Leseprobe Die Melodie der Highlands

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Juni 1712

Ich gähnte zum vierten Mal, was mir einen finsteren Blick von der Schneiderin eintrug. „Miss Lowell“, sagte sie schroff. „Sie müssen gerade stehen und sich ein wenig konzentrieren. Ihre Tante wünscht, dass dieses Kleid rechtzeitig zur Gesellschaft der Herzogin morgen Abend fertig ist, und ich kann nicht richtig arbeiten, wenn Sie dabei einschlafen.“ Sie ließ den Saum fallen, an dem sie gearbeitet hatte, richtete sich auf, faltete steif die Hände vor sich und betrachtete mich mit schmalen Augen.

„Ich bitte um Verzeihung, Miss Benton“, entgegnete ich, „wirklich, aber Sie haben mir bereits ganze Schränke voll wunderschöner Kleider genäht, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es auf eines mehr oder weniger nun wirklich nicht ankommt.“ Ihre Miene blieb unverändert, und ich seufzte.

„Ich werde gerade stehen, das verspreche ich, und wir werden noch heute Nachmittag damit fertig.“

Sie nickte, ein wenig besänftigt. „Dieser satte Blauton sieht an Ihnen ganz prachtvoll aus, Miss Lowell. Er bringt Ihre Augen schön zur Geltung, und das Rosé, das wir nächste Woche verarbeiten werden, lässt Ihre Wangen hübsch rosig strahlen.“

„Sie sagten doch, dies sei das Letzte, Miss Benton.“ Ich bemühte mich, nicht allzu entnervt zu klingen, und blickte aus dem Fenster in den wunderschönen Sommertag hinaus. Der erste schöne Tag seit Wochen, und ich war in meinem Salon eingesperrt, weil ein weiteres Kleid genäht werden musste.

„Sie haben tatsächlich viele Kleider, Miss Lowell“, stimmte Miss Benton zu, die sich nun wieder auf ihre Arbeit konzentrierte, „doch die modisch geschnittenen sind alle schwarz, und die Trauerzeit für Ihre Mutter ist nun vorbei. Ihre Tante hat mich gebeten, dabei behilflich zu sein, Sie für die letzten Gesellschaften auszustatten. Die Saison ist schon fast vorüber.“

Ich nickte. Höchste Zeit, dachte ich. Als ich nach London gekommen war, hatte ich die Saison genossen, die Gesellschaften, die Flirts und den endlosen Reigen von Aufwartungen und Besuchen. Ich war bald sehr gut darin, über die Angelegenheiten des Staates wie des Herzens zu plaudern. Doch als meine Mutter krank wurde und ich mich mit ihr nach Hause, nach Warwickshire, zurückzog, hatte ich viel Zeit, um über die Oberflächlichkeit der feinen Londoner Gesellschaft nachzudenken. Und ich stellte fest, dass ich sie nicht sonderlich vermisste. Seit Mutters Tod bin ich mit Tante Louisa viel in Europa gereist, außer nach Frankreich natürlich, mit dem England gegenwärtig Krieg führte. Wir waren zu Weihnachten zurückgekehrt, als der lebhafteste Teil der Saison gerade begann.

Jetzt, Anfang Juni, würden die meisten Londoner die Stadt bald verlassen, um den Sommer auf ihren Landsitzen zu verbringen und Verwandte und Freunde auf dem Lande zu besuchen. Ich drehte mich auf Miss Bentons Wink hin um und seufzte erneut. Meine Tante bezahlte diese Kleider in der Hoffnung, ich würde eine brillante Partie machen, und da ich keinerlei eigenes Einkommen hatte, bis auf einen kleinen Anteil der Pacht von den Ländereien, die nun meinem Bruder gehörten, konnte ich der Frau, die Louisa in Dienst genommen hatte, keine Vorschriften machen. Aber es war so langweilig. Dennoch, so dachte ich, waren die Tage, da ich Herrin über meine eigene Zeit gewesen war, endgültig vorüber. Krankheit und Tod meiner Mutter hatten das Unvermeidliche ein wenig aufgeschoben. Ich sollte heiraten. Oh, der Bräutigam war noch nicht ausgesucht, und meine persönlichen Wünsche wurden nicht berücksichtigt, doch der augenblickliche Favorit war Robert Campbell. Mit den Freiheiten, die ich in meiner Kindheit genossen hatte, war es längst vorbei. Nicht einmal zu Hause in Mountgarden konnte ich mehr die Dinge tun, die ich immer für selbstverständlich gehalten hatte. Ich lächelte bei der Vorstellung, wie man reagieren würde, wenn ich meine Schuhe auszöge, um beim Heumachen zu helfen, wie ich es als kleines Mädchen getan hatte. Wie ich meine Eltern vermisste. Im Gegensatz zu so vielen anderen Männern hatte mein Vater Bildung auch für ein Mädchen für wichtig erachtet. „Erziehe eine Frau, und du erziehst eine ganze Familie“, war einer seiner Lieblingssprüche gewesen, und er hatte auch danach gelebt. Allerdings hatte ich in letzter Zeit weder meine Latein- und Französischkenntnisse noch meine Fähigkeiten im Rechnen gebraucht. Mein Bruder hatte vor kurzem Betty Southall geheiratet und führte die Bücher von Mountgarden nun selbst mehr schlecht als recht, doch das Anwesen war nun sein und damit auch die Verantwortung. Ich besuchte Mountgarden nun seltener, doch wenn ich dort war, kümmerte ich mich jedes Mal um die Bücher, mit Wills Segen natürlich, und freute mich daran, wenn alles wieder seine Ordnung hatte.

Miss Benton bat mich erneut, gerade zu stehen, und ich gehorchte und überlegte, ob ich es wagen konnte, einen Laufburschen zur Bibliothek zu schicken, damit er mir ein Buch holte. Wenn ich lesen könnte, während Miss Benton arbeitete, würde ich den Nachmittag gewiss überstehen. Ich hob auf ihre Anweisung hin den Kopf und starrte mein Spiegelbild an. Ich runzelte die Stirn. Gut gekleidet mochte ich als modisch und vornehm durchgehen, doch ich würde niemals eine Schönheit sein wie meine Tante Louisa und meine Schwägerin Betty. Beide waren kleine, zierliche Frauen, Louisa mit dunklen Locken und Betty mit dem blonden Haar reinblütiger Sachsen. Ich war weder klein noch zierlich und auch nicht schön, trotz Louisas freundlicher Beteuerungen. Ich wusste, dass ich dieses Kleid brauchen würde, denn ohne die angemessene Garderobe würde ich womöglich nie einen Ehemann abbekommen. Aber ich verabscheute die ganze Prozedur. „Wissen Sie, was ich heute getan habe, Miss Benton?“

„Nein, Miss Lowell“, murmelte sie, zahlreiche Nadeln zwischen den Lippen.

„Ich habe mich zum Frühstück angekleidet, mich dann umgezogen, um Tante Louisa zur Herzogin zu begleiten, damit wir die Abendgesellschaft besprechen konnten. Dann bin ich heimgekehrt und habe mich zum Mittagessen mit meinem Bruder Will und seiner Frau Betty umgezogen. Jetzt habe ich mich erneut umgezogen, damit Sie diese Kleider fertigstellen können. Und später werde ich mich umziehen, weil wir bei den Mayfair-Bartletts zum Dinner eingeladen sind.“

„Ein herrlicher Tag, Miss Lowell.“

„Meinen Sie denn nicht, dass ich noch etwas Sinnvolleres tun sollte, als mich umzukleiden?“ Die Schneiderin antwortete nicht, und ich drehte mich auf ihre Geste hin erneut um. Eine Frau, die davon lebte, Menschen einzukleiden, konnte wohl kaum Mitgefühl für jemanden aufbringen, der keine Lust hatte, sich den ganzen Tag lang umzuziehen, sagte ich mir. Ich blickte wieder aus dem Fenster und schwor mir, brav zu sein und sie ihre Arbeit tun zu lassen. Meine Gedanken schweiften ab, während ich mich bemühte, den Rücken gerade zu halten. Robert würde bald nach Hause kommen und die Gerüchteküche wieder zum Brodeln bringen. Die ganze Londoner Gesellschaft ging davon aus, dass unsere Verlobung jeden Augenblick verkündet werden müsste. Vielleicht wird er durch irgendetwas aufgehalten, dachte ich und schämte mich sogleich meiner mangelnden Loyalität. Es war ja nicht so, dass ich ihn nicht wiedersehen wollte, denn ich mochte Robert Campbell recht gern. Aber ich hatte es nicht eilig, ihn zu heiraten, oder überhaupt irgendjemanden, und er schien derselben Ansicht zu sein. In den vergangenen zwei Jahren hatten Robert und ich uns daran gewöhnt, Zeit miteinander zu verbringen, und London hatte sich daran gewöhnt, uns zusammen zu sehen. Louisa, die Schwester meiner Mutter, war hocherfreut, denn in die Familie Campbell einzuheiraten, war ihrer Meinung nach eine sehr gute Verbindung. Sie fand, ich sei im heiratsfähigen Alter, Robert sei eine hervorragende Partie, und ich bemühe mich nicht genug um ihn. Doch obwohl wir so viele gesellige Stunden miteinander verbrachten, hatte es weder von ihm noch von mir irgendwelche Versprechungen oder Liebeserklärungen gegeben. Robert weilte mit seinem Cousin John, dem Duke of Argyll, in Frankreich. Ich war zwar nicht sicher, was er dort tat, doch ich wusste, dass es mit dem Krieg zu tun haben musste, wenngleich er in letzter Zeit nicht zu Felde gezogen war. Als ich mich bei Robert nach seinen Aufgaben in Frankreich erkundigt hatte, war mir nur beschieden worden, ich solle mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, – als könnte es mich verwirren oder ängstigen, zu erfahren, was er dort tat. Louisas Ehemann, mein Onkel Randolph, war mit so vielen anderen Männern in Frankreich, hatte sich zu unserer Beziehung nicht geäußert, und ich war damit zufrieden, es bei diesem Schwebezustand zu belassen. Wenn der Krieg vorüber war, würden wir eine Entscheidung fällen müssen. Bis dahin würden Louisa und ihre Freundin, die Herzogin, sich weiterhin bemühen, einen passenden Ehemann für mich zu finden, und ich würde mich widersetzen. Ich wusste, dass Robert ein guter Mann war, aber ich wollte ... nun ja, mehr. Ich blickte aus dem Fenster und bemühte mich, nicht sichtbar zu schmollen.

Mein gutes Betragen wurde prompt belohnt, denn man kündigte mir Rebecca Washburton an, und gleich darauf erschien sie in der Tür. Becca war meine liebste Freundin, und wir kannten uns schon, seit wir kleine Kinder gewesen waren. Unsere Mütter waren als kleine Mädchen befreundet gewesen, ebenso wie mit Tante Louisa, und so lange ich zurückdenken konnte, waren Becca und ich wie Schwestern gewesen. Wir sahen einander sogar ähnlich mit unserem dunklen Haar und den blauen Augen, und obwohl ich viel größer war, wurden wir von Fremden öfter verwechselt. Doch das sollte sich bald ändern. Im November würde sie Lawrence Pearson heiraten, einen Cousin der Mayfair-Bartletts, und mit ihm in seine Heimat nach Carolina ziehen. Ich würde sie gewiss schrecklich vermissen.

„Miss Benton.“ Rebecca nickte der Schneiderin zu. „Und Mary, meine Liebe.“ Miss Benton wich steif beiseite, als wir uns umarmten. Becca trat mit einem Lächeln zurück. „Bitte fahren Sie fort, Miss Benton. Ich setze mich hier hin, wo ich Ihnen nicht im Weg bin. Dann kann ich mich mit Mary unterhalten, während Sie arbeiten.“ Miss Benton begab sich wieder an die Arbeit, und ich begegnete über den gebeugten Kopf der Schneiderin hinweg Beccas fröhlichem Blick. „Das Kleid steht dir, Mary“, sagte Becca. „Du bist groß genug, um Reifröcke zu tragen, ohne darin albern auszusehen.“

Miss Benton entgegnete: „Es freut mich, dass Ihnen das Kleid gefällt, Miss Washburton.“

Ich muss wohl unsichtbar geworden sein, dachte ich, und Rebecca lächelte. Sie wusste, wie sehr ich die ewigen Anproben verabscheute, und neckte mich, indem sie mir von ihrem langen Ausritt mit Lawrence erzählte. Ich schnitt ihr eine Grimasse.

„Meine liebe Mary“, sagte sie gut gelaunt und ließ sich in einem Sessel am Fenster nieder, „du musst angemessen gekleidet sein, damit die Herzogin einen Mann für dich finden kann.“ Mit einem Blick auf Miss Benton fuhr sie in demselben Tonfall fort:

„Lord Campbell müsste doch jeden Tag eintreffen.“ Ich warf meiner Freundin einen finsteren Blick zu, denn sie wusste ganz genau, dass ich vor Miss Benton nicht offen antworten konnte. Sie würde alles, was ich sagte, jedem weitererzählen, der es hören wollte, und solche Leute gab es in London reichlich. Außerdem wusste Becca, dass Robert nicht mein liebstes Gesprächsthema war. „Ein Jammer“, fuhr Becca mit breitem Lächeln fort, „dass Lord Campbell wohl nicht rechtzeitig zur Gesellschaft der Herzogin zurück sein wird, aber vielleicht schon zum Dinner deiner Tante nächste Woche oder Lady Wilmingtons Abendgesellschaft übernächste Woche.“

„Ja.“ Über Miss Bentons Kopf hinweg funkelte ich sie an. Becca ließ sich nicht einschüchtern. „Also“, sagte sie und blickte aus dem Fenster, „ich bin mit meiner Mutter gekommen. Wir möchten uns bei Louisa entschuldigen. Wir fahren am Dienstag mit Lawrences Familie nach Bath und werden ihr Fest verpassen.“

„Becca!“, rief ich aus. „Könnt ihr die Reise nicht verschieben? Nur um ein, zwei Tage? Wie soll ich den Abend ohne dich überstehen?“

Miss Benton hob den Kopf, ehe Becca antworten konnte.

„Ihre Mutter ist mit Countess Randolph hier, Miss Washburton?“ Sie erhob sich und steckte energisch Nadeln in das Kissen, das sie am Handgelenk trug.

„Sie sind im Salon, Miss Benton“, entgegnete Rebecca. „Möchten Sie sie sprechen?“

Miss Benton nickte. „Ich muss die Anproben für Ihr Hochzeitskleid mit ihr besprechen, und wenn Sie kommende Woche nicht in der Stadt sein werden, müssen wir einen anderen Termin finden.“ Sie warf mir einen beiläufigen Blick zu, schon auf dem Weg zur Tür. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Miss Lowell, ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Ich nickte mit einer Miene, die Becca als meinen ‚königlichen Blick‘ bezeichnete, doch Miss Benton war bereits verschwunden, und ich wandte mich meiner Freundin zu.

„Du bist abscheulich!“, sagte ich und raffte die Röcke, um steif zu ihr hinüberzugehen. „Warum musstest du Robert erwähnen? Hast du ihr Gesicht gesehen? Sie hat sogar in ihrer Arbeit innegehalten, um unser Gespräch zu belauschen. Sie wird jedes Wort davon weitertratschen!“

Rebecca lachte. „Mary, du sprichst gerade so, als würde sie nicht ohnehin alles belauschen. Sollen die Leute doch ruhig etwas zu reden haben.“

„Warum dann nicht über dich statt über mich?“ Ich ließ mich in einem Sessel nieder.

„Ich bin nichts Neues mehr“, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, „sondern bereits verlobt, und der Hochzeitstag steht auch schon fest. Das einzige Interessante, das es vor meiner Hochzeit noch über mich zu bereden gäbe, wäre, wenn Lawrence in Begleitung irgendeiner abscheulichen Person gesehen würde oder ich plötzlich an Gewicht zunehmen sollte.“

„Du hast leicht reden“, erwiderte ich. „Bei dir hat die Wachsamkeit nachgelassen. Ich werde weiterhin jeden Augenblick streng beobachtet. Wirklich, Becca, ich beneide dich. Wenn du erst einmal verheiratet ist, wirst du viel mehr Freiheiten genießen, als wir jetzt haben.“ Das stimmte. Was ich auch tat, stets wurde streng darauf geachtet, dass ich den Maßstäben von Anstand und Schicklichkeit genügte. Wenn Robert und ich zusammen waren, dann nur unter den wachsamen Blicken einer Verwandten oder meiner Zofe, und niemals durfte die Tür des Raumes, in dem wir uns befanden, geschlossen werden. Ich fragte mich oft, was meine Zofe eigentlich ausrichten sollte, falls Robert auf die Idee käme, sich unziemlich zu verhalten. Aber, so dachte ich, Robert würde sich niemals danebenbenehmen. Er sprach mich sogar sehr hochachtungsvoll an, obgleich ich nicht einmal einen Titel führte.

„Arme Mary“, neckte Rebecca mich. „Das Leben ist ja so schwierig.“

„Du musst heute Abend ja auch nicht bei den Mayfair-Bartletts dinieren.“

„Das haben wir gestern getan, und wir haben es überlebt.“

„Lass mich raten. Ihr habt über Politik diskutiert.“

Rebecca nickte. „Königin Anne, König Lewis und den Krieg mit Frankreich und über König Philip und die Frage, ob Spanien sich nächstes Mal mit uns oder mit Frankreich verbünden wird. Lawrence war fasziniert.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich finde das so langweilig. Endlose Diskussionen über immer wieder dieselben Dinge. Und vergiss dabei den Klatsch nicht. Lord Soundso hat auf einer Gesellschaft mit Lady Soundso gesprochen, und Miss Soundso hat sich von Mister Soundso ein Glas Punsch bringen lassen. Das muss stundenlang diskutiert werden.“

Becca lachte. „Du wirst es überleben, und morgen ist die Gesellschaft der Herzogin.“

„Auf die wir uns den ganzen Tag lang vorbereiten werden. Um dann die nächste Woche damit zuzubringen, uns auf Louisas Einladung vorzubereiten.“ Ich verzog das Gesicht. „Zumindest sind Will und Betty noch in London.“

„Wie lange bleiben sie denn noch?“

„Zwei Wochen, dann kehren sie nach Mountgarden zurück. Vielleicht werde ich sie begleiten“, sagte ich, denn ich hatte plötzlich Sehnsucht nach dem Zuhause meiner Kindheit. „Aber es ist nicht dasselbe, seit meine Eltern nicht mehr sind. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.“

„Begleite sie. Du weißt doch, wie sehr Will deine Gesellschaft schätzt.“

Ich nickte. „Und ich die seine. Aber, Becca, das ist jetzt ihr Heim. Ich habe kein eigenes Zuhause. Ich wohne bei Louisa oder bei Will und Betty. Ich habe keinen Ort, den ich mein Heim nennen könnte, der ganz mir gehört.“

Rebecca tätschelte meine Hand. „Ich weiß“, sagte sie und wurde plötzlich ernst.

Ich zuckte mit den Schultern und lächelte meine Freundin an.

„Was soll ich nur tun, wenn du nicht mehr da bist, um dir meine Klagen anzuhören? Ich bin wirklich ein verzogenes Kind, dass ich mir solche Gedanken mache, obwohl Will mir ein Heim angeboten hat, für immer, wenn ich möchte, und Louisa ebenfalls. Ich sollte dankbarer sein.“ Aber im Augenblick fühlte ich keine Dankbarkeit. Draußen schob sich eine Wolke vor die Sonne. Zweifellos würde es morgen regnen. Und ich würde mich vor dem Abendessen viermal umziehen.

 

Ich überlebte das Dinner bei den Bartletts tatsächlich, wenngleich meine einzige Belustigung darin bestand, die skandalösen Geschichten zu zählen, die der bissige Edmund Bartlett zum Besten gab. Zwölf, resümierte ich am Ende des Abends, sofern ich keine vergessen hatte. Als ich mit meiner Tante, Will und Betty in die Kutsche stieg, war mein Lächeln aufrichtig. Der Abend war vorüber.

Die Gesellschaft der Herzogin am folgenden Abend war ein großer Erfolg, gut besucht und fröhlich, und ich amüsierte mich wesentlich besser, als ich vorher vermutet hatte. Die lieben Freunde meiner Tante, der Duke und die Duchess of Fenster, hatten mich herzlich willkommen geheißen und das blaue Kleid mit Komplimenten überhäuft, und ich hatte mit ihnen gelacht und gescherzt. Lawrence war sehr freundlich, und Becca und ich hatten Gelegenheit, mit unseren Freundinnen Janice und Meg zu plaudern. Sogar meine Schwägerin Betty war bester Laune, weil ihr gleich mehrere Männer Komplimente gemacht hatten, und das bedeutete, dass auch Will einen schönen Abend verbrachte. Ehe ich mich versah, war das Fest vorüber. Wenn ich nur den gut aussehenden Mann gefunden hätte, von dem Becca behauptete, er hätte mich stundenlang beobachtet, wäre der Abend für mich vollkommen gewesen. Doch obwohl wir alle Salons absuchten, war er nirgends mehr zu finden, und ich warf Rebecca im Spaß vor, sie habe sich den rätselhaften Fremden für mich ausgedacht. Die einzige Wolke, die den Abend trübte, war das kühle Benehmen der wenigen anwesenden Whigs. Die Barringtons waren einflussreiche Tories, – Mitglieder jener Partei, die derzeit das Parlament dominierte und energisch um Königin Annes Aufmerksamkeit warb. Man betrachtete es als sehr tolerant von ihnen, die Opposition in ihr Haus einzuladen, obgleich das in letzter Zeit viele Tories taten. Die beiden politischen Parteien steckten noch in den Kinderschuhen, aber die Tories hielten es im Allgemeinen mit der anglikanischen Kirche und wurden von den Whigs, die die Trennung von der Amtskirche und das militärische Engagement in Europa befürworteten, als provinziell betrachtet. Die Whigs verhielten sich meiner Tante und mir gegenüber zwar höflich, doch wir bekamen beide zu spüren, dass wir nur Frauen und damit kaum von Bedeutung waren.

Größtenteils ignorierten sie uns, was mir nur angenehm war. Ihr Benehmen und die politischen Auswirkungen desselben würden in der Woche vor dem nächsten gesellschaftlichen Anlass endlos diskutiert werden, und ich wusste jetzt schon, dass ich mir das stundenlang würde anhören müssen. Also gab es keinen Grund, schon heute Abend darüber nachzugrübeln.

 

Die nächste Woche flog nur so dahin, ein bunter Reigen der Vorbereitung für Louisas Abendgesellschaft. Ich lief hinter ihr her und beobachtete ehrfürchtig wie immer ihre anscheinend mühelose Tüchtigkeit. Sie dirigierte Haushalt und Dienstboten mit der Leichtigkeit einer geborenen Kommandantin, und ich sah zu und lernte. Louisa erteilte ihrem Personal Befehle, gab im selben Atemzug mir eine Anweisung, stets ruhig und gelassen, und wir beeilten uns, unsere Aufgaben zu erfüllen. Bis zum frühen Nachmittag am Tag der Party war alles an seinem Platz. Louisa ruhte sich ein wenig aus, und ich diskutierte in meinem Schlafgemach mit meiner Zofe darüber, welches der neuen Kleider ich tragen sollte. Louisa hatte nachdrücklich das rosafarbene Kleid vorgeschlagen, und dafür entschied ich mich schließlich auch. Ich trug es mit dem schlichten Schmuck meiner Mutter und steckte mir noch eine weiße Rose aus Louisas Garten an. Becca war bereits mit Lawrence, den Pearsons und ihren Eltern nach Bath abgereist. Janice und Meg hatten London ebenfalls schon verlassen, und Robert war noch nicht aus Frankreich zurückgekehrt. Ich sah einem einsamen Abend entgegen.

 

Er fiel mir auf, sobald er in der Tür von Louisas Ballsaal erschien. Er wartete darauf, angekündigt zu werden, doch ich wusste sogleich, wer er war. Seinen Namen kannte ich nicht, aber das konnte nur der Mann sein, von dem Becca gesprochen hatte. Jedenfalls passte ihre Beschreibung haargenau, und er war so bemerkenswert, wie sie angedeutet hatte. Er trug die traditionelle Kleidung der schottischen Highlander, während alle anderen nach der neuesten Londoner Mode ausstaffiert waren. Er war größer als die meisten anderen Männer im Saal, schlicht zurechtgemacht und ohne Perücke; das blonde Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst. Er trug ein blendend weißes Hemd unter einer mattgrünen Jacke und dazu einen in viele Falten gelegten Kilt. Der Rest des Plaids war über die Schulter drapiert und mit einer schlichten goldenen Brosche befestigt. Er war schlank und anmutig, mit breiten Schultern und langen Beinen, deren Muskeln unter dunklen Strümpfen unterhalb des Kilts deutlich sichtbar waren. Die anderen Männer im Saal wirkten plötzlich übertrieben herausgeputzt.

Mein Interesse wuchs, als der Earl of Kilgannon angekündigt wurde und die Treppe herunterstieg. Ich sah zu, wie meine Tante mit herzlichem Lächeln auf ihn zutrat, und bewunderte ihre mühelose Anmut. Louisa, die Countess Randolph, verheiratet mit dem Earl Randolph, war es gewohnt, Adelige zu begrüßen, denn sie bewegte sich in adeligen Kreisen. Die Herzogin, wie üblich an ihrer Seite, begrüßte den Neuankömmling ebenfalls herzlich. Hinter mir konnte ich das Gemurmel zweier Männer hören, die nicht erfreut darüber waren, dass sich ein ‚verdammter Schotte‘ unter uns befand. Ich erkannte die Stimmen, drehte mich um, und mein Verdacht wurde bestätigt: Es waren die Whigs, die mich auf der Gesellschaft der Herzogin so gründlich ignoriert hatten. Ich wandte mich wieder zu dem Schotten um.

„Nicht nur ein Schotte, sondern auch noch ein Highlander“, knurrte einer der Whigs. „Vermutlich wird er noch im Laufe des Abends jemanden erstechen. Diese Leute haben Manieren wie

Schweine. Barbaren. Was denkt die Countess Randolph sich nur dabei, ihn einzuladen? Verdammt rücksichtslos von ihr.“

Sein Freund lachte. „Ich glaube, er ist ein entfernter Verwandter. Sie war mit einem Schotten verheiratet, falls du dich erinnerst. Sie sagt, er bringe sie zum Lachen.“

„Das tut mein Hund auch, trotzdem lade ich ihn nicht zu einem Dinner ein.“

Die beiden fuhren fort, doch ich lauschte nur noch mit halbem Ohr, denn ich konzentrierte mich ganz auf den blonden Mann, der sich über der Hand meiner Tante verbeugte und etwas zu ihr sagte. Sie lachte und versetzte ihm mit ihrem Fächer einen spielerischen Klaps auf den Arm. Warum hatte Louisa diesen Mann noch nie erwähnt? Er war zweifellos interessanter als alle anderen Männer, die ich in London je gesehen hatte. Nun, zumindest sah er wesentlich besser aus. Ich verlor ihn aus den Augen, als andere Gäste zwischen uns traten. Dann sah ich den Schotten allein dastehen, er ließ den Blick durch den Saal schweifen, als suchte er jemanden. Unsere Blicke trafen sich, und er lächelte. Ohne darüber nachzudenken, erwiderte ich das Lächeln. Er kam auf mich zu, doch Lady Wilmington hielt ihn auf, mit zur Seite geneigtem Kopf und einer fleischigen Hand auf seinem Arm. Er betrachtete ihre Hand, dann mich und lächelte sie an. In diesem Augenblick sprach Will mich an, und ich wandte mich ihm zu. Als er und Betty mich gleich darauf verließen, um zu tanzen, drehte ich mich wieder nach dem Fremden um. Und sah ihn direkt vor mir stehen.

Sein Schlüsselbein war auf meiner Augenhöhe, deshalb sah ich erst silberne Knöpfe und einen Spitzenkragen, ehe ich seinem Blick begegnete. Ich war mir sehr wohl bewusst, dass man uns neugierig anstarrte. Vergeblich versuchte ich zu verhindern, dass mir die Röte in die Wangen stieg, und fragte mich, ob mein Gesicht wohl schon dieselbe Farbe angenommen habe wie mein Kleid. Sein Haar war goldblond, kräftig und glänzend. Wangenknochen und Kiefer waren kräftig, die gerade Nase passte zu dem gut gezeichneten Mund. Seine Augen, von dunklen Wimpern umringt, waren so blau wie der Mittsommerhimmel, seine Miene sehr höflich, als er mich ansprach.

„Miss Lowell? Ich bin Alexander MacGannon aus Kilgannon. Eure Tante hat mir nahegelegt, mich Euch vorzustellen.“ Sein Akzent war stark, sein Tonfall locker. Er klang nicht wie ein gefährlicher Verrückter. Ich bot ihm meine Hand dar, und er verneigte sich darüber. Als er sich wieder aufrichtete, glitt eine lange Locke aus dem Band, das sein Haar zurückhielt, und ich empfand den albernen Drang, ihm die Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Ich wich ein wenig hektischer zurück, als ich vorgehabt hatte. Er strich sich das Haar zurück und betrachtete mich aufmerksam, doch ein Flackern in seinen Augen sagte mir, dass er mein Zurückzucken bemerkt hatte.

„Es ist üblich, Kilgannon, sich einer Dame von einer dritten Person vorstellen zu lassen“, sagte die Herzogin lachend, die plötzlich an seiner Seite erschienen war. Die kleine, rundliche Frau blickte voller Zuneigung zu ihm auf.

„Das ist allerdings weniger direkt, als mir lieb ist, Euer Gnaden“, erwiderte er und verneigte sich leicht. „Aber ich beuge mich in allen Dingen gern Euren Wünschen.“

„In allen Dingen, Sir, oder nur da, wo Ihr es selbst wünscht?“ Ich war erstaunt. Die Herzogin flirtete mit einem Schotten? Ich musterte ihn, während sie miteinander scherzten, und tat so, als sauge ich nicht jede Einzelheit über ihn in mich auf, während ich darauf wartete, dass sie ihr Spiel beendeten. Schließlich wandte die Herzogin sich mir zu. „Meine liebe Mary, darf ich Ihnen Alexander MacGannon vorstellen, den zehnten Earl of Kilgannon. Kilgannon, Miss Mary Lowell. Vor zwei Jahren hat der Herzog Kilgannon in Frankreich kennengelernt, Mary. Mein Mann berichtet mir, der Graf sei ebenso charmant wie tödlich.“ Sie legte ihm eine winzige, mit Ringen geschmückte Hand auf den Arm und blickte lächelnd zu ihm auf. „Welch eine interessante Kombination.“

Der Graf lachte. „Tja, Madam, wir Schotten sind immer charmant und tödlich. Wenn wir uns nicht gerade wie Wilde aufführen.“

„Ach, Kilgannon“, schalt sie leichthin, „begleitet doch Miss Lowell auf ihrem Spaziergang.“ Sie lächelte mich an. „Er ist derzeit unverheiratet, meine Liebe.“ Ich spürte meine Wangen erneut aufflammen, als sie davonwackelte, doch noch ehe ich oder er etwas sagen konnten, stand einer der Whigs plötzlich neben mir und starrte Lord Kilgannon streitlustig an. Abrupt sagte er:

„Kirkgannon, nicht wahr? Was haltet Ihr vom Vereinigungsgesetz?“

„Kilgannon, Sir.“ Kilgannon verneigte sich steif und sagte kühl: „Soweit ich weiß, gilt die Union bereits seit mehreren Jahren.“

„Werdet ihr Schotten dem Gesetz denn diesmal gehorchen?“

„Wie immer, Sir. Wenn Ihr uns entschuldigen würdet, Miss Lowell hat den Wunsch nach ein wenig frischer Luft geäußert.“ Ich protestierte nicht, als Kilgannon meine Hand nahm und auf seinen Arm legte. Schweigend führte er mich ans andere Ende des Ballsaals und hinaus auf die Terrasse, ohne auf die vielen neugierigen Blicke zu achten. Draußen ließ er seufzend meine Hand los und lehnte sich an die steinerne Brüstung. Die Nacht war mild, der Halbmond stand am schwarzen Himmel. Eine sanfte Brise zerzauste uns das Haar und wehte den Duft von Rosen heran, und ich beobachtete ihn im Schein der Lampen neben der Tür. Er blickte über die Schulter in die Dunkelheit, bevor er sich mir zuwandte.

„Ich bitte um Verzeihung, Miss Lowell. Ich wollte Euch nicht entführen. Ich fürchtete nur, ich könnte etwas Unverzeihliches sagen, und Eure Tante würde mich daraufhin aus ihrem Haus verbannen. Und ...“ Er drehte sich um, schaute in den dunklen Garten hinaus, und seine Wangen färbten sich ein wenig rosa.

„Ich bitte um Verzeihung, falls ich Euch gegenüber zu direkt gewesen sein sollte. Ich dachte nur, das wäre die einfachste Möglichkeit, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Ich betrachtete sein Profil und versuchte, die passende Antwort zu finden. Als ich stumm blieb, warf er mir einen scharfen Blick zu. „Seid Ihr zornig? Wünscht Ihr, dass ich gehe?“

Ich warf ihm einen langen Blick zu, ehe ich antwortete, und lächelte dann. Zorn empfand ich gewiss nicht. „Sollte ich zornig sein, weil Ihr meine Bekanntschaft machen wolltet, Sir?“, fragte ich. „Oder weil Ihr Euch geweigert habt, Euch von einem Rüpel in einen Streit verwickeln zu lassen? Oder sollte ich zornig sein, weil Ihr schamlos mit meiner Tante und der Herzogin geflirtet habt? Oder weil ein Schotte es wagt, eine solche Abendgesellschaft zu besuchen, obwohl wir doch wissen, dass Ihr jeden Augenblick London niederbrennen könntet?“

Er wandte sich mir zu und blickte erst überrascht drein, doch dann, als er in meiner Miene las, begann er leise zu lachen. „Ihr seid vielleicht eine. Also schön, weshalb seid Ihr nun zornig?“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Ich habe mich noch nicht entschieden. Hmmm. Ich bin nicht verärgert darüber, dass Ihr meine Bekanntschaft machen wolltet.“

„Und?“

„Und ich bin nicht verärgert, weil Ihr Euch nicht über Politik streiten möchtet. Ich bin auch nicht verärgert, weil Ihr auf dieser Gesellschaft erscheint, vorausgesetzt natürlich, Ihr wurdet eingeladen.“

„Das kann ich Euch versichern. Und?“

„Und ich bin empört darüber, dass Ihr mit meiner Tante Louisa und der Herzogin geflirtet habt.“

Er lachte laut auf und wandte sich wieder dem Garten zu.

„Eure Tante hatte mir erzählt, dass Ihr ebenso klug wie schön seid.“

„Meine Tante behauptet immer, ich sei klug und schön, Sir“, entgegnete ich. „In Wahrheit bin ich keines von beiden.“

„Da muss ich Euch widersprechen, Miss Lowell. Im Gegenteil, sie hat stark untertrieben.“ Er warf mir einen verstohlenen Blick zu, und seine Miene wurde weicher. „Danke, dass Ihr so freundlich zu einem Fremden wart.“

„Mylord, es fiel mir wahrlich nicht schwer, freundlich zu Euch zu sein.“

„Nicht Mylord, Mädchen. Bitte einfach Alex.“

„Auch nicht Earl of ...“ Ich konnte mich nicht genau erinnern.

„Kilgannon. Nein. Alex. Alex MacGannon. Werdet Ihr Euch an diesen Namen erinnern?“

„Alex“, sagte ich und begegnete seinem Blick.

„Da seid Ihr ja! Wir hatten uns schon gewundert, wohin Ihr Euch womöglich verlaufen habt.“ Wir drehten uns um und sahen die Herzogin mit Will und Betty in der Tür stehen. Sie stellte alle einander vor und wandte sich dann lächelnd an mich.

„Der Graf hat Sie auf meinem Fest vergangene Woche bemerkt, Mary“, sagte sie, „und darum gebeten, