Leseprobe Die Pflicht des Dukes

Kapitel eins

Ende Juni, Gut Puddledon

Die verwitwete Lady Havenridge – bei ihren Freunden bekannt als Jo – schritt den Weg vom Hopfenfeld hinauf. Freddie, ihr braun-weißer Spaniel, folgte ihr auf dem Fuß.

„Die Pflanzen sahen gesund aus, nicht wahr, Freddie?“

Freddie stellte seine Brauen über seinen warmen braunen Augen auf und gab ein tiefes Winseln von sich.

Oh, verdammt. Er hatte natürlich recht. Er erinnerte sich genauso gut wie sie daran, was Pen jedes Jahr zu dieser Zeit gesagt hatte: Es spielt keine Rolle, wie die Pflanzen aussehen. Mehltau oder Schädlinge können die gesamte Ernte über Nacht vernichten.

Und wenn das passierte …

Kein Hopfen bedeutete kein Bier. Kein Bier, kein Einkommen. Kein Einkommen, kein Heim. Kein Heim, kein Ort, an dem Jo und all die anderen Frauen und Kinder leben konnten.

Ein Gefühl der Beklemmung machte sich in ihrem Magen breit. Der Hopfen bereitete ihr jedes Jahr Sorgen, aber dieses Jahr war es noch viel, viel schlimmer. Dieses Jahr fehlte Pen, die die Dinge genau im Blick behalten hätte. Und nicht nur sie, sondern auch Caro, die ehemalige Brauerin.

Die Ernte lastete in diesem Jahr allein auf Jos Schultern – genau wie das Überleben des Heims.

Jos Sorge kochte über.

„Zehn Jahre, Freddie! Über zehn Jahre. Wir drei haben das Heim aus dem Nichts aufgebaut, und dann …“ Sie schnippte mit den Fingern. „Mir nichts, dir nichts heiraten beide, verschwinden auf die Anwesen ihrer Ehemänner und verlassen mich.“

Pen hatte den Earl of Darrow im vergangenen Sommer geheiratet, Caro den Viscount Oakland kurz nach Weihnachten.

„Ich verstehe Pen. Ihre Tochter muss an erster Stelle stehen, und der Earl ist Harriets Vater. Aber Caro? Du weißt, wie sie gegenüber Männern fühlt.“

Freddie knurrte. Er teilte die Geringschätzung, die Caro gegenüber dieser Sorte Mensch verspürte.

„Oh, ich freue mich für sie.“ Und das tat sie – wann immer sie sich nicht verlassen und überwältigt fühlte. „Und ich bin dankbar, dass sie ihre Ehemänner dazu bewegt haben, zur Füllung der Heimkasse beizutragen, aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du kennst doch das alte Sprichwort – aus den Augen, aus dem Sinn. Sie werden mit ihren neuen Leben – ihren neuen Familien – beschäftigt sein, und die Zuwendungen werden allzu bald wieder eingestellt werden. Und was wird dann aus uns? Wir verlassen uns ohnehin schon viel zu sehr auf die Launen der Adligen.“

Freddie hob die Augenbrauen.

Nun ja. Er hatte recht. Der Adlige, auf dessen Launen sie sich im Heim am meisten verließen – der Duke of Grainger, der Mann, dem das Gut gehörte und der den Großteil ihrer Unterstützung leistete –, hatte sich als besonders verlässlich herausgestellt.

Gott sei Dank.

„Ich vermute, dem ist so, weil er nicht in den Adel hineingeboren wurde, Freddie. Vielleicht erinnerst du dich, dass der Mann bis vor gut einem Jahr noch ein Londoner Anwalt war.“

Das war eine weitere sehr aufwühlende Zeit gewesen. Die Grippe hatte sich im Hauptsitz des Dukes of Grainger breitgemacht, als der alte Duke, sein Erbe und all seine Ersatzerben sich dort aufgehalten hatten. Genau wie ein großer Teil ihres Haushaltes waren sie krank geworden und innerhalb weniger Tage verstorben. Damit war die Erbfolge so verworren geworden, dass monatelang nicht bekannt gewesen war, wer den Titel als Nächster hatte erben sollen. Jo hatte die Londoner Zeitungen täglich durchkämmt. Sie hatte nach Hinweisen gesucht, jedes Gerücht genauestens zerlegt. Die Zukunft des Heims hatte von diesem Mann abgehangen. Wenn er von der herzlosen Sorte gewesen wäre, wenn er entschieden hätte, Gut Puddledon für seine eigenen Zwecke nutzen zu wollen …

Freddie stieß den Kopf gegen Jos Bein, und sie beugte sich zu ihm herunter und kraulte seine Ohren.

„Aber er hat uns nicht hinausgeworfen, sodass wir unter freiem Himmel hätten schlafen müssen, nicht wahr, Freddie?“ Die Dinge hatten sich zum Guten gewendet. Alles hatte sich viel besser entwickelt, als Jo zu hoffen gewagt hatte. „Du musst zugeben, dass der Duke uns sehr gut unterstützt hat.“ Jo lächelte. „Zumindest nachdem er wusste, was das Heim genau ist.“

Offenbar waren die Bücher des alten Dukes genauso verworren gewesen wie die Erbfolge. Im vergangenen August hatte der neue Duke seinen Freund, den Earl of Darrow, nach Little Puddledon geschickt, um herauszufinden, was oder wer hinter dem kryptischen Eintrag steckte.

Und so hatte der Earl auch Pen wiedergetroffen und herausgefunden, dass er eine Tochter hatte.

Freddie bellte zustimmend, obwohl er als Hund vermutlich nicht vollständig verstand, wie sehr sich Jo mittlerweile auf den Duke verließ. Der Mann schien gesunden Menschenverstand zu haben – sogar außergewöhnlich viel davon. Und er war selbst Vater. Er hatte also Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern.

Kurz nach Pens Heirat hatte Jo begonnen, mit ihm zu korrespondieren. Nachdem auch Caro fortgegangen war, hatte Jo sich immer mehr auf seine Ratschläge verlassen müssen. Es gab niemanden, den sie sonst hätte um Rat fragen können.

Nun, niemanden, dem ich vertraue.

In dem Moment flitzte ein Eichhörnchen quer über den Weg vor ihnen. Freddie gab ein freudiges – und vielleicht auch erleichtertes – Bellen von sich und sprang hinterher.

Einen verrückten Moment lang wünschte sich Jo, sie könnte ihre Sorgen ebenfalls so leicht vergessen, über ein Feld – ein bildliches Feld – laufen und hinter all den neuen Dingen herjagen, die ihr gerade in den Sinn kamen. Sie wünschte sich, zu entkommen …

Entkommen?!

Sie blinzelte und starrte Freddie an, nahm ihn aber kaum noch wahr.

Menschen entkommen aus Fallen. Ich fühle mich nicht wie in einer Falle, oder?

Nein, natürlich tat sie das nicht. Das Heim – das Wohltätige Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern – war keine Falle. Ganz im Gegenteil: Es hatte Jo befreit. Es hatte ihr eine Aufgabe gegeben, als sie diese am dringendsten gebraucht hatte.

Als Freddie – Jos Ehemann Freddie, der gut aussehende, charmante, unverantwortliche Schurke, den sie geheiratet hatte, als sie fast noch ein Mädchen gewesen war – beim Kartenspielen alles verloren, sich in den Kopf geschossen und Jo zur Witwe gemacht hatte, war sie …

Sie war nicht schockiert gewesen. Freddie hatte ein rücksichtsloses Leben geführt. Jo hatte schon fast erwartet, dass es auf diese Weise enden würde. Sie war auch nicht wirklich traurig gewesen. Zumindest war ihre Traurigkeit nicht über die hinausgegangen, die man verspürte, wenn ein Leben zu früh endete. Nein, das Gefühl, an das sie sich am deutlichsten erinnerte, war Furcht, eine schreckliche, lähmende, niederschmetternde Angst, dass sie wieder nach Hause geschickt würde, zurück ins Haus ihres Vaters und unter die Kontrolle dieses Mannes.

Ich blieb nicht lange gelähmt.

Nein. Innerhalb von Minuten hatte sie sich wieder aufgerichtet und sich geschworen, sich nie wieder einem Mann zu unterwerfen – keinem Mann.

Noch immer verspürte sie ein wenig Bewunderung für sich selbst, wie sie ihren Mut zusammengenommen und den alten Duke of Grainger, den Mann, der das Spiel gegen Freddie gewonnen hatte, gebeten hatte, nach Little Puddledon gehen zu dürfen. Und sobald ihre Trauerzeit vorüber gewesen war, hatte sie ihn überzeugt, Gut Puddledon in ein Heim umzuwandeln, einen Ort, an dem Frauen ihr Leben frei von männlicher Einmischung leben konnten.

Sie atmete tief ein und langsam wieder aus.

Ich habe es damals geschafft, als ich jung und zum ersten Mal auf mich allein gestellt war. Ich werde es auch jetzt schaffen.

Das Eichhörnchen hatte sich einen Baum hinauf und weiter auf einen Ast hoch über Freddies Kopf geflüchtet. Nun schimpfte es zu ihm herunter, während der Hund aufgeregt hüpfte, sich drehte und dabei wild bellte.

„Gib auf, Freddie. Du willst das Eichhörnchen nicht. Was würdest du mit ihm anstellen, wenn du es fangen würdest?“

Freddie hielt inne, blickte Jo an und sah dann wieder zu dem pelzigen Nagetier nach oben. Er musste zu dem Schluss gekommen sein, dass Jo richtiglag, denn er bellte ein letztes Mal, hob sein Bein, um den Baum zu wässern, und trottete zurück zu ihr.

Manchmal wünsche ich mir tatsächlich, meine Probleme auch einfach anpinkeln und zurücklassen zu können.

Jo runzelte die Stirn. Nein, natürlich tue ich das nicht. Was ist nur los mit mir?

Sie schüttelte den Kopf. Es war schon lange an der Zeit, das alberne Grübeln einzustellen und zurück ins Arbeitszimmer zu gehen. Sie musste noch einmal die Bücher durchgehen, um doch noch eine Möglichkeit – oder sogar mehrere Möglichkeiten – für Einsparungen zu finden.

Einsparungen werden dein größtes Problem nicht lösen.

Jo seufzte. Na gut, ja. Es waren nicht die Gedanken an Scheine und Münzen, die sie nachts nicht schlafen ließen.

„Wenn ich ehrlich bin, Freddie, muss ich zugeben, dass …“

Im Gebüsch bewegte sich etwas, und Freddie schoss wieder davon, um dem genauer nachzugehen.

Jo entfuhr ein weiterer Seufzer und sie richtete ihre Haube. Vielleicht war es genau richtig, dass sie unterbrochen worden war. Sie hatte dieses Thema vor Freddie noch nie zuvor angesprochen, aber es wurde immer schwieriger, in dieser Sache weiterhin den Mund zu halten.

Als Caro ihr geschrieben hatte, dass sie Viscount Oakland heiraten würde, hatte sie den Brief nicht per Post verschickt. Nein, sie hatte ihn durch drei Londoner Mätressen überbringen lassen, die Caro auf dem Anwesen des Viscounts kennengelernt hatte und die, wie sie geschrieben hatte, fortan gern im Heim leben wollten.

Das war das Problem.

Oh, der Teil mit den Mätressen ging in Ordnung. Viele der Heimbewohnerinnen waren in diesem Gewerbe tätig gewesen. Und obwohl Fanny und Polly keinerlei Erfahrungen vorweisen konnten, die im Heim vonnöten gewesen wären – weder in der Landwirtschaft noch im Bierbrauen –, lernten sie immer mehr dazu. Livy hingegen …

Oh Gott!

Es war Livy – Olivia Williams –, die Jo wirklich quälte.

Nun, bedrohte wäre wohl die bessere Wortwahl.

Was dumm war. In vielerlei Hinsicht verstand Livy Jos Sorgen wie keine der anderen Frauen. Sie war selbst eine unabhängige Geschäftsfrau gewesen.

Ihr Geschäft hatte jedoch darin bestanden, Dirnen mit willigen adligen Männern zusammenzuführen.

Was sie an diesem Ort nicht tun konnte. Das hatte Jo ihr mehr als eindeutig mitgeteilt.

Zum Glück gab es in der Umgebung keine adligen Männer. Mit den ortsansässigen Bauern würde Livy nicht viel Geld machen. Und dennoch hatte Jo vorsichtshalber ein Schloss an dem Zierbau des Anwesens angebracht. Das gotische Cottage diente gelegentlich als Gästeunterkunft, und Jo war sich sicher, dass Pen dort auch Harriets kleinen Bruder empfangen hatte.

Das Kind, dessen Taufe zu besuchen Jo abgelehnt hatte.

Bedauern streifte ihr Herz. Es wäre nett gewesen, Pen und Harriet wiederzusehen – und das Kind natürlich. Und Pen hatte geschrieben, dass auch Caro mit ihrem neuen Ehemann dort sein würde. Jo hätte ihn wirklich gern einmal kennengelernt. Und Pen hatte Jo gefragt, ob sie die Patentante ihres Sohnes werden wollte.

Wenn nur …

Ich kann jetzt nicht aus dem Heim weg. Ich muss die Hopfenpflanzen im Blick behalten.

Was noch viel wichtiger war: Jo musste Livy im Blick behalten.

Freddie trottete zu ihr zurück, und sie bückte sich zu ihm nach unten, umschloss das Gesicht des Hundes mit den Händen und sah ihm tief in die verständnisvollen Augen. Sie konnte ihre Sorgen nicht einen Moment länger für sich behalten.

„Was ist nur los mit mir, Freddie? Ich weiß, dass ich Hilfe bei der Leitung des Heims benötige. Ich sollte glücklich sein, dass Livy hier ist. Aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich vertraue ihr nicht. Wenn ich jedoch versuche, herauszufinden, warum das so ist – wenn ich mir also überlege, was sie tun könnte, um dem Heim zu schaden –, so fällt mir nichts ein. Ihre Ideen sind nicht schlecht. Sie gefallen mir nur einfach nicht.“

Sei ehrlich. Freddie wird dein Geheimnis für sich behalten.

Sie beugte sich näher zu Freddie. Senkte die Stimme.

„Ich glaube, sie will mich beiseitedrängen und die Leitung des Heims übernehmen. Fannys und Pollys Loyalität sind ihr selbstverständlich bereits sicher, und ich vermute, dass sie versucht, auch einige der anderen Frauen zu überzeugen, sich auf ihre Seite zu stellen.“

Machtkämpfe unter den Heimbewohnerinnen waren nichts Neues, aber dass Jo selbst in solche hineingezogen wurde, war es durchaus. Sie schlichtete Streitigkeiten. Sie war ruhig. Vernünftig. Besonnen. In der Lage, beide Seiten einer Auseinandersetzung zu betrachten.

Gerade war sie jedoch nichts davon.

„Das Heim war meine Idee, Freddie. Meine. Pen und Caro haben geholfen, aber ich war diejenige, der der Gedanke überhaupt erst gekommen ist. Ich war diejenige, die das Ganze ins Rollen gebracht hat.“

Das Heim war Jos Leben. Vor vielen Jahren hatte es ihr eine Aufgabe gegeben. Aber viel wichtiger war, dass es ihr immer noch eine Aufgabe gab. Wenn diese Aufgabe ihr genommen würde …

Freddie leckte Jo über die Nase, und sie lachte, lockerte ihren Griff um ihn und stand auf. Er wusste immer, wie er sie wieder aufmuntern konnte.

