Leseprobe Die Morde von Chelsea

Kapitel 1

Chelsea, London, 20. Juni 1835

Das uralte Magazin war am Freitagabend unter Charles Dickens’ Tür in Selwood Terrace hindurchgeschoben worden, nachdem alle im Haus zu Bett gegangen waren.

„Hier.“ Sein Bruder Fred drückte ihm das knisternde Papier in die Hand. „Das habe ich auf dem Fußboden gefunden.“ Fred, ein schlaksiger fast Fünfzehnjähriger, trug einen Gehrock, einen Schal und Handschuhe und wollte gerade das Haus verlassen.

„War eine Nachricht dabei?“ Charles, noch immer in seinem Morgenmantel, blickte verwirrt auf die vergilbten Seiten und das zerknitterte Titelblatt des Migrator Magazine hinab.

„Nein.“ Fred zuckte mit den Schultern. „Ich gehe zum Bäcker und hole frische Brötchen. Möchtest du sonst noch etwas?“

„Nein danke. Wenn du zurückkommst, erwarte ich, dass du an deinen Lateinübungen arbeitest, während ich einen Artikel beende“, sagte Charles.

Fred quetschte mit beiden Händen seine Wangen zusammen, wodurch sein freundliches Gesicht zu einer Schnute wurde. „Das wird heute ein wunderschöner Sommertag. Ich würde lieber draußen spazieren gehen.“

„Erst, wenn du deine Aufgaben erledigt hast.“ Charles ging zum Wasserkrug hinüber und fand darin gerade noch genug Wasser für einen Tee. Er goss es in den Kessel und reichte seinem Bruder den leeren Krug.

„Schon gut“, sagte Fred mit einem Anflug von Verzweiflung. „Aber mir knurrt der Magen.“

Charles winkte seinem Bruder zum Abschied fröhlich zu und schürte das Feuer im Herd, um die Flammen wieder zum Leben zu erwecken. Der Tag versprach zwar schön zu werden, ohne ein Regenwölkchen am Himmel, aber jetzt lag noch eine spürbare Kälte in der Luft.

Hinter sich hörte er das leise Klicken, mit dem die Tür ins Schloss fiel. Er warf ein Stück Kohle aufs Feuer und kehrte zu seinem Magazin zurück, mit dem er sich in einen beinahe sauberen Sessel zurückzog, den er bei einem Händler für Möbel aus zweiter Hand in der Holywell Street gekauft hatte. Weil er seine möblierte Wohnung in Holborn behalten hatte, stand ihm nur ein begrenztes Budget für Möbel zur Verfügung.

Trotzdem war es diesen Umstand wert, weil er nun während der Sommermonate dichter bei seiner Verlobten Kate Hogarth wohnte. Er wollte sie ohne die Unannehmlichkeiten eines Fünf-Meilen-Fußwegs sehen können. Während der Anfangszeit ihrer Beziehung im letzten Winter hatte er einen Haufen Schuhleder verschlissen.

Auf dem Deckblatt stand 1785 als Jahr der Veröffentlichung. Wer hätte dieses Magazin all die Jahre über behalten sollen, nur um es unter seiner Tür hindurchzuschieben? Er war Parlamentsreporter, Sketchschreiber und gelegentlich Theaterkritiker und kein Sammler rührender Geschichten aus der Vergangenheit.

Als er durch die Seiten blätterte, stieß er auf ein verblasstes Haarband. Es hatte einen bräunlichen Ton, der einmal lavendelfarben gewesen sein mochte, und markierte einen Artikel mit der Überschrift Tod eines jüdischen Kindes.

Charles zuckte zurück. Der Tod einer jeden hilflosen Kreatur erregte sein natürliches Mitleid. War das die Stelle des Magazins, von der der unbekannte Absender wollte, dass er sie las? Er beugte sich zum Feuer und begann zu lesen.

 

Vier Kinder folgten ihrem Anführer, dem neunjährigen Pete, die Leiter hinter seinem Haus in Limehouse hinunter. Die Flut zog sich zurück und hinterließ für das geübte Auge einen Strand voller Fundsachen.

