Leseprobe Die Tote vom Pendle Hill

Prolog

Lancashire, 2008

Hope rannte, bis ihre Brust eng wurde und sie außer Gefecht setzte. Ihr gehetzter Atem drang in warmen Wolken aus ihrem Mund. Sie keuchte und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite.

Hope wagte einen Blick zurück und suchte die verschwommene Ferne nach ihrem Verfolger ab. Noch immer waren kaum Lichter durch die Nebelbank zu erkennen. Das Städtchen schlief tief und fest. Einzig die Kirchenglocke ertönte in diesem Moment und untermalte diese gespenstische Szene. Auf Reverend Hughing war eben Verlass, selbst in den frühen Morgenstunden.

Ihr aufgeregtes Herz hämmerte wie wild, und sie konnte ihren schnellen Puls im Kopf fühlen. Ihre trockene Kehle sehnte sich seit geraumer Zeit nach einem Schluck Wasser.

»Hab ich dich!« Die Stimme holte sie mit erbarmungsloser Härte aus ihrer Trance.

Hope fuhr entsetzt herum und wurde zu Boden gerissen. Dort endete ihre kleine Rangelei in einem stürmischen Kuss mitten auf dem Pendle Hill. Um diese Uhrzeit traute sich für gewöhnlich niemand hier herauf. Die Einwohner waren viel zu schreckhaft und abergläubisch dafür, wie Hope von ihrem eigenen Vater wusste, der wahrscheinlich davon ausging, dass sie gerade seelenruhig in ihrem Bett schlief.

»Nicht, dass wir noch verflucht werden«, murmelte sie grinsend an seinen Lippen und kostete jede Berührung voll aus. »Du weißt, was man sich über den Pendle Hill erzählt.«

»Für dich würde ich mich tausendfach verfluchen lassen«, erwiderte er überzeugt und strich ihr durchs Haar. »Ich liebe dich, Hope Fernsby.«

Sie schob ihn von sich und begann eine neue Jagd. Hope liebte das Spiel mehr, als sich zu binden. Er war nicht der Erste, mit dem sie sich nachts oder im frühen Morgengrauen wie heute auf dem Pendle Hill traf.

»Wetten, du kriegst mich nicht, bis wir an der alten Eiche sind?«, rief sie nach hinten, bemerkte aber, dass er sich bergab schneller näherte als aufwärts.

Sie konnte seinen heißen Atem schon beinahe in ihrem Nacken spüren und beschleunigte ihre Schritte, auch wenn ihr Körper sie anflehte, endlich damit aufzuhören und sich zu setzen. Das Adrenalin trieb Hope an und ließ sie bis an ihre Grenzen gehen. Sie hatte nicht vor, aufzugeben. Dafür liebte sie den Sieg viel zu sehr.

»Na warte!«

»So viel Spaß hast du mit deiner Freundin sicher nicht!«, kreischte sie lachend und berührte die Eiche am Fuße des grünen Hügels als Erste.

Ob er sie absichtlich gewinnen ließ, wusste sie nicht. Sie spielte wieder einmal mit dem Feuer. Hope provozierte gern, vor allem Männer. Sie reizte sie so lange mit Andeutungen in der Bücherei oder Blicken auf der Straße, bis sie schier willenlos waren. Dann fühlte sie sich erhaben und befriedigt.

Hope drehte sich außer Atem zu ihrem Verfolger und suchte seinen Blick. Sie schenkte ihm einen herausfordernden Augenaufschlag, der auf die meisten unwiderstehlich wirkte. Selbst Frauen konnten der schönen, einnehmenden Hope nur schwer etwas abschlagen, bildete sie sich ein.

»Du kleine Hexe«, knurrte er und stützte eine Hand neben ihrem Kopf an die Rinde des breiten Baumstammes. »Du ahnst ja nicht, was ich jetzt am liebsten mit dir anstellen würde.«

Hope duckte sich unter seinem Arm hindurch und schritt langsam über die Wiese davon. So langsam kamen sie beide wieder zu Atem. Ihre kleine Jagd war bloß dazu da gewesen, ihn noch verrückter nach ihr zu machen.

Mission geglückt, dachte sie siegessicher, als er ihr wie ein treuer Hund ins hohe Gras folgte und sich neben ihr niederließ.

»Ich habe gleich gesehen, dass du mit ihr nicht glücklich bist. Dafür braucht man Antennen, die sie nun einmal nicht hat.«

»Du weißt ja nicht, was du da redest.« Sein Ärger war deutlich zu hören. »Schämst du dich denn gar nicht, den Freund einer anderen zu verführen? Ihr steht euch so nah …«

Hope fühlte sich gekränkt angesichts seines strengen Tonfalls. Sie mochte es nicht, wenn man sie auf Fehler hinwies oder sie in ein schlechtes Licht rückte.

Hope wandte sich mit einem Ruck um und lächelte grimmig. »Nicht so nah, wie du vielleicht denkst«, erwiderte sie schnippisch und zupfte ein Gänseblümchen aus der Erde, um ihm mit großer Genugtuung jedes Blütenblatt einzeln auszureißen. »Alle in Pendle wissen, dass ihr nicht zusammengehört und sowieso irgendwann wieder getrennte Wege geht. Du wärst nicht hier, wenn es anders wäre. Ihr seid unglücklich, alle beide. Wenn du mich fragst, seid ihr viel zu schnell zusammengekommen. Simpel, nicht wahr? Außerdem konntest du mir noch nie widerstehen. Ich habe deine ständigen Blicke bemerkt. Wie sie an meinem Körper abwärts gewandert sind und mich bereits am Tisch ausgezogen haben.« Um ihre Worte zu unterstreichen, fuhr sie ihm mit dem Zeigefinger am Hosenbein entlang. »Es ist keine Schande, Gefühle zu haben. So ergeht es vielen, wenn sie mich sehen. Ihr Männer könnt gar nicht anders, als mich zu begehren.«

