutziges und Schlechtes verwandelt und die Frau, die Sebastian zu seiner Gattin zu machen gehofft hatte, in die lieblose Ehe mit einem anderen Mann getrieben.

»Schicken Sie mir Calhoun«, sagte Sebastian, ging zu der Treppe und ließ das Billett auf dem Tablett liegen.

Der Schatten einer rasch unterdrückten Emotion glitt über das Antlitz des Majordomus. »Jawohl, Mylord.«

Sebastian stieg, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und schlüpfte im Gehen aus seinem Mantel aus dunkelblauem Kammgarn. In seiner Ankleidekammer zog er gerade ein frisches Hemd über den Kopf, da erschien sein Leibdiener Jules Calhoun in der Tür.

»Ich möchte, dass Sie alles über einen Gentleman namens Alexander Ross herausfinden«, sagte Sebastian. »Soweit ich weiß, hat er eine Wohnung in der St. James’s Street.«

Calhoun, ein kleiner, schlanker Mann mit gleichmäßigen Zügen, war der perfekte Leibdiener – fröhlich, ohne sich je zu beklagen, und von bester Bildung in den feinen Künsten. Und da er sein Leben in einem der berüchtigtsten Freudenhäuser Londons begonnen hatte, waren einige seiner etwas außergewöhnlicheren Talente für einen Gentleman, der das Aufklären von Morden zur Passion seines Lebens erhoben hatte, von beträchtlichem Nutzen.

Calhoun hob Sebastians abgelegten Mantel auf und schniefte. Der feine, aber unverkennbare Geruch nach Verfall hing darin. »Sehe ich es richtig, dass Mr Ross ermordet wurde?«

»Durch ein Stilett, das in seine Schädelbasis gestoßen wurde.«

»Wie ungewöhnlich«, sagte Calhoun.

»Sehr. Unglücklicherweise nimmt alle Welt an, er sei friedlich im Schlaf verstorben, also wird dieser Fall recht delikat werden.«

Calhoun reichte Sebastian ein frisches Halstuch und verbeugte sich. »Ich werde ein Ausbund an Diskretion sein.«

Sebastian hob das Kinn, legte sich die Krawatte um den Hals und stieß ein Schnauben aus.

Calhoun räusperte sich. »Zu der anderen Angelegenheit, die ich in Eurem Auftrag untersuchen sollte …«

Sebastian spürte eine unangenehme Regung in der Brust. Er ignorierte sie. »Ja?«

»Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass Miss Hero Jarvis heute Morgen der Eröffnung des New Steam Circus nördlich von Bloomsbury vorstehen wird.«

»Des was?«

»Des New Steam Circus, Mylord. Es ist eine Präsentation von Mister Trevithicks neuester Dampflokomotive. Ich glaube, um elf Uhr öffnen sich die Tore.«

»Ich sollte vorher zurück sein. Lassen Sie Tom meinen Zweispänner um Viertel vor elf vorfahren.« Sebastian richtete seine Manschetten. »Sagen Sie: Wie genau haben Sie das herausgefunden?«

»Durch Miss Jarvis’ Mädchen, Mylord«, sagte Calhoun und hielt einen frischen Mantel aus feinem Tuch bereit.

Sebastian zog sich den Mantel über die Schultern. »Haben Sie um sie geworben oder sie bestochen?«

»Schnöder Mammon, Mylord.«

Sebastian runzelte die Stirn. »Das ist nicht gut.«

»Das dachte ich ebenfalls, Mylord. Ich meine, es gibt nicht viele, die in der Damenwelt solchen Schlag haben wie ich, wenn ich das so sagen darf. Aber diese Frau ist bereit, mit jedem zu reden, der willens ist, ihren Preis zu zahlen.«

 

Charles Lord Jarvis stand in den Räumlichkeiten, die in Carlton House zu seiner persönlichen Verfügung vorgehalten wurden, am Fenster und blickte auf den Vorhof des Palastes hinunter.

Seit der alte King George vor gut achtzehn Monaten unwiederbringlich in den Wahnsinn abgeglitten war, hatte sich das Zentrum der Macht in London von den antiken Backstein-Höfen des St. James’s Palace in diese extravagant renovierte Londoner Residenz des Prinzen von Wales verlagert. Und Jarvis, der Vetter des Königs – brillant, skrupellos und bedingungslos der Sache des Hauses von Hannover verpflichtet – wurde sogar noch stärker als zuvor von der Allgemeinheit als die Macht im Rücken der schwachen Regentschaft von ›Prinny‹, wie der Prinzregent scherzhaft genannt wurde, anerkannt.

