Leseprobe Die Professorin

„Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.“
René Descartes

London, Juli 2016

Die Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen eng wie ein Nadelkopf. Die Stirn lag in tiefen Falten, der Mund schien erstarrt zu sein zu etwas, das einen Schrei oder ein bizarres Grinsen darstellen mochte. Zwei dünne Blutfäden rannen aus der Nase, deren Spitze abgeschnitten worden war. Sie hinterließen eine schmierige, rot glänzende Spur auf der Oberlippe und tropften auf die beiden Schneidezähne, die aus dem Mund hervorragten wie vom Mond beschienene Grabsteine aus einem pechschwarzen Friedhof.

Sein Blick wanderte zuerst über die tiefe Wunde in der Kehle und dann zu dem zerfetzten T-Shirt, das wohl einmal weiß gewesen war. Durchtränkt von Blut, Schleim und Regen hatte es eine rostbraune Färbung angenommen. Der Brustkorb und das weiche, unförmige Gewebe, das von den Brüsten übrig geblieben war, wiesen unzählige Einstiche, klaffende Krater und weit ausladende, wellige Schnitte auf.

Er wandte sich ab und betrachtete das Messer in seiner Hand. Die Klinge war mit einer klebrigen Schicht geronnenen Blutes überzogen. Sie zitterte wie die Nadel eines Seismografen, der gerade ein Erdbeben der Stärke vier auf der Richter-Skala registrierte. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab und eine Gänsehaut wanderte über seinen Körper.

Plötzlich hörte er Schritte. Schwere Stiefel auf dem Asphalt. Sein Mund wurde trocken.

„Polizei! Lassen Sie das Messer fallen!“

Langsam drehte er sich um. Es waren zwei Beamte. Eine kleine, stämmige Frau und ein hochgewachsener, hagerer Mann. Sie hatten ihre Dienstwaffen auf ihn gerichtet.

„Lassen Sie das Messer fallen, sofort!“, rief die Polizistin.

Die Pistole in ihrer Hand zitterte noch stärker als ihre Stimme. Sie würde nicht schießen. Ganz anders als ihr Kollege.

„Messer weg“, knurrte dieser.

Er sah auf die Klinge, die seine Finger noch immer umklammert hielten. Sie war wie festgeklebt. Er konnte sie nicht fallen lassen, so sehr er es auch wollte. Sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Seine Lippen öffneten sich. Er suchte den Blick des Polizisten und quälte sich einen letzten Laut ab:

„Aragorn!“

Einen Herzschlag später peitschte ein Schuss durch die Gasse. Er spürte noch die Wucht des Einschlags, die seinen Körper zurückwarf, während das Projektil Haut, Muskeln und Blutgefäße an seinem Hals zerfetzte. Dann stürzte sein Bewusstsein in eine tiefe, grauenvolle Dunkelheit.

1

London, Februar 2023

Chief Inspector Olivia Jenner saß in ihrem Büro und kämpfte gegen die Gravitation an. Wie verführerisch es wäre, die Wange einfach auf der Plastikablage des Schreibtisches zur Ruhe zu betten und für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Sie schüttelte den Gedanken ab, griff nach der Tasse und nahm einen weiteren großen Schluck in der Hoffnung, dass der extra starke Kaffee ihr den dringend notwendigen Energieschub verpassen würde.

Doch ein Blick auf ihren Kalender und insbesondere auf den Termin mit Greg Waltham, vor dem es sie schon seit Wochen graute, erstickte den Energiefunken, den das Koffein in ihrem Körper anfachen sollte. Sie atmete tief durch und lehnte sich zurück. Was für ein Mist!

Olivia mochte ihren Job. Die Polizeistation in Wandsworth war eine überschaubare Welt und die Leitungstätigkeit ließ ihr genügend Freiraum für die praktische Ermittlungsarbeit, die sie so sehr liebte. Aber manchmal brachte der Job Aufgaben mit sich, die so unerfreulich waren, dass sie sich wünschte, doch nur eine einfache Streifenpolizistin zu sein, die sich mit diesem Kram nicht auseinandersetzen musste.

Es klopfte an der Tür und Greg Waltham trat ein. Noch ehe sich der Gestank nach abgestandenem Zigarettenrauch und schalem Bier in ihre Nase drängte, sah sie, dass er betrunken war. Seine Augen waren blutunterlaufen, die feisten Wangen gerötet und von einem feinen Netz aus dunkelblauen Äderchen durchzogen. Seine rechte Hand zitterte, obwohl er versuchte, sie mit der linken an seinem ausladenden Bauch zu fixieren. Sein Gang war steif und ungelenk. Der oberste Knopf der Uniformjacke stand offen und als Olivia genauer hinsah, erkannte sie, dass die gesamte Leiste falsch zugeknöpft worden war, sodass das unterste Loch frei über Gregs Schritt baumelte. Auf der Hose war ein eingetrockneter Fleck zu erkennen, der nach einer Mischung aus Ketchup und Mayonnaise aussah. Sie deutete auf den Stuhl vor sich und Waltham setzte sich. Das Möbelstück knarrte, als er sich zurücklehnte. Hoffentlich hielt die Rücklehne!

„Du weißt, warum ich dich zu diesem Gespräch gebeten habe?“, begann sie.