„Du hast recht. Ich muss mir einfach ein wenig Zeit geben, um mich auf die neue Situation einzustellen. Es hat eine Menge Veränderungen gegeben. Wenn wir die nächsten Monate überstanden haben, sobald der Hopfen geerntet ist, werde ich mich sicherlich besser fühlen.“

Freddie warf ihr einen, wie sie glaubte, zweifelnden Blick zu. Sie ließ diesen jedoch unkommentiert und setzte sich wieder in Bewegung, ging den Weg entlang, am Brauhaus vorbei, über den mit Schotter bedeckten Hof in Richtung ihres …

„Jo!“

Jos Magen zog sich zusammen. Das war Rosamund Lewis.

Jo wandte sich Rosamund zu, die eilig aus Richtung des Hauses auf sie zukam. Winifred Williams folgte ihr mit großen Schritten.

„Livy hat mich geschickt, um Sie zu holen.“

Jos Magen zog sich noch mehr zusammen. Rosamund hatte dieses Glitzern in den Augen, das vermuten ließ, dass sie in freudiger Erwartung eines emotionalen Feuerwerks war.

Aber auch in Winifreds Augen lag ein Glitzern. Das war sehr seltsam. Winifred kümmerte sich um die Stallungen des Heims – die sehr kleinen Stallungen. Jos alternde Stute Bumblebee war die einzige Bewohnerin. Jo erinnerte sich nur an ein einziges Mal, als sie Winifred so aufgeregt erlebt hatte. Das war im vergangenen August gewesen, als der Earl of Darrow seinen Araber für ein paar Stunden in ihrem Stall untergebracht hatte.

Gerade war der Earl natürlich nicht anwesend. Er war mit Pen auf seinem Anwesen und bereitete sich darauf vor, ein ganzes Haus voller Gäste willkommen zu heißen und die Taufe ihres Sohnes, seines Erben Philip Arthur Edward Graham, Viscount Hurley, zu feiern.

Dieses Mal setzte sich das Bedauern mit seinem schweren Hinterteil geradewegs auf Jos Herz.

Sie drängte es beiseite. „Gibt es ein Problem?“

Rosamund lächelte listig. „Noch nicht.“

Jo runzelte die Stirn. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit aber von Winifred in Beschlag genommen, die Jo nun nah genug gekommen war, um nach ihrem Arm zu greifen.

„Sie müssen sie sehen, Jo.“ Winifred drückte Jos Arm fest und schüttelte ihn leicht.

Jo zuckte zusammen. Winifred mochte zwar älter geworden sein. Ihr Haar war mittlerweile schon ziemlich grau. Sie war trotzdem noch immer sehr kräftig.

„Äh.“ Jo trat einen Schritt zurück, woraufhin Winifred sie glücklicherweise losließ. Jo hoffte, später keine Blutergüsse auf ihrem Arm zu finden. „Sie?“

„Die Pferde. Vier wunderschöne Füchse. Nicht so hübsch wie der Araber des Earls – oder zumindest nicht auf die gleiche Art hübsch. Aber immer noch hübsch.“ Winifred seufzte verzückt.

Bevor sie ihren Lobgesang fortsetzen konnte, wandte Jo sich Rosamund zu – die hämisch grinste.

Das war sehr schlecht. „Pferde?“

Rosamunds Schmunzeln wurde noch eindeutiger. „Der Earl hat seine Reisekutsche für Sie geschickt. Sie ist wirklich schön.“

Jos Kiefer klappte nach unten. Vielleicht waren ihre Augen auch aus den Höhlen herausgetreten. „Earl? R-Reisekutsche?“

„Sie muss für große Aufregung gesorgt haben, als sie durch das Dorf gefahren ist“, vermutete Winifred. „Ich bin überrascht, dass Tom ihr nicht gefolgt ist.“

Winifred hatte einen leicht schadenfrohen Ton angeschlagen. Sie und Tom, der Stallbursche des Dancing Duck, hegten eine Art freundschaftliche Rivalität. Nicht dass die beiden sich häufig um Pferde kümmerten, die es wert waren, sich mit ihnen zu brüsten.

„Sie werden eine wunderbare Reise nach Darrow haben, Jo“, sagte Winifred. „Ich wünschte, ich könnte Sie begleiten.“

„Ich werde nicht nach Darrow reisen. Ich habe meine Absage bereits verschickt.“

Winifred runzelte die Stirn. „Aber die Kutsche ist hier.“

Jo blickte zu Rosamund. „Ich frage mich, warum.“

Rosamund zuckte mit den Schultern. „Vielleicht akzeptiert der Earl keine Absagen.“

Jo glaubte nicht, dass das der Fall war. Sie vermutete aber auch, dass Rosamund, obwohl sie vermutlich ahnte, was passiert war, nicht diejenige gewesen war, die sich eingemischt hatte.

Diese Sache trug Livys Handschrift.

„Kommen Sie, Jo. Sie wollen die Pferde doch nicht warten lassen.“ Wie immer blieb Winifred ihren Prinzipien treu.

Es stimmte. Je schneller Jo mit Livy sprach, desto schneller wäre die Kutsche wieder auf dem Weg – ohne sie.

„Also gut.“ Sie machte sich in Richtung Haupteingang des Heims auf. Freddie trabte neben ihr her. Die anderen Frauen versuchten, so gut es ihnen möglich war, mit ihnen Schritt zu halten. Jo bog um die Ecke …

Oh Gott! Sie hatte noch halb gehofft, Rosamund und Winifred hätten ihr ein Märchen erzählt, aber nein. Vor dem Heim stand tatsächlich eine Kutsche – und ein Diener in der, wie Jo vermutete, Darrow-Livree, der gerade dabei war, einen großen Koffer auf die Kutsche zu hieven.

Und Livy leitete den Mann an.

„Livy!“ Jo eilte zu ihr.

Livy zuckte nicht einmal mit der Wimper. Oh nein. Die Hexe lächelte, als wäre an der Situation absolut nichts ungewöhnlich.

„Ich bin froh, dass Rosamund und Winifred Sie so schnell gefunden haben, Jo. Hier ist schon alles bereit. Der Kutscher sagt, wenn Sie innerhalb einer Stunde aufbrechen, erreichen Sie das Horse and Pelican – das, wie er mir versichert hat, ein sehr komfortables Gasthaus ist – noch rechtzeitig zum Abendessen. Sie legen dort über Nacht einen Halt ein und kommen am Vormittag in Darrow an.“

Glühend heiße Wut brachte Jos Blut zum Kochen. Niemand – wirklich niemand – traf mehr Entscheidungen für sie. Schon gar nicht eine Person, die plante, die Kontrolle über ihr Wohltätigkeitsprojekt zu übernehmen, während sie diesem den Rücken zugekehrt hatte – oder während ihr Rücken vielmehr meilenweit davon entfernt war.

„Ich werde nicht nach Darrow reisen“, zischte Jo zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Livy lächelte den Kutscher an, dessen Augen so rund wie Untertassen geworden waren. „Geben Sie uns einen Moment Zeit.“

Sie griff nach Jos Arm – zum Glück nicht nach demjenigen, den Winifred so übel zugerichtet hatte.

Jo schüttelte sie ab. „Livy …“

„Hören Sie mir zu, Jo.“ Livy trat ein paar Schritte zur Seite, gerade so weit, dass sie sich außerhalb der Hörweite des Kutschers befand, und blickte dann zurück.

Der Kutscher räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Madam, aber die Pferde …“

Winifred und Rosamund hatten zu ihnen aufgeschlossen, und Winifred fügte ihren eigenen Appell dem des Kutschers hinzu. „Sie wollen die Pferde nicht warten lassen, Jo.“

Tatsächlich. Was Jo wollte, war, den Mann und seine verdammten Pferde augenblicklich fortzuschicken. Vermutlich wäre es jedoch vernünftiger, sich zunächst mit Livy auseinanderzusetzen.

„Ja, ja. Ich brauche nur eine Minute.“

Jo trat – gemeinsam mit Freddie – zu Livy hinüber, öffnete den Mund, um der Frau genau mitzuteilen, was sie von ihrer wirklich schockierenden Einmischung hielt …

„Ich weiß, dass Sie nicht vorhatten, die Taufe zu besuchen, Jo“, setzte Livy sanft ein, bevor Jo ein Wort herausbringen konnte. „Ich habe Ihre Nachricht gesehen. Ich gebe offen zu, dass ich sie zerrissen und stattdessen einen Brief mit Ihrer Zusage versendet habe.“ Ihre Lippen formten ein, wie es aussah, entschuldigendes Lächeln.

Livys Worte brachten Jos Finger zum Zucken. Sie war begierig, sie um den Hals der Frau zu legen, aber ihr Ton …

War das Mitgefühl, das Jo in Livys Stimme erkannte? Verständnis?

Das konnte nicht sein, und dennoch …

„Sie benötigen eine Pause, Jo. Einen Urlaub.“

Jo erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie Freddie dabei beobachtet hatte, wie er dem Eichhörnchen über das Feld hinterhergejagt war.

„Sie machen sich selbst verrückt.“ Livy zuckte mit den Schultern. „Und alle anderen auch.“

„W-was?“, stotterte Jo. Livy lag falsch. Sie musste falschliegen. Ja, Jo mochte in letzter Zeit ein wenig angespannt gewesen sein. Wer wäre nach dem Verlust zweier langjähriger Partnerinnen nicht angespannt? Aber sie hatte sich unter Kontrolle.

Meistens.

Es war nur so, dass sie sich fühlte, als müsste sie nun alles selbst erledigen. Oder zumindest alles beaufsichtigen. Fanny und Polly waren bei ihrer Arbeit noch so neu. Wenn sie scheiterten, würde auch das Heim scheitern, und all die Frauen und Kinder, die dort lebten, wären, na ja, obdachlos. Was würde aus ihnen werden?

Was würde aus mir werden?

Jos Brust wurde eng.

Sie spürte eine leichte Berührung am Arm, die sie von dem dunklen Abgrund wegzog, an dessen Rand sie gefährlich wankte, und die ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf die Gegenwart und auf Livy richtete.

„Fanny ist in dauerhafter Unruhe. Sie fürchtet, dass etwas mit dem Hopfen passiert und Sie sie hochkant rauswerfen werden.“

Was?!

Winifred, Rosamund und der Kutscher blickten alle in Jos Richtung.

Jo senkte die Stimme. „Woher hat Fanny diese verrückte Idee? Ich habe noch nie jemanden aus dem Heim geworfen.“ Selbst als Rosamunds Tochter im vergangenen Sommer Harriet gequält hatte, hatte Jo Rosamund nicht mit einem Hinauswurf bestraft.

Livy schüttelte den Kopf. „Fanny ist nicht dumm, Jo. Sie weiß, dass Sie laufend hinunter zum Hopfenfeld gehen und die Pflanzen untersuchen. Sie merkt, wie Sie sie anschauen.“

Hatte die Welt sich auf den Kopf gestellt? Jo fühlte sich, als müsste sie eine Hand ausstrecken, um das Gleichgewicht zu halten.

Stattdessen stemmte sie beide Hände in die Hüfte. „Wie ich sie anschaue? Was meinen Sie damit?“

War das Mitleid in Livys Gesicht? Vielleicht sollte Jo doch die Hände um den Hals der Frau legen …

Sie atmete tief und beruhigend durch. Lieber Gott! Vielleicht habe ich das große Ganze tatsächlich ein wenig aus den Augen verloren.

„Sie kräuseln Ihre Augenbrauen so“, erklärte Livy und verzog dabei das Gesicht auf komische – und leider vertraute – Art. „Und Sie starren, obwohl klar ist, dass Sie die Person, die Sie anstarren, nicht wirklich sehen.“

„Oh.“

„Es verunsichert Fanny. Sie ist mehr als einmal unter Tränen zu mir gekommen.“

„Äh.“ Wie konnte mir das nicht auffallen? Caro hat immer gesagt, dass ich diejenige mit dem großen Herzen bin.

„Sie machen das auch mit Polly, aber Polly wird lediglich wütend. Bis jetzt hat sie sich nur bei mir beschwert, aber ich befürchte, wenn sich die Situation nicht verbessert, wird sie ihrem Ärger bald bei jeder Person Luft machen, die ihr zuhört.“

Das ist nicht gut.

Livy hatte Jos Gedanken vermutlich gehört. „Ich sage nicht, dass sich jemand auf ihre Seite stellen wird, aber dass überhaupt Seiten existieren, steht nicht gerade für einen gut laufenden Betrieb. Ich habe es immer für die beste Methode gehalten, solche Dinge schon in dem Moment, in dem ich von ihnen erfahre, im Keim zu ersticken.“

Jo nickte. Livy hatte recht. „Ich werde mit Polly sprechen – und auch mit Fanny.“

Livy hob skeptisch eine Augenbraue. „Ach ja? Und was werden Sie ihnen sagen?“

Jo öffnete den Mund – und hielt inne. Was würde sie sagen?

Livy schüttelte den Kopf. „Sie sorgen sich darum, was passieren könnte, Jo. Sie haben nichts an Fannys oder Pollys tatsächlicher Arbeit zu beanstanden, oder?“

„N-nein.“

„Madam.“ In der Stimme des Kutschers kämpften Dringlichkeit und Unterwürfigkeit miteinander. „Die Pferde.“

„Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht, Jo. Alle wissen das. Sie haben sich auf Caro – und auf Pen – verlassen. Und nun sind beide fort. Aber Sie können sie nicht zurückbringen, indem Sie die Stirn runzeln und finster dreinblicken.“

Livys Stimme war warm und beruhigend. Jo fühlte sich getröstet …

Nein! Livy will mich nur loswerden, damit sie das Heim übernehmen kann.

Stimmte das? Oder hatte Jo zugelassen, dass Anspannung und Sorgen ihre Gedanken beeinflussten?

Sie blickte hinunter zu Freddie, um herauszufinden, ob er ihr einen Rat geben konnte.

Er war jedoch zu sehr damit beschäftigt, sich am Ohr zu kratzen, als dass er irgendwelche Gedanken hätte beisteuern können.

Madam.“ Mittlerweile lag in der Stimme des Kutschers schon ein Hauch von Panik. „Bitte.

„Ja, Jo.“ Das war Winifred. „Denken Sie an die Pferde.“

„Sie brauchen wirklich eine Pause, Jo. Zwei Wochen Abstand werden Ihnen einen ganz neuen Blick verschaffen. Das wird Ihnen guttun.“ Livy grinste. „Und uns auch.“

„Aber …“ Aber was? Jo spürte, wie die Flut der Meinungen aller anderen sie in Richtung der Kutsche und nach Darrow drängte – und ja, vielleicht auch ihre eigene Sehnsucht. Sie wagte einen letzten Versuch des Widerstands.

„Aber Freddie …“

Livy schnaubte. „Freddie wird es gut gehen. Sieht er in irgendeiner Weise besorgt aus?“

Das tat er nicht. Wenn überhaupt, verkörperte er so ausgestreckt im Gras und mit heraushängender Zunge die pure Gelassenheit.