»Zurückhaltend bist du jedenfalls nicht, das muss man dir lassen. Ich habe dich immer für schüchtern und reizend gehalten, aber du bist in Wahrheit ein richtiger Vamp.«

»Das ist doch das, was du dir insgeheim gewünscht hast, oder? Brave Mädchen will niemand. Daheim wartet ein graues Mäuschen auf dich und liest dir jeden Wunsch von den Augen ab, aber mit mir erlebst du Abenteuer und spürst endlich wieder, was es heißt, richtig zu leben. Ich habe meinen eigenen Kopf, und den setze ich für gewöhnlich auch durch. Niemand kann sich mir entziehen, wenn ich es nicht will.«

Seine Augen leuchteten, und sein Gesichtsausdruck wurde von Wort zu Wort lüsterner. Es fehlte nur noch, dass er anfing zu sabbern. »Also hast du doch noch andere Liebhaber neben mir?« Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. Als sie nichts sagte, packte er Hope etwas zu grob am Arm und zwang sie, ihn anzusehen. »Antworte mir!« Er sah ihr tief in die Augen. Sie spielte ihm die Ängstliche vor, doch davon durfte man sich nicht täuschen lassen. Alles, was Hope tat, war von langer Hand geplant. »Liebst du mich?«

Sie antwortete mit einem innigen Kuss und schlang die Arme um seinen Hals. Hope ignorierte den Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge, wie sie es immer tat, wenn sie sich trafen. Dass er aus Frust langsam zum Säufer mutierte, bemerkte er wahrscheinlich selbst erst, wenn es zu spät war. Hope konnte das egal sein. Sie brauchte ihn nur für diese eine Sache und würde ganz sicher nicht ihr ganzes Leben mit ihm verbringen. Er hatte sich ohnehin längst anderweitig festgelegt.

Mit ihrem Kuss entfachte sie sofort wieder das Feuer in ihm. Vergessen war die Frage aller Fragen, die sie sowieso nicht beantwortet hätte.

***

Hope ließ ihren Geliebten im Gras zurück. Sie wand sich aus seinen starken Armen und betrachtete den Schlafenden im Licht der aufgehenden Sonne, die die malerische Landschaft von Pendle erhellte. Wie ruhig er doch wirkte, wenn er einmal entspannt war! Schnell schlüpfte sie in ihre Hose und knöpfte die weiße Bluse zu. Sie musste rechtzeitig zurück sein, ehe ihr Vater ihr Fehlen bemerkte.

Seit dem Tod ihrer Mutter führte er die Familie mit strenger Hand. Hope sehnte sich nach Ferne. Sie wollte diesem tristen Familienleben nur noch entfliehen und nichts mehr davon wiedersehen, sobald sie ihr Studium begann. Paris oder Rom standen auf ihrer Wunschliste. Vielleicht würde sie auswandern und woanders ihr Glück versuchen. Das nötige Kleingeld dafür würde sie sich bald beschaffen …

Sie eilte den Hügel hinab Richtung Wald. Selbst mit verbundenen Augen hätte sie den Weg nach Hause gefunden. Hope kannte Pendle wie ihre Westentasche und war schon als kleines Mädchen herumgestreunt, wenn ihr Vater nicht aufgepasst hatte.

Sie bemerkte das Knacken der Äste allerdings zu spät. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie erstarrte zu Stein. Jemand war zeitgleich mit ihr zum Stehen gekommen und befand sich wahrscheinlich keine neun Fuß von ihr entfernt. Wurde sie die ganze Zeit beobachtet und verfolgt?

»Wenn du das bist, dann muss ich dich jetzt leider umbringen und aufessen.« Hope lachte leise. Sicher hatte sie ihren Liebhaber mit der kleinen Flucht aufgeweckt. »Wir können uns morgen wiedersehen, aber jetzt muss ich erst einmal nach Hause. Der Alte dreht mir sonst den Hals um. Du weißt, wie er mit seinen Hühnern draußen in Bentham verfährt. Ich will nicht genauso enden.«

Es folgte keine Antwort, obwohl Hope ein tiefes Lachen erwartet hätte.

Genervt wandte sie sich um. Als sie die Person hinter sich erkannte, war sie zunächst überrascht, doch dann entspannte sie sich. »Ach, du bist es«, meinte sie erleichtert und atmete die angehaltene Luft endlich aus. »Ich dachte schon … Wieso erschreckst du mich so? Was soll das? Und was treibst du um diese Uhrzeit hier draußen?« Der Brustkorb hob und senkte sich in rascher Folge. Sie kniff ihre Augen zusammen und verschränkte die Arme fest vor dem Oberkörper. »Bist du etwa gerannt, um mich abzufangen? Wir können auch noch später über alles reden. Mein Vater erwartet mich zum Frühstück.« Sie wollte weitergehen, kam aber nicht voran. »Geh mir gefälligst aus dem Weg!«, fauchte sie zornig. Finster sah Hope auf. Ihre Geduld wurde heute auf die Probe gestellt. »Du brauchst keine Angst zu haben. Dieses nette kleine Geheimnis ist bei mir sicher.« Sie machte einen großen Schritt vorwärts, um keine Schwäche zu zeigen. Wütend funkelten sie sich an. »Zumindest so lange, wie ich es für nötig erachte«, zischte sie. Die Drohung war unmissverständlich. »Verzieh dich endlich, du hast in Pendle nichts mehr zu melden. Ich werde damit an die Öffentlichkeit gehen, wenn ich es für richtig halte.«

Hope verschickte einen provokanten Luftkuss und lief weiter Richtung Trampelpfad, der direkt zu ihrem Haus führte.

Wenn du mir Angst einjagen wolltest, ist dein Plan kläglich gescheitert, dachte sie. Niemand spielte mit einer Hope Fernsby, denn sie befehligte ihre Marionetten selbst!

Plötzlich traf sie ein Schlag, und Hope taumelte perplex nach vorne. Sie ging auf die Knie und sackte zusammen, als hätte sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper. Im nächsten Moment tropfte Blut auf den Boden. Ihr Blut!

