Leseprobe Die Melodie der Toten

1. Kapitel

„Geister!“, grunzte Peter.

„Was für Geister?“, seufzte Georgia. Ihr Vater sollte Die Morde von Wickenham durchsehen, damit sie das Manuskript rechtzeitig beim Verlag einreichen konnte. Bis das erledigt war, durfte sich kein Geist bemerkbar machen – ja, eigentlich nicht einmal dann, denn sie war in eine Internetrecherche für das nächste Buch vertieft und konnte keine Ablenkungen gebrauchen. Trotzdem musste sie zugeben, dass das Wort „Geister“ sie neugierig machte.

„Dieses arme Mädchen!“ Peter wedelte mit einer Zeitung. „Ermordet am Karsamstag, während einer Führung in einem Spukschloss.“

Das waren zwei krasse Gegensätze, die alles noch schlimmer machten, und Georgia schreckte instinktiv davor zurück. Geister erweckten Gewalttaten aus der Vergangenheit zum Leben, unerledigte Angelegenheiten, die lange zurücklagen. Vor so einem Hintergrund wurde ein Mord in der Gegenwart noch wirklicher. Es war das Gebiet der Polizei, nicht direkt das von Marsh & Daughter. Ihres war die Vergangenheit, aber am liebsten ohne Geister.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Sie wurde offenbar an der Stelle, an der die Führung endet, erstochen aufgestochen. Ihr Freund, Jake Baines, wurde schon verhaftet.“

„Sie hat die Führung mitgemacht?“

„Nein, soweit ich es verstehe, endet die Führung damit, dass der Mord an Lady Rosamund in einem einsamen Turm nachgestellt wird. Alice Winters, das ermordete Mädchen, sollte Lady Rosamund spielen.“

Georgia war verwirrt. „Sie wurde während des Auftritts ermordet?“

„Davor, denke ich.“ Peter überflog den Artikel.

„Wo war das?“

„Mitten in Kent natürlich. Das hier“, Peter fuchtelte wieder mit der Zeitung, „ist der Canterbury Express.“

„Aber wo genau?“

„Gar nicht weit weg. Etwa zehn Meilen westlich von hier, mitten in den Downs. Ein Dorf namens Friday Street. Kennst du es?“

Sie kannte es. Sie kannten es beide.

„Das ist das Dorf, in dem wir Weihnachten waren“, sagte sie ausdruckslos. Sie hatten es durch Zufall entdeckt. „Zehn Meilen“ klang nach einer kurzen Entfernung und so war es auch, wenn man die Autobahn nahm. In den North Downs von Kent konnte es jedoch ein sehr langer Weg werden. Dort gab es so abgelegene Dörfer, Weiler und gewundene Straßen, dass man sich ein oder zwei Meilen vor der eigenen Haustür befinden konnte, ohne es zu merken.

„Ach herrje“, bemerkte Peter. „Das ist es.“ Er war genauso verblüfft wie sie. Ihre Blicke trafen sich. „Diese Melodie – erinnerst du dich?“

„Natürlich.“ Sie würde sie nie vergessen. Eine seltsame, unvergessliche Melodie, die zu Herzen ging. Ein Junge im Teenageralter hatte sie auf einer einfachen Flöte gespielt. Er hatte nichts Ungewöhnliches an sich gehabt. Jeans, T-Shirt, ein hellbrauner Haarschopf, feine Gesichtszüge. Er hatte verletzlich gewirkt, aber vielleicht nur auf sie, weil sie ihn mit der Melodie in Verbindung brachte.

Alles in allem war es ein merkwürdiges Erlebnis gewesen. Ein Dorfpub im Niemandsland, der wohl gezwungen gewesen war, neue Einnahmequellen zu erschließen, indem er auch Mahlzeiten anbot. Es war ein hübsches kleines Restaurant mit etwa zehn Tischen gewesen, aber der Barbereich befand sich immer noch fest in der Hand der Dorfbewohner. Und dort hatten sie und Peter gesessen, er in seinem Rollstuhl und sie am Ende einer Bank; die einheimischen Stammtischbrüder hatten ihr widerwillig Platz gemacht. Georgia erinnerte sich an die Stille, als sie ihr Bier getrunken hatten. Hatte es an ihrer und Peters Anwesenheit gelegen oder an dem Jungen, der immer noch Flöte spielte? Er spielte nicht lange, denn der große stämmige Mann hinter dem Tresen hatte sich zu ihm gebeugt und ein paar Worte gesagt, woraufhin er prompt Penny Lane angestimmt hatte. Die Gäste hatten sich daraufhin sichtlich entspannt. Aber die Melodie war Georgia im Gedächtnis geblieben, und dann und wann erinnerte sie sich an sie. Ihr Klang suchte sie immer wieder heim.

Heimsuchen? Die Geister fielen ihr wieder ein. Laut Canterbury Express fanden in diesem Dorf Geisterführungen statt.

„Ein trauriger Ort“, bemerkte Peter.

Georgia wollte diesem subjektiven Urteil widersprechen, aber die Ehrlichkeit verbot es ihr. Es war ein trauriges Dorf oder jedenfalls ein trauriger Pub gewesen. Ihr gemeinsamer Riecher für solche Dinge machte ihre Partnerschaft erfolgreich. Sie hatten beide einen Instinkt für die Atmosphäre, die in Gebäuden oder Dörfern in der Luft hing, oder sogar in Stadtteilen. Die Vergangenheit, das wussten sie beide, ob sie nun kurz oder lange zurücklag, hinterließ die Fingerabdrücke unerledigter Angelegenheiten in der Gegenwart. Wenn manche Leute darin Gespenster sahen, mit welchem Recht konnten Marsh & Daughter dann behaupten, sie lägen falsch? Aber Peter tat es trotzdem. Er sträubte sich seit jeher heftig gegen die Vorstellung von kopflosen Reitern oder klagenden Jungfrauen. Aber etwas in diesem Zeitungsartikel hatte sein Interesse geweckt und es war nicht nur die normale menschliche Reaktion darauf, dass ein junges Leben brutal ausgelöscht worden war.

„Wir wissen nicht, ob Friday Street traurig ist“, wandte Georgia ein. Es gehörte zu ihrer Arbeit, Peters Begeisterung zu zügeln, wenn diese überschäumte. „Wir haben das Dorf danach nicht weiter erkundet. Vielleicht herrschte im Pub einfach nur gerade schlechte Stimmung, als wir Weihnachten dort waren.“

„Alice Winters, das erstochene Mädchen, war die Tochter eines Bauern, mitten im Jahr zwischen Schule und Universität. Sie hat auch als Teilzeitkraft im Pub gearbeitet.“

Das brachte Georgia zum Schweigen. Ihr gesunder Menschenverstand kämpfte mit ihrem Instinkt. Nach einer halben Stunde wusste man wirklich noch nicht viel, aber dass ausgerechnet an diesem Ort ein Mord geschehen war, konnte sie nicht ignorieren. Und dennoch, das sagte ihr die Logik entschieden, bewies es nichts.

„Das Problem ist“, fuhr Peter hochmütig fort, als sie nicht antwortete, „dass Beweisen leichter ist als Widerlegen.“

Georgia stimmte ihm zu. Die Serie Marsh & Daughter über wahre Verbrechen verband die Vergangenheit mit der Gegenwart. Wenn sie keinen Bezug der „Fingerabdrücke“ von heute zu Gewalt oder Ärger in der Vergangenheit fanden, hieß das nicht unbedingt, dass es keinen gab. Aber wie tief grub man, bevor man sich eingestand, dass es keinen Sinn hatte?

„Bis zu den Gräbern aus der Bronzezeit?“, fragte sie, halb im Ernst.

„Warum nicht?“, erwiderte Peter, sehr ernst. „Es gibt reichlich davon in dieser Gegend!“

„Fingerabdrücke auf der Zeit sind doch nur interessant, wenn es noch lebendige Erinnerungen gibt.“

„Vergiss nicht die lebenden Legenden! Manche Geschichten werden von Generation zu Generation weitergegeben!“

„Ich grabe nicht bis zur Bronzezeit“, sagte Georgia entschieden. „Luke wäre nicht damit einverstanden.“

Luke war Georgias und Peters Verleger und außerdem Georgias Freund – im Moment dachte sie in dieser Reihenfolge an ihn, weil sie gerade im Büro war. Er war eher Geliebter als Partner, denn er arbeitete und wohnte in South Malling auf der anderen Seite von Maidstone, aber er spielte eine wichtige Rolle für Vater und Tochter, sowohl beruflich als auch privat. Die Morde von Wickenham war ihr sechstes Buch, das bei ihm erschien. All ihre Werke basierten auf einem oder mehreren Fällen, in denen unerledigte Angelegenheiten aus der Vergangenheit ihren Schatten auf die Gegenwart geworfen hatten. Meistens hatten Marsh & Daughter – das war ihr Firmenname – eine überzeugende Lösung gefunden. Normalerweise fiel Georgia der Großteil der „Beinarbeit“ zu. Peter war nicht so beweglich wie sie (jedenfalls theoretisch). Seine Laufbahn bei der Polizei hatte ein jähes Ende gefunden, als er angeschossen worden war; seitdem war er querschnittsgelähmt. Er verbrachte mehr Zeit am Computer mit organisatorischen Dingen und erledigte den Großteil der Schreibarbeit. Luke hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie diese Arbeit aussehen sollte. Er mochte Archäologie, aber nicht in seinen Büchern über wahre Verbrechen. Archäologie war Lokalgeschichte und davon ließ er sich nicht abbringen.

„Er braucht nicht einverstanden zu sein. Wir haben nichts gegen Friday Street in der Hand – außer einer seltsamen Melodie.“

„Und den Namen des Dorfes“, gab Georgia widerwillig zu. „Ich habe Weihnachten nachgeschlagen, wo er herkommt.“

„Warum?“ Jetzt war es an Peter, nachzuhaken.

Georgia saß in der Falle. „Wegen der Melodie, nehme ich an, und wegen der engen Dorfgemeinschaft.“ Im Montash Arms (sogar den Namen hatte sie behalten) hatte man den Zusammenhalt viel stärker empfunden als in anderen Dörfern, aber es hatte eine schwermütige Atmosphäre geherrscht.