„Schnell“, befahl Pete und blickte die zwei Mädchen Han und Goldy verächtlich an.

„Ich weiß“, gab Goldy schnippisch zurück. Sie hatte ihren Kopf bereits gesenkt und blickte konzentriert auf den Strand hinab. Als einzige Jüdin in Petes Bande war sie berühmt für ihre unfehlbare Fähigkeit die noch heilen Pfeifenköpfe zu finden.

Han ging zu einem kleinen Felsen und warf sich mit dem Bauch nach unten darüber. Von dort aus hielt sie zwischen den Steinen Ausschau nach wertvollen Gegenständen, die der Fluss ans Tageslicht befördert hatte.

Eddie, Hans’ jüngerer Bruder, schob mit dem Fuß einen Stein beiseite. Dort lag eine Porzellanpuppe mit dem Gesicht im Sand. Er hob sie auf und stieß eine unflätige Bemerkung aus, als er feststellte, dass der halbe Kopf der Puppe zerbrochen war. Er warf sie in Osvalds Richtung und rief: „Hier is ’ne Mutti für dich.“

Mit zitternden Händen hob der junge die zerstörte Puppe aus dem Seegras auf, in dem sie gelandet war. Seine Mutter war durch einen Schlag ins Gesicht gestorben, den ihr brutaler, trunksüchtiger Ehemann ihr versetzt hatte, doch Eddie hatte kein Mitleid mit Osvald.

„Schaut mal hier“, rief Pete. „Los, Jungs, kommt schnell.“

„Ein Fass“, stellte Goldy fest. „Ist es voll?“

Pete ignorierte sie und versuchte schwer atmend das nach Alkohol riechende Fass unter seine Kontrolle zu bringen. „Geh auf die andere Seite“, befahl er Eddie. „Os, du gehst dort rüber!“

Die drei Jungen schafften es das Fass aus dem Wasser auf ein steiniges Stück Strand zu hieven. „Gott verdammt!“, fluchte Pete, als er erkannte, dass dem Fass der Boden fehlte.

„Kein Grog für uns“, schmollte Eddie.

„Wo ist meine Pfeife?“, fragte Pete und drehte sich zu Goldy um. Sie hielt ihm einen kleinen Pfeifenkopf mit einem Riss an der Seite hin. „Der hier ist alles, was ich bis jetzt habe.“

Mit einer schnellen Bewegung schlug Pete ihn aus ihrer Hand. Der Pfeifenkopf fiel zu Boden. Durch die Gegenbewegung zu Petes Schlag schwang Goldys Hand in ihr eigenes Gesicht und stieß gegen ihre Nase. Sie schluchzte laut.

„Halt die Klappe“, knurrte der Anführer nach einer kurzen Pause.

Goldy schniefte und drückte ihre Finger an ihre verletzte Nase. Sie waren blutig. Mit einem Schrei der Verärgerung fuhr sie zu Pete herum und schlug mit ihren kleinen Fäusten auf den stämmigen Jungen ein.

Er versetzte ihr einen Schlag an die Schläfe. „Hör auf zu heulen!“, befahl er.

Doch das tat sie nicht, sondern taumelte von seinem Schlag umher.

„Ins Fass“, sagte Osvald. „Dann wird sie schon den Mund halten, die kleine Schlampe.“

„Ins Fass mit ihr“, wiederholte Eddie und trat dem Mädchen die Füße unter dem Körper fort. Als sie auf die Knie gefallen war, sah er mit in die Hüfte gestemmten Händen von oben auf sie hinab. „Sie ist nur eine dreckige Jüdin.“

Osvald packte ihr zerlumptes Kleid. Der zarte Stoff zerriss, als er sie nach oben zog. Sie schrie, als er sie mit dem Kopf voran in das Fass stieß.

Pete stützte sich mit einer Hand auf den Rand des Fasses. Einen Augenblick lang war alles still, abgesehen von dem Klatschen von Rudern auf das Wasser, als ein Boot vorbeifuhr und kleine Wellen ans Ufer sandte.

Das Wasser umspülte Petes Füße und er verlor seinen sicheren Stand. Er fiel gegen das Fass, das zu schwanken begann und schließlich umfiel. Goldy schrie auf.

„Kann sie niemals ihren Mund halten?“, beschwerte sich Eddie und trat gegen das Fass. Es bewegte sich. Eine größere Welle lief auf den Strand. „Die Flut kommt früh heute“, sagte Pete.

Eine weitere Welle kam. Das Fass begann auf dem steigenden Wasser zu schwimmen. Goldy schlug von innen gegen das Holz. Ihre schmutzigen nackten Füße ragten über den Rand hinaus.

Eddie trat immer wieder gegen das Fass, bis eine weitere Welle kam und es ein gutes Stück weiter auf die schmutzige Themse hinauszog.

Ein größeres Boot fuhr vorbei, auf dem eine Mannschaft von Ruderern unermüdlich arbeitete. Dadurch lief eine größere Welle zum Ufer und trug das Fass mit sich fort.

Han schrie, als ihre Spielgefährtin in den schlammigen braunen Wellen verschwand.

„Sie wird ertrinken! Sie steckt mit dem Kopf voran dort drinnen!“

Eddie packte seine Schwester an der Schulter und schüttelte sie. „Ruhig jetzt. Wir haben sie heute nicht gesehen, hörst du?“

Feucht und zitternd liefen die Kinder fort. Aus einer nahe gelegenen Werft breitete sich Rauch über den Strand aus und vernebelte die Sicht auf den Fluss. Einer nach dem anderen stiegen sie die Leiter hinter Petes Haus hinauf. Niemand drehte sich um und blickte zurück. Goldy war ihrem wässrigen Schicksal überlassen.

 

Charles blinzelte, als er das Ende der Geschichte erreichte. So eine tragische Geschichte auf denen von Feuchtigkeit gezeichneten Seiten des alten Magazins. Eine Geschichte, die einen an die Menschlichkeit erinnern sollte, mit ihrer Beschreibung dieser grausamen Kinder und ihrer Unmoral. Er fragte sich, ob einer seiner Nachbarn, Miss Haverstock oder Mr Gadfly, ihn beim Wort genommen hatte, als er darüber sprach einen historischen Roman schreiben zu wollen, und es ihm zur Inspiration unter der Tür hindurchgeschoben hatte.

Die Tür ging auf und Charles blätterte weiter.

Fred reichte ihm eine Tüte Brötchen. „Ist das Wasser heiß?“

„Ja, sollte es.“

Fred sah ihn an. „Geht es dir gut?“

Charles schlug das Magazin zu, aus dem eine Staubwolke hervorquoll, die ihn in der Nase kitzelte. Er nieste. „Bestens. Der Artikel, den ich gerade gelesen habe, hat mich nur sehr gefesselt.“

Fred grub in seiner Tasche nach einem Taschentuch, als Charles erneut nieste.

„Danke. Es ist nur, weil das alte Magazin so staubig ist.“ Er legte es in sicherer Entfernung vom Feuer und den Fenstern auf einen Stapel Papier.

Fred ging zum Kaminsims hinüber und griff nach dem Porzellangefäß, das ihre Teeblätter enthielt. „Hast du schon herausbekommen, wer es hier abgegeben hat?“

„Nein, aber das hier ist ein geselliges Haus. Die schrullige alte Miss Haverstock aus dem Obergeschoss hat es vielleicht in ihren Besitztümern gefunden. Oder Mr Gadfly hat es gefunden, als er auf der Suche nach Inspiration für seine Liederschreiberei im Theater umhergestreift ist. Dann sind da noch unsere unberechenbaren Freunde William und Julie Aga.“

Fred schüttelte ihre Teekanne, bis die Blätter darin zu seiner Zufriedenheit verteilt waren, und goss dann vorsichtig das heiße Wasser darauf.

„Ich war sehr überrascht, als sie eingezogen sind. Für William ist es ein recht weiter Weg in die Stadt.“

Charles stand auf und streckte sich. „Sie scheinen glücklich zu sein. Außerdem können William und ich gemeinsam zur Arbeit gehen.“ William war ebenfalls Reporter beim Morning Chronicle und auf Verbrechen spezialisiert.

„Findest du? Williams fröhliches Pfeifen kann ich auf eine halbe Meile Entfernung hören, aber Julie sieht meiner Meinung nach nicht gut aus.“

„Sie ist im Frühjahr krank gewesen. Derart nervöse Frauen haben solche Probleme.“

„Vielleicht hat sie das Magazin unter der Tür durchgeschoben, um dich zu ärgern?“

Charles verwarf die Idee. „Nein, daran war nichts Lustiges.“

„Soll ich das Feuer ausgehen lassen?“, fragte Fred.

„Kannst du ruhig. Es sollte jetzt wärmer werden. Warum erledigst du deine Aufgaben nicht heute Morgen und danach gehen wir unsere Fenster an. Sie sind so schmutzig, dass man kaum hier hereinschauen kann.“

„Was ist mit meinem Spaziergang?“

„Heute Nachmittag“, versprach Charles. „Wenn du dich nicht bildest, kommst du im Leben nicht weit. Ich muss noch einen Sketch schreiben, bevor ich Freizeit habe.“

Die Brüder saßen gemeinsam an ihrem alten, wackligen Tisch, den sie vor das Feuer geschoben hatten, um die letzte Wärme zu genießen, und arbeiteten fleißig. Gerade als die Glocken der nahe gelegenen Kirche des Heiligen Lukas zehn Uhr schlugen, klopfte es an der Tür.

„Ich gehe. Du kannst weiter übersetzen“, sagte Charles und stand auf. Er zog seine fingerlosen Handschuhe aus und ließ sie auf dem Tisch liegen.

Nachdem er die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, rief er „Hogarths!“, als er die jungen Damen auf der Schwelle stehen sah.

Seine Verlobte Kate lächelte ihn an, wobei ihre Augen unter den schweren Lidern leuchteten. Sie trug ein frisches Baumwollkleid, dessen schmale rote Streifen Freude ausstrahlten. Ihre Haube wurde von Bändern derselben Farbe gehalten. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sie nun sein war, obwohl sie zu Beginn des Frühjahrs, drei Monate, nachdem ihr Vater die beiden miteinander bekannt gemacht hatte, seinen Antrag akzeptiert hatte.

Ihre Schwester Mary trug ein sommerlich geblümtes Kleid, hob einen Korb hoch und schlug den Deckel zurück. Der appetitliche Anblick von Erdbeerscones und Butter begrüßte ihn.

„Welch eine Freude, meine Lieben.“ Charles öffnete die Tür nun ganz. „Fred ist in der Stube. Wir wollten gerade essen.“

Nachdem die jungen Frauen eingetreten waren, schloss Charles die Tür und achtete sorgsam darauf, dass ihre langen Röcke nicht eingeklemmt wurden. Fred schürte das Feuer und setzte mehr Wasser auf. Die Mädchen stellten vier Teller auf den Tisch und platzierten die Platte mit den Scones und die Butterschale in der Mitte. Charles fand in seiner Kiste auf dem Kaminsims ein Buttermesser und reichte es Kate.

„Habt ihr genügend Stühle?“, fragte Mary.

„Ja, wir haben vier“, sagte Charles und deutete hinter sie. „Ich habe mir viele fröhliche Morgen wie diesen ausgemalt, als ich in die Nähe meiner lieben Hogarths gezogen bin.“

Mary fragte Fred etwas zu seiner Übersetzung und die beiden unterhielten sich über seine lateinischen Gedichte, die er wegen des Essens beiseitegelegt hatte. Charles holte den Katalog mit Küchenutensilien hervor, der für jeden neuen Haushalt unerlässlich war, und sah ihn sich gemeinsam mit Kate an.

„Brauchen wir wirklich all diese besonderen Bürsten?“, fragte sie leicht nervös.

„Je mehr, desto besser“, sagte Charles. „Du weißt, dass der Schmutz überall hin vordringt, aber wir können ihn nicht gewinnen lassen. Wir haben vor heute Nachmittag unsere Fenster zu putzen. Sie sind schrecklich schmutzig.“

„Es ist recht düster hier drinnen“, sagte Kate.

„Ich laufe schnell nach Hause und hole unsere spezielle Reinigungslösung“, bot Mary an. „Und Vater besitzt eine Übersetzung von Cäsars Gallischem Krieg, die Fred gefallen könnte.“

Fred schnaubte.

Charles’ Stimme erhob sich über die seines Bruders. „Der Reiniger wäre sehr nützlich.“

„Lauf schnell, Mary, aber versichere Mutter, dass Fred hier ist, damit wir den Anstand wahren“, sagte Kate.

„Ja, lauf schnell“, fügte Fred hinzu, „denn ich werde ausgehen, sobald dieses Gedicht fertig ist.“

Mary schnaubte daraufhin verächtlich. „Ich bin so schnell ich kann zurück, für Kate.“

Sie flitzte davon. Charles und Kate lächelten sich amüsiert über ihre willensstarken Geschwister zu.

„Hast du Latein gelernt, Kate?“, fragte Fred.

„Ein wenig.“ Kate beugte sich über Freds Tischseite.

Charles nahm die Times und schlug Seite drei auf, um die Nachrichten aus dem Parlament zu lesen. Er befasste sich mit einem langen Artikel über die Rede von Mr Buxton.

„Die Times schreibt viel über Buxtons Rede gegen die Sklaverei“, bemerkte er. „Ich werde für den Chronicle meine eigene Analyse darüber schreiben, aber meine Gedanken sind von Grausamkeiten gefangen, die viel näher an der Heimat stattgefunden haben.“

„Was meinst du?“, fragte Kate.

Charles holte die uralte Ausgabe des Migrator Magazine hervor und zeigte sie ihr, während er ihr erklärte, wie sie in seinen Besitz gekommen war. „Halte dein Taschentuch bereit, denn es ist etwas schimmlig.“ Er schlug die richtige Seite auf und legte es neben Freds Übersetzung auf den Tisch.

Kate las die Seite, während Charles die letzten Teller in eine Schüssel räumte, die ihnen als provisorische Spüle diente. Dann nahm er seine Feder wieder auf und dachte über seine eigene Meinung über die Rede Buxtons nach. Der Kommentar der Times über Auspeitschungen erregte sein Mitleid, also durchkämmte er seine eigenen Notizen auf der Suche nach etwas, das ihrem Reporter entgangen war.

Nach ein paar Minuten intensiven Lesens klappte Kate das Magazin zu. Und nieste.

Fred kicherte. „Du wurdest gewarnt, liebe Kate.“

Anmutig wischte sie sich ihre Nase. Charles ließ seine Feder sinken.

„Du hast über Kinder gelesen, die vor über fünfzig Jahren gelebt haben, Mr Dickens. Sicher sind die Schrecken der modernen Sklaverei wirklicher als ein paar mörderische Kinder aus der fernen Vergangenheit.“

„Glaubst du, dass die Kinder sich heute besser benehmen?“, entgegnete er.

Kate lächelte ihn an. „Ich hoffe, das finden wir nächstes Jahr heraus. Mit etwas Glück sind wir an Weihnachten bereits verheiratet.“

Er tätschelte ihre Hand. „Mit Glück.“

„Wir sind immerhin schon seit zwei Monaten verlobt“, erinnerte sie ihn.

„Ich hoffe, dass wir bis Weihnachten ein passendes Zuhause gefunden und eingerichtet haben.“

„Ähem.“ Kate räusperte sich.

„Ja, Liebling?“, fragte Charles.

„Du weißt schon, was mich von der Hochzeit ablenken könnte?“

„Was?“

Sie klimperte mit den Wimpern. „Ein Kriminalfall natürlich.“

Kapitel 2

Charles deutete auf das uralte Magazin auf dem Tisch. „Direkt vor deiner Nase ist ein Mord passiert.“

„Verschone mich mit der entfernten Vergangenheit“, sagte Kate. „Und such mir etwas Frisches. Wenn ein verstimmter Bauer Mr Buxton erschossen hätte und niemand wüsste, dass er es war, nun, das würde meine Gedanken eine Zeit lang von unserem künftigen Zuhause ablenken.“

„Ich halte es kaum für christlich zu denken, dass ein Parlamentsmitglied ermordet werden sollte, nur um dich zu unterhalten“, sagte Charles trocken.

Kate wischte einen Krümel vom Tisch. Er landete auf dem Boden. „Natürlich nicht, aber London ist eine große Stadt. Sicher findest du etwas, das mich beschäftigt.“

„Ich weiß noch nicht einmal, wer das Magazin zurückgelassen hat.“ Charles beugte sich hinunter, hob den Krümel auf und warf ihn ins Feuer.

„Du musst einfach nur unsere Wohnung verlassen, Charles“, sagte Fred. „Du musst nur die Nachbarn fragen, um dieses Rätsel zu lösen.“

Die Tür öffnete sich und Mary kam herein. Bald waren die Schwestern damit beschäftigt die Stubenfenster zu polieren und den Schmutz zu beseitigen, der sich seit langer Zeit auf dem Glas gesammelt hatte.

Charles kehrte zum Tisch und seinem unvollendeten Artikel zurück. Das Fenster klapperte, als Mary und Kate es öffneten, um die Außenseite zu reinigen. Charles vergrub sich tief in die Angelegenheit um Buxton und nahm die Geschäftigkeit um sich herum nicht wahr, bis er einen Schrei hörte.

Mary lehnte sich zu weit aus dem Fenster. Fred, der vorhersah, was passieren würde, sprang auf und griff nach Mary, als sie im Begriff war aus dem Fenster zu stürzen.

„Mary!“, schrie Kate.

Charles sprang ebenfalls auf und stieß dabei seinen Stuhl um. Ein weiterer Schrei ertönte. Dann hörte er einen Ruf von der Straße.

„Ich habe sie. Sie können loslassen.“

Charles eilte zum Fenster und stellte sich neben Kate. Sie beugten sich hinaus. Direkt neben der Hecke am Boden des vier Fuß langen Falls lag Mary in den Armen des jungen Schmieds Daniel Jones, der in derselben Straße lebte.

Kate ergriff Charles’ Ärmel, als der Mann ihre Schwester sanft absetzte.

„Am besten schütteln Sie Ihren Rock aus, Kleine. Ich habe immer Sägespäne an meinen Sachen“, sagte der freundliche Schmied.

„Mr Jones!“, rief Charles Marys Retter zu. „Sie sind ein Lebensretter. Vielen Dank!“

Kate schlug die Hände zusammen und fügte auch ihren Dank hinzu. Mary lächelte zu ihnen hinauf. „Es ist nichts passiert.“

„Richtig. Sie ist direkt in meine Arme geglitten“, stimmte Mr Jones zu.

„Sie ist direkt aus dem Fenster geglitten“, sagte Fred kopfschüttelnd.

„Ich habe mich zu weit hinausgelehnt“, gab Mary zu. „Ich hatte Glück, dass Sie gerade vorbeigekommen sind.“

„Ich wohne nur ein paar Häuser weiter.“ Mr Jones trug noch immer seine grobe Lederschürze. Zu seinen Füßen stand ein Krug.

Charles deutete darauf. „Haben Sie das fallen gelassen, um Miss Mary aufzufangen? Ist es kaputt? Ich werde dafür bezahlen.“

Mr Jones hob den Krug auf. „Nein, es ist noch heil, Mr Dickens. Ebenso wie Sie, wie ich hoffe, Miss.“

Mary deutete einen kleinen Knicks an. „Ja, danke, Sir. Dank Ihnen geht es mir gut. Was ist Ihre Lieblingsmarmelade? Meine Schwester und ich werden Ihnen etwas davon bringen, um Ihnen zu danken.“

Der Schmied lächelte schüchtern. „Oh, das ist nicht nötig, aber meine Frau kann von Erdbeeren nicht genug kriegen, wie Mr Dickens hier weiß.“

„Wir haben ein ganzes Glas davon geleert, als Sie mich letzte Woche zum Tee eingeladen haben“, bestätigte Charles.