»Was zum …« Sie keuchte und drehte sich schockiert um. Verschwommen nahm sie einen bedrohlichen Schatten wahr, der etwas Großes über dem Kopf erhob und auf ihre Stirn niedersausen ließ.

Ein heiserer Schrei drang aus ihrer Kehle, ehe Hope zur Seite fiel und am Waldrand liegen blieb. Der Schmerz verursachte Blitze vor ihren Augen. Ihr fehlte die Luft zum Atmen.

»Nicht mit mir«, war das Letzte, was sie durch einen dumpfen Schleier hörte. »Du hast dir den Falschen für deine Spielchen ausgesucht, kleine dumme Hope.«

Immer wieder verlor sie das Bewusstsein und versuchte krampfhaft, weiterzukrauchen, aber ihr Körper war wie gelähmt und hörte auf keinen ihrer Befehle. In ihrem Kopf schwirrte alles, und Blut rann ihr ins Auge.

Sie fühlte sich wie nach der Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag, als sie drogenberauscht ins Bett gefallen war. Ein apathisches Grinsen erschien auf ihren Lippen, weil sie sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte.

Hope spürte kaum, dass sich zwei Hände um ihren Hals legten und zudrückten.

1. Kapitel

Lancashire, 2023

»Wir erreichen in Kürze Clitheroe und wünschen allen aussteigenden Fahrgästen einen angenehmen Aufenthalt.«

Es knackte im Lautsprecher über ihrem Kopf, als die Durchsage endete. Thea griff nach ihrem Reisekoffer und dem alten verbeulten Rucksack, den sie sich über die Schulter warf. Mehr hatte sie nicht aus ihrer Londoner Wohngemeinschaft mitgenommen.

Sie stieg aus dem Zug und fand sich bereits jetzt in einer ländlichen Gegend wieder. Automatisch fragte sie sich, wie es dann wohl im noch weiter entfernten Pendle aussehen würde.

Sie entschied sich, Clitheroe Castle zu besuchen, bevor sie weiterfuhr. Die Burgruine aus dem 12. Jahrhundert sollte normannischen Ursprungs sein und interessierte Thea. Ruinen beruhigten sie seit ihrer Kindheit. Sie genoss die Stille und den Geist der Vergangenheit, der darin herumspukte, wie es ihr Vater einst formuliert hatte.

Thea schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn loszuwerden. Erst seinetwegen war sie ins Nirgendwo in der englischen Einöde gereist. Was er an dieser tristen Gegend gefunden hatte, erschloss sich Thea nicht. Allerdings teilte sie mit ihm das seltsame Faible für Stille. Vielleicht war es das. Nicht hier, nicht jetzt, entschied sie eisern und band sich das schulterlange Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz. In der Spiegelung einer Fensterscheibe sah sie, dass es nicht schwarz, sondern kastanienbraun wie das ihrer Mutter war, sobald die Sonne darauf traf.

Wieder ein Kopfschütteln. Sie wollte sich lieber auf das kleine Clitheroe konzentrieren, solange sie hier war.

Thea streifte samt Gepäck durch das behagliche Städtchen. Neben einer katholischen Privatschule, von der sie noch nie gehört hatte, gab es noch eine alte Bibliothek, ein Pfadfinderzentrum, ein Fußballstadion und einen Rosengarten. Theas Augenmerk lag allerdings weiterhin auf Clitheroe Castle, das auf einem Felsen in der Stadt in den Himmel ragte.

Sie besuchte das Museum in der Burgruine und den rechteckigen Turm, den Donjon, bis es Zeit war, zum Bahnhof zurückzukehren. Theas letzter Blick vom Burggelände aus reichte bis nach Pendle Hill. Von dort aus soll der Teufel Steine auf Clitheroe Castle geworfen und ein großes Loch hineingerissen haben. Auf dem Land glaubten die Menschen vielerorts noch an Sagen, Geister, Gott und das Böse in Gestalt übernatürlicher Wesen.

Eine Windböe streifte ihre Wange, die bereits nach Frühling roch, sich aber nicht so anfühlte. Thea schlug den Kragen ihrer blauen Herbstjacke hoch und riss sich notgedrungen vom Anblick des Hügels los. Sie würde noch genug Zeit haben, sich Pendle Hill genauer anzusehen.

Ihr Weg führte sie zum Bahnhof zurück, wo sie einen Taxistand erspäht hatte. Sie hatte die Wahl zwischen einer zwanzigminütigen Autofahrt oder einem Fußmarsch von gut zwei Stunden. Thea liebte lange Spaziergänge zwar, aber nicht nach einer fast vierstündigen Zugfahrt, einem Umstieg in Manchester und mit mehreren Gepäckstücken im Schlepptau. Sie nannte dem Fahrer die Adresse.

»Sie wollen wirklich nach Pendle? Wussten Sie, dass dieses gottverlassene Stück Land auf Platz eins der Orte in Großbritannien steht, an denen die Menschen am meisten Angst haben zu leben? Kein Wunder bei dieser dunklen Vorgeschichte. Früher lebten dort Hexen, die man gehängt hat.«

An seinen aufgerissenen Augen erkannte Thea, dass er diesen Unsinn tatsächlich glaubte.

»Ich bin mutig genug, es zu versuchen. Mein Vater hat mir ein Haus vererbt. Ich muss es mir wenigstens einmal ansehen.«

»Also ist Ihr Vater tot.«

»Ein Herzinfarkt vor zwei Wochen«, antwortete Thea knapp angebunden und sah aus dem Fenster, während Hügel und Weiden an ihr vorbeiflogen.

Sie erwartete nun die typischen Beileidsbekundungen. Stattdessen hörte sie: »Sehen Sie, Pendle tut niemandem gut. Früher oder später stirbt jeder an diesem teuflischen Ort.«

»Früher oder später sterben wir alle, ob in einem Hexendorf oder in der Großstadt«, erwiderte sie unbeeindruckt.