Mit Ende fünfzig war Jarvis ein stattlicher Mann, sowohl groß als auch füllig. Trotz seiner fleischigen Wangen und der Hakennase war er noch immer attraktiv. Er besaß volle Lippen, die er zu einem unerwartet strahlenden Lächeln verziehen konnte. Diese Gabe setzte er oft ein, und zwar ebenso sehr zum Schmeicheln wie zum Betrügen.

»Ich sage Euch, das ist Narretei«, grummelte der Earl of Hendon, einer von zwei Herren, die in Jarvis’ Räume gekommen waren, um den Status Quo auf dem Kontinent zu besprechen.

Jarvis blickte zu Hendon, behielt seine Meinung jedoch für sich. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, welche Macht im Zuhören lag, wenn andere sprachen.

»Es ist alles andere als Narretei«, sagte der zweite Gentleman, Sir Hyde Foley, Staatssekretär für Äußeres. »Unsere Truppen rücken unter Wellington in Spanien schnell voran. Wenn sie in dieser Geschwindigkeit weiter marschieren, können wir schon Mitte nächsten Monats in Madrid stehen. Und wisst Ihr, weshalb? Weil Napoleon in seiner Arroganz jetzt Russland angegriffen hat und just, da wir hier miteinander sprechen, auf Moskau zu marschiert. Wieso ist es Narretei, zur Unterstützung des Zaren britische Truppen zu entsenden?«

»Es ist aus demselben Grund Narretei, aus dem Napoleons Invasion in Russland Narretei ist«, sagte Hendon, dessen Gesicht dunkel von Emotionen war. Der Schatzkanzler, der unter zwei Premierministern gedient hatte, war ein grobknochig gebauter Mann mit einem fassförmigen Brustkorb. Er war jetzt Ende sechzig und besaß einen Schopf weißen Haares und die leuchtend blauen Augen, die das Markenzeichen seiner Familie, der St. Cyrs, waren. »Wir haben schlicht nicht genügend Männer, um die Franzosen in Spanien und in Russland zu bekämpfen, Indien zu verteidigen und auch Kanada weiterhin zu beschützen, wenn die Amerikaner sich entscheiden sollten, uns dort anzugreifen.«

Foley gab ein missfälliges Geräusch von sich. Der Staatssekretär, ein sehniger Mann Mitte dreißig mit dunklem Haar und einem schmalen, scharfgezeichneten Antlitz, hatte sich als fähige und formidable Macht im Außenministerium erwiesen. »Die Drohung, die Amerikaner könnten uns angreifen, lag in den letzten vier Jahren unentwegt in der Luft. Es ist nicht geschehen. Warum sollte es jetzt geschehen, da wir doch die Erlasse – die Orders in Council – abgeschafft haben, die ihnen so verhasst waren?«

»Weil diese verfluchten Emporkömmlinge Kanada wollen, deshalb! Sie haben die verrückte Vorstellung, Gott hätte ihnen das Recht verliehen, sich über den gesamten Kontinent auszubreiten, vom Nordpol bis zum Pazifischen Ozean und dem Golf von Mexiko.«

Foley warf den Kopf zurück und lachte. »Dieses Bauernpack?«

Hendons Wangen röteten sich noch mehr. »Lasst es Euch gesagt sein! Wenn sie nicht schon damit begonnen haben – oder es versuchen.«

»Gentlemen«, sagte Jarvis sanft. »Dieses Wortgefecht ist voreilig. Die Beratungen mit den Repräsentanten des Zaren sind noch in einem vorläufigen Stadium.«

Es war eine Lüge, gewiss. Die Verhandlungen mit den Russen waren seit nahezu einer Woche so gut wie beendet. Lediglich die fortgesetzten, lautstarken Einwände von Hendon hatten ihren erfolgreichen Abschluss verhindert.