„Und was haben deine Nachforschungen ergeben?“

„Es gibt – oder gab – viele kleine Weiler in England, die Friday Street hießen, vor allem im Süden. Freitag galt früher als Unglückstag. Das tut er manchmal immer noch. In Fischerdörfern–“

„Wird das ein Vortrag?“, unterbrach Peter.

„Ja“, erwiderte Georgia mit Würde. „So wie der, den du mir gestern Abend über die EU gehalten hast.“

„Akzeptiert“, sagte er gnädig.

„Fischer fuhren freitags nicht zur See.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den North Downs viele Fischer gibt.“

„Und außerdem“, fuhr Georgia hartnäckig fort, „meinen einige Experten, dass der Name entstanden ist, weil die Straße zum Galgen des Dorfes führte.“

Peter war Feuer und Flamme. „Ich frage mich, ob es sein kann, dass–“

„Dort noch die Atmosphäre des Galgenplatzes herrscht?“, beendete sie den Satz für ihn. „Möglicherweise ja, denn unser Friday Street hat sich offenbar sein Nachbardorf einverleibt, nicht umgekehrt. Ich habe es als eigenständige Gemeinde in Erinnerung, mit einer Kreuzung, von der mehrere Straßen abzweigen, aber dann habe ich in unseren alten Landkarten von Kent nachgesehen. Das Dorf hieß bis ins 18. Jahrhundert Pucken und Friday Street war ein Weiler. Pucken bedeutet zufälligerweise ‚böse Geister‘!“

„Unglaublich, dass wir unser halbes Pint dort überlebt haben!“

„Aber das heißt alles nicht, dass Alice Winters’ Tod irgendetwas mit der unglückseligen Vergangenheit des Dorfes zu tun hat – falls es denn eine hat“, sagte Georgia schnell. Noch während sie sprach, dachte sie an die Geschichte von Lady Rosamund und fragte sich, warum es in Friday Street anscheinend so viele Geister gab, dass sich eine Führung über sie lohnte.

„Nein.“ Peter lächelte engelhaft.

Sie legte eine kurze Pause ein und fragte dann so beiläufig sie konnte: „Wer veranstaltet diese Führungen?“

„Ich dachte schon, du würdest nie fragen.“ Peter wurde wieder ernst und las weiter. „Offenbar finden sie im Herrenhaus des Dorfes statt. Es heißt immer noch Pucken Manor. Auf diesen Führungen werden die schrecklichen Taten nachgestellt, die dort im Lauf der Jahrhunderte begangen wurden, und zweifellos – du brauchst es mir nicht extra zu sagen, Georgia – kann es an dieser Allgegenwart der Vergangenheit liegen, dass uns der Ort so traurig vorkam. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat das sowieso nichts mit Alice Winters zu tun, da stimme ich dir zu. Aber trotzdem, Georgia – die Sache fängt an, mich zu interessieren.“

„Erst, wenn du mit dem Korrekturlesen fertig bist!“

Sie mussten pünktlich fertig werden oder Luke würde nie wieder mit ihr reden.

„Sie wurde in einer abgelegenen Ecke des Dorfes erstochen aufgefunden.“

„Wie alt war sie?“, fragte Georgia abrupt.

„Achtzehn.“

Das war das Problem bei ihrer Arbeit, dachte Georgia ironisch. Es war keine polizeiliche Untersuchung, bei der man unvoreingenommen sein und mit den Tatsachen anfangen musste. Marsh & Daughter begannen mit der Entscheidung, ob sie etwas untersuchen sollten oder nicht. So sehr sie sich auch später auf Tatsachen beriefen, am Anfang standen immer „Fingerabdrücke“. Auch wenn ihre Fälle sich meistens in der Vergangenheit ereignet hatten, bestand immer die Gefahr, dass man Verwandte und Freunde aus der Gegenwart hineinzog. Manchmal gruben sie traurige Erinnerungen aus und es ergab sich kein Fall, der es rechtfertigte. Aber Alice Winters’ Tod war eine Ausnahme.

„Es geht rückwärts, nicht wahr?“, fuhr sie fort, als könne Peter ihre Gedanken lesen. Sie arbeiteten so eng zusammen, dass er es oft genug wirklich konnte, und umgekehrt war es genauso. „Normalerweise versuchen wir, ein Problem aus der Vergangenheit auszugraben. Wenn wir mit einem aktuellen Fall wie Alice Winters anfangen, haben wir nur eine sehr wacklige Hypothese, weil wir unbewusst in der Vergangenheit nach einer Antwort für die Gegenwart suchen werden. Und außerdem hat die Polizei wohl sowieso schon die Lösung. Es ist ohnehin ein Fall für die Polizei, nicht für uns.“

Stille trat ein. Georgia hörte zu, wie Peter mit den Fingern auf den Tisch trommelte, bis sie es nicht mehr aushielt.

„Warum rufst du nicht Mike an?“, fragte sie resigniert.

Das Trommeln verstummte sofort. „Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Obwohl“, fügte er hinzu, „ich es sowieso getan hätte.“

„Natürlich.“

Detective Inspector Mike Gilroy war in Peters Zeit bei der Polizei sein Sergeant gewesen und auch wenn Mike bei der Polizei von Kent, Bereich Stour, die Karriereleiter immer weiter erklomm und kein Ende in Sicht war, behandelte Peter ihn immer noch wie seinen persönlichen Untergebenen.

„Nur für den Fall, dass irgendein Zweifel an der Schuld dieses Jake Baines besteht. Nicht, dass Mike darüber reden würde, wenn er ihn schon verhaftet hat. Aber man weiß ja nie. Vielleicht bekomme ich von ihm ein paar Denkanstöße.“

***

Sie wohnten in Haden Shaw, einem Dorf, das etwas größer war als Friday Street, in dem aber Ruhe herrschte. Georgia hatte im Atlas gesehen, dass Friday Street an einer Durchgangsstraße lag, wenn man es so nennen konnte – es waren nur noch ein paar kleine Landstraßen, die von der A20 nach Ospringe und Faversham führten. Haden Shaw war dagegen eigentlich eine Sackgasse; die Straße aus Canterbury führte ins Dorf, machte eine Biegung und mündete dann wieder in die Hauptstraße.

„Sie hat einen Blick auf Haden Shaw geworfen, es sich dann anders überlegt und ist umgekehrt, Gott sei Dank“, hatte Georgia einmal zu einem wütenden Motorradfahrer gesagt, der sich verfahren hatte. Er hatte sich bitter darüber beklagt, dass die Straße ins Nichts führte, noch dazu noch ohne Sinn und Zweck. Offenbar hatte er ihren gemütlichen Pub nicht gesehen.

Peters und Georgias benachbarte Reihenhäuser wurden sowohl ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit als auch der Notwendigkeit, sich für die Arbeit jederzeit treffen zu können, gerecht. Das Büro befand sich im Erdgeschoss von Peters Haus. Das passte Georgia nach ihrer Scheidung von dem Trickbetrüger Zac Taylor ausgezeichnet und sie schob die Entscheidung, es gegen Lukes geräumiges Zuhause einzutauschen, vor sich her. Das Haus war nicht der entscheidende Faktor; ihre Unabhängigkeit war es.

Als sie am nächsten Morgen Peters Haustür aufschloss, folgte sie ihrer Routine – sie sprach mit Margaret, die viel mehr war als nur Peters Betreuerin. Sie war energisch genug, um mit seinen Launen fertig zu werden, wusste, wann sie gehen und wann sie bleiben musste, sie war eine fantastische Köchin und sein Wohlergehen lag ihr wirklich am Herzen. Das war gut, denn man wusste nie, wann Peter einen schlechten Tag haben würde.

Margaret war im Büro und räumte sein sogenanntes Frühstück ab – Kaffee und einen Apfel, wobei Ersterer Vorrang hatte. Georgia hob eine Augenbraue – ihr gemeinsames stummes Zeichen –, als Margaret mit dem Tablett herauskam, und war erleichtert, als sie nickte.

„Ah, Georgia.“ Peter wirbelte in seinem Rollstuhl herum und strahlte. „Was diesen Mord in Friday Street angeht – ich habe mit Mike gesprochen.“

„Hat er sich gefreut, von dir zu hören?“

„Über die Maßen! Und bei Alice Winters’ Tod spricht alles dafür, dass es nur der Streit eines Pärchens war, der unglücklich ausging.“

„Und weshalb strahlst du dann so?“ Nur ein Streit? Es musste ein gewaltiger Streit gewesen, wenn er mit einem Mord geendet hatte, dachte Georgia. „Was gibt es?“

„Nur dies und das.“

Sie musste ihm alles aus der Nase ziehen, das stand fest. „Also ein klarer Fall, wie Mike meint? Mit anderen Worten, die Indizien sprechen für die Geschichte dahinter, und die Geschichte deutet auf den Schuldigen hin, in diesem Fall auf Jake Baines.“

„Genau. Er wurde bei der Leiche ertappt, in der Turmruine, in der man die mittelalterliche Legende von Lady Rosamund nachstellt. Alice spielte Lady Rosamunds Geist. Jake war– Nun, ich erspare dir die Einzelheiten.“

Georgia beschloss, nicht anzubeißen. „Wer veranstaltet die Geisterführungen im Herrenhaus? Der Besitzer?“

„Ja. Er ist ein leidenschaftlicher Geisterjäger oder weniger freundlich ausgedrückt, ein leidenschaftlicher Spinner, der ein altes Gemäuer in Stand halten muss. So beschreibt Mike das Herrenhaus. Dieser Enthusiast, Toby Beamish heißt er, macht Führungen für Touristengruppen und gibt den Kindern Wünschelruten–“

„Augenblick. Für Wasser? Ist das Dach undicht?“

„Wünschelruten“, wiederholte Peter geduldig, „für Geister. Und bevor du fragst, ich weiß nicht, wie und warum. Das hat Mike mir eben erzählt.“

„Wie viele Geister gibt es dort genau?“, hakte Georgia nach. „Ich dachte, dass Pluckley den Anspruch erhebt, das Dorf mit den meisten Geistern in Kent zu sein!“

„Wahrscheinlich ist es das auch. Vielleicht machen die Geister dann und wann Urlaub auf Pucken Manor. Jedenfalls steht die Turmruine, in der Alice gefunden wurde, eine halbe Meile entfernt und heißt im Volksmund Rosamund’s Tower, nach einer alten Legende aus dem Mittelalter. Toby Beamish hat auf einer Seite eine Art Theater errichten lassen. Die Touristen fahren mit dem Bus vom Herrenhaus dorthin und sehen einen Auftritt echter Geister.“

„Geister aus Fleisch und Blut?“

„Nein, Georgia, echte Geister.“

„Du meinst“, Georgias Neugier war geweckt, „sie nutzen den Pepper’s-Ghost-Trick und lassen geisterhafte Erscheinungen über die Bühne schweben, die Klagelieder singen?“

„Genau. Was für eine gebildete Tochter ich habe. Sie spielen die altbekannte Geschichte und das ist die von Lady Rosamund, dem Helden und dem Bösewicht.“

„Alles Geister?“

„Zwei von ihnen, wenn ich es richtig verstehe. Alice und Jake. Toby Beamish spielt den Schurken und ist aus Fleisch und Blut.“

Georgia war so abgelenkt, als sie sich dieses Schauspiel vorstellte, dass sie sich schuldbewusst wieder den nüchternen Tatsachen zuwandte. „Wer hat die Leiche gefunden, wenn sie vor dem Auftritt entdeckt wurde?“

„Jake Baines. Er behauptet, sie sei schon tot gewesen, als er ankam. Sie mussten als erste auf ihren Plätzen sein und Toby kam etwas später mit den Besuchern. Er musste nur seinen Zylinder aufsetzen und seinen schwarzen Mantel anziehen.“

„Das ist aber nicht die passende Mode für eine Legende aus dem Mittelalter“, bemerkte Georgia. „Liegt ein gerichtsmedizinischer Befund vor, der uns weiterhilft?“

„Mike wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken. Jake Baines behauptet, er habe sie bewegt, falls sie doch nicht tot war, und dabei vielleicht den Dolch berührt. Der steckte noch in der Wunde.“

„Er hat also nicht gestanden, sie getötet zu haben?“

„Er streitet es vehement ab. Er gibt zu, dass sie am Abend zuvor Krach hatten, meint aber, sie habe ihm gesagt, dass er später kommen solle, weil sie vorher mit jemandem verabredet sei. Er konnte nicht sagen, mit wem, und es klang alles sehr dünn.“

„Sie können den Krach gehabt haben, nachdem er gekommen war.“ Georgia sprach das Offensichtliche aus. Das war immer gut, denn man übersah es nur allzu leicht. „Wo wurde sie gefunden? Hinter der Bühne oder wo auch immer sie ihre Illusionen schufen?“

„Nein. Direkt auf der Bühne. Sie hatte schon ihr Kostüm an; sie haben eine Abstellkammer nebenan, in der hat sie sich umgezogen.“

„Diese Geisterführungen“, sagte Georgia stirnrunzelnd und versuchte, den Zusammenhang zu sehen. „Für wen sind die? Nur für Touristen?“

„Ich denke, von Zeit zu Zeit kommen auch ein paar Fans. Und Leute, die sich für Geschichte interessieren.“

„Was haben Geister mit Geschichte zu tun?“

„Auf diesen Touren erfährt man viele historische Einzelheiten. Und Beamish leitet ein Museum, das man sich erst nach der Tour ansehen kann.“

„Ein Museum über Geister? Das ist etwas dürftig, oder?“

„Es ist ein Museum über Deodanden.“ Peter hielt inne, um das Wort wirken zu lassen, was ihm auch gelang.

Was in aller Welt waren Deodanden?, fragte sich Georgia und zerbrach sich vergeblich den Kopf.

Peter sah sie herablassend an. „Wo sind deine Kenntnisse über mittelalterliches Recht geblieben?“

„Da, wo auch deine sind – tief vergraben.“

„Es hat mit gewaltsamen Todesfällen zu tun. Aber die Einzelheiten können warten.“

„Wirklich?“, fragte Georgia milde. „Mike hat uns einbestellt, nicht wahr?“

„Ganz und gar nicht. Er hat es ausdrücklich nicht getan.“

„Warum hast du dann so gestrahlt, als ich hereingekommen bin?“

„Margaret hatte mir gerade erzählt, dass Ted Mulworthy in Friday Street geboren wurde.“

***

Georgia verstand sich gut mit Ted. Es lohnte sich für jeden, der gern gut aß, sich gut mit dem Fleischer zu verstehen – außer natürlich für Vegetarier. Georgia war jedoch einen Schritt weitergegangen und hatte Teds Tochter Pat bei ihrem Studium geholfen. Hinter dem Fachwerkhaus, in dem Ted und seine Frau wohnten, stand ein Backsteinhaus, das einst die Schlachterei gewesen war. Jetzt diente es Pat und ihrem Mann als Residenz. Teds Frau Joan arbeitete im Geschäft mit und Georgia hatte allen Grund, dafür dankbar zu sein. Ihre Pasteten waren wunderbar für ein schnelles Abendessen.

„Morgen, Georgia, was kann ich für dich tun?“ Ted war ein sanfter Riese, aber mit dem Fleischerbeil in der Hand sah er dennoch imposant aus.

Sie begann eine harmlose Diskussion über Rindfleisch und ob sie Hochrippe oder Lende nehmen sollte, denn Luke würde am Sonntag kommen. Als das erledigt war, kam sie auf ein anderes Thema zu sprechen. „Margaret hat erzählt, dass du aus Friday Street kommst.“ Es klang fragend und das Fleischerbeil verharrte mitten in der Luft.

„Es ist lange her, dass ich dort gewohnt habe.“ Das Beil wurde vorsichtig hingelegt.

„Mein Vater hat erwähnt, dass ein Barmädchen ermordet wurde. Die Tochter eines Bauern.“

„Die junge Alice. Ich habe davon gehört.“ Er sah sie an und seine kurz angebundene Art forderte sie heraus, mehr zu sagen.

Sie beschloss, das Gefecht mit Bedacht zu beginnen. Wie die meisten Fleischer, die sie kannte, steckte Ted normalerweise alles locker weg, aber die Winters waren vielleicht seine besten Freunde.

„Kennst du die Winters?“, fragte sie.

„Jeder kennt die Winters. Sie sind schon seit Jahrhunderten in Friday Street, einige meinen, sie hätten den Ort gegründet – bis auf die, die behaupten, sie hätten ihn selbst gegründet. Bill Winters ist vor ein oder zwei Jahren gestorben. Seine Frau Jane bewirtschaftet jetzt den Hof und Alice war ihr einziges Kind.“

Das machte es noch schlimmer. Georgia war entsetzt. „Was für eine furchtbare Tragödie“, sagte sie aufrichtig, „nicht nur für die Winters, sondern auch für das ganze Dorf, es ist ja so ein kleiner Ort.“

Es gab viele solcher kleiner Gemeinden, die versteckt in Kent lagen. Autobahnen donnerten an ihnen vorbei und ließen sie schlafen. Aber wenn die gleichen Familien dort seit Generationen unbehelligt lebten, konnte dieser Schlaf nicht nur Träume, sondern auch Alpträume mit sich bringen.

Ted fing kommentarlos wieder an, das Beil zu schwingen.

Sie blieb beim Thema. „Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Mörder schon gefasst – ein junger Mann.“

Falls er es denn getan hat.“ Ein kräftiger Hieb.

„Warum sagst du das?“

Er drehte sich um, diesmal mit dem Beil in der Hand, und mit rotem Gesicht. „Heutzutage weiß man nie, oder? Heute wird einer verhaftet, am nächsten Tag kommt er frei, dann wird er schuldig gesprochen und darf dann auf Bewährung raus. Ich weiß nicht, was diese Leute die ganze Zeit machen.“

„Wenigstens gibt es keinen Galgen mehr im Dorf. Es ist nicht zu spät, die Unschuld eines Verurteilten festzustellen.“ Georgia sah an Teds Gesicht, dass sie besser das Thema wechseln sollte, und fing an, von einem Mord aus dem 18. Jahrhundert zu reden, begangen von einem Mädchen, das bei seiner Tante gewohnt hatte. Sie war für schuldig befunden worden, ihre Tante ermordet zu haben, obwohl sie kein offenkundiges Motiv hatte und noch auf dem Weg zur Hinrichtung gefasst ihre Unschuld beteuerte. Damals hatte es noch keine Ludovic Kennedys gegeben, die „Einspruch!“ gerufen hatten, und auch keine investigativen Journalisten, die sich für sie eingesetzt hatten.

Ted ließ sich nicht täuschen. „Warum interessierst du dich so für Alice Winters, Georgia? Für eins deiner Bücher?“

„Wir befassen uns nicht mit Morden aus der Gegenwart“, sagte sie wahrheitsgemäß. Nun ja, beinahe wahrheitsgemäß, mit ein paar kleinen Einschränkungen. „Das ist Aufgabe der Polizei.“

„Halt dich von Friday Street fern, Georgia. Das rate ich dir. Der Ort bringt Unglück, das war schon immer so. Außerdem bleiben die Leute dort lieber unter sich.“

„Auch, wenn es um einen Justizirrtum geht?“, fragte sie und wusste nicht recht, warum sie so hartnäckig blieb. Sogar ihr selbst erschien es ratsam, den Mund zu halten und sich mit ihrer Hochrippe davon zu machen.

„Friday Street hat seine eigene Art, mit so etwas fertig zu werden.“

„Lynchjustiz?“, fragte sie erschrocken.

Sein Gesicht verfinsterte sich. „Nein. Die Musik.“

„Welche Musik?“ Georgia war erschüttert. Ted hatte sie aus der Fassung gebracht.

„Erzähl das bloß nicht weiter. Du hast das nicht von mir, verstanden? Es ist die Musik, die Flöte. Die ertönt immer in Friday Street, wenn es zu einem Justizirrtum gekommen ist. Sie war zu hören, als Jake Baines verhaftet wurde, hat man mir gesagt. Und das macht zwölf Pfund zwanzig, bitte.“

***

„Aberglauben“, schnaubte Peter.

„Auch Aberglauben muss einen Ursprung haben“, widersprach Georgia. Sie wusste, dass er genauso angetan von der Idee war wie sie, aber jemand musste den Gegenstandpunkt vertreten. „War Musik zu hören?“

„Ich bezweifle, dass Mike so etwas als Beweis gelten lässt.“ Peter musste ihr Gesicht gesehen haben. „Ich werde ihn fragen, aber gib nicht mir die Schuld, wenn er uns wegen dummer Fragen zusammenstaucht!“

Georgia bezweifelte, dass Mike Gilroy jemals jemanden zusammengestaucht hatte. Das entsprach nicht seinem Wesen, er war verbissen und gleichzeitig phlegmatisch. Zusammenstauchen war eher Peters Spezialität.

Sie machte die Korrekturen für ihn fertig und versuchte, die Frage zu verdrängen, was es mit dieser Musik auf sich hatte. Sie wollte unbedingt wissen, ob es die Musik war, die sie Weihnachten gehört hatten. Es würde die seltsame Reaktion im Pub erklären. Sie hatte eindeutig eine besondere Bedeutung gehabt. Auf ihre höfliche Nachfrage hin hatte man ihnen gesagt, dass es eine traditionelle Melodie aus dem Dorf sei – und der Junge ein fauler Kerl, der in der Küche helfen sollte, statt alberne Lieder zu spielen. War das vielleicht Jake gewesen? Sie erinnerte sich auch an das Barmädchen, ein Mädchen mit hellem Haar und einem vorwitzigen, lebhaften Gesicht. Alice Winters? Der Pub hatte sicher mehrere Barmädchen und Kellnerinnen, deshalb beschloss sie, sich nicht dieses Bild von Alice einzuprägen.

Als sie Peter das nächste Mal sah, machte er ein sehr langes Gesicht.

„Mike hat sich totgelacht, nicht wahr?“, fragte sie mitfühlend und etwas schuldbewusst, weil sie ihn nicht selbst angerufen hatte.

„Nein, liebste Tochter, das hat er nicht. Er sagte, er habe bei der Untersuchung etwas von Musik gehört, aber sie dachten nicht, dass ein Lied auf einer alten Flöte vor Gericht als Beweis für Unschuld gelten würde. Aber er hat auch gesagt, dass er sich vielleicht geirrt hat.“

„Sarkasmus bringt uns nicht weiter.“

„Und Gespräche über Folklore auch nicht.“

„Es sieht dir gar nicht ähnlich, so zu argumentieren. Was ist mit unseren Fingerabdrücken aus der Vergangenheit?“

„Es gibt dringendere Angelegenheiten.“ Ihr war das Funkeln in Peters Augen entgangen. Er hatte ihr etwas verheimlicht.

„Was ist es?“, fragte sie scharf. „Du glaubst, Jake Baines sei unschuldig?“

„Ich habe keine Ahnung und ich verheimliche auch nichts. Es ist wohl eher dein geliebter Fleischer, Ted. Margaret war überrascht, weil Ted es nicht erwähnt hatte. Wenn es in Friday Street einen Geist gibt, dann ist er viel jünger als Lady Rosamund. Ich verstehe nicht, warum sich keiner von uns beiden daran erinnert hat.“

„Woran?“, rief Georgia gespannt, als er innehielt.

„Es gab noch einen Mord in Friday Street, der noch gar nicht so lange her ist, und der mehr Schlagzeilen gemacht hat, als der an Lady Rosamund es getan hätte – oder der an der armen Alice. Vielleicht vergisst man ob der Berühmtheit des Mordopfers den Ort, an dem es passiert ist. Ich kann nicht fassen, dass die Presse den Mord an dieser Winters nicht aufgegriffen hat, vor allem die Boulevard-Zeitungen. Ich nehme an, dass das der Grund ist. Man erinnert sich an die Namen aus dem ersten Fall, aber nicht an den Ort, deshalb hat keiner daran gedacht, in den Archiven oder im Internet nach Friday Street zu suchen.“

„Wer war es?“, fragte Georgia wieder. „Oder soll ich mich an meinen treuen Computer wenden, was viel schneller gehen würde, als deine Geschichte zu Ende zu hören?“

„Mir geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um Genauigkeit. Schon gut“, Peter gab nach. „Es war 1968. Sagt dir das was?“

„Nein – ja – erzähl es mir.“

Sweet Fanny Adams. SFA oder Sweet Fuck All für diejenigen, die damals wagten, das Wort auszusprechen.“

„Natürlich“, hauchte Georgia. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sweet Fanny Adams war der Name einer berühmten, umstrittenen Popgruppe oder vielmehr eines Duos aus den 60ern. Ihre Lieder waren so wild gewesen wie ihr Aussehen und viele basierten auf alten Volksliedern Down among the Dead Men, Poison Green, Allan Water –, denen neue Texte und Melodien beigemischt worden waren. „Adam Jones und Fanny – wie hieß sie noch?“

„Star. Ihr bürgerlicher Name war Frances Gibb. Fanny wurde erstochen und Adam Jones des Mordes an ihr für schuldig befunden.“

„Und der Mord geschah in Friday Street?“, fragte sie ungläubig.

„Ja.“

Sie ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. „Adam Jones wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, vorzeitig entlassen und hat sich dann ertränkt, nicht wahr? Er erstach sie nach einem Auftritt.“

„Einem Auftritt in Friday Street.“

„Wie konnte so ein kleines Dorf es sich leisten, einen Auftritt für dieses berühmte Duo zu organisieren?“

„Fanny wurde dort geboren. 1961 verließ sie das Dorf für immer, ließ sich dann aber erweichen und kam für dieses eine Mal zurück – und wurde zum Dank ermordet.“

„Von Adam Jones.“

„So urteilte das Gericht.“

Eine Pause, dann sprach Georgia aus, was sie wohl beide dachten. „Ich frage mich, ob die Musik damals zu hören war.“

2. Kapitel

In Friday Street geboren. Aus irgendeinem Grund ging Peters beiläufige Bemerkung Georgia nicht aus dem Kopf. Sie fühlte sich in den Pub Montash Arms zurückversetzt. Dort hatte sie nicht unbedingt Feindseligkeit erlebt, aber doch einen Zusammenhalt, bei dem einer den anderen schützte. Aber weswegen? Und wie hatte Friday Street das einfache Mädchen Frances Gibb in Fanny Star verwandelt? Sie ahnte, dass Peters Gedanken in die gleiche Richtung gingen, denn die Arbeit an ihrem zuvor geplanten neuen Buch war ins Stocken geraten. Peter surfte hektisch im Internet, führte lange Telefonate und mit der Post kamen stapelweise Dokumente. All das war normal, aber nicht alles auf einmal. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Einer von ihnen beiden musste etwas sagen und es würde sicher nicht Peter sein.

„Glaubst du, dass es Zufall war?“, fragte sie vorsichtig. Peter hatte hastig den Hörer aufgelegt, als sie ins Büro kam.

Peter war gut im Bluffen. „Erklär das bitte ausführlicher.“

„Zufall, dass das Verhältnis von Fanny und Adam an einen Punkt geriet, an dem er sie umbrachte – in dem Dorf, in dem sie geboren war? Wo noch all ihre Verwandten und ehemaligen Freunde lebten?“

„Könnte sein.“ Peter machte es ihr schwer und sie verwünschte ihn dafür.

„Ein Verbrechen aus Leidenschaft? Vielleicht waren Fanny und Adam mehr als nur Kollegen? Sie lebten zusammen, nicht wahr?“

„Aus praktischen Gründen.“

„Komm schon! Sie war vierundzwanzig und er sechsundzwanzig!“ Georgia hatte selbst recherchiert.

„Ihr einziges Interesse galt der Kunst.“

„Hör schon auf, Peter. Du interessierst dich für diesen Fall, oder? Wir haben noch nicht annähernd genug Material und das weißt du auch.“

„Nun gut. Ich gestehe. Ich habe mir die Berichte der Times auf Mikrofilm angesehen und mir dann Kopien von Crim-One-Unterlagen über den Fall aus dem National Archive schicken lassen. Ich wollte nur mal einen Blick drauf werfen“, fügte er wehleidig hinzu.

„Was hast du dir schicken lassen?“, fragte sie, eher neugierig als ärgerlich.

„Nur Zeugenaussagen.“ Er blickte finster drein. „Ich konnte leider keine vollständige Mitschrift des Prozesses aufstöbern, weder in Steno, noch auf Tonband. Wenn Revision eingelegt wurde, habe ich vielleicht Glück gehabt. Ich habe es überall versucht und gehofft, irgendwo eine Mitschrift zu finden, aber ohne Erfolg. Es ist zu lange her.“

„Dann erzähl mir, was du hast“, befahl sie. Sie konnten es auch gleich durchkauen, dann hatten sie es hinter sich und konnten den Fall Fanny Star zu den Akten legen.

Peter ließ sie nicht so leicht davonkommen. Er seufzte tief. „Es ist so schwül hier drinnen, ich gehe ein. Lass uns irgendwo hinfahren, wo ich den Kopf freibekommen kann!“

„Aber nicht nach Friday Street“, war ihre Bedingung.

Solange sie die harten Fakten eines Falls nicht wenigstens teilweise aus gedruckten Quellen kannten, war es ein Fehler, den Ort des Geschehens zu besuchen, wo die Reaktionen der Bewohner und die Atmosphäre sie in die eine oder andere Richtung beeinflussen konnten. Sie bremste Peter (und manchmal er sie), bis sie diesen Punkt erreicht hatten, so interessiert sie auch selbst sein mochte. Vor allem, wenn man – wie in diesem Fall – Urheberrechtsfragen berücksichtigen musste, denn Fannys Zeitgenossen würden noch mehr oder weniger quicklebendig sein.

„Seeluft?“, schlug sie vor. „Whitstable?“

„Es ist sinnlos, aufs Meer zu starren, wenn das Problem in einem Dorf mitten im Land steckt!“

„Wie wäre es mit The Devil’s Kneading Trough?“

„Perfekt.“

Es war ein Wochentag und an dem beliebten Platz in den Wye Downs im Nordosten von Ashford herrschte kein Gedränge. Nur zwei oder drei andere Autos standen auf dem Parkplatz und man sah keine Menschenseele auf dem langen Streifen Gras. Von hier aus hatte man Blick auf die herrlichen Hügel und darüber hinaus, bis zum Weald of Kent. In der Tiefe lagen die sanften Mulden, die Kneading Trough seinen Namen gaben.

„Warum ‚The Devil’s‘?“, fragte sich Georgia laut.

„Wo ein Teufel ist, ist auch ein Heiliger“, antwortete Peter und steuerte seinen Lieblingsplatz an.

„In der Kirche von Wye?“ fragte Georgia.

„Nein. Kent ist eine interessante Gegend“, sagte Peter. „Jahrhundertelang sind verschiedene Zivilisationen darüber hinweg marschiert – und das 20. Jahrhundert hat sich damit hervorgetan, dass es alles aufgewühlt hat, um Straßen und Eisenbahnlinien und so weiter zu bauen – und trotzdem ist es noch dort unten. Sieh dir diese Aussicht an! Die Natur siegt, klar? Teufel und Heilige kommen und gehen, aber Kent bleibt. Und nein, der Heilige hat nichts mit der Kirche von Wye zu tun. Da drüben ist irgendwo ein heiliger Brunnen“, er wies auf eine Stelle hinter Kneading Trough, „dem heiligen Eustachius gewidmet. Er hatte angeblich heilende Kräfte, aber heute gehen die Leute lieber zum Arzt. Und dort drüben“, er schwenkte den Zeigefinger nach links, „gibt es noch Ortsnamen, die wahrscheinlich auf eine prähistorische Siedlung mit eigenen heiligen Stätten zurückgehen – deshalb wurden sie wohl später im wahrsten Sinn des Wortes verteufelt! Und damit“, fügte er hinzu, weil er offenbar bemerkt hatte, dass Georgia ihn ansah, „sind wir wieder bei Friday Street.“

„Das sehe ich nicht so. Du blickst in die falsche Richtung. Es liegt hinter uns.“

„Es ist die richtige Richtung. Was wir Weihnachten dort gespürt haben, sehen wir hier vor uns – die Gegenwart als Ergebnis der Vergangenheit. So sehr eine Generation sich auch bemüht, sie auszulöschen – es gelingt ihr nur, sie zu zuzuschütten, sowohl geistig, als auch körperlich. Ich habe den Verdacht, dass es auch in Friday Street so war.“

„Dann wäre es für uns eine geistige Ausgrabungsarbeit“, sagte Georgia.

„Genau. Im Moment haben wir–“

„Sweet Fanny Adams“, soufflierte Georgia hilfsbereit.

„Und noch viel mehr Schichten, die tiefer liegen. Dreißig Jahre reichen nicht, um das zu erschaffen, was wir Weihnachten vorgefunden haben.“

„Also, zurück zu Frances Gibb“, sagte Georgia energisch.

Peter grinste kameradschaftlich. „Mach, was du willst. Lass uns fachsimpeln. Sie verließ Friday Street 1961, als sie siebzehn war, um reich und berühmt zu werden, jedenfalls sagt sie das in einem Zeitschriftenartikel.“

„Das ist das Jahr, in dem Epstein die Beatles entdeckt hat.“

„In dem gleichen Artikel steht, unsere Fanny habe die Beatles vorher bereits in Hamburg gesehen und war schon damals überzeugt, dass ihnen die Zukunft gehörte. Unglaublich, an was man sich im Nachhinein alles erinnert.“

„Ganz zu schweigen von Fantasie. Sie kann damals erst sechzehn gewesen sein und Hamburg wäre zu jener Zeit ein seltsames Ziel für eine Klassenfahrt gewesen. Vielleicht hat sie mit ihrer Familie abenteuerliche Ferien verbracht.“

„Ihre Herkunft klingt nicht so abenteuerlich. Mutter Doreen Gibb, Vater Ronald Gibb, ein ehemaliger Marinesoldat, der Dorf-Tischler wurde.“

„Wenn sie Popstar werden wollte, muss sie schon einige musikalische Erfahrung gehabt haben. Was hat sie dazu getrieben, Friday Street zu verlassen und in die große, unbekannte weite Welt zu gehen?“

„Du wirst dich nicht daran erinnern“, sagte Peter zu ihrem Ärger. Georgia war erst nach den 60ern geboren worden. „Die ruhmreichen 60er und die große Revolution in der Musik kamen nicht einfach mit einem Donnerknall, als Epstein in die Liverpool Cavern ging und die Beatles hörte. 1960 brodelte die Revolution nicht nur, sondern war gerade dabei, auszubrechen. Elvis war vielleicht der König, aber in Großbritannien machte Tommy Steele Bill Haley & the Comets im Rock&Roll Konkurrenz und die Balladensänger aus den 50ern waren verschwunden. Lonnie Donegan hatte mit seiner akustischen Gitarre Skiffle- und Folkmusik neu erfunden und alle jungen Rebellen in Großbritannien brannten schon darauf, ihre eigene Rockband zu gründen. Donegans Rock Island Line könnte die junge Fanny inspiriert haben, sich auf den Weg nach London und seinem Rampenlicht zu machen.“

„Ging sie dorthin?“

„Das weiß man nicht. Sie brauchte eine Weile, um zu dem wilden Geschöpf zu werden, das sie 1968 war, als sie ermordet wurde. Ihre erste Single wurde erst 1965 veröffentlicht. Es war eine Single, aber dann eroberte sie die Welt gemeinsam mit Adam, anfangs als Fanny and Adam und dann, als die Revolution richtig losbrach, als Sweet Fanny Adams.“

„Was wissen wir über ihre Jugend?“

„Viele Geschichten, wenig Tatsachen. Man nimmt an, dass sie anfangs einen schweren Kampf hatte, sich dann wahrscheinlich einer Gruppe anschloss, LSD nahm und zuletzt zu Fanny Star wurde.“

In den zwei Wochen, seit Friday Street wieder in ihr Leben getreten war, hatte Georgia ein Video mit einer Aufnahme von Sweet Fanny Adams gefunden und es sich mehrmals angesehen. Sie war fasziniert von Fannys Lebendigkeit – wer sie sah, hätte glauben können, sie sei noch in den Charts. Ein zierliches Mädchen, nicht groß, aber voller Energie, die sie sogar im Film umgab wie eine Aura. Die Aufnahme war in Schwarzweiß, aber sie hatte noch eine andere, kürzere in Farbe entdeckt, in der die Wirkung der wilden roten Haare und der funkelnden grünen Augen voll zur Geltung gekommen war. Adam war ruhiger, der Träumer der beiden. Er war nicht viel größer als sie und sein schmales freundliches Gesicht sah ganz anders aus als ihre scharfen Züge mit den Sommersprossen. Wenn man sie gefragt hätte, wem der beiden sie einen Mord zutraute, hätte Georgia auf Fanny gesetzt, nicht auf Adam. Was hatte ihn zum Mörder gemacht?

„Du hast die 1960er Jahre erlebt, Peter. Du warst ...“ Georgia rechnete. „Zweiundzwanzig, als Fanny starb, und du hast–“ Sie brach ab, als sie merkte, wohin das führte. Eine gefährliche Klippe, die sie unbedingt umschiffen musste.

„Deiner Mutter den Hof gemacht“, vollendete Peter den Satz für sie. „Die Teenager-Begeisterung für Popmusik hatte ich schon hinter mir, aber ich nehme an, die allgemeine Stimmung der Freiheit hat mich angesteckt.“

„Der Zeitgeist?“

„Den Zeitgeist erkennt man, wenn die Zeit vorbei ist, nicht, während sie andauert. Wenn man sie erlebt, erscheint einem alles ganz normal. Ich glaube, mir war bewusst, dass wir mit althergebrachten Sitten brachen. Ich weiß noch, dass Elena“, Peter zögerte, fuhr dann aber ohne weiteres fort, „dass deine Mutter sich erdreistete, sich ihrer Mutter zu widersetzen und ohne Handschuhe ins Theater zu gehen.“

Elena. So nannte er sie nie mehr, dachte Georgia. Ein seltener Versprecher. Ihre Mutter lebte mit ihrem zweiten Mann in Frankreich. Die Last war ihr zu schwer geworden – das Verschwinden ihres Sohnes und ein Jahr später Peters Unfall. Georgias Bruder Rick war auf einer Reise in Frankreich verschwunden und es hatte keine Erklärung gegeben, weder damals noch später. Keine Leiche, keine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war die eigene unerledigte Angelegenheit der Familie Marsh.

„Im Nachhinein“, fuhr Peter fort, „sehe ich, wie groß die Veränderung war, vor allem in der Musik. Damals wirkte es wie ein Fieber, das vorübergehen würde, dann wurde es eine hartnäckige Warze auf der ,richtigen Musik‘ und wurde erst allmählich zu einem Teil der ,richtigen Musik‘. Sweet Fanny Adams war auf der wilderen Seite. Die Beatles, die Rolling Stones, Jimi Hendrix, Dusty Springfield, die Seekers irgendwie ist es SFA gelungen, sie alle zu verkörpern, und das war Fanny zu verdanken. Sie war der Magnet, sie war das Leben.“

Das waren starke Worte für Peter. Georgia war beeindruckt, dass er es so tief empfand. „Erzähl mir von der Musik“, bat sie. „Ich kenne nur das berühmte Album, das mit den Folksongs mit Rock&Roll-Sound, United Kay.“

„An das erinnern wir uns alle. Die davor kenne ich auch nicht. Nur das eine, weil United Kay lange genug nach Sergeant Pepper von den Beatles erschien – und bevor die Rolling Stones ihren Durchbruch hatten. Nicht zu viel Frieden und Harmonie, aber voll positiver, wenn auch wilder Lebenskraft – keine Zerstörung und Gewalt. Dann wurde sie zwei Monate nach dem Erscheinen ermordet.“

„Aber warum? Was hatte Adam Jones für ein Motiv?“

„Laut Anklage war sie die treibende Kraft des Duos. Sie strebte eine Solokarriere an, Adam nicht. So berühmt er auch war, es war unwahrscheinlich, dass er es allein schaffen würde.“

„Dann war es nicht zweckdienlich für ihn, sie umzubringen“, bemerkte Georgia.

„Stimmt. Aber ob er in der Aufregung des Moments daran gedacht hat?“

„Sie wurde erstochen. War es in den 1960er Jahren normal, dass junge Männer ein Messer dabeihatten, falls es Krach gab?“

„Nein, Georgia, das war es nicht. Die Anklage behauptete auch, dass noch mehr im Spiel war. Sex, um genau zu sein. Laut Zeugenaussagen gab es einen anderen Mann in ihrem Leben, ihren Manager Jonathan Powell, und da Adam und Fanny zusammenlebten, war es einfach, nicht nur von beruflicher Konkurrenz auszugehen, sondern auch von persönlicher Eifersucht, nach dem Motto: ‚Wenn ich sie nicht haben kann, kriegst du sie erst recht nicht!‘“

„Möglich“, stimmte Georgia zu. „Wer waren diese Zeugen?“

„Ich habe zwei Aussagen von Leuten gelesen, die an ihrem Todestag bei ihr waren, darunter unser Freund Toby Beamish. Jonathan Powell war auf dem Konzert. Es scheint ein richtiges Feuerwerk gewesen zu sein.“

„Wo genau fand es statt?“

„Auf dem Gelände von Downey Hall. Ich glaube nicht, dass wir es gesehen haben, als wir dort waren. Es gehörte damals einem Henry Ludd und seiner Frau Joan. Es ist ein Haus aus dem 18. Jahrhundert, das auf der Generalstabskarte vermerkt ist, weil zuvor zwei ältere Häuser dort gestanden hatten. Es gibt auch Gerüchte über Verbindungen zu Schmugglern, aber vielleicht wollte man damit nur den Geistern von Pucken Manor Konkurrenz machen. Am 22. Juni 1968 feierten sie die Verlobung des älteren Sohnes, Michael Ludd, mit einer Sheila Hawkins. Nachmittags fand ein Konzert statt, zu dem das ganze Dorf eingeladen war, und abends ein Essen und ein privater Auftritt nur für geladene Gäste. Fanny wurde tot aufgefunden, kurz bevor Letzterer anfangen sollte. Man entdeckte ihre Leiche im Wald an einer abgelegenen Stelle, sie lag auf einem Regenmantel und der Dolch neben ihr.“

„Ein Regenmantel passt irgendwie nicht ins Bild“, bemerkte sie. „Wer hat die Leiche gefunden?“

„Adam Jones. Er weinte sich die Augen aus, als andere dazukamen, und saß noch neben ihrer Leiche, als Henry und Michael Ludd erschienen.“

Das klang ziemlich endgültig, jedenfalls für Peter. Georgia blieb vorsichtig. „Was gab es für Beweise gegen Adam?“

„Er gab zu, dass er am gleichen Tag Streit mit Fanny gehabt hatte. Ihr Blut klebte an seinen Sachen, seine Fingerabdrücke waren auf dem scharfen Gegenstand. Er behauptete, ebenso wie Jake Baines, er habe noch in ihrer Brust gesteckt, als er sie fand. Aber anders als Jake sagt er, er habe ihn instinktiv herausgezogen und dabei sei Blut auf ihn und rund um die Leiche gespritzt. Es war schon welches auf dem Regenmantel.“

„Es wäre mehr gewesen, wenn er sie erstochen und den Dolch gleich danach herausgezogen hätte.“

„Guter Gedanke. Es muss genug gegen ihn gesprochen haben, wenn das nicht zu seinen Gunsten ausgelegt wurde.“

„Ein scharfer Gegenstand“, nahm Georgia das Stichwort auf. „Also kein Küchenmesser oder ein handlicher Speer der Schweizer Garde?“

„Nein. Ein französischer Dolch aus dem 16. Jahrhundert.“

Georgia erschrak und das hatte Peter wohl auch beabsichtigt. „Warum sollte jemand so etwas mit sich herumtragen, wenn nicht in böser Absicht? Und selbst dann muss es reichlich praktischere Alternativen gegeben haben.“

„Es gibt Grund zur Spekulation.“ Peter blickte hochnäsig drein.

„Gut.“

„Alice Winters wurde letzten Monat mit demselben Dolch umgebracht.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Vertrieben aus dem Paradies der Logik, zurück in den Sumpf der Vergangenheit. Dann merkte sie, dass sie sehr ärgerlich war. Peter hatte ihr etwas verheimlicht – er hatte eine wichtige Information für sich behalten.

„Wie kann das sein?“, fuhr sie ihn an.

„Ganz einfach. Es ist ein Deodand.“

***

„Es hat den Anschein“, erklärte Peter bei Tee und Scones in Wye, „dass die meisten Deodanden nicht bei Mord eine Rolle spielten, sondern bei Tod durch Unfall. Er verursachte den Tod, also trug er die Schuld. ‚Deo dandum‘ bedeutet ‚Gott zu geben‘, aber das gute alte englische Rechtssystem überließ es seinem Stellvertreter auf Erden, dem englischen König. Der Besitzer des ‚schuldigen‘ Wagenrades oder Pferdes – oder später des Schiffes oder gar der Lokomotive – musste nicht einmal am Tod des Opfers beteiligt gewesen sein. Der König bekam die Ausbeute nicht immer selbst – meistens behielt der örtliche Sheriff es für sich oder auch die Stellvertreter des Königs, oft der Feudalherr des Ortes. Manchmal bekam die Familie des Opfers den Gegenstand als Entschädigung, aber mehr aus gutem Willen und nicht durch juristischen Zwang.“

„Hast du ‚Lokomotive‘ gesagt?“ fragte Georgia neugierig. „Du meinst, wenn ein Mann von einem Zug überfahren wurde, musste der Zug abgegeben werden?“

„Unter Umständen ja. Zum Glück für die British Railways, ihre Vorgänger und Nachfolger, wurden Deodanden Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft, aber zumindest ein Zug war schon abgetreten worden.“

„Und dieser Dolch war ein solcher Gegenstand.“

„Ja. Ursprünglich war er tatsächlich eine Mordwaffe. In Toby Beamishs Deodand-Museum in Pucken Manor steht er auf der Liste.“

„Der schrullige Geisterliebhaber?“

„Genau der. Die Deodanden sind ein privates Hobby und bringen nicht so viel Geld wie die Geister.“

„Und ein und derselbe Dolch wurde nicht nur einmal, sondern gleich zwei Mal von dort gestohlen, um einen Mord zu begehen?“ Peter musste etwas missverstanden haben, dachte Georgia skeptisch.

„Du klingst wie eine besonders boshafte Anklägerin“, beschwerte sich Peter. „Oder nein. Der Dolch gehörte der Familie Ludd in Downey Hall, obwohl er eigentlich ein echter Deodand war. Er wurde anlässlich des Mordes an Arabella Nevers abgetreten – ihr untreuer französischer Ehemann erstach sie gegen Ende des Elisabethanischen Zeitalters damit. So landete er bei den Ludds, entweder weil Arabella eine Tochter der Familie war, die damals in dem Haus lebte, das vor Downey Hall dort stand, oder weil der Besitzer des Herrenhauses dort lebte und der Dolch zum Inventar des Hauses gehörte. Er wurde in einer Vitrine in der Eingangshalle ausgestellt. Toby Beamishs Vater und Großvater, die mit dem Dolch in der Hand mit den Ludds auf Kriegsfuß standen – wenn du mir den Ausdruck gestattest – wollten ihn jahrelang für sich haben. Seit Deodanden abgeschafft wurden, ist die Familie besessen davon, sie zu sammeln. Nachdem der Dolch für den Mord an Fanny Adams gestohlen wurde, hat Ludd ihn Tobys Vater gegeben. Er wollte ihn nicht mehr im Haus haben. Der Dolch wurde für den Mord an Alice Winters aus dem Museum entwendet.“

„Ein abenteuerlicher kleiner Dolch“, sagte Georgia. „War es Zufall oder Absicht, dass Jake Baines ihn genommen hat, um Alice Winters umzubringen? Die Adam-Jones-Geschichte ist plausibler. Adam könnte sich den Dolch in Downey Hall geschnappt haben und nach draußen gestürzt sein, um Fanny zu erstechen.“

„Adam hat zugegeben, dass er einen Riesenkrach mit Fanny gehabt hatte. Er kann also genau das getan haben, aber ich glaube, es passt zeitlich nicht.“

„Worum ging es bei dem Streit?“

„Darum, dass sie eine Solokarriere machen wollte, behauptete er.“

„Kein Wort über ihren Liebhaber Powell?“

„Adam stritt ab, dass an dem Gerücht etwas dran sei.“

„Gab es damals irgendwelche Zweifel an dem Urteil?“

„Keine dauerhaften. Es gab Proteste, aber die ebbten ab – wenn man in den Zeitungen zwischen den Zeilen liest, vor allem deshalb, weil Adam Jones selbst nicht mitwirkte. Sieh dir nur an, was alles gegen ihn sprach. Er hatte Zugang zu der Waffe, er hatte ein Motiv, er hatte Gelegenheit und es gab forensische Beweise. Natürlich kann es für alles eine Erklärung geben“, fügte Peter hoffnungsvoll hinzu.

„Das dachte Dr. Crippen wahrscheinlich auch“, fuhr Georgia ihm über den Mund. „Hat Adam Jones je gestanden?“

„Nein.“

„Und ...“ Ging das zu schnell und zu weit? „Wie ist er selbst gestorben?“

„Er wurde im Fluss Medway gefunden. In der Nähe von Maidstone.“

„Irgendwelche Zweifel, dass er sich selbst ertränkt hat?“

„Aus der Untersuchung ging klar hervor, dass es so war.“

„Und wo hat er es getan?“

Peter grinste. „Du bist auf dem richtigen Weg, Georgia. ‚Weit entfernt von Maidstone‘ – das willst du hören. Und außerdem wurde er in Dorset geboren und ist dort aufgewachsen.“

„Warum ist er dann nach Maidstone gegangen, um sich zu ertränken?“, fragte sie langsam. Sie wusste nicht, wohin das führte, aber es konnte von Bedeutung sein.

„In den Zeitungen hieß es, er habe dort sterben wollen, wo er Fanny das letzte Mal gesehen hatte.“

„Das ist ein seltsamer Wunsch, wenn er sie ermordet hat.“

„In der Tat, liebe Tochter.“

Jetzt die große Frage: „Und die Musik in Friday Street? Wurde sie irgendwo in Verbindung mit Adams Verhaftung erwähnt?“

„Mit keinem Wort.“

Sie war unbegreiflicherweise enttäuscht.

„Aber warum hätte das auch erwähnt werden sollen?“, fuhr Peter fort. „Ted hat es dir ja gesagt – Friday Street bleibt gern für sich.“

„Also haben wir noch keinen Fall zu untersuchen.“ Sie hatten nichts in der Hand, nicht einmal eine Melodie.

„Vielleicht doch.“ Peter gab immer noch nicht auf. „Es gibt unbeantwortete Fragen. Was war zum Beispiel mit Powell? Und warum – ich bin überrascht, dass du noch nicht gefragt hast, Georgia – ist Fanny für diesen einen besonderen Auftritt zurückgekommen? Für Leute wie Sweet Fanny Adams war es völlig unbedeutend.“

Sie stimmte zu. „Wenn sie das Dorf nicht nur für Ruhm und Reichtum verlassen hat, ist es unwahrscheinlich, dass sie aus nostalgischer Rührung zurückgekommen ist.“ Sie zögerte. Sie wollte nicht, dass Peter einer falschen Fährte folgte, aber die Tatsachen mussten auf den Tisch. „Der Dolch verbindet die beiden Morde. Kann es noch mehr Verbindungen geben?“

„Was meinst du?“, fragte Peter vage.

„Mike sagt, Alice Winters sei ein klarer Fall.“

„Das ist oft so, bis man an der Oberfläche kratzt.“

„Bisher haben wir nur Zufälle.“

„Und das, was wir Weihnachten erlebt haben.“

„In allen Dörfern in den Downs herrscht zu Weihnachten traurige Stimmung“, widersprach sie. „Der Himmel, die Felder – alles ist trostlos, und es ist Zeit für die Familie, nicht für herzlichen Umgang mit Fremden. Und“, schloss sie energisch, „vielleicht darf ich dich daran erinnern, dass für den Fall Alice Winters die Polizei zuständig ist, und was Fanny und Adam betrifft, so ist SFA genau das, was wir haben. Es gibt nicht einmal das Gerücht, dass die Musik gespielt wurde! Hohes Gericht, ich stelle fest, dass es für diesen Fall keine Lösung gibt.“

Peters Augen funkelten, als würde ihm – zum Teufel mit ihm! – dämmern, dass sie nur überzeugt werden wollte. „Sehr schön. Ich fordere dich heraus. Fahr hin, bewaffnet mit unserem Wissen über Adam und Fanny und unseren spärlichen Informationen über Alice Winters, und komm dann zurück und sage mir, dass wir nicht weiter nachforschen sollten. Das ist dein Problem, Georgia – du glaubst nicht, dass ein Fall quasi vor unserer Haustür liegen kann. Aber das kann er. Je näher am Zuhause, desto größter ist der Balken im Auge. Sieh dir nur an, wie viele Leute der Presse fassungslos erzählen, der Massenmörder sei immer so ein netter Nachbar gewesen.“

Georgia schnaubte. „Das ist eine Verallgemeinerung.“

„Komm nicht vom Thema ab.“

„Nun gut, ich nehme die Herausforderung an. Ich fahre hin ...“ Sie dachte einen Moment nach. „Nein, das tue ich nicht. Ich werde inkognito hinfahren.“

„Mit großem Hut und Sonnenbrille?“

„Ich werde auf gut Glück spazieren gehen.“

„Ganz allein? Da machst du dich verdächtig.“

Georgia lachte. „Ich werde nicht allein sein.“

***

„Verleger“, verkündete Luke erhaben, „stapfen nicht über Felder, um die Recherchen ihrer Autorinnen zu überwachen. Sie erwarten eine sprachlich veredelte Zusammenfassung mit einem Quellenverzeichnis.“

„In dem Fall gibt es kein Mittagessen.“ Georgia lächelte zuckersüß. „Aber komm mit, dann spendiere ich dir im Montash Arms ein Sandwich.“

„Das zweifellos vergiftet sein wird“, bemerkte er. „Friday Street scheint ein Ort der Mordserien zu sein.“

„Du gehst doch gern spazieren.“

„Unter den Baumkronen eines Waldes in Frankreich oder in italienischen Weinbergen vor sich hin zu schlendern ist etwas ganz anderes, als ein Marsch über matschige Felder in Kent, auf die seit Menschengedenken niemand mehr einen Fuß gesetzt hat.“

„Wo ist deine Abenteuerlust geblieben?“

„Sie schleicht sich an meinen Schreibtisch zu meinen Pflichten.“

„Du hast heute frei. Es ist Samstag! Du bist nicht wirklich dagegen, oder?“

„Natürlich nicht.“ Luke lächelte und Georgia lachte.

„Gut. Ich habe schon die Notfalltasche gepackt.“

„Für die Downs von Kent? Dort braucht man doch kein Überlebenspaket für Unterkühlung?“

Georgia ging nicht darauf ein. „Lass uns gehen. Es sind drei Meilen Fußweg bis zum Mittagessen. Das wird uns in Stimmung bringen.“

Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Ein gutes Vorzeichen für heute Nacht.“

„Man weiß nie, was einen erwartet“, sagte sie. In Augenblicken wie diesen dachte sie, wie leicht es wäre, wieder in eine Ehe hineinzugeraten, jedenfalls mit Luke. Abschreckend war nur die Angst, dass eine Tür hinter ihr zufallen und sie mit einem Mann allein bleiben würde, den sie zu kennen glaubte – um dann herauszufinden, dass sie ihn nicht kannte. Vielleicht, nur vielleicht, war er ein weiterer Zac Taylor. Diese Überlegung war unfair, schlich sich aber immer wieder heimtückisch in ihre Gedanken.

Luke blieb oft übers Wochenende bei ihr und manchmal fuhr sie mit ihm nach South Mailing. Aber mit dem Gedanken an Peter im Hinterkopf zog sie Haden Shaw vor. Peter schien allerdings keinen großen Wert darauf zu legen, dachte sie oft, obwohl er gern mit Luke zusammen war.

Wie Luke vorausgesagt hatte, war der Fußweg nach Friday Street nicht gerade ausgetrampelt, aber es war ein schöner Tag und es gab nur hier und da ein paar matschige Stellen. Frühling lag in der Luft, das Getreide begann zu wachsen und an den Bäumen zeigte sich das erste Grün – man konnte sich kaum vorstellen, dass diese windgepeitschten Felder nicht nur eine gewöhnliche ländliche Gegend waren. Und dennoch – als sich Friday Street am Horizont abzeichnete, bekam Georgia Herzklopfen. Lächerlich! Sie würden einen Spaziergang durch das Dorf machen und dann in einen Pub gehen, das war alles.

„Ich lasse mich nicht davon beeinflussen, was Weihnachten passiert ist“, sagte sich Georgia, als sie näherkamen. Friday Street hatte in den Wochen nach dem Mord sicher eine Menge Besucher gehabt, auch wenn sich das öffentliche Interesse an Alice Winters’ Tod in Grenzen gehalten hatte. Wenn jemand den Mord mit Sweet Fanny Adams in Verbindung gebracht hatte, wäre das Echo in den Medien gewaltig gewesen. Zwei Neugierige mehr würden kaum auffallen.

Die Hauptstraße – wenn man sie so nennen konnte, sie war eigentlich nur ein Weg – machte an der Kreuzung mit dem Fußweg eine scharfe Kurve. Ein Zauntritt führte auf den Friedhof, und da die Kirche der Mittelpunkt eines mittelalterlichen Dorfes sein musste, stiegen sie darüber hinweg. Ja, die Kirche sah sehr nach Spätmittelalter aus.

„Vielleicht haben wir Glück und finden Lady Rosamunds Grab“, scherzte Georgia. Aber als sie den Pfad hinaufgingen, fiel ihr auf, dass auf mehreren Grabsteinen der Name Winters stand. Eine grimmige Erinnerung daran, weshalb sie hier war.

„Abgeschlossen“, rief Luke, als er an der Kirchentür rüttelte.

Noch ein Zeichen, dass Fremde draußen bleiben sollten? Sie war paranoid, entschied Georgia. Heutzutage waren die meisten Kirchen abgeschlossen. Sie sah sich die Aushänge am Eingang an und hoffte, den Namen Gibb zu finden. Vielleicht hatte Fanny Brüder gehabt, auch wenn ihr Vater nicht mehr lebte. Sie ging die Namen auf der Liste der Leute durch, die für die Blumen in der Kirche zuständig waren. Sheila Ludd – das musste die ehemalige Sheila Hawkins sein, deren Verlobung mit Michael Ludd gefeiert worden war, an dem Tag, an dem Fanny Star gestorben war. Anscheinend wechselte sie sich am Samstagnachmittag mit Hazel Perry ab. Die Arbeit konnte nicht allzu beschwerlich sein, denn es fand nur alle zwei Wochen ein Gottesdienst statt. Hazel war am Karsamstag – an Alices Todestag – an der Reihe gewesen und hatte dann erst einen Monat später wieder Dienst, das war am kommenden Samstag. Kaffee am Morgen und Tee am Nachmittag gab es auch alle vierzehn Tage in der Kirche, immer unter der Schirmherrschaft einer Miss C. Broome.

„Pub?“, klagte Luke neben ihr.

„Noch nicht.“

„Bald.“

Sie wurde weich. „Warum gehst du nicht in den Pub und ich forsche weiter? Man weiß nie – vielleicht wirkt die große Bruderschaft der Kumpel Wunder.“

Luke dachte darüber nach. „Gute Idee. Vielleicht spüre ich sogar diese merkwürdige Atmosphäre, die dir aufgefallen ist. Wenn wir zu zweit sind, klappt es vielleicht nicht so gut. Wenn ich etwas wirklich Interessantes finde, erwähnst du mich dann in deiner Danksagung?“

„Das tue ich doch immer, Liebling“, erinnerte sie ihn. „Liest du deine eigenen Veröffentlichungen nicht?“

Sie sah ihm nach, als er die Straße hinunterging und verschwand. Er wirkte selbst von hinten vertrauenerweckend. Er war groß und hatte breite Schultern, sein Gang war gemächlich und zielstrebig zugleich. Was auch immer es war – so bekam er, was er wollte. Bis auf sie – bisher. Und eines Tages, wahrscheinlich ...

Nein, denk an Sweet Fanny Adams, rief sie sich in Erinnerung und machte sich auf ihren Erkundungsgang. Luke hatte recht. Allein konnte man in einem Ort besser herumschnüffeln.

Die Kirche musste einst auf dem Anwesen von Pucken Manor gestanden haben, denn ein kleines Stück weiter kam sie an dessen Auffahrt vorbei. Das Haus stand jedoch ein gutes Stück entfernt und war vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Sie sah nur ein Schwarzes Brett aus Holz mit einem offensichtlich selbstgebastelten Plakat: „Nächste Geisterführung.“ Sie blieb stehen und las es. Die Führung sollte am Samstag vor dem Maifeiertag stattfinden. Karten für zehn Pfund, Tee inbegriffen, puckenghosts.com. Das war ein schönes Geschenk für Peter, wenn sie nach Hause kam. Er würde sofort im Internet nachsehen.

Sie schlenderte durch das Dorf und ließ es auf sich wirken – die Mischung der Häuser, alte Cottages, eingeklemmt zwischen Häusern aus dem 19. Jahrhundert. Keine neuen Landsitze, wie es schien. Aber vielleicht lag Friday Street so weit ab vom Schuss, dass sich kein Architekt in seinem eleganten BMW hierher verirrt hatte. Das Dorf wirkte, als sei es immer wieder mit einem Ruck gewachsen, wenn es sein musste, ohne dass viel geplant worden war. Sie ging am Pub vorbei und sah durch das Fenster Luke, der mit einem Pint in der Hand an der Bar saß und mit einer nett aussehenden dunkelhaarigen Frau in den Vierzigern sprach. Also war er nicht auf eine Mauer des Schweigens gestoßen oder er hatte heute ein besonders dickes Fell.

The Montash Arms stand an einer Kreuzung. Einer der beiden Wege musste ursprünglich die Friday Street gewesen sein, dachte Georgia. Ob er nun zum Galgen geführt hatte oder nicht, um Lady Rosamunds Turms zu finden, musste sie der Karte nach zu urteilen diesen Weg hinuntergehen. Sie ging jedoch direkt in Richtung Downey Hall, das inmitten ausgedehnter Ländereien lag, glücklicherweise mit einem öffentlichen Fußweg. Günstig für einen Blick auf das Haus, dachte sie, denn Peter würde einen Bericht erwarten.

Der Fußweg führte über eine riesige, leicht abfallende Wiese. In der Ferne grasten ein paar Kühe im Schatten einer großen Eiche, ihre Kälber standen geschützt zwischen ihnen. Hinter ihnen erhob sich Downey Hall deutlich sichtbar ganz oben auf der Anhöhe, blendend weiß, groß und mit einem imposanten Eingang mit Säulen. Eine lange weiße Mauer zu beiden Seiten des Hauses trennte diesen öffentlicheren Teil des Anwesens von den privaten Gärten. Dort hatte wahrscheinlich das Konzert stattgefunden, dachte Georgia. Wie musste es für Frances Gibb gewesen sein, fragte sie sich, nach Jahren als berühmte Sängerin zurückzukehren? Was war ihr durch den Kopf gegangen? War sie stolz gewesen? Hatte sie gedacht: „Seht nur, was aus mir geworden ist“? Oder hatte sie sogar Angst gehabt? Aber wovor? Dass es nicht der Zufluchtsort sein würde, von dem sie geträumt hatte? Oder davor, was sie erwartete? Aber wenn dem so gewesen war, warum war sie dann überhaupt gekommen?

Der Fußweg machte einen Kreis und führte zurück zu einem Weg, der letztlich zur A20 führte, aber sie überquerte die Felder bis zur anderen Seite. Dort würde sie auf einem anderen Pfad ins Dorf zurückfinden.

Er führte auch, wie sie auf der Karte gesehen hatte, an dem einstigen Platz einer Kirche vorbei. Das ergab Sinn, denn die eine, die sie bisher gesehen hatte, konnte erst aus dem späten Mittelalter stammen. Wenn ja, warum hatte man sie nicht auf dem Platz ihrer Vorgängerin gebaut?, fragte sie sich. Leider war wirklich nur der Platz geblieben. Als sie dort ankam, war nichts zu sehen bis auf unebenen Boden, der verriet, dass Ausgrabungen sehr wohl etwas Interessantes zutage fördern konnten.

Sie traf Luke an, der immer noch an der Bar saß und redete, nicht mehr mit der dunkelhaarigen Frau, sondern mit dem sprichwörtlichen alten Mann in der Ecke, nur dass dieser Mann gar nicht so alt war. Er war Anfang 60, schätzte Georgia, und noch lange nicht reif für die Rente. Aber als sie sich gerade zu ihm setzen wollte, sah sie ein Gesicht, das ihr bekannt vorkam. Das eines jungen Mannes. Im ersten Moment konnte sie ihn nicht einordnen, doch dann erkannte sie ihn. Nicht Jake Baines hatte Weihnachten diese Melodie gespielt, sondern er. Bevor sie auf ihn zugehen konnte, sah Luke sie und es war zu spät.

„Komm und mach Bekanntschaft mit Josh Perry.“ Wie verabredet nannte Luke ihren Namen nicht. Sie war beeindruckt. Er hatte wirklich keine Zeit verschwendet. „Josh war der Wirt hier und nun hat sein Sohn Bob den Laden übernommen.“

„Jetzt fahre ich vom Rücksitz aus“, sagte Josh schleppend. Während sich Luke um Getränke und Sandwiches kümmerte, setzte sich Georgia, um weiter zu reden. Sie erinnerte sich, dass der Name in den Zeugenaussagen aufgetaucht war, die Peter ihr gegeben hatte, also würde sie vorsichtig sein. Sie merkte sofort, dass er ihr nicht feindselig begegnete, auch wenn sein Blick durchdringend, ja sogar argwöhnisch war.

„Hier kommen nur selten Spaziergänger vorbei“, bemerkte er.

„Ich dachte, es wäre eine gute Herberge für Pilger, die etwas zu trinken brauchen“, scherzte Georgia.

„Dafür sind wir zu weit weg von der Canterbury Road. Die meisten bleiben auf dem Pilgerpfad.“ Der führte ein gutes Stück südlich von Friday Street an den Downs entlang. „Sie sind Geschichtsfreaks, nehme ich an.“

„Das stimmt.“ Luke veröffentlichte schließlich Bücher über die Geschichte der Gegend.

„Wir haben keine große Geschichte. Wir sind ein verschlafenes Nest und froh darüber.“

„Friday Street liegt an einer Straße, die über die Downs zur A2 führt“, bemerkte Georgia, als Luke mit den Getränken zurückkam.

„Danke. Prost!“ Josh nippte an seinem Pint. „Davon merkt man nichts. Die Straßen von Doddington nach Faversham und von Charing nach Canterbury sind die Handelswege, kann man sagen. Wir sind eine Gemeinde, in der nur Landwirtschaft betrieben wird.“

„Da habe ich aber etwas ganz anderes gehört“, sagte Luke fröhlich. „Wurde hier nicht auch geschmuggelt?“

Bildete sie es sich ein oder warf Josh Luke einen eindeutig missbilligenden Blick zu? Wenn ja, warum? Es war doch ein harmloses Thema und geeignet, die richtige Atmosphäre für ihre Frage zu schaffen.

„So war es einmal“, gab er zu. „Das Zeug kam aus Whitstable. Organisiert im heutigen Downey Hall mit Hilfe des Pfarrers. Aber die Ware wurde im ganzen Dorf gehortet und manche Leute sagen, ein paar Cottages hätten Tunnel oder Lagerräume unter dem Keller. Ammenmärchen, wenn Sie mich fragen. Jedenfalls ist das ewig her. Heute geht es ohne Schmuggel. Und dem Pub ist es auch gut bekommen.“

„Ihr Geschäft scheint wirklich gut zu laufen“, bemerkte Georgia. „Übrigens, wer ist der junge Mann dort drüben?“ Sie wies in Richtung Bar. „Ich habe ihn schon einmal gesehen, als ich Weihnachten hier war.“

„Tatsächlich? Kein Wunder. Das ist mein Enkel Tim. Er kommt zum Mittagessen, kein Zweifel.“ Josh hievte sich von seinem Barhocker und machte sich auf den Weg in Richtung Küche. „Passen Sie auf sich auf, alle beide.“ Pause. „Und vergessen Sie nicht, sich Lady Rosamunds Turm anzusehen. Deshalb sind Sie hier, nicht wahr?“

Er sprach unbefangen, aber er lächelte nicht. Die Herzlichkeit war verschwunden.

„Lassen wir es dabei bewenden?“, fragte sie Luke, als sie wieder draußen waren. „Wenn wir Glück haben, hält er uns für ganz normale Gaffer.“ Sie war aufgewühlt, aber Luke drängte sie zum Weitermachen.

„Nein. Er hat uns herausgefordert und außerdem möchte ich diesen Turm sehen.“

„Das war der Junge, der Weihnachten Flöte gespielt hat. Ich dachte, es sei Jake Baines gewesen, aber er war es nicht.“

„Ist das wichtig?“

„Vielleicht.“

„Dann los. Zum Turm. Kapituliere nicht vor Friday Street“, sagte Luke. „Selbst wenn wir uns im Dunkeln verlaufen sollten, haben wir immer noch deine Notfalltasche.“

Der Weg führte sie wieder in die ländliche Umgebung, vorbei an abgelegenen Cottages, bis hinter einer Kurve der Turm auftauchte, der sich scharf vor seinem Hintergrund abzeichnete und den kleinen Fenstern nach zu urteilen drei Stockwerke hoch war. Sie hatte sich eine Ruine vorgestellt, aber dieser Turm sah mehr oder weniger ganz aus, jedenfalls von außen. Auf der Spitze waren sogar noch ein paar Zinnen zu sehen.

Man konnte jedoch nicht hineingehen. Die Pforte war fest verschlossen und mit einem Schild versehen, auf dem „Privatbesitz“ stand. Wie Friday Street selbst sagte es: „Draußen bleiben.“

Georgia ärgerte sich, auch wenn es albern war. Hier war Lady Rosamund aus der Legende gestorben und nun, Jahrhunderte später, auch Alice Winters. Und in Downey Hall hatte Fanny Star, der helle Stern, den Tod gefunden. Warum sollten sie sich heraushalten? „Frag nie, wem die Stunde schlägt. Sie schlägt dir.“ Kein Mensch war eine Insel. Trotzdem hatte Peter vielleicht recht. Sollte sie ihm sagen, dass sie sich aus Friday Streets Angelegenheiten heraushalten sollten, jedenfalls so lange, bis sie diese Morde näher untersucht hatten? Jemand musste es tun. War nicht gerade deshalb diese Musik gespielt worden?