Der Taxifahrer warf Thea einen letzten skeptischen Blick über den Rückspiegel zu, bevor er für den Rest ihrer Route schwieg. Sie wollte weder Small Talk betreiben noch Freundschaften hier draußen schließen. Thea war einzig aus dem Grund angereist, das alte Herrenhaus ihres Vaters zu übernehmen und gleich danach an den erstbesten Bieter wieder zu verkaufen.

Sie träumte sich bereits in ihre neue Londoner Wohnung. Drei große, helle Zimmer sollte sie haben. Genug Platz, um sich voll auszubreiten. Thea würde morgens mit einer dampfenden Tasse Earl Grey auf dem Balkon sitzen und sich vollkommen auf ihren Blog konzentrieren, während weit unter ihr das Stadtleben tobte. Vielleicht traute sie sich eines Tages sogar einen Podcast zu, sobald sie lernte, ihre eigene Stimme zu lieben. Bis dahin musste ihr der True-Crime-Blog genügen, in den sie ihr ganzes Herzblut steckte.

Thea holte den Laptop aus ihrer Tasche und aktualisierte die Kommentarspalte. Es war kein neuer Follower hinzugekommen. Immer wieder brach die Verbindung ab, während sie durch die hügelige Landschaft fuhren, aber für einen kurzen Check reichte es.

Plötzlich ploppte die E-Mail eines ehemaligen Kommilitonen auf. Er wollte wissen, ob sie zur Veranstaltung heute Abend in der Uni erschien. Thea brachte es nicht übers Herz, zu antworten. Lieber schlug sie den Laptop zu und verstaute ihn wieder in ihrer Tasche. Sie wollte keinen Gedanken an ihr geschmissenes Kunststudium verschwenden.

Sie fühlte sich gestrandet. Als hätte sie keine Bestimmung mehr im Leben. Thea wusste nicht, wohin mit sich. Sie hatte schon oft von solchen Phasen des Umbruchs gehört, in denen sich die Menschen ihrer Selbstfindung widmeten, hätte aber niemals für möglich gehalten, eines Tages zu ihnen zu gehören. Der überraschende Tod ihres Vaters hatte dazu beigetragen, dass Thea ihr Leben plötzlich überdachte.

Als ein großer Rabe beinahe die Frontscheibe streifte und der Fahrer in einem eigenartigen Dialekt schimpfte, erwachte sie aus ihrem Tagtraum. Sie konzentrierte sich nun lieber wieder auf das Hier und Jetzt. Der schnelle Verkauf des Hauses hatte die höchste Priorität, alles Weitere würde sich von selbst ergeben.

Thea hatte keine Erinnerung an den Landsitz ihres Vaters, weil sich ihre Eltern früh hatten scheiden lassen. Sie war daraufhin bei ihrer Mutter in London geblieben und hatte bis vor Kurzem nicht einmal eine Geburtstagskarte von Nathan Shaw erhalten. Sie wunderte sich, dass er das Anwesen nicht jemand anderem vermacht hatte und Thea lediglich der Pflichtteil geblieben war. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sie auf diese Weise nach Pendle locken wollte. Selbst im Tod ärgerte er sie noch.

Thea atmete durch und schloss ihre müden Augen, bis sie das nächste Dorf in der Grafschaft Lancashire passierten. Es ging durch Chatburn und Downham bis nach Pendle.

So schlimm, wie es ihr Fahrer angepriesen hatte, erschien es Thea gar nicht. Der kleine Ort machte einen malerischen Eindruck auf sie. Ganz anders als das düstere Loch, das sie erwartet hatte.

Sie kratzte ihr letztes Bargeld zusammen, woraufhin er ihr einen mürrischen Augenaufschlag schenkte. Die Hand des Mannes blieb weiterhin geöffnet, aber mehr folgte nicht. Schnaufend steckte er die Münzen in seine zerschlissene grüne Weste, die sich über einem Wohlstandsbauch wölbte.

»Dafür lohnt es sich kaum, bis hierher zu fahren«, murmelte er. »Verfluchte Städter. Sollten mir lieber eine Gefahrenzulage zahlen.«

Thea holte das Gepäck selbst aus dem Kofferraum. Mit seiner Hilfe rechnete sie nun nicht mehr. Kaum hatte sie den Deckel zugeschlagen, brauste er mit überhöhter Geschwindigkeit zurück nach Clitheroe. Er hinterließ eine Staubwolke, die Thea husten ließ. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, bis sie wieder etwas sehen konnte.

In Ruhe betrachtete sie die Umgebung und die einsame Straße, auf der sie stand. Die hügelige Landschaft machte einen urigen Eindruck, aber am meisten gefielen Thea die Häuser aus grobem Stein mit alten Schindeln auf den Dächern, denen man den Zahn der Zeit ansah. Wilde englische Gärten mit ersten bunten Blumen und hohen Sträuchern sowie hübsche kleine Cottages, die zu einer Teezeremonie einluden, zierten ihren Weg durch das Städtchen.

Sie zog ihren Koffer hinter sich her und streifte neugierig durch das Borough. Hin und wieder waren Wanderwege gekennzeichnet, die man bis weit über die kargen, blassgrünen Hügel verfolgen konnte. Wie dünne Schlangen durchschnitten sie Wiesen und Weiden. Auf ihrer Zugfahrt gen Norden hatte Thea Zeit gehabt, sich etwas einzulesen. Jährlich im August fand die überregional bekannte ›Pendle Walking Week‹ statt, die größte kostenfreie Wanderveranstaltung Englands.

Eine Schafherde blökte, während Thea an ihnen vorbeizog. Sie grasten friedlich, auch wenn es noch nicht viel zu fressen gab. Man sah der Natur den vergangenen harten Winter noch immer an. Erst in einem Monat würden die Hügel wieder saftig grün erstrahlen.

Als sie auf zwei Frauen um die sechzig traf, unterbrachen sie ihr Gespräch abrupt. Argwöhnisch beäugten sie Thea. Eine solche Reaktion war sie gewohnt. Auf dem Land war wahrscheinlich schon ihr winziger Nasenring eine Sünde. Als sie sich auch noch bekreuzigten, weil Thea der leibhaftige Teufel in Menschengestalt zu sein schien, beschleunigte sie lieber ihre Schritte. Aus den Augenwinkeln sah sie noch eine Weile die feuerroten Haare der Griesgrämigen, während ihre mindestens so schlecht gelaunte Freundin den Knauf ihres schwarzen Gehstocks fest umklammert hielt. Sie spürte die neugierigen Blicke der beiden stechend im Rücken, machte sich aber nicht die Mühe, sich umzudrehen. Stattdessen hielt Thea nach jemandem Ausschau, der ihr wohlgesinnter war. Ihr Handy zeigte keinen Balken an. Sie war von der Außenwelt abgeschnitten und fühlte sich genauso.

Thea wurde fündig, als ein Mann Mitte fünfzig sie warm anlächelte und in Pendle willkommen hieß. Er trug eine maßgeschneiderte graue Anzughose zu einem hellen Cardigan. Sein Blick aus großen braunen Augen war einladend und ließ sie dieses Mal tatsächlich lächeln.

Thea wusste, dass sie nicht der freundlichste Mensch war. Dafür war sie meistens zu ehrlich. Mit platten Attitüden konnte sie nichts anfangen. Dennoch war sie gewillt, jeder Person eine Chance zu geben. Die beiden Frauen hatten ihre bereits verspielt – zumindest fürs Erste.

»Was führt Sie in unser kleines Pendle? Doch nicht etwa die Hexenprozesse?«

»Solange diese Tradition für gewisse Leute nicht fortgesetzt wird, wird mich hier wenig halten«, erwiderte sie und deutete auf die zwei Tuschelnden, die eindeutig noch immer über sie redeten.

Ihr Gegenüber lachte so tief, dass es Thea einen Schauer über den Rücken jagte. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar hatte graue Strähnen, die ihm ein gesundes Maß an Reife verliehen. Es glänzte in der Sonne, weil er es offenbar mit viel Gel zurückgestrichen hatte. Selbst der stärkste Windstoß würde seine Frisur nicht durcheinanderbringen.

»Sie scheinen Ihr Herz auf der Zunge zu tragen. Das mag ich. Menschen wie Sie können wir hier gebrauchen. Lassen Sie sich bloß nicht von unseren beiden Tratschtanten dort drüben einschüchtern.«

»Sehe ich etwa eingeschüchtert aus?«, entgegnete Thea mit einem Grinsen für ihren attraktiven Gesprächspartner. »Ich nenne es eher: herausgefordert.«

Sein Händedruck war erstaunlich sanft, als er sich schließlich als John Birming, der Bürgermeister von Pendle, vorstellte. Es wirkte, als hätte er das dazugehörige Lächeln eine Weile geübt, um es so natürlich und ansprechend wie möglich aussehen zu lassen.

Typisch Politiker …

»Alethea Shaw, angenehm. Ich habe nicht vor, zu bleiben. Es gibt da etwas, das ich regeln muss. Danach sieht mich Pendle nie wieder.«

Gerade wollte sie fragen, wo die Kirche St. Benet’s war, neben der sich das Haus ihres Vaters befinden sollte, als Birmings Augen noch ein Stück größer wurden.

»Sie sind Nathan Shaws Tochter, nicht wahr? Nun erkenne ich auch die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden.«

»So verblüffend scheint sie nicht gewesen zu sein, wenn Sie sie erst jetzt bemerken«, antwortete sie etwas zu flapsig. Den brüsken Umgangston hatte sie sich in London angewöhnt. Auf dem Dorf sollte sie sich lieber etwas zurückhalten. Gemeinhin kannte man sich hier draußen und half einander, wenn man nicht gerade damit beschäftigt war, Gerüchte in die Welt zu setzen. Thea räusperte sich und fragte deutlich netter: »Sie wissen nicht zufällig, wo mein Vater lebte? Sein Haus ist im Internet nicht eindeutig auszumachen gewesen. Ständig bin ich bei irgendeinem historischen Bau aus dem 17. Jahrhundert gelandet. Ich befürchte, bei dieser raren Beschilderung werde ich lange danach suchen. Er lebte in der Blackburn Road 13.«

Ihr Blick glitt zu den veralteten Holzpfeilen, deren Inschrift sie nicht mehr eindeutig entziffern konnte.

»Das ist wahr. Ein Grund mehr, dieser Gemeinde endlich den nötigen Fortschritt zu bringen. Mein Vorgänger hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, die unheimliche Aura eines Hexenstädtchens zu erhalten, dabei aber den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt aus den Augen verloren. Meine Frau Katherine und ich sammeln zurzeit Punkte, an denen wir ansetzen können. Ich werde die Straßenbeschilderung und die Hausnummern auf die Liste setzen.« Voller Tatendrang rieb er sich die Hände. »Lassen Sie mich Ihre Begleitung sein, Mrs Shaw.«

Als er nach ihrem Koffer greifen wollte, drehte sie sich so, dass er nicht mehr herankam.

»Miss«, sagte sie, um ihn abzulenken, und ging langsam neben Birming her. »Ich bin nicht verheiratet. In der Stadt ist es nicht unbedingt üblich, mit fünfundzwanzig schon unter die Haube zu kommen. Leben die Menschen hier denn noch wie im Mittelalter? Ich habe nicht einmal Handyempfang.« Wie zur Untermalung wedelte sie mit ihrem unnützen Telefon durch die Luft.

Birmings Mundwinkel verzogen sich dieses Mal ehrlich, und seine Augen bekamen einen traurigen Schimmer. »Sie haben recht, Miss Shaw. Hier muss sich noch einiges tun. Wie gesagt, wir arbeiten daran. In ein paar Wochen wird ein neuer Mast errichtet, der bis weit über Pendle Hill reicht. Bislang gibt es einige Funklöcher. Das tut mir leid. Waren Sie schon auf dem Berg? Von dort aus hat man einen sagenhaften Ausblick auf das Land. So viel Natur sind Sie von einer Großstadt sicher nicht gewohnt.« Er zwinkerte verschmitzt. Thea hatte das Gefühl, dass er sich betont lässig und nahbar gab. Birming erinnerte sie ein wenig an ihren alten Lateinlehrer, der immer mit den neuesten Jugendwörtern um sich geworfen hatte, obwohl er deren Bedeutung wahrscheinlich bis heute nicht kannte.

Nach einem langwierigen Anstieg deutete Birming auf einen Turm in der Ferne. »Schauen Sie, das ist unser Gotteshaus. Aufregend, nicht wahr?«

Thea fragte sich, was an einer gewöhnlichen Kirche aufregend sein sollte, nahm ihm die Begeisterung aber nicht.

»Das ist die Kirche von Pendle? Sie sieht mir mehr wie ein Rathaus aus.« Thea deutete hinauf zur großen Uhr. Sie hatte die ganze Zeit nach einem spitzen dunklen Turm Ausschau gehalten statt nach einem hellen Flachdach.

Die episkopale Kirche der anglikanischen Gemeinschaft glich mit ihren Zinnen vielmehr einer Festung. St. Benet’s sah dennoch einladend aus.

»Wie lange sind Sie schon in der Politik, Mr Birming?«, fragte Thea neugierig.

»Seit über zwanzig Jahren. Bis vor ein paar Monaten war ich der Stellvertreter des örtlichen Bürgermeisters, nun habe ich seinen Platz eingenommen.«

Bildete sie sich das Endlich in seinem Unterton nur ein, oder war es wirklich da? Thea missgönnte ihm seinen Erfolg nicht, wurde aber auch nicht schlau aus Birming. Sie legte ein natürliches Misstrauen an den Tag. Dieses Verhalten hatte ihr schon mehrere Male dabei geholfen, nicht auf falsche Schlangen hereinzufallen. Vielleicht war sie aber auch bloß viel zu skeptisch für das Miteinander auf dem Land.

»Ist er in den Ruhestand gegangen?«, fragte sie weiter.

»Er ist gestorben.« Thea schluckte fest, was Birming zum Schmunzeln brachte. Er hob beschwichtigend eine Hand. »Nicht doch. Er war alt und hatte ein gutes Leben. Nicht jeder stirbt in Pendle auf unnatürliche Weise, wie manch einer in die Welt schreit. Es tut mir leid, dass ich Ihren Vater nicht näher gekannt habe. Wir haben uns nur ein paarmal gesehen. Zu den Sitzungen und Versammlungen ist er nie erschienen. Meine und auch seine Zeit ließ es nicht zu, ein ausführliches Gespräch zu führen. Ich bedaure Ihren Verlust.«

Nun war es an ihr, abzuwinken. »Ich kannte ihn wahrscheinlich noch weniger als Sie. Wir hatten ein … schwieriges Verhältnis. Eher gar keines.«

Als sie nicht weitersprach, entließ der Bürgermeister seinen angehaltenen Atem aus den Lungen, was einem enttäuschten Oh glich. Er hakte nicht weiter nach.

Thea hatte ohnehin keine Lust, über Nathan Shaw zu sprechen. Weder wollte sie wissen, was für ein Mensch er gewesen war, noch Geschichten über sein Junggesellendasein hören. Er hatte seine Frau und seine kleine Tochter im Stich gelassen und war nichts weiter als eine neblige Erinnerung in ihrem Kopf. Das verschwommene Bild eines großen Mannes im dunklen Mantel, der Pfeife rauchend im Eingang steht und einen Koffer in die Hand nimmt, bevor er sich wegdreht und für immer verschwindet.

»Wir sind da«, verkündete Birming unnötigerweise, als sie vor einem alten schmiedeeisernen Friedhofstor zum Stehen kamen. »Nehmen Sie einfach den Pfad zwischen den Grabreihen entlang bis zur Rückseite der Kirche. Das ist der schnellste Weg zu Ihrem Grundstück. Die Blackburn Road führt direkt dahinter vorbei. Ich hoffe, Sie bleiben uns noch eine Weile erhalten, Miss Shaw.«

»Das bezweifle ich, Mr Birming. Bitte machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Ich treffe mich um fünf Uhr mit dem Makler, dessen Papiere ich für die Übergabe unterzeichnen soll. Sobald ich das Haus verkauft habe, bin ich auch schon wieder weg.«

Er sah wenig begeistert aus, aber Thea konnte es nicht ändern. Sie wollte sicher nicht den Rest ihres Lebens wie ihr einsamer Vater hinter einem Friedhof wohnen. Obgleich der Gedanke sie reizte. Hier hätte sie immer Ruhe und die wilde Natur direkt vor der Nase.

»Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie mich bitte an.«

Er zückte ein weißes Kärtchen und einen edlen, sehr bauchigen Kugelschreiber aus dunklem, glattem Holz. Die Fasern waren leicht wellig und hatten einen gelben Schimmer. Thea verspürte das unbändige Verlangen, darüberzustreichen. Die Initialen J und B waren in goldenen Lettern darin eingraviert worden.

»Ein schönes Stück.«

Birming schien einen Moment zu brauchen, um zu begreifen, wovon sie sprach.

»O ja, den habe ich mir damals zu meinem Dienstantritt anfertigen lassen. Ich unterschreibe damit, seit ich in der Politik tätig bin. Das ist Dalbergia retusa, also Cocoboloholz. Kennen Sie das?«

»Nein.«

»Normalerweise wird es für Werkzeuge, Messergriffe und Musikinstrumente verwendet. Das Angebot ist begrenzt, weshalb ich dieses Stück wie einen Schatz hüte. So etwas hat nicht jeder.«

Der Bürgermeister reichte ihr das Kärtchen, auf dem nun neben seiner Bürodurchwahl auch seine private Nummer stand, und steckte den Stift zurück in seine Tasche. Wer sich einen so teuren und seltenen Kugelschreiber leisten konnte, hatte es wohl geschafft. Thea beneidete ihn dennoch nicht. Sie stellte sich die Arbeit in der Politik anstrengend und unzufriedenstellend vor. Außerdem wurde man schnell zur Zielscheibe für andere und stand immer in der Öffentlichkeit. Kein Leben für sie; sie hielt sich lieber bedeckt.