»Sehr richtig«, sagte Hendon. Er sah auf die Kaminuhr. »Nun müsst Ihr mich entschuldigen. Ich habe in einer Viertelstunde eine Verabredung mit Liverpool.«

»Gewiss«, sagte Jarvis in seinem gönnerhaftesten Tonfall. Er hielt inne, dann fuhr er in vorgespielt sorgenvollem Ton fort: »Es betrübt mich, gehört zu haben, dass sich zwischen Euch und Eurem Sohn, Viscount Devlin, eine unglückliche Entfremdung ausgebreitet hat.«

Hendons Züge spannten sich an. »Das entspricht nicht der Wahrheit.«

»So?« Jarvis griff nach seiner Schnupftabakdose. »Dann wurde ich wohl fehlinformiert. Ich wünsche einen guten Tag, Mylord.«

Hendon verbeugte sich zuerst höflich vor Jarvis, dann vor Foley. »Guten Tag, Gentlemen.«

Nachdem Hendon gegangen war, gesellte Foley sich zu Jarvis, den Blick wie Jarvis auf die Szene unter ihnen gerichtet. Sie sahen, wie der Earl of Hendon den Palast verließ und rasch über den gepflasterten Vorhof ging.

»Er weiß nichts?«, sagte Foley.

»Er hat einen Verdacht.«

»Denkt Ihr, er könnte ein Problem darstellen?«

»Das könnte er.« Jarvis hob eine kleine Prise Schnupftabak an seine Nase und sog sie ein. »Aber sorgen Sie sich nicht, ich komme mit ihm zurecht.«

Kapitel 4

Das Kaffeehaus namens Je Reviens lag im Erdgeschoss eines elegant geschnittenen, vierstöckigen Sandsteingebäudes auf der westlichen Seite der St. James’s Street. Durch das elegante Erkerfenster des Kaffeehauses konnte Sebastian einen getäfelten Raum voller leinengedeckter Tische erkennen. Die zahlreichen Stühle waren selbst zu so früher Stunde von Männern besetzt, die Kaffee oder Schokolade tranken. Es war eine lebendige Szene; der Lärm der Männerstimmen und ihr Lachen ergossen sich gedämpft auf die Straße. Sie palaverten leidenschaftlich über alle möglichen Sujets, vom letzten Pferderennen über Napoleons Invasion in Russland bis zu den neuen Kriegsdrohungen der Vereinigten Staaten.

Er stand eine Weile regungslos auf dem Gehweg, atmete den Duft frisch gerösteten Kaffees ein und beobachtete das Geschehen. Neben der Eingangstür zum Kaffeehaus war eine zweite Tür. Er drückte sie auf und fand sich in einem peinlich sauberen Flur wieder, von dem ein steiles, eckiges Treppenhaus zu den Räumen der oberen Stockwerke führte. Die Marmorstufen waren nicht teppichbezogen. Sebastian stieg zur ersten Etage hinauf, und seine Schritte warfen ein hohles Echo.

Da ihm nicht bekannt war, welche Räumlichkeiten einst Alexander Ross gehört hatten, klopfte er an beide Türen des ersten Stocks. Hinter der holzgetäfelten Wand zu seiner Rechten drang eine unwirsche, schlaftrunkene männliche Stimme hervor. »Gehen Sie weg. Sie bekommen Ihr Geld nächste Woche, habe ich gesagt!«

Die zweite Tür wurde von einem Hausmädchen mittleren Alters geöffnet, das eine ausladende Büste besaß und dessen Krone aus lockigem, feuerrotem Haar unzureichend von einer frischgestärkten Morgenhaube zurückgehalten wurde.

»Mister Ross?«, sagte sie mit rau klingendem, schottischem Akzent als Antwort auf Sebastians Frage. »Ach, nein. Hier wohnt doch die alte Mrs Blume, Sir. Ihr wollt sicher zur vorderen Wohnung die Treppe rauf.« Sie ruckte mit dem Kopf in Richtung Treppe und beugte sich vor, um fortzufahren: »Nur dass Ihr ihn nich zu Hause antreffen werdet, fürcht ich. Ist letzten Samstag im Schlaf gestorben, isser.«

Sie sah Sebastian abwartend an, offenbar mehr als gewillt, über das Geschehene zu sprechen. Sebastian tat das nur allzu gern.

»Ja, das habe ich gehört«, sagte er. »Wir waren Freunde. Die Sache ist die, wissen Sie, ich habe Ross vor wenigen Wochen ein Buch geliehen und hoffte, es zurück zu erhalten.«

»Ach, na ja, Mr Ross’ Diener ist noch oben. Sir Gareth bezahlt ihn noch bis zum Monatsende.«

»Sir Gareth?«

»Sein Bruder, Sir Gareth Ross.« Sie zog den Kopf zurück und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Ich dachte, Ihr sagtet, Ihr seid sein Freund?«

»Ach gewiss, Sir Gareth!« Sebastian lachte, wie über sich selbst. »Ich vergesse immer, dass Gareth jetzt den Titel geerbt hat. Und wie geht es ihm denn?«