„Ich sollte ihn mitnehmen.“

Livy schnaubte noch lauter. „Richtig. Und zulassen, dass er dort alle Gentlemen anknurrt? Das würde für eine wirklich angenehme Zusammenkunft sorgen.“

Livy hatte nicht ganz unrecht.

„Und Sie sollten mit Menschen sprechen, Jo.“

Jo errötete. Auch in dieser Sache lag Livy nicht ganz falsch. Es war möglich, dass Jo sich mit Freddie … nun, unterhielt konnte man es nicht wirklich nennen, aber sie hatte ihre Gedanken vermutlich etwas zu häufig mit ihm geteilt.

„Sie werden nicht so lange fort sein. Lediglich zwei Wochen. Ich werde mich in der Zwischenzeit um alles kümmern.“

Das stimmte. Und wenn Jo ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass es unwahrscheinlich war, dass Livy in der Zeit, in der Jo fort war, einen Aufstand organisieren würde. Vielleicht war Livy ehrgeizig, aber sie war ebenso klug. Sie musste erkennen, dass sie zwar viel über die Leitung eines Betriebs wusste, gleichzeitig aber nur sehr wenig über die Leitung dieses Betriebs.

Es wäre wirklich schön, Pen einmal wiederzusehen. Und Caro.

Jo würde bestimmt die Zeit finden, mit ihnen über das Heim zu sprechen, ihre Ansichten zu erfahren, ihre Ratschläge einzuholen. Das würde die Reise lohnenswert machen. Und trotzdem …

„Die Hopfenpflanzen …“

Livy winkte ab. „Fanny wird sie genau im Auge behalten.“ Sie warf Jo einen eindringlichen Blick zu. „So wie sie es schon die ganze Zeit über getan hat.“

„Oh.“ Jo bemerkte, wie ihr Widerstand nachließ. „Oh, na gut. Ich werde fahren.“

Sie hörte, wie der Kutscher ein tiefes, erleichtertes Seufzen ausstieß.

„Großartig.“ Auch Livy grinste – vor Erleichterung, wie Jo glaubte.

War es wirklich so schwer, mit mir zu leben?

Jos Bauchgefühl verriet ihr, dass es das tatsächlich gewesen war.

Sie drehte sich in Richtung der Kutsche um – der Kutscher hatte die Stufen schon heruntergelassen.

„Ihr Koffer ist bereits verstaut, Madam.“ Er streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr beim Einstieg zu helfen – nicht dass sie seine Hilfe benötigte. „Wenn ich bitten darf. Wir müssen an die Pferde denken.“

„Ja.“ Winifred nickte. „Die Pferde.“

Jo stellte ihren Fuß auf die erste Stufe – und hielt inne.

Sie konnte fast hören, wie der Kutscher mit den Zähnen mahlte.

„Na los.“ Livy kam herüber, um Jo in die Kutsche zu scheuchen. „Ich habe alles eingepackt, was Sie benötigen.“ Sie lachte. „Sie hatten nicht viele Kleider zur Auswahl.“

Es war keine Überraschung, dass eine Londoner Kurtisane der Ansicht war, in Jos schlichter, gebrauchstauglicher Garderobe würde etwas fehlen.

„Das Heim wird auch noch hier sein, wenn Sie zurückkommen, nicht wahr, Freddie?“

Freddie hatte sich aufgerafft und war mit Livy zu Jo herübergekommen. Er blickte Jo an und bellte zustimmend. Dabei wedelte er ermutigend mit dem Schwanz.

Freut er sich auch über die Pause von mir? Von mir und meinem ununterbrochenen Gejammer?

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Livy blickte zu Rosamund und Winifred. „Wir werden dafür sorgen, dass alles problemlos läuft. Sie können uns vertrauen. Ist es nicht so, Ladys?“

„Ja, Jo.“ Winifred nickte ernst. Rosamund …

Oh, was zur Hölle spielte das schon für eine Rolle? Jo musste vermutlich tatsächlich für eine Weile verschwinden. Wie Livy gesagt hatte, würde sie lediglich zwei Wochen lang fort sein. Was sollte in nur vierzehn Tagen schon schiefgehen?

Sie kletterte in die Kutsche – der Kutscher klappte den Tritt in dem Moment ein, in dem ihr Fuß die letzte Stufe verlassen hatte.

„Und wer weiß?“, sagte Livy, während Jo es sich in den Polstern bequem machte. „Vielleicht finden Sie in Darrow die Liebe – und einen neuen Ehemann.“

Jos Mund klappte auf, als die Tür zugeschlagen wurde.

Kapitel zwei

Der Duke of Grainger – oder, wie er noch immer von sich selbst dachte, Edward Russell – stand erneut in einem Londoner Ballsaal und hörte einer jungen Frau zu.

Zumindest versuchte er, ihr zuzuhören. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab.

Der Earl of Darrow, der im vergangenen Jahr noch verlässlich mit ihm vernünftige Gespräche auf diesen faden Veranstaltungen geführt hatte, war mittlerweile glücklich verheiratet. An diesem Tag hatte er begonnen, die Gäste für die Taufe seines Erben auf seinem Landanwesen willkommen zu heißen. Er hatte Edward gebeten, der Patenonkel des Kindes zu werden, und Edward hatte zugestimmt. Jedoch nur unter der Bedingung, dass er erst einen Tag vor der Taufe anreisen würde, sodass er ein paar weitere Bälle und Abendgesellschaften in der Stadt besuchen konnte.

Gerade überdachte er diesen Plan noch einmal.

„Oh!“ Die junge Frau – Lady Iris Wood – blickte auf ziemlich theatralische Art, wie er fand, aus dem Fenster. „Es ist eine wunderschöne Nacht, nicht wahr, Euer Gnaden?“ Sie klimperte mit den Wimpern in seine Richtung.

„In der Tat.“ Edward hegte den Wunsch, erneut zu heiraten und weitere Kinder zu bekommen. Er hatte geglaubt, dafür wäre fast jede junge Frau mit ansehnlichem Stammbaum geeignet.

Doch damit hatte er falschgelegen. Lady Iris wäre es beispielsweise nicht. Sie war zu …

Lästig? Selbstbezogen?

Verzweifelt?

„Ich habe gehört, dass Lord Windoms Gärten ziemlich beeindruckend sein sollen.“ Lady Iris warf Edward einen, wie sie glauben musste, koketten Blick zu. Sie hoffte eindeutig, dass er sie bitten würde, sie auf einen Spaziergang im Grünen zu begleiten.

Ja, verzweifelt. Das arme Mädchen roch förmlich nach Verzweiflung.

Edward hätte es schon in dem Moment bemerken müssen, in dem sie einander vorgestellt worden waren – nun, sogar schon davor. Es war schließlich nicht so, als hätte er nicht bereits zuvor von ihrer Geschichte gehört. Sie war die älteste der „Blumenschwestern“, wie der ton sie nannte. Die nächste Schwester, Lady Rose, hatte sich gerade erst einen Marquess unter den Nagel gerissen, und die jüngste Blume, Lady Violet, würde mit der nächsten Gruppe Debütantinnen in die Gesellschaft eingeführt werden. Wenn es Lady Iris nicht gelang, bis zum Ende der Saison einen Adligen für sich zu gewinnen, würde sie wohl langfristig als ungebundene Frau enden.

Verzweifelte Frauen taten verzweifelte Dinge, besonders in dunklen Gärten. Edward hatte Darrow im vergangenen August vor genau so einem unbedarften Ausflug ins Gebüsch bewahrt.

„Das sind sie bestimmt“, erwiderte er. „Ich bin jedoch leider nicht besonders an Pflanzen interessiert.“

Er hatte Mitleid mit ihr. Unverheiratete Töchter des ton hatten viel mit Blumen gemeinsam: Sie wurden in Gewächshäusern angebaut, gewässert und gedüngt, geschützt vor Sonne, Wind und Ungeziefer, bis sie blühten. Und dann präsentierten ihre Eltern sie auf dem Heiratsmarkt, hofften, dass sie einem wohlhabenden Adligen ins Auge stachen, der sie heiratete und sich fortan um sie kümmerte. Sie hatten weder Macht – außer ihrer Macht der Verführung – noch wirkliche Kontrolle über ihr eigenes Leben.

Wenn Edward ehrlich war, musste er zugeben, dass die meisten Frauen keine Kontrolle über ihr Leben hatten. Das war auch der Grund dafür, dass er glücklich war, dieses Wohltätigkeitsprojekt in Little Puddledon zu unterstützen – das Wohltätige Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern. Seit August korrespondierte er mit der Gründerin des Heims, Lady Havenridge, und er war ziemlich beeindruckt von ihr. Sie wirkte wie eine sehr vernünftige Frau. Nüchtern und trotzdem besonders leidenschaftlich in der Erledigung ihrer Aufgaben.

Und bald würde Edward sie endlich persönlich kennenlernen. Darrow hatte ihm geschrieben, dass sie die Patentante seines Sohnes werden würde.

Wenn ich mich früher nach Darrow aufmache, bleibt mir mehr Zeit, um mich mit Lady Havenridge über das Heim auszutauschen.

„Aber habt Ihr ein Interesse daran, was in einer belaubten Ecke passieren könnte?“, fragte Lady Iris schelmisch und sorgte damit dafür, dass Edward seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.

Großer Gott!

„Nein.“

Bei seiner abrupten Antwort runzelte sie die Stirn und wirkte dann so, als fehlten ihr – Gott sei Dank – die Worte.

Edwards Gewissen stach ihn. Wäre seine Frau noch am Leben, hätte sie ihm gesagt, dass er nicht so ungehobelt sein sollte. Es war nicht Lady Iris’ Schuld, dass die Gesellschaft so aufgebaut war, wie sie es nun einmal war.

Wäre Helen noch am Leben, würde ich nicht hier stehen.

Richtig. Und dennoch würde Helen Besseres von ihm erwarten, also versuchte er seine Ablehnung etwas abzuschwächen. „Lady Iris, ich weiß, dass Sie auf der Suche nach einem Ehemann sind, aber ich bin …“ Sag nicht ‚nicht interessiert‘. „Ich bin zu alt für Sie.“

In dem Moment, in dem Edward die Worte ausgesprochen hatte, wünschte er, sie zurücknehmen zu können. Er war zu alt für sie, aber wenn die Gerüchte stimmten, war er gute fünfzehn Jahre jünger als die anderen Kerle, nach denen sie strebte.

Er versuchte es erneut. „Meine Frau war ungefähr in Ihrem Alter, als wir heirateten. Wir …“

Schließlich fand Lady Iris ihre Kraft wieder, weiterzusprechen.

Leider.

„Und nun benötigt Ihr eine neue Ehefrau. Eine junge Frau, die Euch weitere Kinder schenkt. Ihr mögt Euren Erben bereits haben, Euer Gnaden, aber Ihr braucht noch immer einen Ersatzerben.“

Sie hatte recht. Was ein Grund dafür war, dass er sich zwang, die Ballsäle der gehobenen Gesellschaft so häufig zu besuchen.

Ganz offensichtlich würde er noch eine Weile länger dort verkehren müssen. Aber ebenso offensichtlich brauchte er eine Pause. Er hätte wissen müssen, dass Lady Iris nicht zu ihm passte, und sich bemühen sollen, nicht in einem so öffentlichen Tête-à-Tête mit ihr zu landen.

Nun, es wurde Zeit, dass er dem Ganzen so höflich wie möglich ein Ende bereitete.

Er setzte ein Lächeln auf und verbeugte sich. „Lady Iris, es tut mir leid, aber ich denke, es wäre wohl am besten, wenn ich Sie zu Ihrer Anstandsdame zurückführe.“

Himmel! Man hätte meinen können, Edward hätte sie angespuckt und sie als blutsaugende, mit Warzen übersäte, mit abgebrochenen und vorstehenden Zähnen geplagte Hexe beschimpft. Sie verzog die Brauen. Ihre Augen verengten sich. Ihre Nasenflügel bebten.

„Warum?“ Das Wort entfuhr ihr als ein Zischen – eine ziemlich eindrucksvolle sprachliche Leistung.

Erwartete sie eine Antwort? Was sollte er sagen?

Weil ich Sie abscheulich finde? Weil der Gedanke daran, noch eine weitere Sekunde in Ihrer Nähe zu verbringen, mich laut fluchen lässt?

Nein, natürlich sollte – konnte – er nichts davon laut aussprechen. Er …

Ihm wurde die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung verwehrt. Nach einer nur kurzen Pause fuhr sie fort.

Lady Iris mochte zwar keine Hexe sein, aber diese Blume der Gesellschaft hatte sich eindeutig in eine Brennnessel verwandelt.

„Was ist los mit Euch? Ich besitze einen hervorragenden Stammbaum. Ich bin schön.“

Und Sie werden mit jedem hässlichen Wort weniger schön.

Edward bemerkte, wie alle Personen in Hörweite ihre eigenen Gespräche eingestellt und ihre Ohren in Lady Iris’ Richtung gereckt hatten. Vermutlich geiferten sie schon bei dem Gedanken an den köstlichen Tratsch, den sie ihnen bald auftischen würde.

Die Frau war zu aufgebracht, um das zu bemerken. Er sollte versuchen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

„Lady Iris, vielleicht möchten Sie …“

Sie wollte ihm nicht zuhören. Unbeirrt plapperte sie weiter.

„Ihr solltet glücklich sein, dass ich bereit bin, Euch in Betracht zu ziehen. Für den Fall, dass es Euch entgangen sein sollte: Ihr werdet nicht gerade als ehelicher Hauptgewinn betrachtet. Ja, Ihr mögt nun ein Duke sein, aber vor kurzer Zeit wart Ihr lediglich ein Anwalt. Ihr musstet für Euren Lebensunterhalt arbeiten.“

Die aus ihren Worten triefende Verachtung sandte kalte Wut durch Edwards Körper und zerschmetterte all seine freundlicheren Impulse.

Und dann übernahmen die Jahre, in denen er als Anwalt gearbeitet hatte, die Kontrolle – Jahre, in denen er sich auf die Zunge gebissen hatte, obwohl er eigentlich ein paar unangenehme Wahrheiten hatte aussprechen wollen. Anstatt Lady Iris genau mitzuteilen, was er von ihr hielt, presste er die Lippen aufeinander. Fest.

Ich bin ein Duke. Sie ist eine wehrlose Frau. Ich kann – sollte – sie nicht beschimpfen, schon gar nicht in diesem gesellschaftlichen Ballsaal.

Und sie ist Gott sei Dank nicht mein Problem.

Aber er war nun ein Duke. Er musste einer solchen Schmähung nicht mehr zuhören. Er konnte auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden.

Was genau das war, was er auch tat. Ohne ein Wort des Abschieds – er wäre nicht zu einem höflichen Wort imstande gewesen – kehrte Edward Lady Iris den Rücken zu und schritt durch den Ballsaal. Dabei ließ er aufgeregtes Flüstern und gehobene Augenbrauen hinter sich.

Er verspürte einen flüchtigen – einen sehr flüchtigen – Anflug von Mitleid für Lady Iris, aber er drängte diesen Gedanken beiseite. Sie würde eine Vielzahl an mitfühlenden Ohren finden, denen sie ihr Herz ausschütten konnte. Und sie würde viel Zustimmung erhalten. Für die pingeligen Nasenlöcher des ton stank Edward tatsächlich noch nach dem Geschäft.

Ganz plötzlich wollte er – verzweifelt – aus diesem heißen, stickigen Ballsaal verschwinden, der nach Parfüm und Kerzenwachs und Schweiß stank. Er wollte sich so weit wie möglich entfernen von dem falschen Lächeln und dem gemeinen Flüstern, den verächtlichen Blicken. Er hatte den hochmütigen ton satt, ganz besonders die Art, wie er von seinen Mitgliedern wie irgendein emporgekommener Ladenbesitzer behandelt wurde, während sie gleichzeitig nach seinem Titel lechzten.

Diese verfluchten Speichellecker. Er war mit ihnen fertig.

Der Diener, der in der Nähe der Eingangstür herumlungerte, richtete sich in dem Moment auf, in dem er Edward näher kommen sah, und öffnete zügig die Tür, so als wäre er besorgt, Edward würde sie eintreten, wenn er sich nicht schnell genug bewegte.

Vielleicht hätte Edward das tatsächlich getan. Er war wütend genug, um es zu versuchen.

Er nickte dem Mann zu – es gab keinen Grund, unhöflich zu dem Kerl zu sein –, trat hinaus in die Nacht, tat einen tiefen Atemzug …

Und begann zu husten.

Verdammte Londoner Luft. Sie war dick vom Rauch und dem üblen Gestank der Straßen und der Themse.

Und der Lärm! Selbst zu dieser späten Stunde klapperten Kutschen und Gespanne über die Pflastersteine, verhökerten Straßenverkäufer ihre Ware, bellten Hunde und sangen berauschte Männer aus voller Kehle unzüchtige Liedchen.

Edward sprang nach hinten, um einem betrunkenen Rüpel auszuweichen, der an ihm vorbeitorkelte, seinen Magen in die Gosse entleerte und damit zum Gestank der Umgebung beitrug.

Edwards Bauch rumorte und drohte seinen Inhalt diesem Chaos noch hinzuzufügen. Igitt!

Edward drehte sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Stadthaus. Er musste zurück aufs Land mit frischer Luft, offenen Feldern und Ruhe. Er hatte gewusst, dass sich die Saison für ihn nur so hinziehen würde, aber er hatte versucht, sich durchzukämpfen. Immer und immer wieder hatte er sich gesagt, dass die nächste Veranstaltung oder die darauffolgende die sein würde, auf der er eine Frau zum Heiraten finden würde. Dass er, wenn er diesen Ball oder diese Abendgesellschaft auslassen würde, eine Möglichkeit verpassen würde.

Himmel, wann hatte er sich in einen solchen verfluchten Dummkopf verwandelt?

Nun, man musste ihm zugutehalten, dass er sich zuvor noch nie auf Brautsuche begeben hatte. Er hatte mit Helens Vater zusammengearbeitet. Er hatte Helen langsam, auf natürliche Art kennengelernt – und sich in sie verliebt.

Er würde mit Sicherheit nicht vor den Augen des lästigen Adels herumtanzen und sich wie ein Pferd, das bei Tattersalls zur Versteigerung stand, begutachten lassen. Es grenzte an ein Wunder, dass ihn noch niemand gebeten hatte, seine Zähne zu zeigen.

Denk daran, dass du nicht wieder heiraten musst. Du hast bereits einen Erben.

Richtig. Edward blickte mürrisch auf einen Fleck nicht identifizierbaren Drecks auf dem Gehsteig und stieg dann darüber hinweg. Und warum kümmerte ihn die Erbfolge überhaupt? Er war nicht derjenige gewesen, der den Titel als Nächstes hatte erben sollen, bis das Schicksal sich eingemischt hatte. Wenn alle Stricke rissen, könnten sie einfach noch einmal am Familienstammbaum rütteln.

Es ist nicht die Erbfolge, um die ich mich sorge. Ich möchte noch weitere Kinder. Ich möchte eine Mutter für Thomas.

Ja. Und er hatte einige mehr als sympathische Frauen kennengelernt, die beide Anforderungen perfekt erfüllt hätten. Sie hatten einfach nur nicht dafür gesorgt, dass sein Herz schneller schlug.

Oder dass sein weniger adliger Körperteil sich interessiert aufstellte.

Vor seinem Stadthaus blieb Edward stehen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, verdammt noch mal. Er war kein Junge mehr, aber er war sicherlich auch noch nicht tot. Und dennoch hätte er es genauso gut sein können.

Er war seit über einem Jahr nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Seit er seinem ehemaligen Leben entrissen und in seine neue, sehr öffentliche Position geschubst worden war.

Er erklomm die Stufen zu seiner Eingangstür und starrte missmutig auf den ananasförmigen Türklopfer.

Wenn er es wünschte, hätte er die Möglichkeit, für körperliche Befriedigung zu bezahlen. Er hatte in der Vergangenheit bereits dafür bezahlt. Aber mittlerweile war er der Duke of Grainger – der Anwalts-Duke …

In London blieb nichts geheim – vor allem nichts, in das er verwickelt war. Die Leute würden reden. Seine Bediensteten würden reden. Thomas würde davon hören. Der Junge war alt genug, um die allgemeine Tendenz des Geschwätzes zu verstehen, und, nun, vielleicht war Edward ein wenig zu prüde, aber er wollte nicht, dass sein Sohn Erzählungen über die Verabredungen seines Vaters mitbekam.

Und einfache körperliche Befriedigung ist nicht das, was du wirklich willst, oder doch?

Das konnte er privat in seinem Zimmer allein mit seiner Hand erledigen.

Verdammte Hölle! Er hatte nicht daran geglaubt, noch einmal die Liebe zu finden, aber er hatte gehofft, zumindest eine Freundschaft zu bekommen. Eine Gemeinschaft. Respekt.

Und nun …

Nun befürchtete er, niemals eine Frau zu finden, die hinter seinen Titel blickte und ihn sah, Edward Russell. Die seinen früheren Beruf als eine gute Sache betrachtete und ihn nicht verachtete, darüber flüsterte oder ihn fortwünschte.

Edward stieß die Luft aus, die er, wie er bemerkte, angehalten hatte. Das letzte Jahr war schwer gewesen. Vielleicht war die Tauffeier die ideale Gelegenheit, sich zu entspannen und seine Ziele zu überdenken. Vermutlich würde er die Suche nach einer Ehefrau aufgeben, zumindest vorerst.

Edwards Butler Jakes musste nach ihm Ausschau gehalten haben, denn er öffnete ihm in dem Moment die Tür, in dem Edward seinen Schlüssel aus der Tasche hervorholte.

„Euer Gnaden“, sagte Jakes mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton, „Ihr wisst, dass ich oder einer der Diener immer im Dienst ist.“

Jakes war Edward mit dem Titel zugekommen und er leistete sehr gute Arbeit. Das war der Grund dafür, dass Edward ihn noch nicht ersetzt hatte. Wenigstens einer von ihnen sollte eine Vorstellung davon haben, wie ein Duke sich zu verhalten hatte – und wie der Haushalt eines Dukes zu führen war.

Wenn er ehrlich war, musste Edward sich eingestehen, dass er eine Erziehung genossen hatte, die mehr zu der eines Butlers als zu der eines Dukes gepasst hätte. Auch er hatte einen Beruf finden müssen, mit dem er seinen Lebensunterhalt hatte bestreiten können.

„Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst die Tür zu öffnen, wissen Sie, Jakes?“, grummelte Edward, während er über die Schwelle trat – und wieder fühlte er sich wie ein Schwindler. Ein anständiger Duke hätte den Butler vermutlich mit einem hochmütigen Naserümpfen oder einer gehobenen Augenbraue zum Schweigen gebracht. Er musste lediglich mürrisch klingen.

Also gut, er gab es zu. Er klang mürrisch, selbst nach seinem eigenen Dafürhalten.

„Selbstverständlich seid Ihr das, Euer Gnaden“, erwiderte Jakes besänftigend und in einem Tonfall, den Edward gut kannte. Er war dem Tonfall, den er selbst anschlug, wenn er versuchte, Thomas zu beruhigen, sehr ähnlich.

Edward starrte Jakes grimmig an.

Jakes erwiderte seinen Blick mit ausdrucksloser Miene. Himmel, der Mann war gut.

Edward reichte ihm seinen Hut. „Ich werde am Morgen nach Darrow aufbrechen.“

Jakes’ Augen weiteten sich.

Ha! Endlich war es Edward gelungen, die Beherrschung des verdammten Kerls ins Wanken zu bringen.

„So bald, Euer Gnaden? Ihr hattet mich wissen lassen, dass Ihr Euch nicht vor nächster Woche auf den Weg macht.“

„Ich habe meine Meinung geändert.“

Natürlich erholte Jakes sich umgehend und verbeugte sich leicht. „Sehr gut, Euer Gnaden. Ich werde es die Bediensteten wissen lassen.“ Er räusperte sich. „Ich nehme an, Ihr habt Ambrose bereits informiert?“

Ambrose war Edwards Kammerdiener – auch ihn hatte er mit seinem Titel geerbt –, und, nein, er hatte dem Mann noch nicht Bescheid gegeben. Er hatte die Entscheidung gerade erst getroffen, wie es Jakes vermutlich nur allzu bewusst war.

„Nein. Wenn ich ihn sehe, werde ich ihm mitteilen, dass ihm ein kleiner Urlaub bevorsteht.“

Jakes’ Brauen schossen in die Höhe, bevor er seinen Gesichtsausdruck schnell wieder unter Kontrolle brachte.

„Nur Thomas und ich werden nach Darrow reisen. Und natürlich John, der Kutscher.“ Edward würde seine Kutsche nicht selbst lenken. Er war sich seiner Grenzen durchaus bewusst. An den Zügeln war er nur wenig – manche würden behaupten gar nicht – begabt. Schließlich war er nicht als verhätschelter Sohn in den Kreisen der Adligen aufgewachsen.

In den Augen des ton stellte das einen weiteren seiner Fehler dar.

Jakes nickte. Vermutlich machte ihn der Gedanke an den Duke of Grainger, der eine Reise ohne seinen Kammerdiener unternahm, sprachlos.

Edward lächelte – für einen Duke angemessen, wie er hoffte – und machte sich auf in Richtung der Treppe. Er bezweifelte, dass es Ambrose überraschen würde, wenn Edward ihn zurückließ. Der Kammerdiener hatte immer mehr seiner üblichen Tätigkeiten eingestellt und war mittlerweile zu nicht mehr als einer männlichen Wäscherin geworden.

Oh, Ambrose versuchte, ein anständiger Kammerdiener zu sein. Er hatte Edward angefleht, seit dieser das erste Mal in die Rolle des Dukes geschlüpft war, seine Ankleidung übernehmen zu dürfen – und Edward hatte rundheraus abgelehnt. Er hatte sich, seit er ein Junge gewesen war, selbst angekleidet. Er würde nicht zulassen, dass ihn jemand wie eine lebensgroße Puppe behandelte.

Er hatte es sogar abgelehnt, dass der Mann ihn rasierte. Der arme Ambrose war dazu herabgesetzt worden, zu jammern, Edward elende Blicke zuzuwerfen und vorherzusagen, dass Edward mit der Hand abrutschen und sich die Kehle aufschlitzen würde.

Sich für vierzehn Tage von dem mürrischen Kerl zu befreien, war ein weiterer Vorteil von Edwards Entscheidung, schon am folgenden Morgen nach Darrow aufzubrechen.

Edward hüpfte beschwingt die Treppe nach oben und fühlte sich leichter, als er es seit Monaten getan hatte. Dann ging er den Flur entlang und drückte leise die Tür zum Kinderzimmer auf – er hatte die Scharniere ölen lassen, sodass er eintreten und einen Blick auf Thomas werfen konnte, ohne ihn aufzuwecken.

Jedoch weckte er Bear auf. Der große Hund erschien an der Tür zu Thomas’ Schlafzimmer und kam dann zu Edward herüber, um sich die Ohren kraulen zu lassen.

„Guter Junge, Bear“, flüsterte Edward.

Eine leise Stimme drang durch die Dunkelheit. „Papa?“

Oh, verdammt. Edward hatte Thomas aufgeweckt.

Er trat in das Schlafzimmer und sah Thomas, der sich in seinem Bett aufgesetzt hatte.

„Du solltest schlafen.“ Er nahm einen Holzspan vom Kaminsims und zündete eine Kerze an. „Ich hoffe, du hattest keinen bösen Traum?“

Thomas schüttelte den Kopf. „N-nein. I-ich habe nur gehört, wie Sie hereingekommen sind.“

Gott, wie ich diesen Jungen doch liebe.

Edward setzte sich auf die Bettkante – und sein Herz zog sich zusammen. Selbst bei dem spärlichen Licht konnte er erkennen, dass in Thomas’ jungem Gesicht Sorge lag. Seine Augen waren geweitet, als er zu ihm aufschaute.

„H-haben Sie heute Abend eine F-Frau gefunden, Papa?“

Himmel!

„Oh, Thomas.“ Edward zog seinen Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Wie er sich wünschte, den Jungen vor allem Schmerz und jeder Enttäuschung beschützen zu können. Er würde alles – sogar sein Leben – für seinen Sohn geben.

Und nun lösten sich Tränen aus seinen Augen.

Habe ich je darüber nachgedacht, welche Auswirkungen meine Suche nach einer Frau auf Thomas hat?

Hätte Edward nicht bereits entschieden gehabt, am nächsten Morgen nach Darrow zu reisen, hätte diese Situation ihn überzeugt. Er und Thomas benötigten beide eine Pause. Darrows Tochter Harriet – das Kind, das der Earl mit Lady Darrow lange vor ihrer Heirat gezeugt hatte – würde dort sein, genau wie Darrows Nichten. Es waren Mädchen, ja, und sie waren, wie Edward glaubte, auch älter als Thomas, aber es waren trotzdem Kinder. Und Darrows Tochter hatte die meiste Zeit ihres Lebens mit nur einem Elternteil verbracht. Vielleicht verstand sie Thomas und hatte ein wenig Mitgefühl für ihn.

Und Edward selbst würde dort sein. Er würde sich nicht stundenlang auf sterbenslangweiligen gesellschaftlichen Veranstaltungen herumtreiben.

„Nein, ich habe keine Frau gefunden.“ Er hielt den Jungen in kurzem Abstand von sich und lächelte. „Was hältst du davon, morgen aufs Land zu fahren?“

Ein verletzter Ausdruck legte sich auf Thomas’ Gesicht. „Zurück nach G-Grainger?“

Er denkt, ich schicke ihn fort. Lieber Gott, ich habe noch einiges zu tun.

„Nein. Nein, natürlich nicht. Zur Tauffeier nach Darrow. Mit mir.“

„Wirklich?“ Thomas’ plötzliches Grinsen erhellte den Raum wie eine weitere Kerze – oder zumindest erhellte es Edwards Herz. Der Junge hüpfte glücklich auf und ab. „Ja! Und können wir auch Bear mitnehmen?“

Ah. Ein großer, zotteliger Mischlingshund war nicht Teil der Einladung gewesen, aber …

Sie fuhren aufs Land. Darrow hatte bestimmt selbst Hunde, und Bear war gut erzogen.

Meistens.

Darrow schuldet mir noch einen Gefallen.

Zur Hölle, Darrow verdankte ihm sein derzeitiges Glück. Wenn Edward ihn nicht im vergangenen Sommer nach Little Puddledon geschickt hätte, um der Bedeutung eines geheimnisvollen Eintrags in den Büchern des alten Dukes nachzugehen, hätte Darrow seine aktuelle Ehefrau nicht gefunden und nicht entdeckt, dass sie eine gemeinsame Tochter hatten.

Und es würde kein Kind geben, das getauft werden müsste.

„Ja, wir können Bear mitnehmen.“

Thomas’ Grinsen wurde noch breiter, und er schlang die Arme um Edwards Hals. „Oh, danke, Papa.“

Da sind die verdammten Tränen wieder.

Edward kniff die Augen zusammen, wünschte sich die Feuchtigkeit fort und drückte Thomas, bis er seine Fassung wiederfand. Dann löste er sich vorsichtig aus der Umarmung und lehnte sich zurück. Die Hände legte er auf die Schultern seines Sohnes.

„Schlaf jetzt.“ Er war erleichtert, dass es ihm gelang, mit fester Stimme zu sprechen. „Wir werden schon am frühen Morgen aufbrechen.“

„Ja, Papa.“ Thomas hüpfte wieder auf dem Bett – hörte dann jedoch auf und runzelte die Stirn. „Werden Sie auf dem Fest nach einer Frau suchen?“

„Nein.“

Moment, stimmte das? Er würde nicht auf die Suche gehen – dieser Teil war richtig –, aber wenn eine passende alleinstehende Frau auf wundersame Weise dort auftauchte? Was dann?

„Oder zumindest glaube ich das. Ich erwarte, dass es hauptsächlich eine Familienzusammenkunft wird, Thomas – Kinder und alte Großmütter und glücklich verheiratete Paare. Aber wenn es dort alleinstehende Frauen gibt, werde ich ihnen nicht den Rücken kehren. Das wäre unhöflich, nicht wahr?“

Thomas nickte zögerlich.

Und das könnte Edward zu seinem Vorteil nutzen. Was wäre eine bessere Möglichkeit, eine Frau einzuschätzen, als sie mit seinem Sohn zu sehen? „Und du wirst dort sein. Du darfst mir in dieser Sache also Ratschläge geben.“

Er hatte das halb zum Scherz gesagt, aber Thomas nickte ernst.

„Ich verspreche es Ihnen, Papa. Und ich kann Ihnen auch verraten, was die Bediensteten sagen.“

Oh, verdammt. Wenn Edward die Bediensteten davon abhalten könnte, in Thomas’ Gegenwart zu tratschen, würde er es tun.

„Mr Ambrose hat Mr Jakes gestern erzählt, dass Sie bereits verheiratet wären, wenn Sie nur zulassen würden, dass er sich um Ihre Kleidung kümmert.“ Der Junge ließ die Brauen sinken. „Ich denke, Sie sehen gut aus, so wie Sie sind.“

Wenn das das Schlimmste war, was Thomas mit angehört hatte, musste Edward dankbar sein.

Und er war doppelt froh, dass sie Ambrose in London zurückließen.

„Äh. Nun, vielen Dank.“ Er stand auf. „Leg dich jetzt hin. Ich habe es ernst gemeint, dass wir den Tag früh beginnen.“

Thomas nickte und streckte sich wieder im Bett aus. „Ich hoffe, Sie finden eine nette Frau, Papa. Ich hätte gern eine Mutter, denke ich.“ Er runzelte die Stirn. „Aber keine böse Stiefmutter wie in den Märchen.“

Edward deckte seinen Sohn zu. „Auf keinen Fall.“ Er lächelte. „Und denk daran, dass du mir versprochen hast, mich zu beraten. Ich bin mir sicher, dass du mich davon abhalten wirst, einen solchen Fehler zu begehen.“

Thomas erwiderte sein Lächeln nicht. „Aber was ist, wenn wir beide getäuscht werden? Was ist, wenn sie nur nett wirkt? Oder wenn sie sich verändert, sobald Sie sie geheiratet haben?“

Thomas hatte recht. Im Leben gab es keine Garantien – wenn es sie geben würde, wäre Helen nicht gestorben. Edward hoffte, dass er keine dumme Wahl treffen würde – er würde ganz sicher versuchen, es nicht zu tun. Aber er hatte mehr als einen ansonsten vernünftigen Mann gesehen, der zugelassen hatte, dass sein Schwanz oder schlichte Einsamkeit ihn in eine Katastrophe stürzte.

„Es stimmt, dass niemand in die Zukunft blicken kann, Thomas, aber ich verspreche dir, dass ich mein Bestes geben werde, eine kluge Wahl zu treffen.“ Dann beugte er sich hinunter, sodass er Thomas direkt in die Augen schauen konnte – und umgekehrt. „Aber egal, was passiert, Thomas, ich werde immer für dich da sein. Du stehst an erster Stelle. Du musst also sofort zu mir kommen, wenn du je ein Problem hast mit … ganz egal, womit. Ich werde die Dinge wieder in Ordnung bringen. Ich werde mich um dich kümmern.“

„Aber wenn Ihre neue Frau mich nicht mag …“ Thomas verstummte. Er sah so klein und wehrlos aus.

„Dann werde ich sie auf eines unserer abgelegenen Anwesen schicken.“

Thomas wirkte beruhigt, aber noch immer unsicher.

Natürlich war er unsicher. Das Leben war unsicher, so verdammt, verdammt unsicher.

Als Edward geheiratet hatte, hatte er angenommen, dass er und Helen mehrere Kinder haben würden – Söhne und Töchter. Das war jedoch nicht eingetreten. Es hatte fünf Jahre gedauert, bis Helen schwanger geworden war. Und dann war sie kurz nach Thomas’ Geburt gestorben.

Himmel! Edward fühlte ein Loch in seinem Leben an der Stelle, an der Helens Platz gewesen war und an der er geglaubt hatte, dass dort eine Familie entstehen würde. Sie sehnte sich danach, ausgefüllt zu werden.

Genug. Edward würde sich diese Pause von London nehmen – von seinen Ballsälen voller verzweifelter Frauen – und die Zeit mit Thomas auf dem Land genießen. Und wenn sich noch etwas anderes entwickelte …

Er würde weder auf etwas hoffen, das über vierzehn Tage mit seinem Sohn hinausging, noch danach suchen.

„Wir sollten uns keine Sorgen machen. Lass uns einfach in den nächsten zwei Wochen ein wenig Spaß haben, in Ordnung?“

Thomas grinste, und wenn doch ein wenig Wehmut in seinen Augen stand – nun, das lag vermutlich einfach am flackernden Licht.

Edward pustete die Kerze aus und ging am glimmenden Feuer und an Bear vorbei aus dem Kinderzimmer und den Flur hinunter in sein eigenes Schlafzimmer. Ja, eine Pause von London und seiner Jagd nach einer Frau war wahrscheinlich genau das, was er gerade brauchte. Ein wenig Abstand sorgte häufig für eine noch klarere Betrachtung der Dinge. Edward mochte Darrow, und ihm hatte auch das Wenige, was er bisher von Lady Darrow kennengelernt hatte, gefallen.

Und denk daran, dass du die Gelegenheit bekommst, mit Lady Havenridge über das Heim zu sprechen. Das wird gut werden.

Sehr richtig. Er hätte schon vor einer Weile nach Little Puddledon reisen sollen, um sich das Heim einmal persönlich anzuschauen, aber er hatte die Notwendigkeit dafür nicht gesehen. Darrow hatte ihm mitgeteilt, dass das Haus eine wirklich gute Führung genoss, und Lady Havenridges Briefe hatten Edward nur noch bestärkt, ihren Fähigkeiten zu vertrauen. Dennoch wäre es gut, sie endlich einmal zu treffen. Briefe waren zwar gut, aber selbst die am besten geschriebenen ließen noch die Möglichkeit für Fehlinterpretationen zu.

Edward schloss die Tür zu seinem Zimmer und begann damit, sein Halstuch zu lockern. Er hatte es immer viel besser gefunden, von Angesicht zu Angesicht mit jemandem zu sprechen, damit er die Reaktion seines Gegenübers unmittelbar mitbekam und Fragen stellen konnte, um bestimmte Punkte klarzustellen.

Und es gab tatsächlich eine Sache, die er mit Lady Havenridge besprechen wollte. Darrow hatte ihm erzählt, dass das Heim keine Mütter mit Söhnen aufnahm. Vielleicht fanden sie eine Lösung, sodass …

„Euer Gnaden!“ Ambrose kam, von wo auch immer er sich zuvor versteckt hatte, in das Zimmer geeilt. „Ich hatte Euch nicht so früh zu Hause erwartet.“

„Ich hatte auch nicht erwartet, so früh zu Hause zu sein, aber hier bin ich.“ Edward band sein Halstuch los – und hätte schwören können, dass Ambrose’ Finger zuckten. Es musste den Kammerdiener seine gesamte Selbstbeherrschung kosten, Edwards Hände nicht beiseitezustoßen und die Aufgabe selbst zu übernehmen.

Ambrose nickte. Sein Blick lag noch immer auf Edwards Halstuch. „Ich habe schon zuvor einen Blick in Euer Schlafzimmer geworfen, Euer Gnaden. Jakes hatte mir mitgeteilt, dass Ihr zurückgekehrt seid. Ich habe Euch jedoch nicht angetroffen.“

Und es wäre verdammt großartig, sich nicht ununterbrochen von jemandem beobachtet zu fühlen. „Ich habe noch kurz nach meinem Sohn gesehen.“ Er wollte sein Halstuch gerade auf den Boden fallen lassen.

Ambrose stürzte sich nach vorn und fischte es aus der Luft. „Ich verstehe, Euer Gnaden. Natürlich, Euer Gnaden.“

Edward schälte sich aus seinem Jackett– einem Jackett, über das Ambrose mindestens einmal täglich sagte, es wäre zu locker geschnitten und würde seine Figur nicht betonen.

Und Ambrose enttäuschte ihn auch dieses Mal nicht. „Ich wünschte wirklich, Ihr würdet Eurem Schneider gestatten, Euch angemessen einzukleiden, Euer Gnaden.“

Edward versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, scheiterte jedoch – und fühlte sich dann schuldig, als er Ambrose’ verletzten Gesichtsausdruck bemerkte.

Oh, zur Hölle damit. Er würde dem Kerl schon am nächsten Tag für eine Weile entkommen. Da konnte er genauso gut wohlwollend sein und ihm ein Trostpflaster zukommen lassen.

„Denken Sie, Sie könnten mir aus meinen Stiefeln helfen, Ambrose?“

Kapitel drei

Jo schlenderte über die weite Rasenfläche und versuchte, ihrer Wut davonzulaufen und Gelassenheit zu finden. Sie war kurz zuvor auf dem Anwesen des Earls of Darrow angekommen, ihr war ihr Zimmer gezeigt worden, sie hatte ihren Koffer geöffnet …

Und entdeckt, dass Livy nicht ein geeignetes Kleidungsstück eingepackt hatte.

Lieber Gott, wo hatte die Frau diese Sachen überhaupt hergenommen? Ein paar der Kleider waren Jo bekannt vorgekommen – bis sie eines nach oben gehalten und gesehen hatte, dass jemand den Großteil des Mieders entfernt hatte. Andere Kleider waren neu – und sogar noch skandalöser. Und das bisschen Stoff, das Livy Jo zum Schlafen eingepackt hatte, war viel zu durchsichtig, um es überhaupt tragen zu können – selbst wenn alle Kerzen gelöscht wären und Jo sich die Bettdecke bis ans Kinn zog.

Nun, Livy hatte ein Geschäft geführt, in dem sie Männer mit Mätressen zusammengebracht hatte. Dennoch hätte sie wissen müssen, dass ein Hausempfang zur Feier einer Kindstaufe eine andere Garderobe erforderte als, nun ja, eine Weihnachtsorgie auf dem Landanwesen eines Viscounts.

Livy hätte wissen müssen, dass Jo eine andere Garderobe benötigen würde.

Jo schnaubte. Natürlich hatte diese böse Frau das gewusst. Die abgeänderten Kleider mussten Teil ihres Plans sein, das Heim zu übernehmen. Hatte sie nicht sogar beinahe zugegeben, dass sie eine Art Projekt im Kopf hatte, kurz bevor sich die Tür der Kutsche geschlossen hatte? Liebe und Ehemänner, in der Tat! Jo hatten ihre Worte überrascht, aber sie hatte sie als Wunschdenken verbucht.

Ha! Nun war die Sache glasklar. Es war kein Wunschdenken – es war eine sorgfältig ausgearbeitete Verschwörung. Diese Xanthippe musste hoffen, dass Jo, bedeckt mit einer eher … verführerischen Hülle, einen betitelten Gentleman dazu verlocken konnte, ihr einen Antrag zu machen. Dann würde er sie mit auf sein Anwesen nehmen – so waren schließlich auch Pen und Caro schon aus dem Heim ausgezogen.

Und Livy bekäme genau das, was sie wollte: Kontrolle über das Heim.

Die Vorstellung war jedoch wirklich sehr weit hergeholt. Warum sollte Livy denken, dass Jo bei einer familiären Tauffeier einem alleinstehenden Mann auf der Suche nach einer Ehefrau begegnen würde? Und was vermutlich noch viel wichtiger war: Warum in aller Welt sollte sie sich vorstellen, dass auch nur irgendein Kerl sich wünschte, eine Verbindung mit einer Witwe einzugehen, die es als angemessen erachtete, eine solche Zusammenkunft in den Kleidern einer Mätresse zu besuchen?

Wenn es an diesem Ort tatsächlich einen ungebundenen Mann gab, war es deutlich wahrscheinlicher, dass er davon ausging, Jo stünde ihm für eine kurze Bettgeschichte zur Verfügung. Viele Witwen engagierten sich auf diese Weise. Aber ein Tänzchen in den Laken würde Livy ihrem Ziel nicht näher bringen …

Oh! Es sei denn, Livy glaubte, solche Tätigkeiten würden neun Monate später mit einem Kind enden. Vielleicht war das ihr Plan. Obwohl man wohl davon ausgehen würde, dass eine erfahrene Mätresse zu dem Schluss käme, dass, wenn Jo in drei Ehejahren nicht schwanger geworden war, sie es angesichts ihres fortgeschrittenen Alters auch nicht nach ein paar … ähm … leidenschaftlichen Nächten werden würde.

Und all diese Überlegungen ließen die Tatsache, dass Jo auf keinen Fall auf der Suche nach einem Ehemann war, völlig außer Acht. Livy konnte doch nicht wirklich glauben, dass Jo sich von einem gut aussehenden Gesicht hinreißen ließe, oder etwa doch? Diesen Fehler hatte Jo schon einmal gemacht – sie würde ihn kein zweites Mal machen. Besonders dann nicht, wenn dieser Fehler sie aus ihrem Leben, das sie sich mit so viel harter Arbeit aufgebaut hatte, reißen würde.

Und trotzdem war das die einzige Erklärung, die Jo in den Sinn kam für diese … diese …

Sie zählten schon kaum noch als Kleider, so wenig war von ihnen übrig.

Ich hätte den Koffer bereits im Gasthaus auspacken sollen. Dann hätte ich Livys Unfug schon dort entdeckt und hätte den Kutscher anweisen können, mich zurück nach Little Puddledon zu bringen.

Livy hatte vermutlich – richtigerweise – angenommen, dass Jo bei der Ankunft im Horse and Pelican zu erschöpft sein würde, um mehr zu tun, als nur ihr Kleid auszuziehen und in ihrem Unterhemd ins Bett zu fallen – und dass sie dann am nächsten Morgen dasselbe Kleid erneut anziehen würde.

Mittlerweile war es zu spät. Jo konnte nicht darum bitten, wieder aufzubrechen – sie war gerade erst angekommen. Wie sollte sie das Pen erklären?

Erneut schnaubte sie. Sobald Pen sie in einem der Kleider sah, würde Jo ihr gar nichts mehr erklären müssen. Pen würde selbst nach der Kutsche rufen lassen und Jo zurück ins Heim schicken.

Ganz besonders, wenn ich dieses rote Kleid trage …

Jos Wangen brannten, als das schreckliche Kleid aus rotem Satin und Spitze vor ihrem inneren Auge auftauchte.

Ich muss die Sache mit Freddie besprechen.

Aber das konnte Jo nicht. Freddie war nicht bei ihr. Sie würde einfach hoffen müssen, dass die simple Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sie genug beruhigen würde, dass sie selbst eine vernünftige Vorgehensweise entwickeln könnte.

Sie setzte ihren Spaziergang über die Wiese in Richtung einer Baumreihe fort. Dabei hielt sie die Augen stets offen, um Maulwurfshügel und Kuhfladen rechtzeitig zu erkennen.

Ich werde Pen fragen, ob ich mir einen Schal oder etwas Ähnliches von ihr borgen kann. Oder … Es muss doch eine Schneiderin auf dem Anwesen geben.

Obwohl es ein wenig schwieriger war, Stoff hinzuzufügen, als ihn einfach nur zu entfernen. Und es musste eine Menge Stoff hinzugefügt werden. Das rote Kleid war vermutlich das knappste, aber keines von ihnen – mit Ausnahme des Kleides, das Jo in diesem Moment trug – war für eine Veranstaltung geeignet, die außerhalb eines Bordells stattfand.

Ich werde mich einfach hinter den Vorhängen verstecken müssen.

Nun, das war eine Idee. Jo konnte sich gut vorstellen, was die anderen davon halten wür…

„Bear!“

Was?! Ein Bär in England?

Jo wirbelte herum. Eine Sekunde lang glaubte sie, dass das zottelige Wesen, das auf sie zusprang, tatsächlich ein Bär war, der vielleicht einem Wanderzirkus entlaufen war.

Und dann realisierte sie, dass es lediglich ein großer, enthusiastischer Hund war, der von einem kleinen Jungen verfolgt wurde.

Jo wollte nicht von dem überschwänglichen Tier umgerannt werden und damit ihr einzig anständiges Kleid beschmutzen. Als der Hund ihr also nah genug kam, gab sie ihm – in der Hoffnung, dass es sich bei ihm um ein gehorsames Tier handelte – ein entschlossenes Kommando: „Sitz!“

Der Hund setzte sich. Zum Glück. Er sah so aus, als wäre er von der sabbernden Sorte – der freundlichen, sabbernden Sorte, die für ihr Kleid eine Katastrophe wäre.

Sie beide warteten, bis der Junge aufgeholt hatte.

„Es … tut mir … leid … Madam“, brachte der Junge japsend hervor, als er sie erreicht hatte.

Jo vermutete, dass er ungefähr sieben oder acht Jahre alt war. Er war dünn, bestand fast nur aus Armen und Beinen, hatte rötlich braune Haare, und eine Vielzahl kleiner Sommersprossen verteilte sich um seine Nase.

„Ist schon gut. Nimm dir einen Moment Zeit, um Luft zu holen, und dann kannst du mir diesen guten Jungen hier vorstellen.“

In den großen, grünbraunen Augen des Kindes hatten bei seiner Ankunft Schatten gelegen, seine Brauen hatte es gerunzelt, aber bei Jos Worten stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht und enthüllte eine große Lücke, dort, wo eigentlich seine Schneidezähne sein sollten.

Der Junge atmete tief durch und sagte dann ernst und mit einem Hauch Stolz in der Stimme: „Das ist Bear. Er kann auch Kunststücke. Ich habe sie ihm beigebracht.“

„Hast du das? Wie klug von dir. Was kann er denn?“

Der Junge setzte erneut sein zahnloses Grinsen auf und wandte sich dann seinem Hund zu. „Schüttele die Hand der Lady, Bear.“

Bear hielt Jo seine Pfote hin.

Jo ergriff sie. „Ich bin erfreut, dich kennenzulernen, Bear.“

Das brachte den Jungen zum Kichern. „Guter Junge, Bear.“ Er umarmte den Hund.

Er war ein entzückendes Kind, hatte aufgeweckte Augen und viel Energie. Er musste auf dem Anwesen leben, obwohl er für das Kind eines Pächters zu wortgewandt und offen wirkte. Vermutlich war sein Vater der örtliche Pfarrer.

„Und wer bist du, mein Junge?“

Der Junge blickte Jo flüchtig an, bevor er sich wieder seinem Hund zuwandte, so als wäre er von einer plötzlichen Schüchternheit befallen worden. „Thomas, Madam.“

Vielleicht war er das Kind eines Pächters, eines, das von einer Armenschule profitiert hatte. Jo würde Pen danach fragen müssen. Jos Meinung nach sollte es auf jedem Anwesen eine gut gehende Schule geben. Einige Adlige glaubten, dass Bildung zu Unzufriedenheit bei ihren Pächtern und damit zu Unruhen führen würde, aber Jo teilte diese Ansicht nicht.

„Ich bin erfreut, auch deine Bekanntschaft zu machen, Thomas.“ Sie streckte die Hand aus. „Ich bin …“

Lady Havenridge fühlte sich für diese Situation zu förmlich an. Jo wollte nicht riskieren, die gerade entstehende Verbindung zwischen ihnen wieder zu zerstören. Und den Titel hatte sie nie wirklich gemocht. Er erinnerte Jo an Freddie und ihre mehr als erfolglose Ehe.

Sie würde sich so vorstellen, wie sie von den Kindern im Heim genannt wurde. „Ich bin Miss Jo.“

Der Junge ergriff ihre Hand. Er besaß einen guten, kräftigen Händedruck, besonders für ein so junges Kind.

„Es tut mir leid, dass Bear so auf Sie zugerannt ist“, sagte er und blickte Jo dabei direkt in die Augen. „Wir haben den Morgen in der Kutsche verbracht …“

Also kein Kind eines Pächters und auch nicht der Sohn des Pfarrers. Er muss mit einem der anderen Gäste hierhergekommen sein.

„… und, na ja, als wir ausgestiegen sind, hat Bear ein Eichhörnchen entdeckt.“

Mit Hunden und Eichhörnchen kannte Jo sich gut aus.

„Ich hoffe, er hat Ihnen keine Angst gemacht, Miss Jo.“

Jo lächelte. „Nein, er hat mir keine Angst gemacht. Ich vermute aber, dass er das getan hätte, wenn ich mich vor Hunden fürchten würde. Manche Leute tun das, weißt du?“

Der Junge nickte ernst und sah dann hinunter zu Bear, der sich hechelnd auf der Wiese niedergelassen hatte und dabei so angsteinflößend aussah wie ein Pelzmantel.

„Ich weiß. Und Bear ist so groß, dass er sogar die Leute erschreckt, die eigentlich kein Problem mit Hunden haben. Ich hätte ihn an die Leine nehmen sollen.“

Seine Eltern hatten den Jungen gut erzogen. Er versuchte nicht, etwas vorzutäuschen, wurde nicht wütend oder spottete darüber, dass jemand so ängstlich war, sich vor seinem Haustier zu erschrecken, sondern übernahm die Verantwortung für seinen Fehler.

Nicht dass Jo es als Fehler bezeichnet hätte. Selbst das am besten erzogene Tier – und Bear wirkte wirklich sehr gut erzogen – hatte seinen eigenen Willen und nutzte diesen manchmal zur Überraschung und zum Entsetzen seines Besitzers. Und wenn Jo den Größenunterschied der beiden betrachtete, hätte sie gewettet, dass Bear, selbst wenn er an der Leine gewesen wäre, sich leicht aus dem Griff des Jungen hätte befreien können.

„Nun, es ist ja nichts passiert“, sagte sie. „Und ich verstehe es. Ich habe selbst einen Hund.“

„Haben Sie?“ Thomas’ Augen leuchteten auf, und er sah sich erwartungsvoll um. „Wo ist er?“

„Ich habe ihn nicht mitgebracht.“ Ein plötzlicher Anfall von Bedauern überkam Jo. Wenn andere Gäste …

Nein. Andere Hunde reagierten nicht so auf Männer, wie Freddie es tat.

Der Junge runzelte die Stirn. „Warum nicht?“

„Freddie mag keine … äh …“ Es war zwecklos, um den heißen Brei herumzureden. „Er mag keine Männer.“

Thomas’ Augen weiteten sich. „Woher wissen Sie das?“

„Immer wenn ihm einer zu nahe kommt, knurrt er.“

Dabei beließ es der Junge natürlich nicht. Im Gegensatz zu Erwachsenen stellten Kinder immer Fragen.

„Warum?“

„Ähm, ich glaube, weil der Mann, dem Freddie zuvor gehört hat, nicht sehr nett zu ihm gewesen ist.“

Jo würde Thomas nicht die Einzelheiten verraten – es war keine fröhliche Geschichte. Harvey Miller, dem ein kleiner, heruntergekommener Bauernhof neben dem Grundstück des Heims gehörte und der zu Jos unliebsamsten Personen gehörte, hatte, als Jo ihn zufällig getroffen hatte, kurz davorgestanden, den armen Freddie zu ertränken, weil dieser eins der für Welpen üblichen Vergehen begangen und die Stiefel des Mannes angeknabbert hatte. Jo hatte ihn überzeugt – mithilfe eines großen Stocks und viel Geschrei –, ihr Freddie zu überlassen.

„Mag Freddie Jungen?“

Jo blinzelte. Mochte Freddie Jungen?

„Ich weiß es nicht. Bei uns zu Hause leben nur Mädchen.“

Bei der Erwähnung von Mädchen rümpfte Thomas die Nase – vor Abneigung, wie es aussah.

Nun, er war ein kleiner Junge. Vermutlich …

„Knurrt er auch Ihren Ehemann an?“

Wie hatte die Unterhaltung diese Richtung eingeschlagen? „Ehemann? Ich habe keinen Ehemann.“

„Oh.“ Plötzlich wirkte Thomas traurig und seltsam verständnisvoll. „Er ist gestorben. Das tut mir leid.“

Natürlich war Jos Ehemann Freddie gestorben, aber … ah! Sie glaubte, das Problem erkannt zu haben.

„Die Mädchen sind nicht meine Töchter, Thomas. Ich leite ein wohltätiges Heim für Frauen und Kinder …“ Sie hielt inne. Das war nicht ganz richtig, oder? „Also, für Frauen und Mädchen.“

Thomas wirkte noch trauriger. Er ließ seine schmalen Schultern hängen. „Also mögen Sie keine Jungen?“

Oje. Vermutlich hatte es sich wirklich so angehört. „Nein, so ist es nicht. Das Heim ist zu klein, um sowohl Jungen als auch Mädchen zu beherbergen. Wir mussten uns entscheiden.“

„Und Sie haben sich für Mädchen entschieden.“

Plötzlich fühlte sich Jo sehr schuldig.

Unsinn! Bei dieser Sache ging es nicht um Schuld. Das Heim war zu klein für beide Geschlechter.

„Die Umstände haben es entschieden, Thomas. Es war einfach so, dass die ersten Mütter, die ins Heim gekommen sind, Töchter hatten.“

Nun ja, und ihren Beobachtungen nach zu urteilen, hatten Frauen mit Söhnen keine Schwierigkeiten, einen Ehemann zu finden. Sie hatten ihre Fähigkeit, männlichen Nachwuchs zu bekommen, bereits unter Beweis gestellt. Männer wollten Söhne, die ihren Namen weitertrugen und auf ihren Feldern arbeiteten.

Nicht dass Jo das zu einem Kind sagen könnte.

Und was ist, wenn Mütter von Söhnen auch die Möglichkeit haben wollen, ein Leben frei von Männern zu führen?

Jo hatte die Sache noch nie aus dieser Perspektive betrachtet.

Aber das änderte nichts. Das Heim war zu klein, um alle unterzubringen.

Thomas runzelte die Stirn, öffnete den Mund, um zu widersprechen …

Und dann bellte Bear einmal laut, sprang auf und rannte los in Richtung des Hauses – und einer männlichen Gestalt entgegen.

„Das ist Papa“, rief Thomas. „Er ist hineingegangen, um nach unserem Gepäck zu sehen und den Earl zu begrüßen. Ich sollte mit Bear nah beim Haus bleiben.“

Der Mann kam mittlerweile über die Wiese auf sie zu. Über seiner Schulter hing ein Bündel. Er wirkte groß, selbst aus der Entfernung, hatte breite Schultern und eine athletische Figur, die seine Kraft preisgab.

Jo runzelte die Stirn. Thomas wirkte nicht besorgt, aber sie konnte sich nicht einfach darauf verlassen. Besonders dann nicht, wenn ein Kind in die Sache verwickelt war. Männer konnten schnell wütend werden, wenn man sich nicht ganz genau an ihre Anweisungen hielt.

„Er wird nicht grob mit dir werden, oder?“, fragte sie und achtete dabei genau auf die Reaktion des Jungen.

Thomas zuckte mit den Schultern und lächelte. Er war ganz eindeutig nicht einmal ein kleines bisschen beunruhigt.

„Oh nein. Papa wird nur wütend, wenn er denkt, dass ich etwas Gefährliches getan habe und mich hätte verletzen können.“

Nun, das war gut. Es klang so, als wäre der Mann ein vernünftiger Kerl.

Der sich nun vermutlich fragte, wer da mit seinem Sohn sprach. Wenigstens trug Jo nicht eins von Livys grauenvollen Kleidern. Jedes der Kleider hätte ihm einen vollkommen falschen Eindruck ihrer Persönlichkeit vermittelt.

Und dennoch würde ein vorsichtiger Vater es nicht gern sehen, dass sein kleiner Sohn eine Unterhaltung mit einer Fremden führte. Jo sollte sich ein Beispiel an Bear nehmen und gehen …

„Papa sucht eine Frau.“

Jos Blick schnellte zurück zu Thomas. Sie musste ihn falsch verstanden haben.

Oh Gott! Schimmerte da Hoffnung in den Augen des Jungen?

Nein. Er hat mich gerade erst kennengelernt.

Jo blickte zurück zu seinem Vater. Der Hund tanzte um ihn herum und bellte mit hündischer Freude, während der Mann lachte.

Jos närrisches Herz führte selbst einen merkwürdigen kleinen Tanz auf.

Wie dumm! Du bist kein junges Mädchen, das sich von einem hübschen Gesicht und einer guten Figur beeinflussen lässt.

„Sie sagten, Sie haben keinen Ehemann.“

Oh Gott, das war tatsächlich ein Hoffnungsschimmer in den Augen des Jungen gewesen – und nun hörte Jo die Hoffnung auch in seiner Stimme.

„Würden Sie gern meinen Papa heiraten?“

Jo blickte zu Thomas hinunter. Natürlich sollte sie verneinen, jedoch behutsam. Sie wollte ihm nicht wehtun.

„Ich hätte gern eine Mutter.“ Thomas lächelte sehnsüchtig. „Ich habe meine nie kennengelernt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben.“

Jos Herz zog sich zusammen. „Oh. Das tut mir l…“

„Ich glaube, ich hätte gern Sie als meine Mutter.“

Und nun setzte ihr Herz aus. Sie …

Sie durfte ihn nicht ermutigen, aber sie sollte auch keine große Sache aus dieser Geschichte machen. Dieser Gedanke würde vermutlich schnell wieder verfliegen.

Und wenn er das nicht tat, war sein Vater derjenige, der ihm die Angelegenheit erklären sollte. Nicht sie.

„Sie reden mit mir“, fuhr Thomas fort. „Sie schauen mich an. Sie ignorieren mich nicht, wie es die meisten Erwachsenen tun.“

Für sein Alter war der Junge ein wirklich kluges Kerlchen – aber er war trotzdem noch jung, zu jung, um zu verstehen, dass es nicht ausreichte, auf etwas zu hoffen, damit es auch tatsächlich eintraf.

Kleine Kinder dachten nicht auf die gleiche Art wie ältere Kinder oder sogar Erwachsene. Sie glaubten, dass Wünsche erfüllt wurden, dass Träume wahr wurden …

Nein. Der Junge hat seine Mutter verloren. Er muss nur allzu gut verstehen, dass das Leben kein Märchen ist.

Thomas rümpfte die Nase. „Die Frauen, die Papa heiraten wollen, tun nur so, als würden sie mich mögen. Ich weiß aber, dass sie sich eigentlich nur wünschen, dass ich verschwinde.“ Er blickte zu seinem Vater hinüber, und seine Stimme bebte. „Für … für immer.“

Oh! Jos Arme sehnten sich danach, sich um den schmalen Körper des Jungen zu schlingen, aber es gelang ihr, sich zu beherrschen und ihre Arme bei sich zu behalten. Sie wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde, aber er musste – genau wie sie selbst – gelernt haben, dass es im Leben keine Garantien gab.

Und um es direkt zu sagen: Es spielte keine Rolle, was Thomas sich wünschte. Es tat ihr leid, ihn enttäuschen zu müssen, aber sie war nicht an einem Ehemann interessiert. Sie wollte das Heim nicht verlassen, ganz egal wie sehr Livy plante, sie dazu zu bringen. Sie konnte nicht. Es war ihre Lebensaufgabe – in gewisser Hinsicht war es ihr Kind. Sie konnte es nicht zurücklassen, schon gar nicht in diesen Zeiten. Livy war zu neu, um zu wissen, wie sie den Ort am Leben hielt.

Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte Livy nicht einmal für vierzehn Tage die Verantwortung überlassen sollen.

„Sie lächeln mit Ihren Augen“, sagte Thomas. „Nicht nur mit Ihrem Mund. Die Frauen … Wenn sie lächeln, sind ihre Augen hart und gemein.“

Dieser Junge war viel zu reif für sein Alter – und zu klug, um sich mit Binsenweisheiten beruhigen zu lassen, obwohl das das Einzige war, was Jo ihm anbieten konnte. „Ich hoffe, dein Vater ist schlau genug und heiratet eine freundliche Frau.“

Aber Männer interessierten sich bei einer Ehefrau nicht für ihre Freundlichkeit, oder? Sie interessierten sich für ihren Reichtum, ihre Abstammung, ihre Schönheit. Nichts davon hatte auch nur irgendetwas mit Freundlichkeit zu tun.

Dieser Mann würde sicherlich nach all dem Ausschau halten. Er war mittlerweile nah genug, sodass Jo erkannte, wie auffallend gut aussehend er war. Er war die erwachsene Ausgabe des Jungen, groß gewachsen mit kastanienbraunem Haar und Augen …

Augen, die Jo in den Blick genommen hatten, sie genau musterten. Sie warnten.

Ein kleiner Funke Eitelkeit erwachte in Jo zum Leben, weil der Mann sie nicht im Geringsten bewunder…

Halt! Dieser Mann soll ausschließlich das Wohlergehen seines Sohnes im Blick haben. Und abgesehen von Freddies Brautwerbung, wann hast du dich jemals um männliche Bewunderung geschert?

Ganz offensichtlich in diesem Moment. Jo war eindeutig – und unvernünftigerweise – leicht verstimmt. Sie …

Großer Gott! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Das musste der Mann sein, den Livy im Sinn gehabt hatte, als sie all diese Kleider geändert hatte.

Wer ist er? Woher wusste Livy, dass er hier sein würde?

Livy hatte mit Caro korrespondiert, aber das hatte Jo auch getan. Caro hatte Jo nichts über den Empfang erzählt, geschweige denn darüber, wer dort erscheinen würde.

Jo runzelte die Stirn. Es waren jedoch tatsächlich schon einige Wochen vergangen, seit Jo etwas von Caro gehört hatte.

Na ja, vielmehr ein Monat.

Oder vielleicht sogar zwei.

Jo hatte die Beantwortung von Caros letztem Brief aufgeschoben, weil sie ihr nicht eine lange Liste von Sorgen und Beschwerden hatte zukommen lassen wollen – oder ihr den Eindruck hatte vermitteln wollen, sie wäre nicht in der Lage, sich allein um die Dinge zu kümmern.

„Papa, das ist Miss Jo.“ Thomas’ Worte platzten heraus, sobald sein Vater in Hörweite war. „Ich habe sie gerade kennengelernt. Nun, zuerst hat Bear sie kennengelernt. Er ist mir weggelaufen – er ist einem Eichhörnchen hinterhergelaufen. Ich habe versucht, ihn wieder einzufangen, aber er war zu schnell. Aber Miss Jo hat es nichts ausgemacht. Sie hatte überhaupt keine Angst. Sie hat Bear das Kommando gegeben, sich zu setzen, und er hat es getan.“

„Ah.“ Der Mann entspannte seine Gesichtszüge ein wenig.

Jo wusste, dass sie etwas sagen musste, aber sie war plötzlich auf unerklärliche Weise nervös. Es fühlte sich so an, als sei eine große Menge an Schmetterlingen gerade in ihrem Magen losgeflogen.

Zum Glück sprach Thomas einfach weiter.

„Miss Jo hat einen Hund namens Freddie, Papa, aber sie hat ihn nicht zum Hausempfang mitgebracht, weil er keine Männer mag.“

„Ach ja?“

Jo hörte die Belustigung in der Stimme von Thomas’ Vater. Er blickte sie an und hob eine Augenbraue.

Das aufgeregte Flattern wurde stärker …

Das ist lächerlich. Du bist eine unabhängige vierunddreißigjährige Witwe, keine siebzehnjährige Närrin. Krieg dich wieder unter Kontrolle!

Sie befahl den Schmetterlingen, sich zu verziehen, und zwang sich zu einem Lächeln.

„Im Allgemeinen ist Freddie sehr brav, Sir. Er hat noch nie jemanden gebissen. Aber er knurrt und ist nicht an Fremde, besonders an fremde Männer, gewöhnt. Ich war mir also nicht ganz sicher, wie er sich hier benehmen würde.“

Ein Mundwinkel des Mannes hob sich leicht.

Aus irgendeinem Grund, den Jo nicht genauer ergründen wollte, kümmerte es sie nicht, dass Thomas’ Vater sie auslachte. Nun, vielleicht lachte er sie nicht wirklich aus, zumindest nicht gänzlich, aber … er stand kurz davor, in Gelächter auszubrechen. Hielt er sie für ein Landei?

Immerhin trage ich ein altes, von der Reise beschmutztes Kleid, und diese Haube muss …

Gott, konnte sie tatsächlich schon fast zehn Jahre alt sein? Und sie war noch nie in Mode gewesen. In dieser Kleidung würde Jo auf keinen Fall jemanden verführen …

Verführen?! Wo in Gottes Namen ist das denn hergekommen?

Aus dem Koffer voller skandalöser Kleider natürlich. Von diesem roten Fetzen aus Spitze und Satin. Jo sah hinunter zu Bear, um ihre plötzliche Röte zu verbergen.

Und vielleicht war der Gedanke auch von dem Mann selbst gekommen. Er hatte etwas sehr Verführerisches an sich. Er war groß, gut aussehend, ganz offensichtlich gekleidet in einen in der Stadt maßgeschneiderten Anzug …

Genau wie Freddie, als du ihn zum ersten Mal gesehen hast. Du brauchst nicht noch einen charmanten Rüpel, der einmal quer durch dein Leben fegt.

Richtig, aber Jo glaubte, dass dieser Mann in den wirklich wichtigen Belangen keinesfalls wie Freddie war. Freddie hatte nie diese Ausstrahlung besessen, dieses Gefühl von Intensität, von Intelligenz. Und Freddie war nie ein Vater gewesen.

Deswegen konnte Jo ihm keinen Vorwurf machen, aber selbst in ihren wildesten Träumen gelang es ihr nicht, sich vorzustellen, dass er so beschützend und so besorgt um das Wohlbefinden eines Kindes hätte sein können.

Im Innersten war Freddie zutiefst verantwortungslos gewesen. Er hatte ausschließlich für den Moment gelebt und sich dabei nur wenige – bis gar keine – Gedanken um die Vergangenheit oder die Zukunft gemacht. Das hatte dafür gesorgt, dass ihn stets eine Aura aus Spaß und Gefahr umgeben hatte, die Jo mit siebzehn vollkommen in ihren Bann gezogen hatte.

Das Zusammenleben hatte sich dadurch aber weniger angenehm gestaltet.

Dieser Mann hingegen …

Jo blickte ihm direkt in die Augen …

Und verspürte eine eindeutige Anziehung.

Sie unterdrückte sie – größtenteils.

Konzentrier dich!

Sie sollte sich ihm vorstellen, da der Ochse sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich bei ihr bekannt zu machen. Vor dem Jungen hatte sie ihren Titel nicht erwähnt, aber es wäre vermutlich klug, ihn in dieser Situation zu verwenden. Selbst ein unbedeutendes Mitglied des ton löste ein gewisses Maß an Achtung aus, nach der Jo gerade ein großes Bedürfnis verspürte.

Nun, zumindest war das auf dem Land der Fall. In London …

In London würde ihre Verbindung zu Freddie – und zu dem unverwischbaren Fleck, den sein Selbstmord hinterlassen hatte – wahrscheinlich Abscheu auslösen. Der ton hatte ein hervorragendes Gedächtnis.

Und Freddie hatte, schon bevor er sich umgebracht hatte, kein hohes Ansehen genossen.

Dieser Mann würde höchstwahrscheinlich die Nase über Jo rümpfen. Sollte er doch. Es war am besten, sie würde es gleich herausfinden. Es war schließlich nicht so, als hätten sie die Möglichkeit, sich in den nächsten zwei Wochen aus dem Weg zu gehen.

Sie hob das Kinn. „Ich habe mich Thomas als Miss Jo vorgestellt, Sir. So nennen mich die Kinder in dem Heim, das ich leite – im Wohltätigen Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern.“ Sie nannte den vollständigen Namen des Heims mit fester Stimme. Mit Stolz.

Die Augen des Mannes weiteten sich – nun, es war tatsächlich ein Zungenbrecher. Aber … hatten auch seine Mundwinkel gezuckt?

„Ich bin jedoch besser bekannt als Lady Havenridge, Witwe des ehemaligen Barons Havenridge.“ Da. Mal sehen, was der Kerl aus dieser Information macht!

Es schien, als amüsierte ihn Jos Titel nur noch mehr. Sie bemerkte, dass er tapfer versuchte, sein Lachen hinunterzuschlucken.

Eine solche Reaktion auf die Enthüllung ihrer Identität war Jo nicht gewöhnt. Das war ziemlich befremdlich.

„Und Sie sind?“, fragte sie.

„Ich bin …“ Seine Stimme bebte. Er presste die Lippen aufeinander, aber das verhinderte nicht das Schnauben, das seiner Nase entfuhr. „Ich bin … oh, oh, aah.“

Er krümmte sich vor Lachen und heulte amüsiert auf.

Jo sah Thomas an.

„Papa ist der Duke of Grainger“, erklärte er.

Großer Gott!

Entsetzt starrte sie den Mann an, dessen Vorgänger Gut Puddledon bei diesem verhängnisvollen Kartenspiel von Freddie gewonnen hatte; den Mann, der ihren aktuellen Gastgeber, den Earl of Darrow, nach Little Puddledon geschickt hatte, um mehr über das Heim zu erfahren; den Mann, mit dem sie monatelang korrespondiert hatte in der Hoffnung, er würde seine finanzielle Unterstützung fortsetzen. Den Mann, auf dessen Gutmütigkeit sie sich verlassen musste, auf dessen Briefe sie sich gefreut hatte, mit dem sie eine sich entwickelnde Verbindung gespürt hatte, wenn auch nur auf der brieflichen Ebene.

Den Mann, der viel jünger und besser aussehend und, nun ja, männlicher war, als sie es sich ausgemalt hatte.

Den Mann, der nun so sehr lachte, dass er Tränen in den Augen hatte.

***

„B-bitte entschuldigen Sie“, keuchte Edward. Er sollte nicht lachen. Die Frau musste ihn für einen Verrückten halten – einen Verrückten, auf den sich ihr Wohltätigkeitsprojekt verließ –, aber die Situation zeigte wirklich alle Anzeichen eines Schmierentheaters.

Edward schaffte es, seine Heiterkeit hinunterzuschlucken, und verneigte sich. „Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Lady Havenridge. Ich wusste, dass Sie hier sein würden – Darrow hatte erwähnt, dass Sie die Patentante des Säuglings werden –, aber ich hatte nicht erwartet …“ Zum Glück übernahmen die Jahre, die Edward als Anwalt gearbeitet hatte, die Kontrolle über seine Zunge. „… Sie auf einem Feld mit Thomas und Bear zu treffen.“

Fast hätte er gesagt, dass er nicht erwartet hatte, dass sie so attraktiv sein würde.

Er war besorgt gewesen, als er eine Frau bei Thomas gesehen hatte. Nicht aufgebracht – nicht ganz. Sie waren auf dem Land, und Bear wäre Thomas nicht von der Seite gewichen, wenn die Frau ihn in irgendeiner Art bedroht hätte. Aber Thomas war ein Kind – reif für sein Alter, ja, scharfsinnig, aber trotzdem noch immer ein kleiner Junge. Edward würde am liebsten jeden Erwachsenen, der mit ihm interagierte, unter die Lupe nehmen.

Genau unter die Lupe nehmen.

Verdammt, wo war dieser Gedanke denn hergekommen?

Edward verdrängte ihn wieder.

Oder er versuchte es. Im Moment hatte er ein wenig mit mentalen Gleichgewichtsstörungen zu kämpfen.

Lady Havenridge erfüllte nicht das Bild, das er sich gemäß den Berichten Darrows und seinen eigenen aus ihren Briefen herausgelesenen Vorstellungen von ihr gemacht hatte. Sie sah vor allem jünger aus. Nicht jung – er wusste, dass sie fast so alt war wie er –, aber sie war ganz eindeutig nicht die matronenhafte, farblose Frau, die Darrow beschrieben hatte.

Nun, das Kleid war matronenhaft. Die Haube auch. Aber die Frau …

Die Frau war knallrot vor Scham.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Euer Gnaden“, erzählte sie seinem Halstuch. Das Mieder des matronenhaften Kleides hob und senkte sich schnell.

Sein Titel schüchterte sie doch nicht etwa ein, oder doch? Oder noch schlimmer: Verunsicherte sie ihre Abhängigkeit von seiner Großzügigkeit?

Oder haben Lust und Sehnsucht sie überkommen?

Fast lachte er schon wieder. Offenbar war heute sein Tag für wahnsinnig unangemessene Gedanken.

Obwohl es mir durchaus gefallen würde, wenn sie mich begehren würde.

Alles in ihm verstummte.

Stimmt das?

Vielleicht. Er verspürte auf jeden Fall viel mehr … Interesse an Lady Havenridge als an jeder anderen Frau in London. Und nicht nur körperliches Interesse – obwohl das in diesen Tagen nicht mit „nur“ bezeichnet werden konnte. Zur Hölle, jede körperliche Regung war ein Grund zum Feiern.

Aber Edward war auch an ihren Gedanken interessiert. Er wollte über ihr Wohltätigkeitsprojekt sprechen – das tägliche Geschäft und ihre Zukunftspläne. Und er wollte mehr über sie erfahren, was sie zur Gründung des Heims bewegt hatte und was ihre Bestrebungen in die Richtung so hingebungsvoll bleiben ließ. Das Heim bestand nun schon seit mehr als zehn Jahren. Sie musste ziemlich jung gewesen sein, als sie die Idee entwickelt und in die Tat umgesetzt hatte. Das war wirklich außerordentlich beeindruckend.

Nun, sie hatten zwei Wochen Zeit, sich besser kennenzulernen.

Viel besser kennenzulernen.

Vorsichtig. Es gibt viele, viele Gründe dafür, dass etwas, das auch nur irgendwie über eine Freundschaft hinausgeht, eine schlechte Idee wäre.

Richtig. Die Tatsache, dass Lady Havenridge von Edward abhängig war, war nicht zu übergehen. Neben dem Bereitstellen von Geldmitteln befand sich das Gebäude, in dem sie wohnte, auch in seinem Eigentum als Duke. Er hatte die Macht, sie und ihr gesamtes Wohltätigkeitsprojekt aus dem Gebäude zu werfen, wenn ihm der Sinn danach stand.

Das würde er natürlich nie tun, aber das konnte sie unmöglich wissen. Und er wollte mit Sicherheit vermeiden, dass eine … Verbindung, die sich zwischen ihnen entwickelte, ihrerseits durch die Sorge geprägt war, dass sie nach einem falschen Schritt einen Gegenschlag seinerseits zu erwarten hatte.

„Ich hätte erwarten sollen, dass Ihr hier seid, Euer Gnaden“, sagte sie. Sie sprach mit klarer, ruhiger Stimme, obwohl ihre Stimmfarbe noch immer hoch war. „Ich nehme an, das hätte ich getan, wenn ich ernsthaft darüber nachgedacht hätte.“

Nun, damit holte sie ihn auf den Boden zurück. Edward hatte sich darauf gefreut, mit ihr über ihr Wohltätigkeitsprojekt zu sprechen, schon bevor er sie getroffen und herausgefunden hatte, dass er gern noch viel mehr mit ihr bereden würde. Und sie hatte nicht einen einzigen Gedanken an ihn verschwendet.

„Ich bin mit Darrow befreundet.“ Die Worte entfuhren ihm, bevor er sie zurückhalten konnte.

Ihr Blick fuhr zu ihm nach oben und dann zurück auf sein Halstuch, ihre Gesichtsfarbe wurde wieder dunkler und sie biss sich auf ihre wunderschöne Unterlippe …

Hör auf damit!

Er sah hinüber zu Thomas. Dem Jungen war bei ihrem Gespräch langweilig geworden, und er tobte in der Nähe mit Bear herum.

„Nun ja, natürlich“, erwiderte sie. „Das weiß ich. Ich sollte … ähm … gestehen, dass ich … äh … eigentlich gar nicht hatte herkommen wollen. Ich habe die Entscheidung eher … äh … auf die letzte Minute getroffen.“

Edwards Anwaltsinstinkt schlug Alarm. Sie versteckte etwas vor ihm. Was?

Er würde es schon noch herausfinden. Er hatte jahrelange Erfahrung darin, Dinge aufzuspüren, die die Leute lieber für sich behalten wollten. Häufig half es, einfach den Mund zu halten und abzuwarten. Stille hatte etwas an sich, das die Menschen – besonders solche mit Geheimnissen – dazu anregte, zu reden.

Lady Havenridges Wangen waren noch immer gerötet, aber nun blickte sie Edward direkt in die Augen. „Ich nehme an, wenn ich über die Sache nachgedacht hätte …“

Sie wusste wirklich, wie sie der Eitelkeit eines Mannes einen üblen Schlag versetzte.

„… wäre ich zu dem Schluss gekommen, dass Ihr später hierherkommen würdet.“

Was genau das war, was er vorgehabt hatte.

„Ich weiß, dass Ihr mit der Suche nach …“ Sie hielt inne und räusperte sich. „Ich meine, ich weiß, dass Ihr in London viel zu tun hattet. Ihr seid immerhin ein Duke. Ihr habt … Geschäfte zu erledigen.“

Hm. Es klang so, als hätte sie die Klatschspalten gelesen. Diese verdammten Dinger berichteten ohne Pause von jeder Gelegenheit, zu der er eine Frau nur ansah.

„Ich habe jedoch nicht erwartet – nun, ich gebe zu, dass der Gedanke mir nie kam –, dass Euer Sohn und Euer Hund …“ Sie lächelte hinüber in die Richtung, wo Thomas und Bear miteinander spielten. „… ebenfalls an den Feierlichkeiten teilnehmen würden.“ Sie lachte. „Obwohl ich annehme, dass Bear nicht wirklich daran teilnehmen wird.“

Das Lachen traf Edward direkt ins Herz und festigte seine Entschlossenheit – und etwas anderes, das schon eine Weile nicht mehr fest geworden war –, sie besser kennenlernen zu wollen.

Nun, er hoffte, dass zwischen ihnen auf Grundlage ihrer monatelangen Korrespondenz bereits eine Freundschaft bestand. Diese gemeinsamen zwei Wochen würden sie diese Freundschaft noch weiter ausbauen lassen. Wenn Edward sich zurückerinnerte, was Darrow über die zu erwartenden Gäste gesagt hatte, waren er und Lady Havenridge die einzigen beiden ungebundenen Erwachsenen. Die Chancen standen gut, dass sie häufig zusammengeworfen würden.

Er würde sehen, was sich, wenn überhaupt, zwischen ihnen entwickelte.

Du suchst doch nach einer Frau.

Richtig. Und Lady Havenridge muss sich um die Leitung ihres Wohltätigkeitsprojekts kümmern.

Edward war nicht so dumm, zu glauben, dass sie alles stehen und liegen lassen und die Gelegenheit ergreifen würde, seine Duchess zu werden. Er würde aber ebenso wenig annehmen, dass sie den Gedanken kurzerhand ablehnen würde, wenn sie befand, dass sie gut zueinander passten. Es war nicht einmal so, dass sie ihr Wohltätigkeitsprojekt aufgeben müsste. Sie würde lediglich eine andere Position einnehmen, wenn auch aus der Ferne. Sie hatte definitiv die Möglichkeit, das Heim zu besuchen, um nachzuschauen, wie sich alles entwickelte. Sie beide könnten das tun …

Sei nicht zu vorschnell.

„Ja, nun, leider war Bear nicht eingeladen, aber ich habe angenommen, dass es Darrow nichts ausmachen würde.“ Er war froh, dass es ihm gelang, mit gleichmäßiger Stimme zu sprechen.

Das Gespräch über Bear und Einladungen hatte Thomas’ Aufmerksamkeit erregt. Der Junge runzelte die Stirn und kam zu ihnen herüber.

„Haben Sie Lord Darrow nach Bear gefragt, Papa? Macht es ihm etwas aus?“

Edward lächelte und legte beruhigend eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Ich habe den Earl nicht gesehen, Thomas. Er hat gerade einen Ausritt gemacht. Aber ich bezweifle, dass er etwas dagegen haben wird. Das hier ist ein großes Anwesen. Und notfalls kann Bear auch in den Stallungen schlafen.“

Thomas’ Stirnrunzeln verstärkte sich.

Verdammt. Der Junge war daran gewöhnt, dass Bear immer in seiner Nähe war. Der Hund war zu ihnen gekommen, als sie nach Grainger gezogen waren, kurz nachdem Edward den Titel geerbt und ihr angenehmes Leben sich für immer verändert hatte. Bear war damals fast noch ein Welpe gewesen – ein flauschiger Ball mit riesigen Pfoten – und er und Thomas waren schnell unzertrennlich geworden.

„Bear ist ein sehr braver Hund“, mischte sich Lady Havenridge ein und schenkte Thomas ein Lächeln. „Ich werde mich gern für seine gute Erziehung verbürgen, wenn Lord Darrow eine Referenz benötigt.“

Edward spürte, wie die Anspannung aus Thomas’ Schultern wich. Der Junge grinste Lady Havenridge an.

Vermutlich grinste auch Edward sie an. Sie hatte genau die richtigen Worte gefunden, um Thomas’ Nerven zu beruhigen.

Verdammt, ich bin schon mehr als nur halb verliebt in die Frau. Ich …

Ich muss mich bremsen.

Er musste wie ein Anwalt denken. Konzentration und Fakten. Er durfte nicht zulassen, dass sein halb wiederauferstandener Schwanz sich in diese Angelegenheit einmischte.

Noch nicht.

Er war hoffnungsvoll, dass die richtige Zeit, diesen Körperteil zu Rate zu ziehen, schon noch kommen würde.

Bear schnüffelte an Edwards Bündel – was auch Thomas’ Aufmerksamkeit erregte.

„Was ist in dem Beutel, Papa?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe Lord Darrows Butler gefragt, ob er mir etwas für ein Picknick mitgeben würde, und er ist hiermit aus der Küche gekommen. Ich habe noch keinen Blick hineingeworfen.“

„Oh! Lassen Sie uns jetzt nachschauen!“

Edward lachte und hielt den Beutel von Thomas weg – und von Bear. „Geduld.“ Dann lächelte er Lady Havenridge an. „Thomas und ich – und Bear – haben den Morgen gedrängt in einer Kutsche verbracht. Ich habe also gedacht, wir könnten ein wenig die Gegend erkunden und uns einen schönen Fleck für ein Picknick suchen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns begleiten würden.“ Er hob das Bündel an. „Es fühlt sich so an, als ob wir genug Essen bei uns haben, um eine ganze Armee zu versorgen.“

Thomas wurde zu Edwards begeistertem, wenn auch unwissentlichem Mitverschwörer. „Ja, kommen Sie mit, Miss Jo!“ Er machte einen kleinen Hüpfer und hielt dann inne. Besorgt hob er die Brauen. „Ich meine, Lady Ha-Havenridge.“

Die Frau lachte wieder.

Dieses Geräusch würde Edward noch süchtig machen.

„Ich wäre wirklich erfreut, mitzukommen. Aber bitte nenn mich weiterhin Miss Jo, Thomas. Ich bin mir sicher, dass Pens – ich meine Lady Darrows – Tochter Harriet das auch tun wird. Sie nennt mich schon Miss Jo, seit sie sprechen kann.“

Thomas grinste wieder und sorgte damit dafür, dass sich Edwards Herz zusammenzog. Himmel, wie er sich doch wünschte, ihn vor allen Enttäuschungen und vor allem Kummer des Lebens beschützen zu können.

Natürlich war das eine unmögliche Aufgabe, besonders weil Thomas bereits durch den Verlust seiner Mutter einen großen Kummer hatte erleiden müssen. Nicht dass Thomas sie – Helen – vermisste. Er hatte sie nie gekannt.

Was ohnehin schon tragisch genug war.

„Und wenn du mich Lady Havenridge nennen würdest, würde ich dich auch mit deinem Titel ansprechen müssen.“

Thomas zog eine Grimasse. „Ich möchte einfach nur Thomas sein.“

„Also gut. Dann bin ich Miss Jo.“

Thomas grinste. „Ja, Miss Jo!“ Und dann sah er Edward an. „Wo machen wir unser Picknick, Papa?“

Edward deutete auf die Baumreihe am Rand der Wiese. „Der Butler sagte, dass es einen Weg durch den Wald gibt, der uns zu einem schönen Ort am Fluss führt. Es gibt dort sogar eine Bank, auf der wir während des Essens sitzen können. Klingt das gut?“

„Ja! Dürfen Bear und ich nach dem Weg suchen gehen?“

Edward nickte. „Aber bleibt stehen, wenn ihr ihn gefunden habt. Ich möchte nicht, dass ihr in den Wald geht und euch zu weit von uns entfernt.“

„Ja, Papa. Das machen wir, Papa. Komm mit, Bear!“

Und dann machte Thomas sich auf den Weg. Bear folgte ihm – oder lief manchmal voraus.

Ah, noch einmal ein Junge sein, ohne Sorgen.

Wenn das nur wirklich der Fall wäre. Thomas schien sich eine Menge Sorgen zu machen.

Edward drehte sich zu Lady Havenridge um und bot ihr den Arm. „Sollen wir ihnen folgen, aber in einem gemächlicheren Tempo?“

Sie lachte zu ihm auf. „Folgen ja, aber nicht in einem gemächlichen Tempo. Wir wollen Thomas nicht warten lassen – das wäre Folter.“

Gott, sie versteht den Jungen schon so gut.

Dann ignorierte sie seinen Arm und setzte sich über die Wiese in Bewegung.

Einen Moment lang betrachtete Edward sie, bewunderte, wie gerade ihr Rücken war, wie zielstrebig und selbstbewusst ihr Gang. Sie war offensichtlich daran gewöhnt, ihren eigenen Kurs zu bestimmen.

Aber das Leben allein bereisen zu müssen, konnte einsam sein. Die Hochs und Tiefs der Reise mit jemandem teilen zu können, brachte Freude mit sich.

Würde Lady Havenridge Edward darin zustimmen? Und noch viel wichtiger: Würde sie einwilligen, ihren Weg zu verändern, um fortan den von ihm und Thomas zu teilen?

Wollte er, dass sie das tat?

Er hatte zwei Wochen Zeit, um die Antworten auf diese Fragen herauszufinden.