Er zuckte mit den Achseln und kämpfte dabei gegen ein Gähnen an, als ob diese minimale Bewegung ihn schon überanstrengte.

Olivia seufzte. „Greg, so kann es nicht mehr weitergehen.“

Er kniff die Augen zusammen, die dadurch unter den Wülsten seiner buschigen Brauen verschwanden. „Was kann so nicht weitergehen?“

Seine Worte ließen noch mehr Bier- und Zigarettendunst in Olivias Richtung wabern. Sie erhob sich und kippte das Fenster, dann nahm sie wieder Platz und fixierte Greg.

„Du musst dein Alkoholproblem endlich in den Griff bekommen“, sagte sie.

Seine Mundwinkel zuckten. „Ich habe kein Problem mit Alkohol“, sagte er und sah sie grinsend an. Olivia ahnte, was nun kommen würde.

„Nur ohne.“ Er lachte, aber das anfängliche Bellen verwandelte sich rasch in ein keuchendes Würgen. Olivia griff instinktiv nach dem Papierkorb unter ihrem Tisch und stellte ihn vor Greg hin. Doch der Kollege schüttelte den Kopf. Er hustete zwei Mal, atmete tief durch und sagte: „Alles in Ordnung.“

Olivia schnaubte. „Nein“, sagte sie. „Nichts ist in Ordnung. Du kommst betrunken zum Dienst, und das nicht zum ersten Mal.“

„Ich bin nicht betrunken.“

„Soll ich den Alkomat holen?“

Er zuckte zusammen. „Vielleicht habe ich gestern ein Bier zu viel zum Abendessen gehabt“, murmelte er.

„Wohl eher heute Morgen zum Frühstück.“

Greg senkte den Kopf. Seine Schultern sackten nach unten und sein ganzer Körper sank in sich zusammen. Olivias Wut verpuffte und an ihre Stelle trat Mitleid.

„Ich will dir nichts Böses“, sagte sie in einem deutlich freundlicheren Tonfall. „Aber es gibt Beschwerden von Kollegen, und auch von der Frau, bei der du gestern den Einbruch aufnehmen solltest.“

„Das war ein Versehen“, murmelte er.

„Dass du über deine Füße gestolpert und in eine Glasvitrine gefallen bist? Ein Wunder, dass du dich dabei nicht verletzt hast.“

Er sah zu Boden.

„Greg, ich setze dir hiermit ein Ultimatum. Kümmere dich um dein Alkoholproblem. Such dir Hilfe. Mach eine Entziehungskur. Ich stehe hinter dir. Aber so kann es nicht weitergehen. Wenn du bis Ende des Monats nichts unternommen hast, werde ich ein Disziplinarverfahren einleiten müssen, und du weißt, was das für Konsequenzen haben kann.“

„Ich habe kein Alkoholproblem“, sagte er leise.

Sie seufzte. „Oh doch, das hast du. Denk darüber nach.“

Sie stand auf und er erhob sich ebenfalls. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, kippte nach hinten und krachte auf den Boden. Greg benötigte drei Anläufe, bis es ihm gelang, sich so weit nach vorne zu bücken, dass er das Möbelstück aufheben und wieder vor Olivias Schreibtisch stellen konnte. Sie beobachtete, wie er sich danach schwankend aus ihrem Büro entfernte. An der Tür wäre er beinahe mit Omar zusammengestoßen. Der Anblick des jungen, fitten, immer wohlriechenden und vor allem nüchternen Kollegen, der erst seit zwei Monaten in Wandsworth arbeitete, hellte Olivias Stimmung augenblicklich auf.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Sie winkte ab. „Personalgespräche zu führen, gehört eindeutig nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.“

Omar lächelte. „Das kann ich mir vorstellen. Wenn man einen echten Serienkiller geschnappt hat, müssen administrative Tätigkeiten todlangweilig sein.“

Sie winkte ab. „Das ist bereits sieben Jahre her, und geschnappt habe ich ihn auch nicht. Dass wir den Kerl auf frischer Tat ertappt haben, war reiner Zufall.“

„Ich glaube nicht an Zufälle. Sie waren ihm auf den Fersen und haben ihn erwischt. Fertig.“

Olivia wollte gerade nicht darüber sprechen, deshalb fragte sie: „Was gibt es denn?“

Omars Miene verdüsterte sich. „Können Sie bitte mal in den Befragungsraum mitkommen?“

Sie warf einen Blick auf ihren Terminkalender. In zwanzig Minuten stand ein Telefonat mit dem Leiter des Administrationsdirektorats der Metropolitan Police an. Wahrscheinlich wollte er wieder an ihrem Stellenschlüssel schrauben.

„Kann das nicht Berners übernehmen?“

Omar schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nicht.“

Sie folgte ihm durch das Großraumbüro in den rückwärtigen Bereich der Dienststelle, wo sich die Befragungsräume und die Kammer des Erkennungsdienstes befanden, in der Fingerabdrücke und Fotos angefertigt wurden. Omar öffnete die Tür zum Befragungsraum 1 und sie trat ein. Als Olivia die Gestalt erkannte, die auf dem unbequemen Stuhl kauerte, schossen ihre Augenbrauen in die Höhe.