Sie schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Nicht gut, der Arme. Es heißt, er hätte sich nie von seiner Verletzung erholt, wisst Ihr. Er konnte zwar zu Mr Ross’ Bestattung von Oxfordshire anreisen, aber die ganze Zeit ging es ihm so schlecht. Ist gerade heute Morgen wieder zum Priorat aufgebrochen, isser. Er musste Mr Poole hier lassen, damit der alles für ihn packt.«

Sebastian nickte verständnisvoll. »Also ist Poole immer noch Mr Ross’ Kammerdiener?«

»Oh ja. Oder vielleicht sollten wir sagen, war. Er ist am Boden zerstört wegen Mr Ross’ Tod.« Schelmisch senkte sie die Stimme, als würde sie ihm ein Geheimnis verraten. »Na, wenn man bedenkt, dass er jetzt gezwungenermaßen auf der Suche nach einer neuen Anstellung ist, muss er das wohl auch, nicht?«

»Das stimmt«, sagte Sebastian. »Aber ich denke, Poole fand es angenehm, für Ross zu arbeiten.« Natürlich fischte er im Trüben; nach allem, was er wusste, hätte Alexander Ross ebenso gut als Arbeitgeber der wahre Teufel sein können.

Das füllige, rötliche Gesicht der Bediensteten strahlte unerwartet auf. »Oh, Mr Ross war ein zauberhafter Gentleman. Immer so charmant, das war er. Im Gemüseladen die Straße rauf hat er die Kinder immer auf seinen Schultern reiten lassen und ihnen kleine Sächelchen gebracht. Einmal hat er mir sogar die Kohleschütte die Treppen hochgetragen, wie ich ihm sagte, dass ich es so im Rücken hatte. Ich war ihm so dankbar!«

Wäre die Schottin jung und hübsch gewesen, könnte man annehmen, der verstorbene Mr Ross hätte Absichten gehabt, die auf ihre Tugend zielten. Aber unter den Umständen ging Sebastian davon aus, dass man dem Toten solcherlei Anwandlungen absprechen konnte.

Sebastian stieß einen melancholischen Seufzer aus. »Es heißt, die Guten sterben jung. Ich hatte keinen Schimmer, dass er ein schwaches Herz hatte.«

»Sonst auch keiner. Einen hübscheren, stärkeren Gentleman habt Ihr noch nich gesehen.«

»Ich frage mich, ob er an dem Abend ausgegangen ist? Oder hat er ihn ganz in Ruhe zu Hause verbracht?«

Sie runzelte die Stirn im Versuch, sich zu erinnern. »Ich kann es nich genau sagen. Ich glaub, ich hab an dem Abend öfters Schritte die Treppe rauf und runter gehen gehört. Aber Mr Ross hat auch oft Besuch gehabt.«

»Und dann gibt es auch noch die Bewohner aus dem dritten und vierten Stock, denke ich«, sagte Sebastian.

Sie schüttelte den Kopf. »Ach nein. Mr Osborne im Dritten ist so ein Einsiedler – und so taub wie Mrs Blume hier, nebenbei. Und Mr Griffen, der neben ihm wohnt, verbringt die Sommer immer auf dem Land.«

»Und die anderen Räumlichkeiten im zweiten Stock?«

»Die stehen seit zwei Wochen leer.«

»Verstehe.« Sebastian verbeugte sich elegant mit dem Hut in den Händen. »Vielen Dank, Miss …«

»Jenny«, half sie aus.

»Danke sehr, Jenny. Sie waren überaus hilfreich.«

So leichtfüßig er es vermochte, stieg er die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf, um keinen Lärm zu machen. Er erreichte gerade die oberste Stufe, da wurde die nächste Tür geöffnet, und ein schick gekleideter Gentleman schob sich durch die Tür in den Flur, auf den Armen ein unförmiges Bündel Kleidungsstücke balancierend.

Der leicht füllige Mann hatte runde Schultern, einen dünnen Schnurrbart, und der Rückgang seines schütteren Haares fiel umso mehr auf durch seine Versuche, die kahle Stelle mit den Überresten seines langen, glatten dunklen Haars zu verdecken. Als er Sebastian entdeckte, stieß er einen Schrei aus und stolperte rückwärts. Das Bündel entglitt ihm und landete mit einem leisen, dumpfen Geräusch auf dem Boden.

