Leseprobe Die Schöne und der Duke

Kapitel 1

Brampton Manor

Hertfordshire

„Wir werden äußerst kühn, unanständig und skandalös sein müssen“, verkündete Lady Maryann Fitzwilliam, eine junge Dame, die nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie man sich skandalös verhielt.

Allein der Gedanke war für die ehrenwerte Katherine Iphigenia Danvers – oder Kitty, wie ihre Freunde und Familie sie nannten, – unvorstellbar, und doch faszinierend. Vielleicht lag es daran, dass diese Worte sie darin bekräftigten, den sündhaften Plan endlich in die Tat umzusetzen, den sie schon seit Längerem ausgeklügelt hatte.

Es muss sein. Damen, die von der Gesellschaft als Mauerblümchen und alte Jungfern abgestempelt wurden, verhielten sich für gewöhnlich niemals kühn … und schon gar nicht skandalös.

„Skandalös!“, wiederholten die vier übrigen anwesenden Frauen wie aus einem Munde.

Es folgte eine atemlose Pause, die nur von den undeutlichen Klängen des Orchesters unterbrochen wurde, das einige Räume entfernt im Ballsaal spielte.

„So ist es“, beharrte Maryann energisch und bedachte ihr ehrfürchtiges Publikum mit einem entschlossenen Blick. Dann erhob sie sich und marschierte in die Mitte des Zimmers, wobei ihr elegantes, eisblaues Abendkleid geräuschvoll über den Aubusson-Teppich raschelte. Obwohl sie wirklich liebreizend aussah, war sie bislang noch kein einziges Mal zum Tanz aufgefordert worden.

Maryann verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, bis erneut alle Augen auf sie gerichtet waren, bevor sie fortfuhr: „Ich für meinen Teil will mich nicht mit meinem Schicksal zufriedengeben. Und ich glaube auch nicht, dass eine von euch glücklich mit eurer Situation ist! Deshalb müssen wir verwegen sein und uns nehmen, was wir uns wünschen, anstatt tatenlos auf dem Regal zu verstauben, auf dem unsere Familien und die Gesellschaft uns abgestellt haben. Wir alle sind bereits über zweiundzwanzig und werden nicht jünger. Mit jedem Jahr schwinden unsere Aussichten immer mehr. Was haben wir also groß zu verlieren?“

„Vermutlich hast du recht, Maryann“, meldete sich Lady Ophelia Darby zu Wort. Sie gehörte ebenfalls zu ihrer geheimen Gesellschaft, die sich scherzhaft die Sündhaften Mauerblümchen nannte. Nur hatten sie bislang nichts Sündhaftes angestellt, außer man zählte den Abend, an dem sie gemeinsam eine Flasche des teuersten Whiskeys geleert hatten, den Ophelias Vater besaß. Anschließend waren sie so übermütig gewesen, dass sie die ganze Nacht über gelacht und gegluckst und kein Auge zugetan hatten. Ophelia war das berühmteste Mitglied unter ihnen, die Tochter eines Marquess, allerdings ohne eine Mitgift. Kitty bemerkte einen Anflug von Furcht in ihren goldbraunen Augen … aber auch ein aufgeregtes Funkeln.

„Seit meinem gesellschaftlichen Debüt vor vier Jahren wird jede Saison zunehmend schlimmer“, fügte Ophelia hinzu.

Die anderen jungen Damen nickten zustimmend, was Maryann nur noch mehr Selbstvertrauen zu verleihen schien, denn sie straffte die Schultern und richtete sich entschlossen auf. „Wir alle wünschen uns ein Abenteuer, das uns aus unseren eintönigen Leben befreit.“

Wieder nickten die übrigen Frauen eifrig.

„Wir alle wünschen uns eigene Familien“, fuhr Maryann fort. „Oder etwa nicht? Oder vielleicht auch nur einen Moment, in dem wir dem Schicksal entfliehen können, das die Gesellschaft uns aufzwängen will?“

Eine erwartungsvolle Pause folgte ihren Worten. Alle sechs Mitglieder der Sündhaften Mauerblümchen saßen aufrecht da und schienen zu spüren, dass etwas Neues, Aufregendes in der Luft lag.

„Wir wollen Liebe erfahren“, murmelte Miss Charlotte Nelson und errötete. Jeder wusste, dass sie unsterblich in den Marquess of Sands verliebt war … außer dem Marquess selbst natürlich, der sie bislang keines Blickes gewürdigt hatte.

Dem Rest von ihnen erging es nicht anders. Kitty und ihre Freundinnen wurden nur selten zum Tanz aufgefordert und erhielten kaum Besuch von Verehrern. Weder lud man sie zu Kutschenfahrten durch den Hyde Park ein noch zu Teegesellschaften des jeweiligen Juwels der Saison.

„Nicht nur Liebe, sondern auch Leidenschaft. Wir Mauerblümchen haben nun jahrelang abgewartet, ohne Hoffnung auf eine vorteilhafte Partie“, fügte Maryann nachdrücklich hinzu.

Alle nickten und seufzten wehmütig.

Kitty spürte, wie die Ungeduld in ihrem Herzen aufkeimte. Etwas Neues, Wundervolles schien zum Greifen nahe, und doch wusste sie nicht genau, wie sie es sich zueigen machen sollte.

Sie und ihre Freundinnen wurden jede Saison übergangen. Die jungen Gentlemen des ton, die eifrig auf Brautschau waren, zeigten keinerlei Interesse an ihnen. Zwar waren sie allesamt einigermaßen attraktiv, aber keineswegs herausragende Schönheiten. Außerdem besaßen sie weder vorteilhafte Beziehungen noch ansehnliche Aussteuern, die einen potenziellen Ehemann reizen könnten.

Und doch sehnten sie sich nach einer Ehe, einer eigenen Familie. Oder vielleicht wollten sie einfach nur ein einziges Mal erleben, wie es war, sein Taschentuch vor einem Gentleman fallen zu lassen und von diesem zum Tanz aufgefordert zu werden, nachdem er es für sie aufgehoben hatte. Und am darauffolgenden Morgen Blumen zu erhalten, wenn das Glück ihnen ganz besonderes hold wäre.

„Wie aufregend es wäre, wenn wir alle zur gleichen Zeit etwas Skandalöses unternähmen“, sagte Kitty leise. Ihre Freundinnen wandten sich ihr zu. Eine wilde Idee hatte in ihrem Kopf Gestalt angenommen, entstanden aus tiefer Verzweiflung, ohne jeden Sinn für Logik.

Ihr Herz sehnte sich nach einem ganz bestimmten Mann … doch es war keine Sehnsucht im üblichen Sinne. Alexander Masters, der zurückgezogene Duke of Thornton, wäre die perfekte Partie und Lösung sämtlicher finanzieller Probleme ihrer Familie …

Zumindest, wenn sie die Gesellschaft davon überzeugen könnte, die Verlobte eines Gentlemans zu sein, dem sie noch nie begegnet war.

In ihrer Welt hing Erfolg zum größten Teil davon ab, wen man kannte und wie lukrativ diese Beziehungen waren. Einladungen in Gesellschaftsclubs oder zu Bällen, ins Theater oder die Oper waren nur denjenigen vergönnt, die sich im ton einen Namen gemacht hatten. Um ihren Schwestern vorteilhafte Partien zu sichern, musste Kitty genau das erreichen.

Keinesfalls würde sie zulassen, dass ihre drei geliebten Schwestern – Anna, Henrietta und Judith – ein ebensolch trostloses Schicksal ereilen sollte wie sie selbst, nur weil es ihrer Familie an Vermögen und Beziehungen mangelte.

Die Gunst eines Dukes würde ihnen allen unweigerlich neue und vielversprechende Türen öffnen. Aufgrund ihrer verzweifelten Lage hatte Anna eine Stelle als Gesellschafterin annehmen müssen, mit der die aufdringlichen Avancen eines lüsternen Wüstlings einhergingen. Nachdem der Erbe ihres Vaters dessen Anwesen bezogen hatte, waren sie gezwungen gewesen, mit einem baufälligen Landsitz vorliebzunehmen. Die Witwenrente ihrer Mutter reichte gerade so weit, um einen Koch anzustellen und ihre Töchter mit einer einigermaßen vornehmen Garderobe auszustatten. Da Kitty die älteste der Schwestern war, fiel ihr die Aufgabe zu, sich eine vorteilhafte Partie zu sichern.

Sie erhob sich und strich ihre rosafarbenen Röcke glatt. Obwohl sie an diesem Abend ihr elegantestes Ballkleid trug, hatte keiner der anwesenden Gentlemen sie bislang zum Tanz aufgefordert. Gegen die übrigen Damen, die an Countess Musgroves Soiree teilnahmen und die weitaus ansprechendere Aussteuern besaßen, konnte sie nicht viel ausrichten. „Wir dürfen nicht länger untätig herumsitzen und darauf warten, dass irgendjemand den Mut fasst, uns zu umwerben. Das können wir uns aufgrund unserer niederen Stellung und mangelnden Beziehungen nicht leisten.“

Ihre Freundinnen betrachteten sie neugierig. Offenbar hatte die wilde Entschlossenheit in Kittys Tonfall sie überrascht.

„Wir dürfen nicht länger in den Schatten herumlungern. Es ist an der Zeit, den Mantel des Mauerblümchens abzulegen!“

Zu ihrem Entzücken schien dieses Treffen sie in ihrem waghalsigen Vorhaben zu bekräftigen. Kitty hatte schon befürchtet, die kühnen Anwandlungen ihres Herzens verbergen zu müssen, obgleich diese die einzige Möglichkeit für sie und ihre Familie darstellten, dem tristen Leben ohne Rang und Namen, das sie führten, zu entfliehen.

Miss Emma Prendergast, die eigentlich immer fröhlich und lebhaft auftrat, kräuselte die Nase und blickte ungewöhnlich ernst drein. „Ich bin jetzt dreiundzwanzig und habe dank der Großzügigkeit meiner Patentante vier Ballsaisons miterlebt. Bislang hat niemand je mehr als ein Mauerblümchen in mir gesehen“, erklärte sie mit einem wehmütigen Blick.

„Wir waren stets gehorsame, pflichtbewusste Töchter und Schwestern. Aber das hat zu nichts geführt“, gab Maryann zu bedenken.

Nun erhoben sich auch die anderen Mitglieder. Eine elektrisierende Aufregung lag in der Luft. „Von jetzt an wollen wir unsere Ressourcen zusammenlegen und einander helfen, mehr als schüchterne Mauerblümchen zu sein. Keine von uns war je zuvor unanständig, nicht wahr?“

Kühn … unanständig … und skandalös.

Diese Worte flüsterten sie sich gegenseitig zu, dann legte sich eine atemlose, angespannte Stille über den Salon.

Anschließend verging die Zeit wie im Flug, während sie kichernd und lachend ihren Plan ausarbeiteten. Kitty fühlte sich wunderbar unanständig und betete, dass sie und ihre Freundinnen den Mut finden mochten, um ihre Herzenswünsche in die Tat umzusetzen.

Wenig später kehrten die übrigen Frauen zurück in den Ballsaal, in der Hoffnung, dass dieser Abend ihre Schicksale für immer verändern möge. Ab sofort wollten sie alle unanständig sein … und waghalsig.

Kitty blieb noch kurz mit Maryann zurück und wandte sich dieser zu. „Vorhin bei unserer Spazierfahrt durch den Park hast du mit keinem Wort erwähnt, wie aufregend unser Treffen heute werden würde.“

Maryann schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, das ihr Gesicht erhellte. Wenn die Herren der feinen Gesellschaft doch nur über die Brille auf ihrer eleganten Nase sowie ihren scharfen Humor hinwegsehen könnten. Es verhieß nichts Gutes für sie, dass keiner der jungen Gentlemen ihre Lebhaftigkeit und ihren Verstand anziehend zu finden schien.

„Papa hat ein Angebot von Lord Stamford angenommen. Er hat es mir heute Morgen gesagt. Aber allein den Gedanken finde ich einfach unerträglich.“

Kitty schnappte schockiert nach Luft und ergriff die Hände der Freundin. „Das darf doch nicht wahr sein! Stamford ist älter als dein Vater!“

Überraschenderweise trat ein amüsiertes Funkeln in Maryanns Augen. „Ich weiß … aber ich habe einen Plan.“

„Einen … kühnen?“

„Oh, Kitty, und wie kühn! Und Nicolas Ives spielt eine wichtige Rolle darin.“

Entsetzt starrte sie die Freundin an. „Der Earl, der wegen seiner skandalösen Ausschweifungen als der verruchteste Wüstling Londons verrufen ist?“

Etwas Undefinierbares flackerte in Maryanns Augen auf, bevor sie den Blick senkte. „Genau der“, murmelte sie und errötete.

Kitty trat einen Schritt zurück, öffnete ihren Pompadour und zog einen Zeitungsartikel heraus. „Ich habe ebenfalls einen Plan“, verkündete sie und räusperte sich nervös.

Ihr Vorhaben war so unerhört und skandalös, dass sie sich bisher nicht einmal getraut hatte, es in Worte zu fassen. „Wahrscheinlich hältst du mich deswegen für völlig verrückt, aber ich habe gehofft, Maryann … gehofft und gebetet, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, und heute Abend hast du es mir bestätigt. Das Leben hält so viel mehr bereit, nicht wahr? Und wir dürfen unser Schicksal nicht länger von der Gesellschaft, unseren Vätern und Brüdern bestimmen lassen.“

Die Freundin eilte hinüber zur Tür und schloss sie ab, damit niemand ungebeten hereinplatzen konnte, bevor sie zu Kitty zurückkehrte. „Wie lautet dein verrückter Plan denn?“

Kitty drückte ihr den Zeitungsartikel in die Hand. „Ich glaube, ich habe die Lösung für die Probleme meiner Familie gefunden.“

Maryann rückte ihre Brille zurecht und überflog das Klatschblatt. „Was bedeutet das?“

„Mein Vater pflegte stets zu sagen, dass man es im Leben nicht durch seine Fähigkeiten zu etwas bringt, sondern durch vorteilhafte Beziehungen.“ Wie jedes Mal, wenn sie über ihren Vater sprach, stieg schmerzhafte Trauer in ihr auf, doch sie schob das Gefühl beiseite. Seit seinem Tod vor vier Jahren kämpfte sie jeden Tag mit dem Verlust, insbesondere weil ihr Leben seither um einiges beschwerlicher war.

„Laut Papa gibt es nichts Wertvolleres als Beziehungen in dieser Welt. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg … und zum Überleben.“ Entschlossen hob sie das Kinn an. „Maryann, bitte lies dir den Abschnitt durch, den ich eingekreist habe.“

Die Freundin räusperte sich und überflog mit zusammengekniffenen Augen die besagte Stelle.

Kitty hatte den Ausschnitt seit Tagen in ihrem Pompadour herumgetragen und kannte mittlerweile jedes Wort auswendig.

„Gerüchten zufolge ist der geheimnisvolle, zurückgezogen lebende Duke of Thornton auf Brautschau. Bislang hat der einst als ‚gefährlichster und verrücktester‘ Fang der Saison betitelte Duke nichts als gebrochene und hoffnungsvolle Herzen zurückgelassen, daher können wir nur Vermutungen anstellen, was die Identität der glücklichen Auserwählten betrifft. Da Thornton sich seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit hat blicken lassen, kann The Scrutineer keine Einzelheiten bestätigen. Haben wir es womöglich nur mit einem weiteren Märchen zu tun, das unseren scheuen Duke umgibt, oder steckt doch ein Funken Wahrheit hinter diesen Gerüchten? Wir bitten jeden, der Genaueres weiß, um Informationen. Natürlich halten wir die Identitäten unserer Quellen geheim.“

Maryann sah zu ihr auf. „Und was hat das mit deinem Plan zu tun?“

Kitty holte tief Luft und zog einen weiteren gefalteten Zettel hervor. „Das hier ist die Antwort, die ich auf den Artikel einzusenden gedenke.“

Die Freundin riss ihr den Brief aus den zitternden Fingern und las ihn laut vor.

„‚Teure Lady Gamble, mit Freuden informiere ich Sie darüber, dass ich, die ehrenwerte Katherine Danvers of Hertfordshire, zu meiner großen Ehre verkünden darf, die Verlobte Seiner Gnaden, des Duke of Thornton, zu sein. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, um den neugierigen ton nicht länger auf die Folter zu spannen. Der Duke verbringt den Großteil seiner Zeit in Schottland, wo wir nach der Vermählung auch zusammenleben werden. Da wir aufgrund dessen weitab der Londoner Gesellschaft sein werden, hat Seine Gnaden einer langen Verlobung zugestimmt, sodass zwei meiner jüngeren Schwestern vor der Hochzeit noch ausreichend Gelegenheit haben, geeignete Partien für sich selbst zu finden. Ich bin überzeugt, Sie werden hocherfreut sein, diese Neuigkeiten als Erste verbreiten zu können.

Hochachtungsvoll, Miss Kitty Danvers.‘“

Wäre Kitty nicht so nervös gewesen, hätte sie laut über Maryanns schockierten Gesichtsausdruck gelacht.

„Du kennst den Duke?“

„Natürlich nicht“, flüsterte sie. „Aber ich habe vor, die Faszination der Gesellschaft für ihn sowie seinen einflussreichen Namen zum Vorteil meiner Familie zu nutzen.“

„Oh, Kitty … Dein Plan ist ebenso skandalös wie meiner!“, rief Maryann und lachte beinahe ein wenig hysterisch.

„Findest du ihn zu skandalös?“, fragte sie mit einem Anflug von Unsicherheit. „Ich erwarte nicht, dass diese Farce zu meinen Gunsten funktioniert, denn sollte die Wahrheit ans Licht kommen, wäre ich für immer ruiniert! Aber ich muss einfach etwas unternehmen, um meinen Schwestern zu helfen. Die Beziehungen, die der Name des Dukes uns verschafft, könnten nicht nur Anna, sondern vielleicht sogar Judith zu vorteilhaften Partien verhelfen.“

Maryann musterte sie beunruhigt. „Seine Gnaden ist kein Mann, mit dem man leichtfertig umgehen sollte, Kitty … Sämtliche Zeitschriften nennen ihn den ‚Puppenspieler‘. Auch wenn er fernab und zurückgezogen lebt, hat er weitreichenden Einfluss auf die Lords in London. Liest du denn keine politischen Abhandlungen?“

Kittys Magen verkrampfte sich … ob vor Angst oder Aufregung, wusste sie nicht.

Für politische Nachrichten und Karikaturen hatte sie sich nie sonderlich interessiert. Der Duke war sowohl der Presse als auch der Gesellschaft ein Rätsel, und auf eben diesen geheimnisvollen Charme, der ihn umgab, verließ sie sich, um ihr eigenes Ansehen zu steigern.

Weshalb hatte er sich so komplett aus der Gesellschaft zurückgezogen? Manche munkelten, er sei durch Narben entstellt, andere behaupteten, er sei sogar völlig missgebildet, wieder andere waren der Ansicht, er verstecke sich, um sein gebrochenes Herz zu verbergen.

Kitty wusste nicht, wem sie glauben sollte, und sie hatte mehr als einmal unauffällig versucht, ihrer Mutter Informationen über den Duke zu entlocken, doch die Viscountess wollte partout nicht mit eindeutigen Antworten herausrücken. Nur eines wusste sie mit Sicherheit: Der Duke of Thornton hatte sich seit Jahren nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen und würde sicherlich auch in nächster Zeit nicht an den schillernden Veranstaltungen des ton teilnehmen.

Sobald sie ihre falsche Verlobung bekannt gab, würde es gewiss nicht lange dauern, bis Einladungen ins Haus segelten. Die neugierigen Klatschmäuler des ton würden die Dame, die sich den mysteriösen Thornton geangelt hatte, unbedingt in Augenschein nehmen wollen.

Obwohl sie furchtbar nervös war, durfte sie ihre Familie nicht noch einmal enttäuschen. Nach den beiden letzten erfolglosen Saisons wusste sie sich einfach nicht mehr anders zu helfen. Dieser Plan war ihr einziger Ausweg, ihnen eine einigermaßen komfortable und sichere Zukunft zu bescheren, ohne dass der Ruf ihrer Schwestern darunter leiden musste.

Was ihren eigenen anging … Für den niederträchtigen Betrug, den sie zu begehen gedachte, würde sie gewiss in der Hölle schmoren.

Aber es reichte nun einmal nicht aus, vorzugeben, einflussreiche Mitglieder der Gesellschaft zu kennen. Sie musste zu einem werden. Ihre Tante Harriet, die zum Entsetzen der Familie eine Karriere auf der Bühne gewählt hatte, würde vor Stolz gewiss platzen.

Himmel, die ganze Angelegenheit war so heikel, dass die Folgen verheerend sein könnten.

Nicht nur die Gesellschaft, sondern auch ihre Eltern erwarteten von einer Frau, dass sie sich stets gewissenhaft und tadellos benahm. Jeder noch so kleine Fehltritt konnte unweigerlich zu Skandal oder gar völligem Ruin führen. Aber was blieb einem schon übrig, wenn man keine andere Wahl hatte, um die eigene Familie vor dem finanziellen und gesellschaftlichen Aus zu bewahren?

Der Gedanke an die bevorstehende Farce, mit der sie den ton zu täuschen plante, erfüllte sie mit Angst und Nervosität. Bereits mehr als einmal hatte sie sich in der Dunkelheit ihrer Kammer ernsthaft um ihren Verstand gesorgt. War dies wirklich die Art von Person, die sie sein wollte?

Hatte sie wirklich keine andere Wahl? Eigentlich hatte man doch immer eine. Kitty war jedoch gewillt, alles zu tun, um ihre Familie zu retten.

„Du weißt doch, dass Lady Gamble deine Antwort in ihren eigenen, blumigen Worten veröffentlichen wird. Was, wenn der Duke den Beitrag sieht?“

Tatsächlich war das eine ihrer geringsten Sorgen. „Ach, Maryann, laut meiner Mutter hat niemand ihn seit sieben Jahren mehr gesehen. Leider erzählte sie mir nichts Genaues über seinen letzten Auftritt in der Öffentlichkeit, und ich wollte ihren Argwohn nicht durch aufdringliches Nachfragen wecken. Ich wage jedoch zu behaupten, dass er den Londoner Klatschblättern keine Beachtung schenkt, sonst hätte er gewiss auf die Gerüchte letztes Jahr reagiert, er sei gestorben und sein Cousin, Mr Eugene Collins, solle den Titel des Dukes erben. Oder auf die skandalösen Anschuldigungen, er habe Lady Wescotts Nichte verführt und sei mit ihr durchgebrannt. Er hat nicht einmal eine Entschuldigung verlangt oder einen Widerruf des Artikels. Niemand hat in den letzten Jahren auch nur einen Mucks von ihm gehört. Ich versichere dir, er wird diesen Beitrag nicht sehen. Das würde mich sonst sehr wundern.“

„Aber was, wenn doch?“

„Dazu wird es nicht kommen“, beharrte Kitty stur. „Und wenn doch, würde er es gewiss als ein weiteres haltloses Gerücht von vielen abtun. Davon gab es in den letzten Jahren weiß Gott genug. Außerdem werde ich diese Farce ja nur ein paar Wochen lang aufrechterhalten, bis meine Schwestern sich vorteilhafte Partien sichern konnten. Am Ende der Saison werde ich dann die Auflösung der Verlobung bekannt geben.“

Maryann betrachtete sie voller Mitleid. „Danach wirst du ruiniert sein.“

Kitty zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Ich hätte ohnehin nie eine Chance auf eine vorteilhafte Partie gehabt.“

Während die Freundin sie nachdenklich musterte, versuchte Kitty, eine neutrale Miene aufzusetzen. Sie hatte bereits genug Tränen über die unweigerliche Zerstörung ihres Rufes vergossen, die ihren Taten folgen würde.

Über eine mögliche Zukunft ohne eigenen Ehemann und Kinder.

Andererseits hatte sie auch ohne ihren verwegenen Plan nie wirklich erfolgreiche Aussichten auf eine solche Zukunft gehabt. Während der letzten beiden Saisons hatte niemand Interesse daran gezeigt, sie zu umwerben. Nun war sie bereits dreiundzwanzig. Mehr als einmal hatte man sie als umgänglich und liebenswürdig bezeichnet, nie jedoch als „hübsch“ oder „begehrenswert“. Ein junger Gentleman hatte ihr einmal gesagt, sie habe „interessante Augen“.

Das war wohl das spezifischste Kompliment, das sie je erhalten hatte.

„Um meine Zukunft mache ich mir keine Sorgen. Ich habe längst akzeptiert, dass ich niemals eine eigene Familie haben werde.“

Dafür hatten die mangelnden Beziehungen und das spärliche Vermögen ihrer Familie gesorgt, und ihr kühner Plan würde ihr Schicksal nun endgültig besiegeln. Selbst wenn es ihr gelänge, den Einfluss des Dukes auszunutzen, würde sie am Ende die Auflösung der falschen Verlobung bekannt geben müssen. Jeder würde annehmen, Thornton hätte ihr den Laufpass gegeben. So oder so wäre sie ruiniert.

Aber dieses Risiko muss ich eingehen … für Mama und meine Schwestern. Und ich darf mich nicht entmutigen lassen!

„Mir bereitet es Sorgen, dass du dich so wenig um dein eigenes Glück scherst“, erwiderte Maryann seufzend.

Kitty wurde von einem Gefühl tiefer Sehnsucht übermannt und ihre Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen. Energisch unterdrückte sie ihr Verlangen nach mehr als ihr zustand. „Meine Schwestern sind so tapfer und beschweren sich nie. Sie haben eine glückliche Zukunft verdient. Papa ist nicht mehr bei uns, und Mama grämt sich so sehr wegen unserer trostlosen Aussichten. Es ist meine Aufgabe, ihnen sichere und vielversprechende Partien zu verschaffen. Sobald der ton von unserer Verbindung zu dem Duke erfährt, wird man sich um uns reißen.“

Wortlos legte Maryann die Arme um sie, und Kitty erwiderte die Umarmung mit einem erstickten Lachen.

„Dann werden wir unsere Pläne also wirklich in die Tat umsetzen“, flüsterte Maryann entschlossen. „Wir werden kühne Mauerblümchen sein.“

Ja, das werden wir … Kitty hoffte nur, dass sie nicht den gefährlichsten Fehler ihres Lebens beging.

Kapitel 2

Zwei Wochen später …

Cheapside, London

„Hast du das gesehen?“, fragte Annabelle und warf das Nachrichtenblatt auf den alten, zerschrammten Tisch aus Satinholz, der in der Mitte ihres winzigen, spärlich möblierten Salons stand. Bekümmert stellte Kitty fest, dass das blaue Musselinkleid ihrer Schwester bereits einen neuen Riss aufwies, nachdem sie vor ein paar Tagen erst den Saum und die Taschen geflickt hatte.

„Ich hatte noch keine Zeit, einen Blick hineinzuwerfen“, murmelte sie und schob sich gedankenverloren ein Stück Sandwich in den Mund.

„Dieses grässliche Klatschblatt behauptet, du seist mit dem Duke of Thornton verlobt. Mit einem Duke, Kitty! Hier steht: ‚Lady Gamble wurde von einer äußerst verlässlichen Quelle zugetragen, dass Seine Gnaden, der Duke of Thornton, sich mit der ehrenwerten Katherine Danvers of Hertfordshire verlobt hat.‘ Das bist du!“, rief ihre Schwester ungläubig aus.

Ein Schauer aus Angst und Aufregung jagte Kitty über den Rücken.

Endlich war ihre Antwort veröffentlicht worden.

Ihre jüngste Schwester, Judith, ließ ihren Schauerroman Die Elixiere des Teufels sinken und sah im schwachen Kerzenschein zwischen Kitty und Anna hin und her. „Kitty, ist an dem Gerücht etwas dran?“

Nun ruhte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf ihr. Selbst ihre jüngste Schwester, Henrietta, die an dem alten, verstimmten Klavier geübt hatte, wandte sich ihr zu. Ihre Mutter, die abwesend aus dem einzigen Fenster des Zimmers gestarrt hatte, erhob sich und ließ sich auf der Armlehne des einzelnen, abgenutzten Sessels nieder, der in ihrem Salon stand, sah ihre älteste Tochter an und verlangte schweigend nach dem Nachrichtenblatt.

Offensichtlich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, las sie sich die Anzeige durch, bevor sie ihren Blick erneut auf Kitty richtete. In ihren sonst so trostlosen Augen lag eine glühende Hoffnung, die Kitty die Kehle zuschnürte.

„Katherine, stimmt es, was diese Lady Gamble da behauptet?“

Obwohl sie auf diesen Augenblick vorbereitet war, zögerte sie kurz. Dieser Schritt ihres trügerischen Plans war der schwerste und beängstigendste von allen. Wenn sie sich nicht vorsah, könnte die Hoffnung, die sie ihrer Familie zu geben versuchte, mit einem Schlag zerstört werden. Zugleich überkam sie die Angst, dass eine derartige Enttäuschung den letzten Lebenswillen ihrer Mutter zunichtemachen würde. Allein der Gedanke war unerträglich.

„Ja, Mama“, erwiderte sie leise.

Eine seltsame Stille legte sich über den Salon, als wagte niemand auch nur zu atmen, um dieses Versprechen auf eine bessere Zukunft nicht wie Asche im Wind zu zerstreuen.

Ihre Mutter studierte sie eindringlich. „Es überrascht mich, dass du uns nie von deiner Bekanntschaft mit einem Duke erzählt hast, noch dazu einem, der so einflussreich ist wie Thornton. Ich lernte ihn vor einigen Jahren durch deinen Vater kennen. Ein äußerst charmanter, attraktiver junger Mann, wenn ich mich recht entsinne, auch wenn man munkelte, er sei durch einen Unfall entstellt worden. Er lebt seit Längerem aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, und der gesamte ton stellt Vermutungen an, wann er sich wohl wieder einmal blicken lässt. Umso mehr wundert es mich, dass du mir diese Neuigkeiten verschwiegen hast. Was geht hier vor sich, Katherine?“

Ein schwerer Kloß bildete sich in Kittys Kehle. Es schmerzte sie sehr, ihre Mutter und Schwestern anlügen zu müssen, aber keinesfalls wollte sie ihre Familie in ihren haarsträubenden Plan hineinziehen. Sollte sie auffliegen, würde sie dafür sorgen, dass niemand außer ihr die Verantwortung trug. Wieder einmal wurde sie von einer Welle der Unsicherheit übermannt. Wenn der Betrug ans Licht käme, würde der Skandal die ohnehin schwindend geringen Aussichten ihrer Schwestern ein für alle Mal zerstören.

„Wir haben bislang nur per Briefwechsel kommuniziert. Ich … ich wollte niemandem falsche Hoffnungen machen, bis unsere Beziehung eindeutige Formen annahm.“ Verbissen versuchte sie, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Am liebsten hätte sie aufgegeben und ihren Liebsten alles gestanden.

Doch dann hob ihre Mutter die zitternden Hände an die Lippen. „Es gibt also einen Hoffnungsschimmer für uns?“

Ja. Das verspreche ich dir, Mama.

„Ich glaube es einfach nicht“, rief Anna aus. „Warum hat er sich ausgerechnet für dich entschieden, Kitty?“

Die Ungläubigkeit ihrer Schwester versetzte ihr einen Stich. „Ich mag keine herausragende Schönheit sein, aber warum sollte sich ein Duke nicht für mich interessieren? Ich bin anmutig und habe recht hübsche Augen, besitze einen scharfen Verstand und eine umfassende Ausbildung. Außerdem weiß ich mit Geld umzugehen und wäre durchaus in der Lage, einen großen Haushalt zu führen. Und ich bin die Tochter eines Viscounts, wenngleich eines verarmten. Trotz unserer Situation haben wir noch ein paar vorteilhafte Beziehungen, Anna.“

„Oh, damit wollte ich nicht andeuten, dass du keine begehrenswerte Partie darstellst. Es ist nur alles so überwältigend. Was genau bedeutet das für uns?“, erwiderte ihre jüngere Schwester.

Zum ersten Mal seit Langem flackerte Hoffnung in den Augen ihrer Familienmitglieder auf und vertrieb die Zweifel, die Kittys Herz wie eine eisige Faust umschlossen.

„Es bedeutet Rettung für uns“, verkündete ihre Mutter voller Überzeugung. „Es bedeutet, dass wir diesen Winter genug Kohle haben werden. Es bedeutet, dass ich nicht länger meinen Stolz herunterschlucken und den Erben eures Vaters um Almosen anflehen muss. Es bedeutet, dass du nicht länger in diesem furchtbaren Haus arbeiten musst, Annabelle, und, bei Gott, vor allem bedeutet es, dass meinen Mädchen mit etwas Glück eine bessere Zukunft vergönnt ist.“

Aufgeregt klatschte Judith in die Hände. „Heißt das, ich werde debütieren können?“

Kitty lächelte ihre sechzehnjährige Schwester an, die den lieben langen Tag von nichts anderem als Bällen und Bewunderern träumte. Was ihre Zukunft betraf, ging ihre viel zu romantische Fantasie oftmals mit ihr durch. „Vielleicht in ein paar Jahren. Normalerweise hat eine junge Dame ihr gesellschaftliches Debüt mit achtzehn. Außerdem werden wir vielleicht auch eine Gouvernante für Henrietta einstellen können.“

Bislang war Kitty für die Erziehung und Ausbildung ihrer elfjährigen Schwester verantwortlich gewesen, eine Aufgabe, die sie mit Eifer und Freude erfüllt hatte.

Nun wandte sie sich Annabelle zu. „Diese Saison gehört dir. Als Verlobte Seiner Gnaden bietet sich mir die Möglichkeit, dich mit denjenigen bekannt zu machen, die in seiner Gunst stehen möchten. Wie Mama schon sagte, wirst du auf keinen Fall weiter in diesem Haus arbeiten.“

Anna sah kurz zu ihrer Mutter hinüber und nickte dann entschlossen. Obwohl sie bereits einundzwanzig war, hatte sie im Gegensatz zu Kitty nie ein gesellschaftliches Debüt gehabt. Daher war es bislang an ihr als ältester Schwester gewesen, eine geeignete Partie zu finden. Als jedoch klar wurde, dass der Erfolg selbst nach mehreren Saisons ausblieb, hatte Anna eine Stelle als Gesellschafterin bei Lady Shrewsbury angenommen, deren aufdringlicher Sohn sie vom ersten Tag an belästigt hatte. Seine groben Annährungsversuche hatten Fingerabdrücke auf Annas Armen und auch ihrem Schenkel hinterlassen, ein Anblick, der Kitty auf ewig verfolgen würde.

Wie sehr sie sich wünschte, an Annas Stelle gewesen zu sein. Nicht, weil sie belästigt oder eingeschüchtert werden wollte, sondern weil sie um einiges robuster war als ihre sanftmütige Schwester.

Zumindest war sie dankbar, dass Anna sich ihr anvertraut hatte. Am liebsten hätte sie den ungehobelten Wüstling zum Duell herausgefordert, um die Ehre ihrer armen Schwester zu verteidigen, besann sich jedoch stattdessen auf ihren waghalsigen Plan. Annas Kummer und Schmach führten ihr nur zu deutlich vor Augen, wie sehr sie bislang in der Bemühung, die Zukunft ihrer Familie zu sichern, versagt hatte, obwohl sie es ihrem Vater auf dem Sterbebett versprochen hatte.

Allerdings ließ sie es sich nicht nehmen, den widerwärtigen Schurken mit der Pistole ihres Vaters zu bedrohen und zu warnen, sich von ihrer Schwester fernzuhalten. Zwar war der Wüstling eher amüsiert als verängstigt gewesen, aber immerhin hatte sie es geschafft, Anna von diesem furchtbaren Ort wegzuholen. Keine ihrer Schwestern sollte je wieder in eine derartige Lage geraten. Ihre Schicksale würden sich zum Besseren wenden … dafür würde sie schon sorgen.

„Wann werden wir ihn denn kennenlernen?“, fragte Anna nun, immer noch völlig überrumpelt von den Neuigkeiten.

Hoffentlich nie. Ihr blieb nur diese eine Saison, um ihren Plan erfolgreich auszuführen.

Obwohl der Duke zurückgezogen lebte, würde sie den ton nicht recht viel länger als ein paar Monate hinters Licht führen können. Früher oder später würde man sich wundern, wo ihr Verlobter sich wohl herumtreiben mochte. Oder warum er sich nie an ihrer Seite zeigte. Oder warum es kein Datum für die Hochzeit gab. In dieser einen Saison musste sie mit Geschick und Scharfsinn vorgehen, um die Zukunft ihrer Schwestern zu sichern.

Ein Unterfangen, das schier unmöglich war. Hoffnungslos. Angsteinflößend.

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Nächtelang hatte sie nun schlaflos im Bett gelegen und sich über alle möglichen Szenarien den Kopf zerbrochen.

Nun holte sie tief Luft und flunkerte ihrer Familie vor, ihnen den Duke vorzustellen, sobald dieser aus Schottland zurückkehrte. Einstweilen, so sagte sie, würden sie ihr letztes Geld darauf verwenden, drei neue Ballkleider für sie, Kitty, sowie zwei für Anna anfertigen zu lassen. Natürlich war es äußerst riskant, die dürftigen Ersparnisse ihrer Mutter derart leichtfertig aufs Spiel zu setzen, aber sie musste nun einmal wie die Verlobte eines Dukes aussehen und Anna musste sich in der Öffentlichkeit von ihrer besten Seite zeigen, wenn der Plan aufgehen sollte.

Jetzt, da die Neuigkeiten allgemein bekannt waren, würden sie gewiss von Neugierigen und Interessenten bestürmt werden.

Ihre Mutter betrachtete sie eine Weile lang schweigend, und der Ausdruck in ihren Augen schnürte Kitty die Kehle zu.

„Manchmal bricht es mir das Herz, wenn ich an die Last denke, die dir aufgebürdet wurde, mein Kind“, sagte ihre Mutter leise und bedachte sie mit einem wissenden Blick, den Kitty nicht ganz deuten konnte. „Du warst schon immer eine solch lebhafte und unerschrockene Seele, Katherine, und ich fürchtete seit Langem, dass der Druck, für uns zu sorgen, dir irgendwann deine strahlende Lebensfreude nehmen würde. Aber du hast dich jeder Herausforderung ohne zu klagen gestellt, hast jede Aufgabe gemeistert, die eigentlich deinem Vater und mir zufiel. Mein Artie wäre so stolz auf dich.“

Kitty schluckte schwer und nickte unter Tränen lächelnd.

Während sie ihren Tee tranken und ein paar bescheidene Sandwiches aßen, wirkten ihre Liebsten so hoffnungsvoll und ausgelassen, wie sie es seit Lebzeiten ihres Vaters nicht mehr gewesen waren.

Und in diesem Moment, als Kitty sie so sah, fielen sämtliche Zweifel von ihr ab.

Ich werde euch nicht enttäuschen.

***

Zwei Wochen später

Gütiger Himmel … ich habe es tatsächlich geschafft.

Kitty hatte sich erfolgreich als Verlobte des geheimnisvollen Dukes of Thornton etabliert und wurde von den Klatschblättern in den höchsten Tönen besungen. Überall gratulierte man ihr zu ihrem erstklassigen Fang. Dank der überschwänglichen Begeisterung, mit der die Londoner Gesellschaft die Neuigkeiten aufgenommen hatte, schien es ihrer Mutter viel besser zu gehen, worüber Kitty äußerst erleichtert war. Seit Längerem hatte sie ernsthaft befürchtet, Mama könnte ihrer erdrückenden Schwermut erliegen.

Etwas früher am Morgen hatte ihre Freundin Maryann einen Lakaien vorbeigeschickt, um ihr mehr als ein Dutzend Einladungen zu Bällen, Hauskonzerten, Soireen und sogar einer skandalösen Privatfeier zu überbringen, die in dem eleganten Stadthaus ihrer Eltern am Berkeley Square für Kitty eingegangen waren. Sie hatten es für klug empfunden, hier und da zu erwähnen, dass Kitty diese Saison über zu Gast bei dem Earl und der Countess of Musgrove verweilte. Auf keinen Fall sollte irgendwer erfahren, dass ihr eigentlicher Wohnsitz das bescheidene Haus ihrer Mutter in Cheapside war.

Kitty betrachtete das Bündel Einladungen in ihren Händen. Du liebe Güte.

Die oberste war von der Marchioness of Sanderson und bat um Anwesenheit auf deren Ball in wenigen Wochen. Noch nie zuvor hatte sie eine Einladung zu dieser vielverheißenden und gefragten Veranstaltung erhalten. Es war völlig absurd, wenn man bedachte, dass sie noch immer dieselbe Person war, die seit drei Saisons versuchte, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Aber seit Lady Gamble beinahe täglich Artikel über sie veröffentlichte, hatten sich ihr und ihrer Familie ungeahnte Möglichkeiten aufgetan.

Das Klatschblatt debattierte intensiv darüber, ob ihre Verlobung mit dem Duke eine unbesonnene Entscheidung seinerseits oder aber die beste Partie der Saison sei. Nicht einmal im Traum hätte sie sich das Interesse und die Aufmerksamkeit ausmalen können, die man nun an ihr zeigte. Der Testamentsvollstrecker ihres Vaters kontaktierte sie und schlug ihr vor, ein Stadthaus in Mayfair anzumieten. Kitty wäre vor Schock und Scham beinahe im Boden versunken, als Mr Walker höflich hinzufügte, er könne die Rechnung dann einfach an die Anwälte des Dukes weiterleiten.

Langsam wurde ihr bewusst, dass die falsche Verlobung ihr und ihrer Familie auch ungeahnte finanzielle Vorteile verschaffte. Aber natürlich hatte sie Mr Walkers Angebot dankend abgelehnt und viel später, als sie grübelnd im Bett lag, um Vergebung für ihre ewige Seele gebetet.

Nun saß sie also mit einem Stapel Einladungen in den Händen in Gesellschaft eines überraschenden Gastes in ihrem bescheidenen Salon vor dem Kamin: Mr Adolphus Pryce. Während sie auf Erfrischungen warteten, gab Kitty vor, die Korrespondenz zu überfliegen, um den selbstsicheren, aber gleichzeitig auch ein wenig nervös wirkenden Mann aus dem Augenwinkel zu studieren. Er war hager und ordentlich, aber schlicht gekleidet. Seine hohen Wangenknochen waren leicht gerötet und obwohl er sein Haar mit Pomade zu fixieren versucht hatte, fielen ihm einige widerspenstige Schmachtlocken in die Stirn. Kitty kam nicht umhin sich zu wundern, wie er sie gefunden hatte. Laut seiner Visitenkarte arbeitete er als Anwalt für eine renommierte Kanzlei.

Die Tür zum Salon war angelehnt, um ihrem Treffen ein angemessenes Maß an Seriosität zu verleihen. Nach einigen Minuten brachte Anna ein Tablett mit frisch zubereitetem Tee herein und warf ihr einen fragenden Blick zu. Kitty zuckte diskret mit der Schulter. Sie hatte keine Ahnung, weshalb ein junger Anwalt der Kanzlei Smith and Fielding sie aufsuchen sollte. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass der Duke womöglich doch den Artikel gelesen haben könnte und nun beabsichtigte, sie wegen Darstellung falscher Tatsachen und Betrugs zu verklagen.

Trotz ihrer Nervosität ließ sie Anna Tee und Kuchen servieren, und nachdem ihre Schwester sich zurückgezogen hatte, wandte sie sich ihrem Gast mit einem höflichen Lächeln zu.

„Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr Pryce?“

Hastig leerte er seine Teetasse und stellte sie dann mitsamt dem Untersetzer auf einem kleinen, abgenutzten Walnusstisch ab. Sein offensichtliches Unbehagen beruhigte sie ein wenig.

„Miss Danvers“, begann er und zerrte dann unruhig am Knoten seines Krawattentuchs, das ihm buchstäblich die Luft abzuschnüren schien. „Ich gehöre zu der Gruppe von Anwälten, die sich um die juristischen Angelegenheiten Seiner Gnaden, des Dukes of Thornton, kümmert.“ Stolz reckte er die Brust heraus und richtete sich auf dem Sofa auf, so weit es die durchgesessenen Polster erlaubten.

Kitty umklammerte ihre eigene Tasse und wärmte ihre vor Angst klammen Finger an dem warmen Porzellan. Sie durfte sich ihre Panik nicht anmerken lassen. Verbissen unterdrückte sie das hysterische Lachen, das in ihrer Kehle aufzusteigen drohte. Mit jedem Tag wurde ihr falsches Spiel komplizierter. „Ja?“

„Mein, äh, Vorgesetzter bat mich zu … äh … Nun, unlängst wurde uns zugetragen, dass unser Klient mit Ihnen verlobt ist.“

Sie bedachte ihn mit undurchdringlicher Miene. „Und?“

„Mir wurde aufgetragen, äh …“ Er brach ab und errötete. Angst schnürte ihr die Kehle zu. „Ich soll mich diskret erkundigen, ob … Also, äh, gewissermaßen wussten wir nicht, dass der Duke zu heiraten beabsichtigte.“

Natürlich. Die Kanzlei wollte herausfinden, ob die Verlobung real war.

Aber warum wandten sie sich mit diesem Anliegen an sie und nicht direkt an den Duke? Lebte er etwa so zurückgezogen, dass nicht einmal seine Anwälte und Verwalter ihn zu erreichen vermochten?

„Hat Alexander Sie etwa nicht darüber in Kenntnis gesetzt?“, fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns, verzweifelt um eine gelassene Haltung bemüht. Sie hatte absichtlich den Vornamen des Dukes benutzt und sah, wie Mr Pryce sich versteifte. „Warum haben Sie ihm denn nicht geschrieben? Bestimmt wird er Ihnen antworten. Er hat es versprochen.“

„Tatsächlich?“

Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee, bevor sie ruhig antwortete: „Natürlich.“

Die Anspannung fiel sichtlich von ihm ab. „Mein Vorgesetzter, Mr Fielding, schickte Seiner Gnaden eine Nachfrage, aber bislang erhielten wir noch keine Rückmeldung.“

„Wie merkwürdig … andererseits aber wohl auch nicht so ungewöhnlich für ihn.“

Kitty hoffte, dass sie mit der Vermutung richtig lag, der Duke kümmere sich nicht besonders gewissenhaft um seine Korrespondenz. Sie legte eine prägnante Pause ein. „Also, wie kann ich Ihrer Kanzlei in dieser Angelegenheit behilflich sein?“

Mr Pryce warf einen flüchtigen Blick auf die abgenutzten Sofas und den verblassten, pfirsichfarbenen Teppich. „Es war nicht ganz einfach, Sie ausfindig zu machen, und ich hatte auch nicht erwartet, dass die Verlobte des Dukes sich in Cheapside aufhalten würde.“ Nun wirkte er wachsam, etwas Ruhiges, Berechnendes funkelte in seinen blauen Augen.

Um nicht in Panik zu verfallen, nippte sie erneut an ihrem Tee, während sie verzweifelt versuchte, sich eine logische Erklärung einfallen zu lassen. „Die Kanzlei meines Vaters sucht derzeit auf Geheiß Seiner Gnaden hin nach einer geeigneteren Unterkunft. Mr Walker von Dunn and Robinson … Die Firma kennen Sie doch sicher?“

„In der Tat“, erwiderte er knapp.

„Nun, Mr Walker fand zwar ein hübsches Stadthaus in Mayfair, aber leider war Alexander mit der Wahl ganz und gar nicht zufrieden. Ihm zufolge hat seine Verlobte nur das Beste verdient.“ Obwohl die Erklärung durchaus schlüssig darlegte, weshalb sie noch immer in Cheapside wohnte, konnte Kitty ihr Unbehagen nicht abschütteln. An manchen Tagen verabscheute sie das Netz aus Lügen, in dem sie sich immer weiter verstrickte … und dies war so ein Tag. Warum hatte dieser Mann hier auftauchen müssen?

Aber besser er als der Duke …

Adolphus Pryce erblasste und setzte sich kerzengerade hin. „Seine … Seine Gnaden hat sich mit diesem Anliegen an eine andere Kanzlei gewendet?“

Sein offensichtlicher Schock alarmierte sie. Endlich wurde ihr der wahre Grund hinter seinem Besuch bewusst: Smith and Fielding waren besorgt, weil der Duke sie nicht beauftragt hatte, eine Vereinbarung oder gar einen Ehevertrag aufzusetzen. Offenbar hatten sie Angst, er könne mit ihren Diensten nicht zufrieden sein, und so beschlossen sie, diesen neuen Gerüchten nachzugehen. Wahrscheinlich hatten sie das auch früher schon getan.

Verflixt. Sie runzelte die Stirn und tippte sich nachdenklich gegen das Kinn. „Ich habe ihm vorgeschlagen, Dunn and Robinson mit diesem Anliegen zu betrauen, da sie sich um die Ländereien meines Vaters zu kümmern pflegten. Und Alexander kann mir nun einmal keinen Wunsch abschlagen.“ Sie hielt inne, um sich ein Stück Kuchen auf den Teller zu laden. „Glauben Sie, Ihre Kanzlei vermag ein Haus zu finden, das den Ansprüchen Seiner Gnaden genügt?“

Erleichterung blitzte in Mr Pryces Augen auf und er nickte eifrig. „Selbstverständlich. Smith and Fielding sind stets bemüht, den Bedürfnissen Seiner Gnaden gerecht zu werden. Wir werden uns umgehend darum kümmern. Bis zum Ende der Woche werde ich Ihnen ein Stadthaus in Piccadilly oder Grosvenor Square finden, Miss Danvers. Zudem lasse ich ein Guthaben bei den angesehensten Boutiquen für Sie einrichten. Sie können dem Duke also ausrichten, dass es seiner Verlobten an nichts fehlen wird. Smith and Fielding werden Ihnen jeden Ihrer Wünsche erfüllen.“

Guthaben bei den angesagtesten Geschäften? Gütiger Himmel, das ging wirklich zu weit!

Aber wie sollte sie glaubhaft die Verlobte eines so einflussreichen Mannes wie Thornton abgeben, wenn sie in Cheapside wohnte und die Mode der letzten Saison trug? Oder immer wieder eines derselben drei Kleider, die sie jüngst hatte anfertigen lassen?

Würde die Kanzlei den Duke kontaktieren, wenn sie deren Angebot ablehnte? Um einen solch enormen Besitz wie Thorntons kümmerten sich für gewöhnlich mehrere Verwalter sowie Anwälte. Unbedeutende Anliegen wurden gewiss selbstständig geregelt ohne ihn zu involvieren, aber wenn sie darauf beharrte, weiterhin die Kanzlei ihres Vaters auf die Suche nach einem geeigneten Haus anzusetzen, könnte Smith and Fielding sich gezwungen sehen, den Duke darüber zu informieren, aus Angst, andernfalls einen ihrer besten Kunden zu verlieren.

Andererseits … würden sie ihn nicht auch kontaktieren, um ihn wissen zu lassen, dass man eine geeignete Unterkunft für seine Verlobte gefunden hatte? Zweifel keimten in ihr auf. „Ich wundere mich wirklich darüber, dass Alexander nicht auf die Nachfrage Ihrer Kanzlei reagiert hat. Ich werde persönlich mit ihm sprechen.“

Mr Pryce seufzte erleichtert auf. Offenbar war ihr geschätzter Klient nicht sehr umgänglich.

„Das wäre zu freundlich, vielen Dank, Miss Danvers.“

Anschließend öffnete der Anwalt eine schmale Ledertasche und holte Papier, Federhalter sowie ein kleines Tintenfass heraus, um die Einzelheiten über das Stadthaus zu erfassen. Dabei ging er äußerst gewissenhaft vor und fragte sogar nach der Art der Vorhänge, die sie sich für die Fenster wünschte sowie das Mobiliar für jedes einzelne Zimmer. Sie diskutierten darüber, ob Kitty sieben Zimmer genügen würden, wie viele Angestellte sie benötigte und bei welchen Geschäften man ein Guthaben für sie bereitstellen sollte. Eine Stunde später verließ Mr Pryce sie schließlich mit zufriedener und selbstsicherer Miene.

Sie spähte zwischen den verblassten Damastvorhängen hindurch und beobachtete, wie seine Kutsche die Straße entlangrollte. Ihr Netz aus Lügen wurde immer verworrener. Ob sie sich je wieder daraus würde befreien können?

Schaudernd legte sie die Arme um sich selbst. Sie hatte keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es galt, sich für einen Ball herzurichten.

Sobald The Scrutineer die Neuigkeiten veröffentlicht hatte, war sie entschlossen zu einer der gefragtesten Modistinnen Londons marschiert und hatte drei neue Abendkleider sowie eine edle Reitgarderobe für sich und Anna in Auftrag gegeben. Als man ihr ganz unerwartet einen Nachlass auf die Kosten gewährte, blieb sogar noch genug Geld für ein paar neue alltägliche Ensembles übrig.

Die Verlobte eines Dukes zu sein, brachte mehr als nur einen Vorteil mit sich.

Dennoch hatte sie in jener Nacht reumütig im Bett gelegen und Tränen darüber vergossen, das bescheidene Erbe ihres Vaters für ihre Zwecke ausgegeben zu haben. Was, wenn ihnen im Winter kein Schilling mehr für Kohle und Nahrung bliebe?

Und nun besaß sie plötzlich Guthaben bei sämtlichen der renommiertesten Geschäfte der Stadt. Auf keinen Fall durfte sie davon Gebrauch machen, nicht einmal im Notfall. Den Ruf und die Beziehungen des Dukes auszunutzen, war eine Sache, aber sich an seinem Vermögen zu bedienen, fühlte sich falsch und schändlich an. Aber was sollte sie nur wegen des Stadthauses unternehmen? Darüber zermarterte sie sich das Hirn, während sie den Salon verließ und die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer ging.

Ich werde ihm jeden Penny zurückzahlen, schwor sie sich.

***

Einige Tage später spazierte Kitty mit Ophelia durch den Hyde Park. Für einen Frühlingsnachmittag war das Wetter recht düster. Seit dem Morgen wehte ein kühler Wind und in unregelmäßigen Abständen regnete es immer wieder. Die eisigen Schauer hatten jedoch nicht die zahlreichen Besucher abgeschreckt, die den Vormittag über in ihrem neuen Stadthaus vorbeigekommen waren. Ihre Mutter war überwältigt gewesen von der Großzügigkeit des Dukes, obwohl eine solche Geste sämtliche Anstandsregeln missachtete … wenn nicht sogar völlig mit Füßen trat.

Aber diese Bedenken hatte ihre Mutter mit der Begründung abgetan, dass Seine Gnaden ja nicht ebenfalls in ihrem neuen Heim zu verweilen gedachte. Außerdem war er in ihren Augen ein Ausbund an Güte und Ehrbarkeit, ein wahrer Gentleman, der sich um das Wohlergehen seiner neuen Verwandtschaft sorgte. „Natürlich würde kein Mann seines Rangs und Namens es jemals zulassen, dass die Familie seiner Verlobten in Cheapside leben muss!“, hatte Mama verkündet und ihre Töchter mit eiserner Entschlossenheit dazu angetrieben, ihre wenigen Habseligkeiten zu packen.

Trotz allem hatte Kitty nicht mit dem Ansturm an Besuchern gerechnet, der an diesem Vormittag über sie hereingebrochen war. Ihre Mutter hingegen war in der Rolle der Gastgeberin aufgegangen und hatte die Aufmerksamkeit sichtlich genossen. Geschickt hatte sie Erfrischungen und Kuchen servieren lassen, während sie ihre Gäste mit anregenden Gesprächen über den neusten Klatsch und Tratsch bei Laune hielt, ohne dabei jedoch auf den Duke einzugehen.

Dennoch hatte Kitty sich immer unbehaglicher gefühlt, bis die Angst ihr buchstäblich die Kehle zuschnürte und sie nach einer gemurmelten Entschuldigung die Flucht ergriff. Der Erfolg fühlte sich zu unwirklich, zu alarmierend an.

Eilig hatte sie sich ihre Haube und ihren Sonnenschirm geschnappt und war aus dem Haus gestürmt. Nach wenigen Minuten ziellosen Umherirrens hatte eine Kutsche neben ihr angehalten, und zu ihrer Erleichterung hatte sie ihre Freundin Ophelia erblickt, die ihren aufgewühlten Zustand zweifellos bemerkt und daher trotz des ungemütlichen Wetters einen Spaziergang durch den Park vorgeschlagen hatte.

Nun schritten sie die gewundenen Pfade entlang, die glücklicherweise nicht stark besucht waren. Ophelia, die schweigend neben ihr herging, sah bezaubernd aus in ihrer dunkelgrünen Pelisse und einem dazu passenden Tageskleid. In ihren Augen lag ein Ausdruck der Verzweiflung.

„Ist alles in Ordnung, Ophelia?“, erkundigte Kitty sich leise. „Es ist ein paar Tage her, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben.“ Ob die Freundin seither an ihrem eigenen, wagemutigen Plan gefeilt hatte?

„Wir sollten baldmöglichst ein Treffen der Mauerblümchen einberufen. Vielleicht in einem Gesellschaftsraum? Ich habe einiges mit euch zu besprechen, und allem Anschein nach hast du ebenfalls etwas auf dem Herzen.“

„Oh, da bin ich ganz deiner Meinung“, stimmte Kitty ihr zu. Sie fragte sich, wie es den anderen Mitgliedern seit ihrer letzten Versammlung ergangen war. „Es gibt viel zu bereden.“

Ophelia musterte sie prüfend. „Und können deine Sorgen bis dahin warten?“

Kitty seufzte tief. „Nie hätte ich gedacht, dass mein trügerischer Plan so erfolgreich aufgehen würde. Es ist wahrlich beängstigend.“

Ihre Freundin lächelte breit und ein verschmitztes Funkeln trat in ihre Augen. „Aber es ist doch gewiss herrlich, so wagemutig zu sein, oder nicht?“

„Allerdings. Manchmal bin ich regelrecht überwältigt von meiner eigenen Unerschrockenheit. Vor wenigen Tagen ritt ich im Herrensitz auf einem Pferd durch den Hyde Park! Natürlich bin ich nicht die erste Dame, die sich etwas so Skandalöses traute, aber die Klatschblätter waren außer sich und Mama wäre beinahe in Ohnmacht gefallen“, erklärte sie und lachte vergnügt, als sie sich daran erinnerte, wie unsittlich und frei sie sich gefühlt hatte. „Kitty Danvers muss teuflischen Wagemut beweisen, um das Interesse der Öffentlichkeit zu halten. Ich will, dass sowohl die Presse als auch der ton sich danach verzehren, mehr über mich zu erfahren. Ich will, dass meine Unverfrorenheit sie schockiert und verzaubert. Es soll Einladungen zu den exklusivsten Bällen und Veranstaltungen hageln.“

„Dann darfst du dich nicht verunsichern oder verängstigen lassen, Kitty. Ansonsten entgeht dir womöglich die Gelegenheit, etwas wirklich Wunderbares zu erleben, etwas Außergewöhnliches, von dem die übrigen Damen der Gesellschaft nur träumen können“, erwiderte Ophelia ernst.