„Tim!“

Der Junge hob den Kopf. Sein Gesicht war leichenblass. Sogar aus den zitternden Lippen war jede Farbe gewichen. Er starrte sie mit großen Augen an.

Sie hörte, wie Omar die Tür hinter sich schloss.

„Was macht mein Sohn hier?“, fragte Olivia verwirrt.

Der Kollege räusperte sich. „Wir haben ihn mit einer leider nicht unbedeutenden Menge Marihuana aufgegriffen und da er bereits achtzehn Jahre alt ist, konnten wir ihn nicht einfach nur verwarnen und wieder gehen lassen.“

Olivia schloss die Augen. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken.

„Wo haben Sie ihn erwischt?“

„Wir haben die Dealer in Putney Heath observiert und dabei beobachtet, wie Ihr Sohn mit einem der Kerle ins Geschäft gekommen ist. Der andere Typ sitzt im zweiten Vernehmungsraum. Für den wird es richtig brenzlig, denn der hatte noch ein halbes Pfund von dem Zeug bei sich.“

„Wie viel hat Tim gekauft?“

„Zehn Gramm“, sagte Omar.

„Zehn Gramm? Heilige Scheiße!“

Omar trat einen Schritt zurück und Tim zuckte zusammen.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, zischte Olivia.

Tim wich ihrem Blick aus und starrte die Tischplatte an.

„Soll ich rausgehen?“, fragte der Kollege.

Olivia schüttelte den Kopf. „Sie bringen das hier bitte ordnungsgemäß zu Ende und danach fahre ich den Herrn nach Hause.“

Sie kehrte in ihr Büro zurück, rief im Vorzimmer des Direktors an und bat seine Sekretärin, das Telefonat auf den Nachmittag zu verlegen.

Als sie zehn Minuten später zum zweiten Mal das Verhörzimmer betrat, setzte Tim gerade seine Unterschrift unter das Protokoll.

„Komm“, sagte sie und bugsierte ihn durch die Hintertür in Richtung des Parkplatzes. Ihr Sohn ließ sich auf dem Beifahrersitz ihres Nissans nieder. Sie startete den Wagen und fuhr los. Eine Weile schwiegen sie. Olivia spürte, wie die Wut in ihr brodelte und immer mehr hochkochte. Schließlich platzte es aus ihr heraus: „Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Tim hob den Kopf und sah sie an. Sie schaute kurz auf die Straße und als sie sicher war, dass sie geradeaus fuhr und nicht mit dem spärlichen Gegenverkehr kollidieren würde, begegnete sie seinem Blick. In seinen Augen standen Tränen, doch die vorherrschende Emotion war nicht Traurigkeit, Furcht oder gar Scham, es war Trotz.

„Ich wollte einfach ein bisschen Spaß haben“, sagte er.

„Für ein bisschen Spaß hätte auch ein Gramm gereicht. Dann wärst du mit einer Verwarnung und neunzig Pfund Strafe davongekommen“, rief sie. „Ist dir klar, dass dich eine Anklage erwartet?“

Er zuckte mit den Achseln. „So schlimm wird das schon nicht werden.“

„Sag mal, hast du sie noch alle?“

Der Wagen ruckte zur Seite, als sie das Lenkrad verzog, und Olivia hatte Mühe, ihn wieder in die Spur bringen.

„Ich werde vor Gericht schön brav Reue zeigen, dann wird das Verfahren bestimmt eingestellt“, sagte Tim. „Du brauchst dir da gar keinen Kopf machen.“

„Ach so, ich muss mir also keine Sorgen machen, wenn mein achtzehnjähriger Sohn Drogen konsumiert.“

„Es ist doch nur Gras.“

„Auch das Zeug hält man am besten von den Gehirnen heranwachsender Menschen fern, vor allem, wenn diese nur mit Mühe und Not eine Meningitis überlebt haben.“

Tims Stimme schraubte sich in Höhen, die sie seit dem Einsetzen seiner Pubertät vor vier Jahren nicht mehr bei ihm gehört hatte: „Das schiebst du doch nur vor. Du machst dir überhaupt keine Sorgen um mich oder um mein heranwachsendes Gehirn. Das mit der Meningitis ist schon ewig her. Dir ist nur wichtig, dass die Kollegen nicht über dich reden. Es geht dir lediglich um deinen Job. So wie immer. Ich bin dir scheißegal.“

„Das nimmst du sofort zurück!“, rief Olivia.

„Nein“, schrie Tim. „Wenn dir wirklich etwas an mir, Lucy, Wendy oder Dad liegen würde, würdest du mehr Zeit mit uns verbringen, aber für dich gibt doch immer nur deine Arbeit. Die scheint ja so viel spannender zu sein als wir.“

„Ich …“

„Ja, ich kenne deine Ausreden zur Genüge“, knurrte er.

Sie hatten inzwischen die Einfahrt zu dem schmalen Reihenhaus erreicht, in dem Olivia mit ihrer Familie lebte. Ohne sie noch einmal anzusehen, öffnete Tim die Tür, stieg aus und knallte sie geräuschvoll hinter sich zu. Olivia sah ihrem Sohn hinterher. Mit zitternden Fingern wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel, dann legte sie den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück zur Dienststelle.

2

„Gib Paddy sofort her!“ Ellas Augen füllten sich mit Tränen. Sie streckte ihre knubbeligen Fingerchen nach dem Stofftier aus, das ihr großer Bruder gerade über ihrem Kopf außerhalb ihrer Reichweite hin und her schwenkte.

„Hol ihn dir!“ Dan tanzte triumphierend um das Mädchen herum.

„Dan!“, rief Susanna, ließ die Bürste fallen und eilte aus dem Bad ins Kinderzimmer. Dabei verfing sich eine ihrer in alle Richtungen abstehenden, krausen Haarsträhnen am Türgriff. Ihr Kopf wurde mit einem schmerzhaften Ruck zurückgerissen.

„Au!“, fluchte sie und befreite sich vorsichtig. Währenddessen verrannen wertvolle Augenblicke, in denen sie die Situation hätte entschärfen können. Ellas leises Weinen und ihre vergeblichen Bitten steigerten sich nun zu einem lautstarken Geheule. Ihr Gesicht lief knallrot an und sie schrie in einer Tonlage, die dünnwandige Weingläser zum Platzen gebracht hätte. Dan schien die hilflose Verzweiflung seiner Schwester offenbar nur noch mehr anzuspornen, denn er rief: „Heulsuse, Pampelmuse“, und hüpfte kreischend auf und ab, während er mit dem Paddington Bär vor Ellas Augen herumfuchtelte.

Susanna griff nach dem Stofftier und entwand es ihm. Ihr Sohn stieß einen protestierenden Laut aus, doch sie versuchte sich an ihrem strengsten Blick und dieser brachte den Sechsjährigen wie immer zuverlässig zum Verstummen.

„Geh runter und iss dein Müsli. Aber sofort!“

Dan gehorchte ohne Widerrede und während er die Holztreppe hinab trampelte, kniete sie sich vor Ella hin und hielt ihr den Teddy entgegen. Die Vierjährige griff danach und drückte das Kuscheltier fest an ihren bebenden Körper. Susanna nahm ihre Tochter in den Arm und wiegte sie sanft hin und her. Sie schloss die Augen und sog Ellas Duft nach Milch, nach Honig und nach Mandeln ein.

„Susi? Alles in Ordnung bei dir?“

Die etwas zu hohe und etwas zu laute Stimme ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. Wie sie es verabscheute, Susi genannt zu werden!

„Wir kommen gleich“, rief sie. Sie wischte Ella mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen. Da erst wurde ihr bewusst, dass ihre Tochter noch im Schlafanzug steckte. Rasch half sie ihr, in die Kleidung zu schlüpfen, die sie am Vorabend bereitgelegt hatte.

„Lass dich anschauen“, sagte sie schließlich und schob das Mädchen vor den Spiegel.

„Ich find mich hübsch“, sagte Ella und zum ersten Mal seit dem Streit mit ihrem Bruder erschien ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen. „Aber du musst dringend deine Haare kämmen.“

„Oh nein! Geh schon mal runter“, sagte Susanna. „Grandma hat bestimmt etwas Leckeres zum Frühstücken für dich.“

Mit dem Bären im Arm hüpfte Ella die Treppe hinab, während Susanna ins Bad eilte, um ihre widerspenstige Mähne endlich in Form zu bringen. Zehn Minuten später als geplant betrat sie die Küche. Die Kinder saßen an dem kleinen Tisch und löffelten ihr Müsli. Ihre Mutter stand hinter Ella und streichelte dem Mädchen über den Kopf, während sie die andere Hand vor den Mund hielt, offenbar, um ein Kichern zu unterdrücken.

„Was ist denn so komisch?“, fragte Susanna und griff nach einer der schon abgekühlten Toastscheiben, die auf einem Teller neben der Spüle bereitlagen.

„Ach, diese kleine Maus hier hat mir gerade erzählt, dass sie eine Hexe gesehen hat. Als ich sie gefragt habe, wann das gewesen ist, hat sie mir gesagt gerade eben und als ich dann gefragt habe, ob sie die Hexe schon mal vorher gesehen hat, hat sie gesagt: Aber klar, es ist Mama, wenn sie die Haare nicht gekämmt hat.

Ihre Mutter prustete los und die Kinder schlossen sich ihr an. Susanna verdrehte die Augen. Ihr Blick fiel anschließend auf die Uhr. „Was, schon so spät?“ Sie biss ein gutes Drittel des ungebutterten Toasts ab, trank einen Schluck aus der Teetasse und eilte dann in ihr Arbeitszimmer. In einer halben Stunde würde die Sitzung des Fakultätsrates beginnen. Das würde sie nie im Leben schaffen.

„Kannst du die Kinder bitte in den Kindergarten bringen?“, fragte sie ihre Mutter, während sie den obersten der drei Aktenordner vom Tisch nahm und ihn in ihre Umhängetasche steckte.

„Puh, das kommt aber ein wenig plötzlich. Ich habe heute wieder schlimmes Rheuma“, erwiderte ihre Mutter und hielt sich mit einer Hand die Hüfte. „Ich werde mich nie an die Kälte in diesem Land gewöhnen.“

„Du bist im Alter von zwei Jahren nach London gekommen“, sagte Susanna. „Da solltest du inzwischen mit dem Wetter zurechtkommen.“

„Wer keine chronischen Schmerzen kennt, dem kommt so etwas natürlich leicht über die Lippen“, sagte ihre Mutter und überkreuzte die kurzen Arme vor ihrem massigen Busen.

Susanna unterdrückte ein Stöhnen. Sie musste sich am Riemen reißen, so schwer es ihr manchmal auch fiel.

„Stimmt, da hast du recht“, sagte sie. „Kannst du Dan und Ella denn zum Kindergarten bringen oder nicht?“

Ihre Mutter legte daraufhin eine der Kunstpausen ein, über die Susanna sich schon geärgert hatte, als sie selbst erst in Ellas Alter gewesen war. Schließlich seufzte die alte Frau.

„Nun gut. Ich werde eben die Zähne zusammenbeißen müssen, dann wird es schon gehen. Abholen muss ich die beiden ja auch wieder, oder? Wann kommst du heute Abend nach Hause?“

„So gegen neun Uhr, denn ich habe noch eine Vorlesung“, sagte Susanna, ignorierte das Stöhnen ihrer Mutter und nahm das Handy von der Ladestation. Vier neue Nachrichten. Sie öffnete die erste und zuckte zusammen. Dekan Walters hatte ihr geschrieben.

Vielleicht können wir vor der Sitzung noch kurz miteinander sprechen? Kommen Sie doch einfach in mein Büro.

Sie schluckte. Dafür hatte sie keine Zeit. Stattdessen würde sie sich nun die nächsten fünfundzwanzig Minuten Gedanken darüber machen, worüber der Dekan mit ihr reden wollte. Sie schrieb ihm zurück, dass sie es nicht schaffen würde, dann eilte sie in die Küche, um Dan einen Kuss auf die Stirn zu geben und Ella und ihren Bären ganz fest zu drücken.

„Können wir heute Abend Paddington Bär anschauen?“, fragte ihre Tochter.

„Ach nein, nicht schon wieder“, rief Dan.

„Das müsst ihr mit Grandma klären, ich komme leider erst spät nach Hause.“

Die Antworten ihrer Kinder und das Klagen ihrer Mutter hörte sie schon nicht mehr, da sie bereits den Vorgarten durchquerte und in Richtung der Tube-Station rannte.

Als sie schwitzend und abgehetzt den Bahnsteig der Haltestelle Clapham North erreichte, sah sie allerdings nur noch die Rücklichter der Bahn. Na super, jetzt würde sie auf jeden Fall zu spät zur Sitzung kommen.

Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Der Dekan hatte ihr geantwortet.

Schade.

Das Herz sackte ihr in die Hose. Was sollte das denn bedeuten? Sie spürte den schwer zu unterdrückenden Impuls ihres Gehirns, sich ausführlich mit dieser Frage und allen daraus resultierenden Konsequenzen auseinanderzusetzen, hielt den anlaufenden Denkprozess aber mit einem kräftigen, gedachten Stopp an, noch ehe ihr Frontalhirn und ihr limbisches System voll in Aktion treten konnten. Es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Sie musste Walters fragen, was es mit seinen Nachrichten auf sich hatte, und dazu musste sie erst einmal bei der Arbeit ankommen.

Als sie um zehn Minuten nach neun vollkommen abgehetzt in den Sitzungssaal der Fakultät für Sozialwissenschaften an der University of Roehampton platzte, hatte das Meeting natürlich bereits begonnen. Dekan Walters stand vor einer Leinwand und deutete gerade mit einem Laserpointer auf steil in die Höhe schießende Balkendiagramme. Susanna nahm ihren Platz auf der linken Seite des Tischhufeisens ein. Enoch Daltrey, der Professor für kognitive Psychologie, der ihr gegenübersaß, zog eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben und deutete auf die Uhr an der Wand hinter dem Dekan.

Schlaumeier! Sie wusste selbst, dass sie zu spät dran war. Aber Daltrey war schon immer ein Mansplainer gewesen.

„… sind wir leider durch die Vorgaben der Regierung gezwungen, Einsparungen im mittleren sechsstelligen Bereich zu realisieren“, hörte sie Walters sagen.

Romuald Murdoch, Professor für Psychologische Diagnostik, dessen schottischer Akzent bisweilen nur schwer zu decodieren war, meldete sich nun zu Wort.

„Was bedeutet das konkret?“

Der Dekan schürzte die Lippen. „Das heißt, dass wir gezwungen sind, eine komplette Professur zu streichen.“

Susanna stimmte in das kollektive Stöhnen der Kolleginnen und Kollegen des Fachbereichs Psychologie mit ein. Alle waren sie gerade hier versammelt. Sieben Professorinnen und sechs Professoren. Eine oder einer von ihnen würde also seinen oder ihren Job verlieren. Susannas Puls beschleunigte sich und ihre Fingerspitzen wurden feucht. Diese Nachricht rief eine Stressreaktion in ihrem vegetativen Nervensystem hervor.

„Wie werden Sie entscheiden, welche Professur gestrichen wird?“, fragte Debbie Miller, eine drahtige Amerikanerin, der man ihre knapp sechzig Lebensjahre überhaupt nicht ansah. Ob das daran lag, dass sie das Fach Entwicklungspsychologie vertrat?