Thea sah ihm eine Weile nach. Auch Birming drehte sich ein letztes Mal um, ehe er hinter dem nächsten Cottage verschwand. Eine Bewegung hinter den Gardinen eines Hauses weckte ihre Aufmerksamkeit. Thea wurde beobachtet, seit sie in Pendle angekommen war. Sie fühlte die vielen Blicke der Bewohner wie schwere Steine auf sich lasten.

Thea straffte die Schultern, packte den Griff ihres Koffers fester und zog ihn hinter sich durch das hohe Tor, dessen Spitzen bedrohlich in den Himmel ragten. Das Kirchengelände war übersät mit uralten, überwucherten Grabsteinen, deren Inschriften kaum noch zu lesen waren. Als sie durch den verschatteten und ummauerten Innenhof ging, hatte sie das Gefühl, dass die Temperatur um mehrere Grad abfiel. Es erschien ihr, als wäre sie in einer Parallelwelt gelandet, in der jegliche Geräusche ausgeblendet wurden. Die Stille wirkte ungemein beruhigend auf sie. Thea schloss die Augen für einen Moment und sog die kühle, waldige Luft der umstehenden Tannen ein.

Sie erschrak, als sie jemand von der Seite her ansprach. »Ein wundervoller Ort, nicht wahr?«

Thea sah in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes um die siebzig, dessen aufgeweckte blaue Augen sie aufmerksam musterten. Das weiße Kollar an seinem Hals hob sich perfekt von der schwarzen Soutane des Pfarrers ab, auf der kein Krümel zu sehen war.

»Es hat etwas Magisches«, sagte sie begeistert. »Auch wenn ein Mann wie Sie wahrscheinlich nichts von Magie hören möchte.«

»Das Leben als solches ist ein Wunder. Wieso dann nicht auch ein wenig an Magie glauben?«, erwiderte er milde lächelnd.

Thea schloss den alten Herrn sofort ins Herz. Im Gegensatz zu den beiden grantigen Frauen von vorhin machte er einen aufgeschlossenen und ehrlichen Eindruck auf sie, ohne ihr etwas vorzuspielen, wie es Bürgermeister Birming wahrscheinlich getan hatte.

»Ich bin nicht gläubig, finde Kirchen aber beeindruckend. Verzeihung, wenn ich so direkt bin. Meistens trete ich damit in irgendein Fettnäpfchen.« Zerknirscht erwiderte sie das Lächeln, das noch immer in seinem Gesicht verharrte.

»Mir ist eine ehrliche Seele in Pendle lieber als all die Blender dieser Stadt. Und davon gibt es eindeutig zu viele. Ich bin übrigens Reverend Peter Hughing, leite diese High Church und betreue den Friedhof, seit mein langjähriger Totengräber nicht mehr unter uns weilt. Es freut mich stets, Menschen zu empfangen. Ob gläubig oder nicht, ist dabei zweitrangig. Gott macht seine Liebe zu uns nicht von einem Besuch in der Kirche oder von einem Gebet am Abend abhängig.« Er wies zu einer Bank und ließ sich dort mit einem leisen Stöhnen nieder. »Meine Knochen sind nicht mehr das, was sie einmal waren«, erzählte er. »Kommen Sie und setzen sich bitte einen Moment zu mir. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Ruhe gebrauchen.«

Thea fragte sich, woran er das festmachte. Ihre Augenringe hatte sie unter einer Schicht Make-up versteckt und die Müdigkeit mit schwarzem Tee und Coffee to go erfolgreich verdrängt.

»Eigentlich muss ich weiter«, sagte sie verunsichert.

Sie folgte ihm ganz automatisch und setzte sich schließlich neben den Pfarrer auf die zugewachsene Bank. Jene musste schon eine Weile an derselben Stelle stehen, denn Wurzeln hatten ihre Füße gefangen genommen, während sich Moos und Efeu einen Weg über die verschnörkelten Beine bis hin zur Lehne suchten.

Ein Platz zum Lesen, schoss es ihr durch den Kopf.

Thea warf einen Blick auf die Kirchturmuhr, aber es blieb noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin mit dem Makler. Sie wackelte mit dem Bein und konnte sich nicht konzentrieren.

»Atmen Sie tief ein und lauschen Sie.«

»Lauschen? Wem oder was? Ich höre hier nichts.«

»Weil Sie noch immer reden«, entgegnete Hughing in seiner betont ruhigen Art.

Man konnte ihm einfach nicht böse sein. Thea seufzte, ließ sich aber darauf ein und tat es ihm gleich.

Eine Weile sagte niemand etwas. Und endlich hörte sie die vielen Kleinigkeiten, die er ihr hatte begreiflich machen wollen. In der Stille gab es so vieles zu entdecken, was ihr ansonsten verborgen geblieben wäre: Thea hörte das Rascheln einer Maus im Dickicht, das Rauschen des Windes, der durch die Tannen streifte, und einen Specht, der sich an der Rinde zu schaffen machte.

»Wow«, hauchte sie mit geschlossenen Augen. »Sie haben absolut recht.«

»Magisch, nicht wahr?«, antwortete er mit einem Lächeln in der Stimme.

Thea war sich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder sie auf den Arm nahm. Sie hatte gleich den Schalk in seinen jungen Augen entdeckt, dem sie nicht traute, vor dem sie sich aber auch nicht fürchtete. Ganz egal, was es war, es hatte ihr dabei geholfen, den Stress der Reise endlich abzuschütteln und wenigstens einen Teil davon beiseitezuschieben.

Sie zwang sich, aufzustehen, obwohl ihre Muskeln protestierten. Thea spürte die Anstrengung der letzten Zeit nun deutlich in jedem Glied. Erst das hingeworfene Studium, dann der Tod ihres Vaters und schließlich ihre lange Fahrt ins Nirgendwo. Es wurde Zeit für ein bisschen Ruhe.

»Ich würde gern noch bleiben, aber ich muss los. Ich werde am Haus hinter der Kirche erwartet. Blackburn Road 13.«

Der Reverend sprang erstaunlich geschmeidig auf. Hatte sie ihn eben noch für einen knöchrigen alten Mann gehalten, strahlte sein Körper nun eine seltsame Kindlichkeit aus, die ihn gut zehn Jahre jünger erscheinen ließ.

»Ich wusste es doch! Sie sind Alethea Shaw, Nathans Tochter!«, rief er freudig. Seine Augen leuchteten. »Ihr Vater hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«

»Ach, hat er das? Er kannte mich doch kaum.« Was der Reverend da erzählte, verunsicherte sie.

»Ein Umstand, der ihm ein Leben lang zu schaffen machte«, sagte der schlaksige Pfarrer und begleitete sie hinter das imposante Kirchenschiff. Auch hier eroberten Efeu und Rosenbüsche die hellen Mauern. Im Schatten wurde Thea kalt, weshalb sie die Arme enger um ihren Körper schlang. »Er hat oft von Ihnen gesprochen und erwähnt, dass Sie eines Tages herkommen würden. Nathan hatte also recht.«

»Nur sein Tod hat mich nach Pendle gelockt. Im Leben hat er es leider nicht geschafft, mich einzuladen.«

Thea hörte deutlich ihren enttäuschten Unterton heraus. Auch dem Pfarrer war er wohl nicht entgangen.

»Sie werden schon bald erfahren, dass Ihr Vater nicht der Mann war, für den Sie ihn gehalten haben. Er war ein guter Mensch mit einem großen Herzen, der sich für unsere Gemeinde aufgeopfert hat.«

»Für jeden, nur nicht für seine Familie«, sagte Thea traurig und eine Spur verärgert. »Verzeihung, aber ich glaube kaum, dass Sie unsere Geschichte wirklich kennen. Meine Mutter hat sehr unter der Trennung gelitten. Die Scheidung war alles andere als einfach für sie. Zusätzlich hat sie ein Kind allein großgezogen. So etwas hinterlässt Narben auf der Seele.«

Sie war mit jedem Satz leiser geworden, bis sich ihre Stimme mit dem Wind vermischte und kaum noch zu hören war.

Hughing betrachtete sie mitfühlend. Thea wollte wütend auf ihn sein, aber zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie es nicht. Der Alte verdiente ihren angestauten Zorn nicht, der eigentlich ihrem Vater galt.

»Sie haben allen Grund, ihn zu verteufeln, aber zumindest für unser Borough war er ein wichtiges Mitglied.«

Thea schnaubte. Nach ein paar Atemzügen ging es ihr besser. Sie war ein emotionaler, impulsiver Mensch, wollte ihrem Gegenüber aber nicht gleich am ersten Tag ihre größte Schwäche zeigen: ihr Herz.

»Sie werden irgendwann verstehen, Alethea.«

»Wie Sie meinen. Das Gespräch bleibt aber unter uns«, entgegnete sie hart.

Hughing nickte bedächtig. Der Adamsapfel an seinem sehnigen Hals bewegte sich auf und ab, als er schluckte.

»Ich sehe es als Beichtgeheimnis an. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden feststellen, dass es in Pendle nur sehr wenige Menschen gibt, denen Sie Geheimnisse anvertrauen können. Ich möchte mich nicht zu sehr selbst loben, aber ich gehöre für gewöhnlich dazu.«

Sie schmunzelte, als sie den Stolz in seinen Worten vernahm. »Habe ich Ihnen denn etwas gebeichtet?«

Sein Lächeln sorgte für ein paar Falten mehr in seinem runzligen Gesicht. Plötzlich war sich Thea nicht sicher, wie alt er wirklich war. Im Laufe ihres Gesprächs hatte sie ihn einmal für siebzig, dann wieder für über neunzig oder sogar für Anfang sechzig gehalten. Was jedoch durchweg erhalten blieb, war sein wissender Blick.

»Die Beichte versteckt sich manchmal zwischen den Zeilen, meine Liebe.«

Thea starrte ihn eine gefühlte Ewigkeit nur an. Sie wurde nicht schlau aus diesem geheimnisvollen Pfarrer, der sie mit seinen hellblauen Augen zu durchleuchten schien.

Als sie vor einem zweistöckigen, dunklen Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert haltmachten, traute sie ihren Augen nicht. Es war dasselbe, das sie schon im Internet gesehen hatte. Hier musste es sich eindeutig um eine Verwechslung handeln. Sie suchte nach der Nummer 13, die klar lesbar neben einem schiefen, verrosteten Briefkasten hing.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Thea hatte ein heruntergekommenes Cottage erwartet, keinen u-förmigen Palast mit zwei Flügeln und einem großen Garten dahinter. Sie standen vor dem perfekten Spukschloss. Das hier war kein Haus zum Wohnen, sondern eines, in dem man einen Gruselfilm drehen konnte. Wahrscheinlich hatte man die Addams Family als Architekten beauftragt.

Irritiert sah sie zu Hughing, der zustimmend nickte.

»Ich dachte, Sie wüssten, dass Nathan der Besitzer des alten Chamberling-Anwesens war. Die Chamberlings sind eine aristokratische Familie, die entfernt mit dem britischen Königshaus verwandt ist. Als es keine Nachfahren mehr gab, ging das Haus laut Testament des letzten Mitglieds in den Besitz unserer Kirche über. Ursprünglich sollte daraus ein Museum werden, doch ich fand es passender, es Ihrem Vater zu vermachen.«

»Was hat er gearbeitet, um sich das hier leisten zu können?«

»Ich habe es ihm aus Dankbarkeit für zwanzig Jahre in meinem Dienst geschenkt.«

Wieder zuckte es um Hughings Mundwinkel. Erst recht, als Theas Gesichtszüge komplett entgleisten.

»Und … was hat er gearbeitet, dass Sie ihm derart dankbar waren?«, hauchte sie verblüfft.

»Er war mein Totengräber.«