Von all ihren Freundinnen war Ophelia Kittys Ansicht nach diejenige, die mit Leichtigkeit heiraten könnte, wenn sie wollte. Mit ihrer lieblichen Stupsnase und den feinen, geschwungenen Lippen war sie eine richtige Schönheit, und zudem besaß sie die bezauberndste Singstimme, die Kitty je gehört hatte. Doch obwohl sie die Tochter eines einflussreichen Marquess war, der für seine reformatorischen Bemühungen im Parlament geachtet wurde, hatte während der letzten drei Saisons nur ein Mann um ihre Hand angehalten … Peter Warwick, der Earl of Langdon. Ophelia hatte seinen Antrag jedoch abgelehnt, denn sie liebte ihre Freiheit zu sehr, als dass sie das erstbeste Angebot akzeptieren würde … und zudem besaß sie ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommen durfte: Sie war Lady Starlight, eine mysteriöse, maskierte Sängerin, die von der Gesellschaft geliebt und verehrt wurde.

„Was für ein glücklicher Zufall, dass wir uns über den Weg gelaufen sind“, sagte Kitty mit einem leichten Lachen und schob ihre Bedenken beiseite. „Nach deinem Zuspruch will ich mich nicht länger von meinen Zweifeln plagen lassen.“

Als plötzlich ein Schrei hinter ihnen ertönte, hielten sie inne und drehten sich um. Ein Mann in einem dunklen Tweedmantel kam auf sie zugeeilt. In der einen Hand hielt er ein Notizbuch, in der anderen eine Aktentasche. Sie traten beiseite, um ihn vorbeizulassen, doch zu ihrer Überraschung kam er vor ihnen zum Stehen. Kitty kniff die Augen zusammen und hielt ihren Sonnenschirm bereit. Wenn es darauf ankäme, wäre sie durchaus bereit, sich zu verteidigen.

Allerdings hatten sie wohl kaum etwas zu befürchten, denn Ophelias Lakaien waren ihnen die ganze Zeit über in sicherem Abstand gefolgt.

Der Mann musterte sie aus intelligenten, braunen Augen. „Sie sind die ehrenwerte Katherine Danvers, nehme ich an?“, fragte er leicht schnaufend.

„Wer will das wissen?“

„Mein Name ist Robert Dawson. Ich bin Berichterstatter bei den Morning Chronicles und hätte ein paar Fragen zu Ihrer Verlobung mit Seiner Gnaden, dem Duke of Thornton, wenn Sie gestatten?“

Er wirkte wachsam, neugierig und auch ein wenig verschlagen.

Kitty warf Ophelia einen Blick zu und bemerkte die unausgesprochene Aufforderung in deren Augen: Sei wagemutig. Sei unerschrocken. Und tu etwas Sündhaftes.

Sie tat, wie ihr geheißen.

Kapitel 3

Perthshire, Schottland, McMullen Castle

„Wenn ich so unverfroren sein darf, Euer Gnaden, würde ich Ihnen gerne meine Glückwünsche zu Ihrer bevorstehenden Vermählung aussprechen.“

Selten hatte irgendetwas Alexander Masters so überrascht wie die Worte seines treuen Verwalters, Thomas Biddleton … außer vielleicht der Anblick seiner Schwester, als sie vor etwa einer Woche ein Schwein durch die Wälder gejagt und ihm hinterhergeschrien hatte, es solle sich in Freiheit begeben.

Leider hatte man das Tier später am Tag wieder eingefangen, aber er hütete sich, sie davon in Kenntnis zu setzen.

Die Erinnerung entlockte ihm den Anflug eines Lächelns, woraufhin die übrigen Männer, die mit ihm um den Tisch seines Arbeitszimmers saßen, flüchtige Blicke untereinander wechselten, die er nicht ganz deuten konnte. Wunderten sie sich, warum er lächelte, oder fragten sie sich, wodurch genau seine linke Gesichtshälfte, die durch das Lächeln sichtbar spannte, derart entstellt worden war?

Um ehrlich zu sein, hatte er in letzter Zeit nicht viel Grund gehabt, seine vernarbten Gesichtsmuskeln auf diese Weise zu bemühen. Selbst die wilden Abenteuer seiner Schwester vermochten ihn kaum noch zu erheitern, obwohl ihm früher bereits eine flüchtige Umarmung von ihr die Laune versüßt hatte. Eine gähnende Leere hatte sich in ihm ausgebreitet. Zwar hatte er sein Schicksal mittlerweile akzeptiert und grämte sich nicht länger über das Unglück, das ihn befallen hatte, aber dennoch war er sich der Finsternis bewusst, die sein Herz umhüllte.

Er war einsam.

Die Realität dieser Erkenntnis ließ ihn an der Überzeugung zweifeln, dass er niemanden außer seiner Schwester, Penny, an seiner Seite brauchte. Und trotzdem wollte er sie nach England schicken, sodass sie während der kommenden Saison ihre gesellschaftlichen Manieren aufpolieren konnte. Auch wenn es ihr nicht gefallen würde, wollte er sie nicht hier im schottischen Hochland verwildern lassen, wenn sie womöglich eine glückliche Zukunft in London erwartete.

„Bitte verzeihen Sie mir meine Unverfrorenheit, Euer Gnaden“, wiederholte Biddleton nach einigen Minuten des Schweigens zerknirscht.

Alexander, der in einem hohen Ohrensessel neben dem Kamin saß, leerte sein Kognakglas und setzte eine teilnahmslose Miene auf. „Meine Vermählung? Mit wem?“

Sein Verwalter sah ihn verständnislos an und schien nach den richtigen Worten zu ringen. „Äh … Miss Katherine Danvers. Ich glaube, sie bevorzugt es, Kitty genannt zu werden … Ist sie denn nicht Ihre Verlobte? Das behauptet zumindest jeder.“

„Dann muss es wohl stimmen“, erwiderte Alexander schnippisch und tat die Bemerkung als eines von vielen Gerüchten ab, die sein Leben betrafen. Seit er sich vor zehn Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, war ihm wirklich alles nur Erdenkliche zu Ohren gekommen: seine Affäre mit einer exotischen Französin, die er schließlich über eine Klippe stieß; ein gefährlicher Sturz, bei dem er sich jeden Knochen in seinem Körper gebrochen hatte, und schließlich sollte er auch noch seinen mutmaßlichen Erben umgebracht haben. Diese und noch viele weitere haarsträubende Gerüchte waren selbst bis zu ihm nach Schottland vorgedrungen.

Mr Biddleton warf den drei Anwälten, die ebenfalls um den Tisch versammelt saßen, einen flüchtigen Blick zu. Diese waren damit beschäftigt, ihre Protokolle zu ordnen, damit Alexander sie später in chronologischer Reihenfolge lesen konnte. Ihrer steifen Haltung nach zu urteilen, waren sie nervös. Vermutlich graute ihnen vor der Einladung zum Abendessen, die er nach jedem ihrer Treffen gewohnheitsmäßig aussprach. Sie waren jedes Mal zu verängstigt, um abzusagen, und sie wussten durchaus, dass er sich ihres Unbehagens bewusst war.

Wieder durchfuhr ihn die niederschmetternde Erkenntnis, wie einsam er war und dass ihm keine andere Gesellschaft blieb als die seiner Angestellten, die wie rückgratlose Kakerlaken vor ihm kauerten und versuchten, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, weil er nun einmal der Duke war.

Schließlich räusperte sich das neueste Mitglied der Kanzlei, Mr Pryce, ein aufstrebender junger Kerl, der allem Anschein nach äußerst bestrebt war, sich einen Namen zu machen. „Ich hatte das Vergnügen, ein geeignetes Stadthaus für Miss Danvers zu finden, nachdem die Anwälte ihres verstorbenen Vaters scheiterten, Euer Gnaden. Miss Danvers ist äußerst zufrieden mit der Residenz am Portman Square.“

Alexander verschlug es einen Augenblick lang die Sprache. Ein Mitglied seiner rechtlichen Berater war dieser Frau tatsächlich begegnet?

Offenbar war die Angelegenheit doch mehr als nur ein fadenscheiniges Gerücht, gesponnen von den spitzen und gelangweilten Zungen des ton. Wie überaus erstaunlich. Es kam nicht oft vor, dass sein Verstand sich mit etwas anderem als Gewinnberechnungen oder dem Verfassen demagogischer Briefe an das Parlament beschäftigte.

„Ist sie das?“, murmelte er betont desinteressiert.

Der junge Anwalt, offensichtlich darum bemüht, seine Gunst zu erlangen, ignorierte die warnenden Blicke seiner Vorgesetzten und beeilte sich zu erklären: „Der ton preist Miss Danvers als unvergleichlich, Euer Gnaden, und die Geschichte Ihres Kennenlernens und Ihrer geheimen Verlobung wird in jedem Nachrichten- und Skandalblatt diskutiert. Alle bewundern Ihre Zukünftige für ihren Charme und ihre Güte. Sie … Sie sind fürwahr in aller Munde …“

Mr Pryce versagte die Stimme, als er die missbilligenden Blicke seiner Kollegen bemerkte, doch Alexander schenkte ihnen keine Beachtung. Zum ersten Mal seit Jahren spürte er etwas Wildes, Lebhaftes unter der kontrollierten Fassade, die er der Welt präsentierte, erwachen. Eine junge Dame gab also vor, seine Verlobte zu sein. Entweder war sie völlig verrückt … oder äußerst raffiniert.

Er spürte einen Anflug von Neugier.

Langsam drehte er sein leeres Kognakglas in den Händen, wobei er gedankenverloren mit einem Finger über die Narben seines Daumens strich. „Hiermit wäre unsere Besprechung beendet. Ich sehe Sie alle dann nächsten Monat.“

Mr Pryce und seine Vorgesetzten erhoben sich, verneigten sich vor ihm und begaben sich dann zur Tür.

„Sie bleiben.“

Der junge Anwalt erstarrte und drehte sich erwartungsvoll zu ihm um. „M-meinen Sie mich, Euer Gnaden?“

„In der Tat.“

Er wartete, bis alle übrigen Anwesenden das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, bevor er erneut das Wort ergriff: „Sagen Sie, Mr …?“

„Adolphus Richard Pryce, Euer Gnaden“, beeilte sich der junge Mann zu sagen.

Alexander spürte seine Verunsicherung, unternahm aber nichts, um ihn zu beruhigen. „Sie haben Miss Danvers also persönlich getroffen?“

Hastig erklärte Pryce ihm, wie er das Stadthaus für seine Verlobte gefunden hatte, und er erwähnte auch, dass er ihr angeboten hatte, ihr Guthaben bei den angesehensten Modistinnen und Hutmacherinnen anschreiben zu lassen, was sie jedoch dankend abgelehnt hatte.

Eine Schwindlerin, die nicht an seinem Geld interessiert war? Hochinteressant. Wer sind Sie und was genau wollen Sie von mir?

Seine Gedanken schweiften ab, während der junge Anwalt weiterredete. Gelegentlich drangen Wortfetzen zu ihm durch. Sein Blick fiel auf das flackernde Kaminfeuer, und seine vernarbte Gesichtshälfte zog sich schmerzhaft zusammen, wie immer, wenn er sich mit der Naturgewalt konfrontiert sah, die ihm seine schlimmsten Qualen zugefügt hatte.

Der ton ist völlig fasziniert …

Alle sind ganz erstaunt darüber, wie sehr Sie sie verwöhnen …

Man spricht von einer Liebesheirat …

Eine Winterhochzeit …

Endlich gibt es eine Duchess …

Die ganze Angelegenheit war kaum zu glauben.