»Himmel«, sagte der Mann, suchte nach seinem Schnäuztuch und hielt sich die schneeweißen Falten an die Lippen. »Haben Sie mich erschreckt! Wie lang stehen Sie schon hier?«

Sebastian erklomm die letzte Stufe. Offensichtlich war es möglich, die Treppen sehr leise hinaufzusteigen, wenn man sich etwas Mühe gab. Er sagte: »Ich bin gerade erst gekommen. Ich nehme an, Sie sind Poole?«

Der Kammerdiener verbeugte sich knapp. Er schien vierzig, fünfzig Jahre alt zu sein, seine Wangen hingen, er hatte ein Doppelkinn und dunkelbraune Augen, die Sebastian an ein trauriges Hündchen erinnerten. »Noah Poole, ja. Wie kann ich von Diensten sein?«

Sebastian ließ den Blick auf das Bündel zu ihren Füßen wandern. »Sind Sie auf dem Weg zum Bekleidungsgeschäft in der Rosemary Lane?«

Die blassen Wangen des Dieners nahmen eine kräftige Farbe an, als wäre er einer Unziemlichkeit bezichtigt worden. Er zog die runden Schultern nach hinten und sagte mit einem echten oder eingeübten Lispeln: »Sir Gareth hat mich angewiesen, mich Mr Ross’ Kleidung hier in London zu entledigen.«

»Das ergibt Sinn«, sagte Sebastian und schob sich an seinem Gegenüber vorbei, um uneingeladen in den kleinen Salon dahinter zu gelangen.

Es war die typische Unterkunft eines Gentlemans, mit feinem, dunklem Holz und Seide in Burgunder und Marineblau ausgestattet. Hinter dem elegant eingerichteten Raum, der sowohl als kleiner Salon als auch als Speisezimmer genutzt wurde, sah Sebastian ein zweites Zimmer, die Schlafkammer. So wie alles wirkte, hätte Ross kürzlich erst zu einem Besuch seines Klubs hinausgegangen sein können. Noah Poole hatte offenbar keine Eile damit, die ihm übertragene Pflicht zu erfüllen.

»Eigentlich bin ich hier«, sagte Sebastian, »um ein Buch abzuholen, das ich Ross vor einigen Wochen ausgeborgt habe. Scotts Lady of the Lake. Haben Sie es gesehen?«

Poole beäugte ihn und blinzelte mehrmals. »Und wer könnten Sie wohl sein, wenn ich fragen darf?«

Sebastian zog eine seiner Karten heraus und hielt sie ihm zwischen zwei Fingern hin. »Devlin.«

Poole klappte trotz seiner Beherrschtheit die Kinnlade herunter. In diesem Teil Londons gab es wenige Menschen gehobener oder niederer Herkunft, die noch nicht von Viscount Devlin gehört hatten.

Mit zitternden Fingern nahm der Diener die Karte entgegen und verbeugte sich erneut, dieses Mal deutlich tiefer und devoter als beim ersten Mal. »Aber gewiss! Lord Devlin! Ich bitte um Verzeihung.« Nervös räusperte er sich. »Ich erinnere mich nicht, ein solches Buch gesehen zu haben, aber ich kann Euch versichern, dass ich überaus glücklich sein werde, es Euch zu übersenden, wenn ich darauf stoße.«

»Das wäre hilfreich, vielen Dank.«

Sebastian durchwanderte das Zimmer und nahm den eleganten Herrenschrank, die mit gestreifter Seide bespannten Stühle mit den Rückenlehnen in Form einer Lyra und die geprägten Einladungen auf, die im vergoldeten Rahmen des Spiegels über dem Kamin steckten. Er blieb stehen und betrachtete eine Einladung für den heutigen Abend in den St. James’s Palace. Sie war vom russischen Botschafter.

In seinem Rücken räusperte sich Poole. »Soweit ich weiß, habt Ihr einen gewissen Ruf, Morde aufzuklären.«

Sebastian sah ihn über die Schulter an. »Ja.«

»Aber … Mr Ross ist im Schlaf verstorben. Ich habe ihn selbst gefunden.«

»Das muss ein rechter Schock für Sie gewesen sein.«

Poole suchte erneut nach seinem Taschentuch. »In der Tat. Ihr habt ja keine Vorstellung. Ich fürchte, ich habe mein Gleichgewicht noch nicht wieder gewonnen.«

Sebastian setzte seine ausgiebige Inaugenscheinnahme des Raumes fort. Er würde in der Nacht für eine gründlichere – und private – Suche zurückkommen müssen. »Hat Ross am Tag seines Ablebens etwas Ungewöhnliches unternommen? Etwas, das sich auf sein Herz ausgewirkt haben könnte?«

»Nicht dass ich wüsste, nein. Er war am Abend zuvor aus, sodass er etwas später als üblich aufstand. Aber Sir Hyde war in diesen Dingen nie sehr streng.«

Sebastian drehte sich um und musterte den rundlichen Mann. »Sir Hyde? Meinen Sie Sir Hyde Foley?« Sir Hyde Foley war der Staats-Untersekretär für Äußeres. Das bedeutete, der ermordete Mr Ross musste …

»Aber sicher«, sagte Poole. »Mr Ross hat für Sir Hyde im Außenministerium gearbeitet.«

Kapitel 5

Sebastians Blick wanderte erneut zur Einladung zum Empfang im St. James’s Palace von diesem Abend. Der stille Tod des unbekannten Mr Ross mochte nach Ermittlungen gerufen haben, doch der heimliche Meuchelmord eines jungen Gentlemans des Foreign Office öffnete eine ganz andere Bandbreite verstörender Möglichkeiten.

»Um wie viel Uhr ist Mr Ross an dem Abend aus dem Außenministerium zurückgekommen?«, fragte Sebastian.

Poole runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn. »Etwas später als gewöhnlich, glaube ich. Allerdings ist es jetzt schwer, mich noch genau zu erinnern.«

»Ist er an dem Abend nochmals ausgegangen?«

»Das kann ich nicht sagen, Mylord. Kurz nach seiner Ankunft hat Mr Ross mich informiert, dass er mich den restlichen Abend nicht mehr benötigen würde.« Poole zögerte. »Tatsächlich hatte ich den Eindruck, dass er für den späteren Abend noch jemanden erwartete.«

»Einen Mann oder eine Frau?«

»Darüber war ich nicht informiert.«

»Ist Ihr Zimmer hier auf dem zweiten Stockwerk?«

Poole schüttelte den Kopf. »Nein, Mylord, ich wohne im Dachgeschoss.« Er nickte in Richtung eines Glockenseils neben dem Kamin. »Mr Ross konnte mich immer rufen, wenn er mich brauchte, aber er hat seine Intimsphäre geschätzt.«

»Wie lange waren Sie bei Mr Ross?«

»Seit seiner Rückkehr aus Russland.«

»Ross war in Russland?«

»Ja, Mylord.«

Erneut wanderte Sebastians Blick zu der Einladung, die in den vergoldeten Rahmen gesteckt war. Als Erbe des Earl of Hendon hatte er die gleiche Einladung erhalten. Bisher hatte er nicht beabsichtigt hinzugehen. Nun allerdings …

Er bemerkte, dass Noah Poole noch immer weitersprach. »Und ich habe seit mehr als zwanzig Jahren Erfahrung damit, Leibdiener eines Gentlemans zu sein«, sagte er. »Solltet Ihr also durch Zufall Kenntnis von jemandem haben, der einen Kammerdiener benötigt – ich verfüge über exzellente Referenzen.« Der Diener stand mit wie zum Gebet gefalteten Händen da. Die Unterlippe hatte er zwischen die Zähne gezogen, und seine Augen waren groß und hoffnungsvoll.

»Sollte ich etwas Entsprechendes hören, werde ich Ihren Namen sogleich ins Gespräch bringen.«

Noah Poole nickte dankbar und verbeugte sich.

Sebastian wandte sich gerade zum Gehen, da räusperte Poole sich erneut. »Vielleicht möchtet Ihr Euch mit Madame Champagne unterhalten.«

Sebastian hielt inne und sah zu ihm zurück. »Mit wem?«

»Angelina Champagne – der Eigentümerin des Kaffeehauses im Erdgeschoss. Ihr gehört das ganze Haus. Sie residiert den größten Teil des Tages am Erkerfenster – und die halbe Nacht auch.« Poole schluckte, wobei seine beiden Kinne zum Hals zurückgezogen wurden, bis sie nahezu verschwanden. »Nach meiner Erfahrung gibt es kaum etwas, das ihrer Aufmerksamkeit entgeht.«

»Danke sehr. Das könnte hilfreich sein«, sagte Sebastian und machte sich auf die Suche nach Madame Champagne.

Doch als er das wohlduftende Café im untersten Stock betrat, sagte man ihm, dass Madame ausgegangen war und man sie erst am späten Nachmittag wieder erwartete.