Ehe der Dekan antworten konnte, meldete sich Enoch Daltrey zu Wort. Beim Klang seiner näselnden Stimme stellten sich unwillkürlich die Härchen an Susannas Oberarmen auf.

„Das ist doch klar“, sagte er, nahm seine Nickelbrille ab und begann, die Gläser zu putzen. „Wir schauen uns an, wer am wenigsten Drittmittel eingeworben hat. Weitere Kriterien könnten die Anzahl und die Qualität der Veröffentlichungen sein. Das lässt sich ja glücklicherweise einfach berechnen, wenn wir uns die Impactfaktoren der Fachzeitschriften ansehen, in denen unsere Paper publiziert wurden.“

Er lehnte sich zurück und grinste selbstzufrieden. Sein Lehrstuhl beschäftigte nämlich so viele Doktoranden, dass er selbst kaum etwas veröffentlichen musste, da er in den Fachartikeln seiner Mitarbeiter automatisch als Mitautor geführt wurde. Susanna hingegen hatte im letzten Jahr lediglich zwei Artikel in wenig einflussreichen Journals unterbringen können. Sie ließ ihren Blick über ihre Kolleginnen und Kollegen schweifen und in diesem Augenblick traf die Erkenntnis sie wie eine Ohrfeige … alle Anwesenden hatten wesentlich mehr veröffentlicht als sie in den drei Jahren, seit sie die Professur für Neuropsychologie innehatte.

„Wir werden einen Kriterienkatalog erarbeiten“, sagte der Dekan nun und fügte hinzu: „Einen fairen und transparenten Kriterienkatalog.“

„Bis wann wird die Entscheidung fallen?“, fragte Murdoch.

„Bis Ende nächster Woche“, erwiderte Walters. „Bei der Sitzung in zehn Tagen werden Sie alle die Gelegenheit bekommen, Argumente vorzulegen, warum Ihre Professur erhalten bleiben sollte.“

Susanna spürte, wir ihre Kehle eng wurde. Zehn Tage blieben ihr, um zu begründen, warum sie nicht gefeuert werden sollte. Ihre Gedanken begannen damit, um die Frage zu kreisen, was sie nun tun sollte. Ihr emsiges und niemals untätiges Gehirn wagte einen Blick in die Zukunft. Es malte ihr allerhand Szenarien aus, von denen eines katastrophaler war als das andere. Welche Chancen hatte eine alleinerziehende Neurowissenschaftlerin mit einer leider nur mittelprächtigen Veröffentlichungshistorie, eine gleichwertige Professur an einer Uni im Vereinigten Königreich zu ergattern? Waren durch die Auswirkungen des Brexits nicht alle Universitäten und Forschungseinrichtungen zum Sparen gezwungen? Wie sollte sie den Stress eines weiteren Bewerbungsmarathons schultern, wenn ihr schon die alltäglichen Aufgaben als Lehrende, Forschende und Mutter über den Kopf zu wachsen drohten?

Die Versammlung löste sich langsam auf. Susanna wollte sich am liebsten an ihren Schreibtisch verkriechen, um dort in Ruhe ihre Optionen durchzuspielen, doch Dekan Walters winkte sie zu sich. Er lotste sie in sein Büro und bot ihr einen Sitzplatz an.

„Schade, dass ich Sie nicht vorwarnen konnte“, sagte er.

„Ich habe die Tube verpasst. Es war mal wieder stressig heute Morgen.“

Er nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Es ist schon bewundernswert, wie sie das alles managen.“

Susanna zuckte mit den Achseln. „Das müssen viele Frauen jeden Tag leisten, ohne dafür Lob oder Anerkennung zu ernten.“

„Na ja, wie auch immer. Die Situation ist äußerst ernst.“

Susanna schluckte, obwohl sich kaum noch Speichel in ihrem Mund befand.

„Sie wollen meine Professur streichen, nicht wahr?“

Er seufzte leise. „Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass Sie die schlechtesten Karten haben.“

„Kann ich denn überhaupt noch etwas bewirken oder ist alles schon entschieden?“

Er sah sie eine Weile stumm an, dann sagte er: „Nein, entschieden ist noch nichts. Aber um das Spiel nicht zu verlieren, benötigen Sie dringend einen Trumpf. Zeigen Sie den Leuten vom Bildungsministerium, warum ausgerechnet Ihr Fachbereich es verdient, finanziert zu werden.“

„Wie soll ich das denn in nur zehn Tagen anstellen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Lassen Sie sich etwas einfallen, Professor Madueke!“

3

Olivia stellte den Nissan in der Einfahrt ab. Ihr Schädel brummte. Es war spät geworden. Wieder einmal. Das Meeting mit dem Direktor hatte erst um achtzehn Uhr stattfinden können und daher war sie bis halb acht damit beschäftigt gewesen, mit ihm über Stellenschlüssel, Personalkosten und diverse Kennzahlen zu diskutieren.

Im Laufe des Gesprächs hatte sie begriffen, dass es nicht mehr nur darum ging, ob eine oder zwei Vollzeitstellen gestrichen wurden. Die gesamte Station stand auf der Kippe. Der Direktor hatte es zwar vermieden, das Ganze deutlich auszusprechen, aber aus einem halben Dutzend Andeutungen wie „man muss alles auf den Prüfstand stellen“ und „es gibt ohnehin zu viele Dienststellen in London“ hatte sie sich erschließen können, worum es eigentlich ging.