„Sorgen Sie dafür, dass mir sämtliche Nachrichtenblätter zugeschickt werden, die bislang über Miss Danvers berichtet haben, ebenso wie alle zukünftigen Ausgaben, in denen sie erwähnt wird. Wenn nötig, per Express. Kosten spielen keine Rolle.“

„Selbstverständlich, Euer Gnaden“, murmelte Mr Pryce, offensichtlich hocherfreut über die Aufgabe, die ihm zuteilwurde. „Stets zu Ihren Diensten.“

„Sie können jetzt gehen.“

Der junge Mann verneigte sich und verließ dann mit selbstsicheren Schritten den Raum.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte sich ein Mantel des Schweigens über das enorme Arbeitszimmer. Alexander erhob sich, griff nach seinem Gehstock und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, die seinen Rücken durchfuhren. Seine Ärzte hatten ihm geraten, sich nicht länger als eine Stunde pro Tag ohne seinen Rollstuhl fortzubewegen, doch er ignorierte die Anweisungen und humpelte trotz der beschwerlichen Qualen in der Regel mehr als drei Stunden zu Fuß umher.

Langsam durchquerte er den langen Korridor, in dem es nach Zitruswachs und Blumen roch. Die weitläufigen Gänge weckten stets Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in ihm, Zeiten, als seine Schwester vergnügt kreischend durch die Gegend rannte und die Bediensteten lächelnd zusahen, wie seine Mutter, die sonst so elegante Duchess, ihrer Tochter hinterherjagte. In den letzten Jahren hatte er sich jedoch in Gegenwart seiner Schwester nie erlaubt, sentimental zu werden.

Sie brauchte ihn mehr als er die Dunkelheit, in der er sich verstecken konnte.

Mit jedem Schritt wurden seine Schmerzen unerträglicher, doch er weigerte sich, nach seinem Rollstuhl oder seinem Diener zu rufen. Verbissen kämpfte er sich die ausschweifende Wendeltreppe hinunter, vorbei am großen Salon sowie dem Ballsaal, bis er den privaten Raum erreichte, der allein für ihn eingerichtet worden war. Er öffnete die Tür und betrat das einzige Paradies auf Erden, das er sich gönnte … seine Bibliothek.

Ein Zimmer, in dem sich dreistöckige Regale voller Bücher, Schriftrollen und Steintafeln bis zur Decke erstreckten. Die Einrichtung war in antiken Gold- und Blautönen gehalten. Sechs hohe Fenster boten einen atemberaubenden Ausblick über die weitläufigen Grünanlagen seiner herrschaftlichen Residenz. Kostbare Antiquitäten und einzigartige Artefakte, die er vor seinem Unfall gesammelt hatte, zierten sämtliche Oberflächen.

Er war schon immer fasziniert gewesen von fremden Kulturen und Zivilisationen, hatte sämtliche Kontinente durchquert auf der Suche nach seltenen Juwelen und Edelsteinen, begehrten Schriftstücken, Miniatursphinxen und Statuen exotischer Tiere, einzigartiger Vasen aus der Ming-Dynastie und natürlich Büchern. Diese sammelte und hütete er wie ein Drache seinen Goldschatz.

Während seiner langwierigen Genesung hatte er eine Gruppe der besten Archäologen, Anwälte und Schatzjäger angeheuert, die ihm jedes Jahr neue, noch kostbarere und einzigartigere Fundstücke von ihren Reisen zurückbrachten. Doch die zahlreichen, unvergleichlich schönen Weltwunder in seinem Besitz vermochten nicht die Leere in seinem Herzen zu füllen. Seufzend berührte er seine jüngste Anschaffung: eine kühle Jadestatue des mongolischen Herrschers Kublai Khan.

Das wertvolle Stück brachte ihm keine Freude.

Es füllte nicht die Leere, weckte nicht den Wunsch in ihm, nach einem seiner seltenen Bücher zu greifen und in die Geschichte einzutauchen, die dieses Artefakt umgab. Sein Verstand wanderte nicht in fremde Welten, um sich aus seinem tristen Alltag zu befreien. In ihm war das brennende Verlangen erwacht, seiner beachtlichen Sammlung eine ganz andere Art von Schatz hinzuzufügen …

Miss Katherine „Kitty“ Danvers.

Aber sobald seine Schätze einmal hinter diesen massiven Eichentüren landeten, waren sie für immer dahinter gefangen. Der Gedanke, eine solch unverfrorene Frau in sein Heim zu holen, faszinierte ihn.

„Endlich ist deine langweilige Besprechung vorbei!“, ertönte eine aufgeregte Stimme aus den Tiefen seiner Bibliothek.

Lächelnd bahnte er sich seinen Weg um eine Reihe massiver Bücherregale, hinter denen er seine Schwester entdeckte, die es sich wenig damenhaft auf dem dunkelgrünen Orientteppich bequem gemacht hatte. Ihr pfirsichfarbenes Tageskleid wies verräterische Flecken auf. Offensichtlich hatte sie sich an einer seiner Kisten zu schaffen gemacht.

„Hast du lange warten müssen?“

„Mindestens zwei Stunden!“ Sie lächelte ihn an, und ein aufgeregtes Funkeln trat in ihre türkisgrünen Augen. „Sieh nur, was heute eingetroffen ist, Alexander. Ein Beerdigungsgefäß aus dem Totentempel des Sethos. Ist es nicht unbeschreiblich? Mr Cook hat sich mit diesem Fund wirklich selbst übertroffen. Außerdem gibt es ein Buch voller Hieroglyphen …“ Penny brach ab, rappelte sich auf und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. „Was ist los? Du wirkst angeschlagen. Soll ich den Arzt rufen …“

Er tat ihre Besorgnis mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Es geht mir bestens. Ich habe nur unerwartete Neuigkeiten erfahren.“

Penny musterte ihn argwöhnisch. „Neuigkeiten von den Ärzten?“

„Nein.“

Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Was dann? Sind es gute oder schlechte Neuigkeiten?“

„Das kommt darauf an, wie du gut oder schlecht definieren würdest …“

„Erspare mir deine philosophischen Vorträge und komm endlich zur Sache!“, rief sie ungeduldig aus.

Alexander lachte leise, als er sich an die hitzige Diskussion erinnerte, die sie an diesem Morgen bei einer Bootsfahrt über den See geführt hatten. „Allem Anschein nach bin ich verlobt.“

Penny schnappte hörbar nach Luft und ließ sich theatralisch auf eines der gut gepolsterten Sofas sinken. „Du wirst heiraten?“

„Sieht ganz danach aus“, erwiderte er amüsiert.

„Aber wie ist das passiert? Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder die arme Dame bemitleiden sollte, die sich zukünftig mit deinen exzentrischen Launen auseinandersetzen muss“, murmelte Penny und starrte ihn ungläubig an.

Er warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Deine äußerst charmanten Launen, meinte ich“, korrigierte sie sich mit einem schelmischen Grinsen. „Jetzt sag schon, wie ist es dazu gekommen?“

„Offenbar hat Miss Kitty Danvers es in der Zeitung bekannt gegeben. Tatsächlich bin ich besagter Dame bislang noch nie begegnet.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Penny die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. „Ach, du liebe Güte. Ich frage mich, aus welchen Gründen jemand solche Lügen verbreiten sollte. Bist du sehr verärgert?“

Nachdenklich ließ er seine Finger über eine kühle Marmorstatue der Hera gleiten, bevor er hinüber zu der Fensterfront humpelte, welche die weitläufigen Gärten und Felder seines Anwesens überblickte. „Überraschenderweise … bin ich nicht verärgert“, murmelte er, während er versuchte, seine Gefühle zu analysieren.

Vielmehr war er neugierig.

Schwaches Mondlicht versuchte, durch den dünnen Wolkenschleier hindurchzudringen. Eine bedrückende Stille überkam ihn und vergrub sich unter seiner Haut. Er spürte eine seltsame Unruhe in sich aufsteigen.

Wer sind Sie, Miss Kitty Danvers?

Zweifellos war sie unbeherrscht und waghalsig, ansonsten würde sie ihr Schicksal wohl kaum mit dem eines Ausgestoßenen kreuzen. Warum sollte eine fremde Frau behaupten, mit ihm verlobt zu sein? Was für ein Spiel spielte sie?

Er war nicht länger das Juwel des ton, der verruchte, geheimnisvolle Fang, nach dem alle Schönheiten der Saison sich sehnten. Nun war er ihr zurückgezogenes, entstelltes Monster, das allein durch seine rege Korrespondenz eine wichtige Stimme im britischen Parlament blieb. Keine Frau begehrte ihn mehr, ebenso wenig wie er sie, denn sein Schwanz war ein schlaffer Schatten seiner selbst, der sich nie wieder erheben würde. Und doch hatte er auf einmal eine Verlobte … noch dazu eine, die den ton im Sturm eroberte.

Ein Rascheln hinter ihm verriet ihm, dass seine Schwester sich wieder den Schriftrollen auf dem Teppich widmete. Sie war seine ausgiebigen Grübeleien gewöhnt und wusste, wann es besser war, ihn seinen Gedanken zu überlassen.

Abermals spürte er eine Flamme der Neugier in sich aufflackern. Die hartnäckige Einsamkeit, die ihn verbissen begleitete, pulsierte, als spürte sie etwas Neuartiges, Unverhofftes am Horizont seiner finsteren Seele aufleuchten. Statt der dunklen Kälte, die seine Emotionen umhüllte, statt der bitteren Wut des Verlustes, die ihn stets plagte, überkam ihn zum ersten Mal seit Langem eine sonderbare Art der Vorfreude.

***

Wenige Wochen später erreichte ihn ein riesiger Stapel Nachrichtenblätter. Mr Pryce hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Artikel aus The Morning Chronicle, der Times, der Gazette, The Morning Herald und dem Lady Goodie’s Scandals and Secrets, einem Klatschblatt, das er nicht kannte, welches jedoch ein ergötzliches Büfett aus der gesellschaftlichen Gerüchteküche versprach.

Ein wenig schämte er sich dafür, nun zu dessen interessierter Leserschaft zu zählen.

Entschlossen griff er nach dem Artikel des Morning Chronicle, in dem ein Gespräch mit der geheimnisvollen Miss Danvers abgedruckt war. Ungläubig und zugleich amüsiert überflog er ihre unverfrorenen Antworten.

Der Reporter: „Man hat den Duke seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Was können Sie uns dazu sagen?“

Miss Danvers: „Der Duke schätzt nun mal seine Privatsphäre.“

Alexander versuchte sich vorzustellen, mit welcher Miene sie ihrem Gesprächspartner auf so schnippische Weise antwortete. Ob sie die Brauen hob und ein unschuldiges Lächeln ihre Lippen umspielte?

Der Reporter: „Wird Seine Gnaden für diese Saison nach London zurückkehren?“

Miss Danvers: „Himmel, nein. Der Duke bevorzugt die Ruhe und frische Luft seines Landsitzes. Aber er schreibt mir regelmäßig die entzückendsten Briefe.“

Der Reporter: „Wo genau befindet sich der Landsitz Seiner Gnaden?“

Alexander stellte sich vor, wie sie mit einem Lachen auf diese Frage reagierte, bevor sie antwortete. War ihre Stimme tief und heiser oder hell und durchdringend?

Miss Danvers: „Ich bitte Sie, Mr Dawson, Sie erwarten doch nicht wirklich von mir, dass ich es Ihnen verrate? Mein lieber Alexander würde mir das nie verzeihen. Auf keinen Fall will ich sein Vertrauen missbrauchen.“

Nun stellte er sich vor, wie der Reporter sich seiner charmanten, trügerischen Gesprächspartnerin vertraulich zuneigte.

Der Reporter: „Und was schreibt er Ihnen?“

Miss Danvers: „Oh, die entzückendsten Briefe und Gedichte.“

Wie außerordentlich anmaßend sie doch war! Ob sie bei dieser Lüge errötet war? Oder hatte sie gar kokett mit den Wimpern geklimpert?