„Passen Sie mit diesem Fenster auf“, riet Mr Jones. „Dieser Busch dort hat Dornen. Eine unserer Katzen hat sich einmal darin verfangen und Miss Haverstock musste mich rufen, um sie zu retten.“

Mary zog ein Gesicht. „Wir werden vorsichtiger sein, Sir.“

Mr Jones nahm seine Mütze vom Kopf und schob sich ein paar verschwitzte Locken aus der Stirn.

„Wo wir gerade von Miss Haverstock sprechen, haben Sie sie in der letzten Zeit gesehen? Meine Frau sieht gewöhnlich freitags nach ihr, aber als sie gestern geklopft hat, hat sie nicht geöffnet.“

„Wir sehen gleich nach ihr“, versprach Charles. „Ich bin heute noch nicht draußen gewesen.“

„Sehr gut. Ich hole gerade Bier“, sagte Mr Jones und setzte seine Mütze wieder auf. „Möchten Sie mich begleiten, Mr Dickens?“

„Ich wünschte, das könnte ich“, sagte Charles. „Aber ich muss noch arbeiten. Wir sehen uns morgen in der Kirche.“ Die Familie Jones besuchte dieselbe Kirche wie die Hogarths. Mr Hogarth, der nicht nur Kates und Marys Vater, sondern auch Charles’ Vorgesetzter beim Evening Chronicle war, hatte Charles im April den Jones’ vorgestellt, nachdem Kate und er ihre Verlobung bekannt gegeben hatten.

Als sie mit dem Reinigen der Fenster fertig waren, erlaubte Charles Fred seinen Spaziergang zu machen, während er selbst zu seinem Artikel zurückkehrte. Die Mädchen wuschen das Geschirr ab und räumten alles wieder in ihren Korb. Mary wischte den Fußboden.

Kate hatte ihren Stickrahmen mitgebracht und setzte sich damit an den Tisch, während Mary sich bemühte ein paar Knöpfe wieder an Freds Mantel zu nähen. Als die Kirchenglocken elf Uhr schlugen, sprang sie auf, als wäre sie mit einem heißen Eisen berührt worden.

„Ich vergaß, dass Mutter mich gebeten hat auf die Zwillinge aufzupassen, während sie ein paar Besuche macht.“ Sie ließ den Mantel sinken.

„Hast du die Knöpfe angenäht?“, fragte Kate ungerührt.

„Alle bis auf einen. Den kannst du annähen, oder nicht, meine Liebe?“, fragte Mary.

„Natürlich“, rief Kate ihr hinterher, als Mary schon zu ihrem Mantel lief. Mary blickte zurück. „Du musst auch gehen, weil Fred nicht mehr hier ist. Nimm seinen Mantel mit.“

Charles sah von seinen Papieren auf. Er wollte noch nicht wieder von Kate getrennt sein. „Warum machen wir nicht auch einen Besuch? Miss Haverstock kann dann die Anstandsdame für uns spielen. Ich muss sowieso nach ihr sehen.“

Mary schlang ihr Tuch um ihre Schultern. „Schön. Ich lasse die Tür offen und gehe, aber ihr müsst versprechen, dass ihr in weniger als einer Minute den Raum verlasst, oder ich werde Mutters Zorn auf mich ziehen.“

Charles legte seine Feder nieder. „Niemals.“ Er erhob sich, nahm den Korb und reichte ihn Mary.

Sie öffnete die Tür so weit es ging, ließ sie offen stehen und verschwand auf den kleinen Flur hinaus.