Sebastian zog seine Uhr aus der Tasche und runzelte die Stirn.

Es war fast elf Uhr.

 

Sebastian steuerte seinen Zweispänner eigenhändig nach Bloomsbury. Dort wurde der große, freie Platz auf der Nordseite der New Road von einer riesigen, runden Absperrung aus Holz eingenommen, die für alle Augen wie eine primitive Festung im wilden Amerika aussah. Fast fünf Meter hohe, vertikal angebrachte Bretter hinderten eine buntgemischte Menge neugieriger Gaffer daran, einen Blick auf die Dampflokomotive zu erhaschen, ohne dafür gezahlt zu haben.

»Wenn ich länger als zehn Minuten weg bin, führ sie herum«, sagte Sebastian dem jungen Burschen, der sich auf der Rückseite der Kutsche an seinem Bock festhielt. Von der anderen Seite der Palisade stieg eine Rauchsäule auf, und eine Pfeife gellte. Die Füchse schnaubten und warfen nervös die Köpfe herum.

»Ruhig, ihr beiden«, sagte Tom in einem Singsang und kletterte auf den Sitz. Der halbwüchsige, dreizehnjährige Bengel mit Zahnlücken und einer gewissen Rauflust war Sebastian vollends ergeben. »Vielleicht lass ich sie besser gleich laufen.«

»Wie du möchtest«, sagte Sebastian und sprang ab. »Du könntest tatsächlich die Zeit nutzen und versuchen herauszufinden, wo der Untersekretär für Äußeres, Sir Hyde Foley, sein Mittagessen einnimmt.«

»Aye, Meister.«

Pflichtschuldigst zahlte Sebastian seinen Schilling Eintritt, schob sich in die riesige Anlage und sah einen offenen Platz, der von einem Paar Geleise dicht hinter der Absperrwand umrundet wurde. Auf der anderen Seite des Rondells stand eine kleine, schwarze Dampfmaschine. Sie war auf Räder montiert und mit einer umgebauten, offenen Kutsche dahinter verkoppelt. Der Kessel der Maschine rauchte und dampfte und verbreitete den stechenden Geruch brennender Kohle in der Luft.

In der Anlage gingen vierzig bis sechzig mutige Seelen umher, angefangen bei gutgekleideten Damen und Herren bis hin zu gaffenden Handwerkern und Lehrlingen. Doch das Gefährt blieb leer. Offenbar war es eine Sache, seinen Schilling für einen Blick auf die klopfende und zischende Maschine herzugeben, aber eine ganz andere, Leib und Leben für eine Mitfahrt aufs Spiel zu setzen.

Sebastian ließ den Blick auf der Suche nach Miss Hero Jarvis über die anwesende Menge schweifen. Es war fast halb zwölf; womöglich war sie bereits hier gewesen und schon wieder gegangen.

»Es war mir nicht bekannt, dass Ihr Euch für die Fortschritte der modernen Wissenschaft interessiert«, ertönte eine gebildete weibliche Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und stand vor Miss Jarvis, die ihn mit einer Miene betrachtete, die er unmöglich zu interpretieren vermochte. Sie war eine großgewachsene junge Frau, fast so groß wie ihr mächtiger Vater Lord Jarvis. Niemand würde sie je als hübsch bezeichnen, obgleich sie auf ihre Art attraktiv war, und das trotz der von ihrem Vater ererbten Hakennase und des hochmütigen Ausdrucks. Sie trug ein moosgrünes Kutschkleid. Den dazu passenden Sonnenschirm hielt sie schräg über den Kopf. Aus ihrem flotten, gelb umsäumten Hütchen hatten sich feine Strähnen weichen, braunen Haars gelöst. Eine verschreckt aussehende Zofe hielt sich hinter ihr, denn eine unverheiratete Dame von Stand ging niemals ohne ihr Mädchen aus.

»Wir wissen nicht viel voneinander, nicht wahr?«, sagte Sebastian. Tatsächlich interessierte er sich außerordentlich für die moderne Wissenschaft – allerdings zufällig nicht für Dampfmaschinen.