Der Reporter: „Schickt der Duke Ihnen auch weitere Geschenke?“

Miss Danvers: „Äußerst charmante und angemessene Geschenke, wie es sich für ein verlobtes Paar gehört. Alexander verwöhnt mich mit zauberhaften Gedichtbänden und Versen, die er selbst verfasst hat. Er ist völlig vernarrt in mich … wie ich auch in ihn.“

Der Reporter: „Also heiraten Sie aus Liebe?“

Miss Danvers: „Es muss wohl so sein! Immerhin verwöhnt er mich schamlos.“

Dreistes Weibsbild! Er verwöhnte sie also? Und noch dazu auf schamlose Weise?

Der Reporter: „Wird der Duke denn in naher Zukunft in das britische Oberhaus zurückkehren? Man erachtet ihn als Stimme der Vernunft, seine Feder als Instrument der Veränderung.“

Miss Danvers: „Über politische Entscheidungen sprechen wir nicht, Mr Dawson, sondern ausschließlich über Herzensangelegenheiten.“

So recht wollte Alexander ihr ihre ausweichende Naivität nicht abkaufen. Nein, diese Frau war ausgesprochen gerissen.

Mit einem ungeduldigen Seufzer widmete er sich als Nächstes dem Artikel in dem Klatschblatt.

Lady Goodie hat die kühnste Dame dieser Saison bei mehreren Spaziergängen durch den Hyde Park erspäht, wobei sie stets in gebührendem Abstand von ihrer Zofe begleitet wurde. Diskreten Nachforschungen zufolge besitzt Miss Kitty Danvers weder einen eigenen Phaeton noch eine eigene Kutsche.

Wer auch immer diese Lady Goodie sein mochte, sie schien es sich zur Aufgabe zu machen, die Gesellschaft in ihrer wöchentlichen Kolumne darüber zu informieren, wie wenig Miss Danvers sich aufgrund ihrer Erscheinung und Herkunft dafür eignete, die zukünftige Duchess zu werden. Im Artikel der vorherigen Ausgabe hatte sie darauf hingewiesen, wie lebhaft und schrill Miss Danvers doch lachte und wie abgetragen ihre Reitstiefel waren.

Wozu das ganze Theater, Miss Danvers? Was genau erhoffen Sie sich davon? Offenbar zog sie den Schwindel nicht auf, um sich selbst zu bereichern, mit Ausnahme des Stadthauses, welches sein Anwalt für sie angemietet hatte. Ihn überkam das seltsame Bedürfnis, die komplexen Motive dieser Fremden zu entschlüsseln.

Aufmerksam las er sich die übrigen Artikel des Klatschblatts durch. Während die anderen Zeitschriften in bewunderndem Tonfall über Miss Danvers berichteten, schien Lady Goodie darauf erpicht, die junge Dame mit ihren scharfen, sarkastischen Kritiken verleumden und ihre Verlobung mit dem Duke of Thornton in Frage stellen zu wollen.

Lady Goodie hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die hinreißende und beinahe schon skandalöse Miss Danvers abermals dabei gesehen wurde, wie sie im Herrensitz durch den Hyde Park galoppierte! Schockierend, insbesondere, da die letzte Dame, die den ton derart in Aufruhr versetzte, keine Geringere als unsere teure Lady Caroline Lamb war. Daher muss Ihre werte Autorin sich doch sehr wundern, was der Duke wohl von dem kühnen und höchst ungeheuerlichen Verhalten seiner Verlobten hält.

Alexander griff nach einem anderen Nachrichtenblatt, welches über denselben Vorfall berichtete, Miss Danvers allerdings als mutige junge Dame anpries, die den steifen Sitten der Gesellschaft unerschrocken die Stirn bot. Laut diesem Artikel konnte der Duke stolz auf seine zukünftige Duchess sein.

Anscheinend war ein Teil des ton geneigt, der dreisten Lügnerin zu glauben, während der andere mit Misstrauen und scharfer Kritik reagierte. Wie würde sie sich ihren Weg durch die dunklen, tückischen Gewässer bahnen, in die sie so bereitwillig eingetaucht war?

Mit Geschick und Souveränität … oder voller Angst und Zweifel?

Er schürzte die Lippen und griff nach seinen Schreibutensilien, um einen Brief zu verfassen. Er konnte diese unkonventionelle Frau, die ihn so sehr faszinierte, nicht länger ignorieren.

Verehrte Miss Danvers …

Kaum hatte er die Anrede niedergeschrieben, hielt er zögernd inne. Was genau wollte er ihr mitteilen? Sollte er eine Erklärung verlangen? Oder das dreiste Weibsbild wissen lassen, dass er um ihr kleines Spiel wusste?

Verflucht, warum verwirrte diese gerissene Lügnerin ihn so? Sie war ihm ein Rätsel … und normalerweise genoss er es, sich mit kniffligen Rätseln zu beschäftigen, bis er die Lösung gefunden hatte.

Warum also ließ er sich von dieser Fremden dermaßen aus der Fassung bringen?

Sein Herz machte einen Satz und er atmete tief durch. Es ließ sich nicht leugnen … er stand völlig unter ihrem Bann, dabei war er ihr noch nicht einmal begegnet.

Er knüllte den angefangenen Brief zusammen und schrieb stattdessen eine Nachricht an seinen Anwalt:

Mr Pryce,

Sie werden dafür sorgen, dass Miss Danvers mit einem Phaeton sowie zwei Pferden ausgestattet wird. Zudem stellen Sie sicher, dass die Tiere entsprechend untergestellt und verpflegt werden. Auf keinen Fall werden Sie Miss Danvers jedoch davon in Kenntnis setzen, dass Sie und ich über sie gesprochen haben. Sie müssen sie davon überzeugen, dass eine derartige Ausstattung zwingend erforderlich für die Verlobte eines Dukes ist. Erzählen Sie ihr nicht, dass ich hinter diesen Vorkehrungen stecke.

Gezeichnet,

Der Duke of Thornton

Sein Brief würde den jungen Anwalt gewiss verwirren, aber Alexander war sich sicher, dass er den Anweisungen ohne Rückfragen Folge leisten würde.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn von seinem Schreiben aufblicken. Ohne seine Antwort abzuwarten, platzte Penny ins Zimmer, ein kleines, rosafarbenes Bündel in den Armen haltend.

Sie hatte also das Ferkel gefunden.

Zu seiner Überraschung hatte die Köchin ihr das Tier lebend überlassen. Unter einem ihrer Arme klemmte zudem ein Nachrichtenblatt.

„Hast du diese Ausgabe schon gesehen, Bruderherz?“, fragte sie mit einem erstickten Lachen. „Allem Anschein nach habe ich unsere Wette gewonnen. Unsere Miss Danvers scheint eine Augenweide zu sein!“

Sein Herz machte einen Satz und ein längst verloren geglaubtes Interesse erwachte in ihm. Anfangs hatte er die Vermutung angestellt, Miss Danvers sei so unattraktiv, dass niemand sie heiraten wollte, weshalb sie zu dieser List griff, um sich für mögliche Verehrer interessanter zu machen. Obwohl er diesen Gedanken schnell verworfen hatte, ließ er sich doch dazu hinreißen, mit seiner Schwester zu wetten, dass Miss Danvers eine unansehnliche Dame war.

„Ist das so?“, murmelte er.

„Allerdings“, schwärmte Penny, deren Augen vor Bewunderung und Belustigung gleichermaßen funkelten.

Missmutig nahm Alexander die Zeitung entgegen, auf welcher die Zeichnung einer zierlichen Dame abgebildet war, die einen ausladenden Hut mit mehreren Federn trug und verzückt eine Hand vor den Mund hielt. Neben ihr kniete ein Gentleman, der zweifellos ihn selbst darstellen sollte, und hielt seiner Angebeteten einen üppigen Blumenstrauß hin. Aus sämtlichen Taschen seines Gehrocks und seiner Weste fielen Briefe heraus. Insgesamt erweckte er den Eindruck eines liebestrunkenen Narren.

Alexander blinzelte verblüfft, dann entwich ihm ein Glucksen.

Als seine Schwester hörbar nach Luft schnappte, hob er den Kopf und sah sie an.

„Du lachst?“, murmelte sie verwundert.

Ein seltsamer Schmerz durchfuhr seine Brust. „Tu nicht so, als sei das etwas völlig Ungewöhnliches.“

„Rührt deine gute Laune wirklich von dieser Zeichnung her oder von deinem wachsenden Interesse an dieser kuriosen Frau?“

„Ich hätte die Artikel nicht mit dir teilen sollen.“

Seine Schwester verdrehte die Augen. „Bitte, ich habe die Wahrheit allein dank meiner Gerissenheit herausgefunden.“

In der vergangenen Woche war er so vertieft in die Beiträge über Miss Danvers gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie Penny sich eines Tages von hinten an ihn heranschlich, bis eine Stimme dicht an seiner Schulter stichelnd anmerkte: „Ich wusste ja gar nicht, dass du die Klatschblätter verfolgst, Alexander. Und wie sonderbar, dass dich nur die Artikel über Miss Danvers zu interessieren scheinen. Ich würde sie ja zu gerne kennenlernen.“

Als er herumwirbelte, fand er sich einer breit grinsenden Penny gegenüber. In diesem Moment hatte ihre Wette Gestalt angenommen.

War Miss Danvers eine hübsche, vollbusige Blondine, so wie die Frauen, die er früher bevorzugt hatte? Oder war sie eher unscheinbar, ohne besonders hervorstechende Eigenschaften?

War sie eher füllig oder zierlich? Alexander behauptete, es spiele keine Rolle, aber seine Schwester war der Ansicht, eine Frau mit einer solch wagemutigen, einnehmenden Persönlichkeit musste auch eine entsprechend ausladende Figur sowie Attitüde haben.

Sein Blick fiel erneut auf die zierliche Frau in der überspitzten Zeichnung.

Außerdem hatten Penny und er darum gewettet, ob sie blond oder dunkelhaarig war, aber die Karikatur gab keinen Aufschluss darüber.

Zudem hatten sie sich gefragt, welchen Termin die unverfrorene Miss Danvers wohl für die Vermählung wählen würde. Alexander war überzeugt, dass sie kein konkretes Datum festlegen werde, Penny hingegen beharrte auf einer Hochzeit im Dezember.

„Ich habe gerade den Bericht über eure erste Begegnung gelesen“, sagte seine Schwester nun mit unverhohlener Belustigung. „Wie gerne würde ich Miss Danvers kennenlernen! Sie muss eine solch tapfere und einzigartige Frau sein. Ich bin schon gespannt, was für eine haarsträubende Geschichte sie als Nächstes veröffentlichen lassen wird.“

Alexander grummelte eine unverständliche Antwort und versuchte, das wachsende Interesse an dieser schamlosen, unkonventionellen Fremden zu unterdrücken.

„Ich bin überzeugt, dass du dich in sie verlieben wirst, sobald ihr euch tatsächlich begegnet!“, verkündete Penny.

Die Naivität seiner Schwester entlockte ihm ein Lächeln. Liebe? Seit Jahren hatte er keinen Gedanken mehr an diese alberne Vorstellung verschwendet.

Und dann sollte er sich ausgerechnet in diese ungewöhnliche Frau verlieben? Wohl kaum.

Warum jedoch ließ er sie mit ihrem unerhörten Betrug gewähren? Darauf wusste er selbst keine Antwort.

Je mehr er über sie las, desto größer wurde seine Neugier. Er kam nicht umhin, ihren Wagemut zu bewundern. Immer stärker wurde er sich der Wahrheit bewusst, dass seine kostbaren Bücher und Sammlerstücke nicht die übermächtige Einsamkeit zu vertreiben vermochten, die ihn umgab. Miss Danvers jedoch stellte eine willkommene Ablenkung für ihn dar.

Ein längst abgestorben geglaubter Teil von ihm regte sich und flüsterte: Was würden Sie tun, wenn ich Sie aufspürte und zur Rede stellte, Miss Danvers? Würden Sie klein beigeben, sich verstecken? Oder würden Sie mir von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten … mich herausfordern … mich in die Knie zwingen?

Etwas sagte ihm, dass er es noch vor Ende dieser Saison herausfinden würde.