Olivia war zuversichtlich, dass sie das Schlimmste vorerst abgewendet hatte, denn der Direktor hatte weder Kündigungen noch vorzeitige Pensionierungen von ihr verlangt. Sie war erleichtert darüber, keine weiteren Personalgespräche führen zu müssen. Wenn sie an ihre Unterredung mit Greg zurückdachte, lief ihr immer noch eine Gänsehaut über den Rücken. Falls es zu Stellenstreichungen kommen sollte, würde es ihn als Ersten treffen. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm mitteilte, dass er sich einen neuen Job suchen musste?

Sie stieg aus ihrem Wagen. Als sie die Haustür öffnete, wehte ihr der Geruch einer Lasagne entgegen. Eine Welle der Dankbarkeit durchströmte sie. Andy hatte also das Kochen übernommen … wieder einmal.

Olivia streifte ihre Schuhe ab, hängte die Jacke auf den Haken im Flur und trat in die Küche. Ihr Mann bückte sich gerade zum Ofen hinunter und streckte ihr sein inzwischen ein wenig ausladendes Hinterteil entgegen. Ächzend erhob er sich und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der hohen Stirn.

„Hi Andy“, sagte sie.

Er drehte sich um. „Hi“, erwiderte er, trat auf sie zu und küsste sie auf die Wange. „Kannst du mir verraten, was mit Tim los ist?“, fragte er, während er die Plastiktüte mit dem Salat öffnete und die bereits etwas welken Blätter in eine Schüssel fallen ließ. „Er hat sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und hört hirnlosen Gangsta-Rap in einer Lautstärke, dass die Wände wackeln.“

Olivia vernahm unter dem Rauschen des Umluftofens tatsächlich ein Wummern. Sie atmete tief durch. „Ein Kollege von mir hat Tim heute dabei ertappt, wie er Marihuana gekauft hat.“

Sie sah, dass Andy im Begriff war, die Schüssel fallen zu lassen, deshalb griff sie vorsorglich danach.

„Wie bitte?“, rief er entsetzt.

Sie nickte. „Das ist aber noch nicht alles. Da er mehr als fünf Gramm bei sich hatte, wird es auf jeden Fall zu einer Anklage kommen.“

Andy schlug mit der flachen Hand auf die Anrichte. Die dort bereitgestellten Teller schepperten laut.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“

Sie legte einen Arm um seine Schulter. Früher hatte diese Geste immer bewirkt, dass er sich entspannte, aber heute blieb er stocksteif stehen.

„Und wo warst du so lange?“, fragte er.

Sie hörte den Vorwurf in seinem Tonfall, an der Art, wie er versuchte, die Gefühle aus seinen Worten herauszuhalten, und es doch nicht schaffte. Seine Stimme zitterte.

„Ich hatte eine Besprechung mit dem Direktor.“

„Das ist natürlich wichtiger, als sich um unseren Drogen missbrauchenden Sohn zu kümmern.“

Andys Ärger war einer Bitterkeit gewichen, die Olivia ganz und gar nicht gefiel. Sie wollte etwas erwidern, doch plötzlich stand Wendy, ihre dreizehnjährige Tochter, im Türrahmen. Sie strahlte.

„Ich habe ein A für mein Bild bekommen“, sagte sie stolz. Olivia versuchte, ein überzeugend wirkendes Lächeln aufzusetzen. Sie trat auf ihre Tochter zu und nahm sie in den Arm.

„Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte sie.

Wendy löste sich von ihr. „Kannst du mich morgen zum Ballett fahren?“

Olivia zögerte. Sie hatte ihren Terminkalender nicht im Kopf.

„Ich muss mal schauen, ich …“, setzte sie an, doch Andy unterbrach sie sofort.

„Ich fahre dich. Mama hat bestimmt keine Zeit.“

Wendy stürmte auf ihren Vater zu und umarmte ihn.

„Gibt es bald Essen?“, hörte Olivia Lucy, ihre sechzehnjährige Tochter fragen. Sie saß im dunklen Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihr Gesicht wurde vom Handybildschirm beleuchtet, auf den sie unverwandt starrte, während ihre Finger in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit darauf herumtippten.

„Gleich fertig“, rief Andy. „Holst du bitte Tim?“

 

Das Abendessen war eine unerfreuliche Angelegenheit. Wendy plapperte fröhlich drauflos, erzählte von ihrem Tag und was sie mit ihren Freundinnen alles erlebt hatte. Lucys Handy brummte alle paar Sekunden und deren Aufmerksamkeit wanderte zunehmend vom Teller unter den Tisch. Tim mied jeden Blickkontakt ebenso wie jede Konversation. Er stocherte nur in seiner Lasagne herum und verkündete irgendwann, dass ihm schlecht sei, ehe er sich wieder in sein Zimmer verzog.

„Hat der seine Tage?“, fragte Wendy und kicherte. Olivia war allerdings nicht nach Späßen zumute. Sie wollte Tim folgen, doch dann hörte sie, wie ihr Sohn im ersten Stock seine Zimmertür zuknallte und den Schlüssel im Schloss umdrehte.

„Ich rede später mit ihm“, sagte Andy, ohne sie anzusehen.

Sie würgte ein paar Bissen Lasagne hinunter, obwohl ihr inzwischen jeglicher Appetit abhandengekommen war. Nach dem Essen halfen ihre Töchter Andy beim Einräumen der Spülmaschine.

Olivia ließ sich auf das Sofa fallen und spürte, wie der letzte Rest von Energie aus ihrem Körper entwich. Sie fühlte sich so müde und fertig wie schon lange nicht mehr. Sie wollte nicht mehr und sie konnte nicht mehr.

Andy stellte wortlos ein Glas Primitivo vor ihr auf den Wohnzimmertisch und setzte sich dann in den Sessel auf der gegenüberliegenden Seite.

„Danke“, sagte Olivia, griff nach dem Wein und nahm einen großen Schluck. Sie spürte den Alkohol sofort. Er stieg ihr zu Kopf und gleich darauf wurde alles ein wenig leichter. Ob Greg deswegen mit dem Trinken begonnen hatte? Vielleicht hatte ein Bier pro Abend irgendwann nicht mehr ausgereicht, um sich zu entspannen. Waren dann zwei oder drei daraus geworden?

„Wir müssen reden.“ Andys Tonfall war ruhig, doch seine Sachlichkeit fühlte sich unheilvoller an, als wenn er sie angeschrien hätte.

„Ja, das stimmt wohl“, sagte sie.

„So kann es nicht weitergehen“, meinte er. „Dass Tim mit Drogen erwischt wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs. Bei uns läuft schon lange nichts mehr rund.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Wie meinst du das?“

Er stieß ein freudloses Lachen aus. „Dass dir das vollkommen entgangen ist, ist mal wieder so typisch. Aber du bist ja auch nie zu Hause.“

„Das stimmt nicht“, erwiderte sie, doch schon während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass er recht hatte. „Ich komme oft spät, aber dann bin ich zu Hause.“

„Körperlich anwesend zu sein ist das eine, in Gedanken bist du aber oft nicht da, und das spüren wir alle. Besonders aber die Kinder.“

„Ich …“ Sie wollte sich verteidigen, doch Andy hob die Hand.

„Ich bin noch nicht fertig. Olivia, ich liebe dich. Du weißt, dass ich zu dir stehen werde, egal, was auch kommen mag. Deshalb muss ich jetzt auch eingreifen. So kann es nicht weitergehen. Du entfernst dich immer mehr von uns. Ist dir das nicht aufgefallen?“

„Doch, schon“, sagte sie. „Mein Job …“

„Es ist nicht nur dein Job. Es ist auch dieser verdammte Fall, der dich einfach nicht mehr loslässt. Du bist vollkommen besessen davon!“

Sie hob den Blick. „Ich bin nicht besessen, ich habe einfach nur Zweifel.“

Er schüttelte den Kopf. „Wirf mal einen Blick in dein Arbeitszimmer. Das ist doch nicht mehr gesund. Bitte, ich versuche es noch einmal im Guten. Schmeiß das ganze Zeug weg. Lass uns einen Hobbyraum daraus machen oder was auch immer. Vergiss den Fall! Was ist wichtiger, die Kinder und ich oder ein geisteskranker Frauenmörder?“

Sie zögerte. Dass sie ihm nicht spontan darauf antworten konnte, erschreckte sie.

„Überleg es dir“, sagte Andy. „Ich rede jetzt mit Tim.“

Er erhob sich und ging die Treppe hinauf. Olivia griff nach dem Weinglas und nahm einen weiteren Schluck. Andys Worte hallten in ihrem leicht betäubten Kopf nach. War das eine Warnung gewesen? Hatte er ihr ein Ultimatum gestellt, so wie sie es heute bei Greg getan hatte? Was würde er tun, wenn sie seiner Bitte nicht nachkam? All diese Fragen stürmten durch ihren Kopf und versuchten, sie daran zu hindern, sich die eine Frage zu stellen, die wirklich zählte: Hatte er recht? Natürlich war ihre Familie wichtiger als der Fall, der sie nicht mehr losließ. Sogar unendlich viel wichtiger. Die Frage war absurd und doch …

Olivia erhob sich und ging auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Sie zögerte kurz, dann holte sie den Schlüsselbund aus ihrer Tasche, entriegelte das Schloss, drückte die Klinke hinunter und trat in ihr Arbeitszimmer. In der Mitte stand ein alter PC auf einem Tisch, der eingerahmt war von Umzugskartons, in denen kiloweise lose Akten gestapelt waren. Auch die deckenhohen Regale an den drei Seiten des Raumes waren mit Aktenordnern vollgestellt. Nur ein kleiner Fleck an der Wand neben dem Fenster war noch frei. Dort befand sich eine Tafel, auf die sie ins Din A4 Format vergrößerte Fotos von fünf grausam verstümmelten Frauenkörpern geheftet hatte, die der Grund dafür waren, dass sie das Arbeitszimmer stets abschloss, um ihren Kindern den Anblick zu ersparen, den sie selbst nur schwer ertrug.

Alle Bilder waren mit roten Fäden verbunden wie überdimensionale Insekten, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatten. In der Mitte der Anordnung prangte eine Karteikarte, auf die Olivia in Großbuchstaben ein einziges Wort geschrieben hatte: ARAGORN.