»Richtig.« Sie ließ den Blick über die Menge der Neugierigen wandern. »Mr Trevithick hat keine allzu große Menge angezogen, fürchte ich. Und selbst diejenigen, die bezahlt haben, um sich das Ganze mal anzusehen, scheinen nicht über die Courage zu verfügen, eine Fahrt zu wagen.«

»Vielleicht warten sie darauf, dass jemand anderes den Anfang macht?«

Sie richtete den Blick aus ihren grauen Augen auf sein Gesicht und lächelte. »Ich bin im Spiel, wenn Ihr es seid.«

Er starrte sie an. »Ich?«

»Ihr habt doch sicherlich keine Angst davor?«

Sebastian betrachtete das grell leuchtende Feuer der Maschine. »Ihr wisst, weshalb Watt auf niedrigem Dampfdruck besteht, oder nicht?«

»Ja. Weil hoher Dampfdruck gefährlich sein kann. Aber er kann stark gedrosselt werden. Das hier«, sie deutete mit einer in einem eleganten Handschuh steckenden Hand auf Trevithicks Dampfmaschine, »das ist die Zukunft.«

Sebastian rieb sich mit den Fingerknöcheln an der Seite der Nase entlang. »Ich hörte, eine dieser Maschinen ist explodiert. Vier Männer kamen dabei ums Leben.«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Das war eine frühere Konstruktion. Ich sage Euch, eines Tages werden Maschinen wie diese Fahrzeuge mit Passagieren auf unseren Straßen antreiben.«

»Ich schätze Pferde sehr«, sagte Sebastian.

»Ich auch. Gleichwohl erkenne ich ihre Grenzen. Stellt Euch vor, was funktionierende Dampflokomotiven leisten könnten – wenn die Menschen nur lernten, sie anzunehmen.«

Mit einem schiefen Lächeln trat Sebastian neben die leere Kutsche und streckte die Hand aus. »Sehr schön, Miss Jarvis; wollen wir ein Beispiel geben?«

Sie legte die Hand in seine.

»Oh, Miss Jarvis!«, schrie die Zofe aus und drückte die geballte Faust an die Brust. »Ihr werdet mich doch nicht zwingen, in diesem Ding mitzufahren?«

Miss Jarvis sah zu ihr zurück. »Du kannst hier auf mich warten. Es ist sicher nichts anderes, als würde ich mit Seiner Lordschaft eine Ausfahrt im Park machen.«

Die Zofe atmete sichtlich erleichtert auf. »Oh, danke sehr, Miss Jarvis.«

Nachdem Sebastian neben Miss Jarvis aufgestiegen war, nickte ein großer, dunkelhaariger Mann mit einer langen Nase im zerklüfteten Gesicht dem Ingenieur zu. Ein schriller Pfiff durchschnitt die Luft, worauf die Umstehenden aufschrien. Der Ingenieur öffnete ein Ventil. Dampf stieg auf, und die Räder der Maschine begannen sich zu drehen. Mit einem heftigen Ruck fuhr die Kutsche abrupt los.

»Wie schnell kann sie fahren?«, rief Sebastian über das Zischen des Dampfes, der aus dem Zylinder kam, und den Lärm der Menge hinweg.

»Zwölf Meilen die Stunde«, rief sie und umgriff ihren Schirm fester. »Aber Ihr seid nicht hergekommen, um mit mir über Dampfmaschinen zu sprechen, nicht wahr, Lord Devlin?«

Sebastian sah ihr offen in die Augen. »Ihr wisst, weshalb ich hier bin.«

Zwei Monate zuvor hatten sie gemeinsam dem Tod ins Auge geblickt, gefangen in den unterirdischen Gewölben unter den verlassenen Gärten eines längst verschwundenen Renaissance-Palastes. In einem Augenblick der verzweifelten Schwäche hatten sie Trost in den Armen des anderen gesucht. Doch sie hatten dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Und nun war zu Tage getreten, dass jene Momente unerwarteter Intimität zu einer unbeabsichtigten Folge geführt hatten.

Bisher hatte Lord Jarvis’ unbezwingbare Tochter entschieden Sebastians Bemühungen zurückgewiesen, sie zur Annahme des Schutzes zu bewegen, den sein Name ihr bieten würde. Doch er war nicht die Art Mann, die leicht aufgab. Er sagte: »Habt Ihr über meinen Antrag noch einmal nachgedacht?«

Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken, obgleich er bemerkte, wie sich ihre Kehle anspannte, als sie schluckte. »Das habe ich in der Tat.«

»Und?«

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Ihr recht habt. Es liegt im besten Interesse aller Beteiligten, dass ich Euer großzügiges Angebot annehme. Deshalb würde ich mich geehrt fühlen, Eure Gattin zu werden, Mylord.« Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Vorzugsweise schnellstmöglich.«