Kate legte ihr Stickzeug nieder und nahm stirnrunzelnd ihren Mantel vom Haken. „Ich mag es nicht unterbrochen zu werden, wenn ich gerade dabei bin eine Blume zu sticken.“

„Du machst nie einen falschen Stich“, sagte Charles und beugte sich zu ihr. „Ich mag das Blau. Es passt zu deinen Augen.“

Kate ließ ihren Mantel sinken und tätschelte seine Hand. „Du sagst die liebsten Sachen.“

„Ich werde das Schlafen aufgeben“, sagte er laut.

„Das wirst du nicht, Mr Dickens“, sagte sie kichernd. „Das wird dir nicht dienlich sein.“

„Warum nicht?“

„Dein Verstand muss scharf bleiben.“

Mit einem wagemutigen Finger berührte er ihr Kinn. „Aber ich bin so ein liebestoller Narr. Je mehr ich arbeite, umso mehr verdiene ich und umso eher kann ich es mir leisten dich zu heiraten.“

„Komm, du Narr“, sagte sie und stand auf. „Wir gehen besser nach oben. Ich möchte Mutter nicht anlügen, indem ich ihr erzähle, dass ich niemals mit dir allein in deiner Wohnung bin. Du weißt, dass sich das nicht gehört.“

Er legte seine Hände auf ihre Schultern. „Darf ich noch einen Kuss stehlen?“

Sie hielt ihm ihre Wange hin. „Nur auf die Wange?“, fragte er sanft. „Ist das alles, was Mr Dickens verdient?“

„Charles“, flüsterte sie und sah ihn an.

Er grinste, rieb seine Nase an ihrer und gab ihr einen Kuss auf die Spitze. „Das muss genügen. Deine Ehre ist mir so wichtig wie dir.“

„Danke.“ Ihre Wangen erröteten und sie blickte zu Boden.

Mit großer Geste bot er ihr seinen Arm. „Lass uns nach oben gehen.“

„Wann hast du sie das letzte Mal besucht?“, fragte Kate. Sie war etwas wacklig auf den Beinen, als sie seinen Arm nahm. Er spürte kaum den Druck ihrer Finger auf seinem Ärmel.

„Ich gebe zu, dass mich besorgt, was Mr Jones gesagt hat. Es war selbstsüchtig von mir nicht sofort nach oben gegangen zu sein.“

„Du bist niemals selbstsüchtig, Liebling. Miss Haverstock benutzt diesen Stock, weißt du, wegen ihrer schlechten Hüfte. Vielleicht ist sie gestern nicht aus dem Bett gekommen.“

Er und Kate traten in den schmalen Flur zwischen den Wohnungen. Gegenüber der Eingangstür des Gebäudes befand sich eine Holztreppe mit knarzenden Stufen. Miss Haverstock war eine kleine Frau, die nicht viel Lärm machte, wenn sie die Treppe hinaufging oder sich in ihrer Wohnung bewegte, die sich direkt über der von Charles befand. Die Geräusche, die sie machte, glichen eher denen einer Maus als denen einer erwachsenen Person, die ihrem Tagwerk nachging.

Als sie die Stufen hinaufstiegen, musste Kate seinen Arm loslassen, um ihre Röcke leicht anzuheben. Charles fiel ein, dass er seit Tagen keine Geräusche mehr aus Miss Haverstocks Wohnung gehört hatte. Wann hatte er seine Nachbarin zuletzt gesehen?

Kate blickte ihn an. „Was riecht hier so, Charles?“

„Verdorbenes Fleisch?“, schlug er vor und verzog angewidert die Lippen. Er hatte etwas Derartiges schon einmal gerochen, vor einem halben Jahr, als er an den Tatort eines blutigen Selbstmordes gerufen worden war.

Sie erreichten das Ende der Treppe. Der Geruch wurde stärker. Kate keuchte, zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und hielt es sich vor die Nase. „Vielleicht ist sie krank?“

Charles wusste es besser, nun, da sie an der Tür zu Miss Haverstocks Wohnung standen. „Sie ist tot, Kate. Es muss so sein.“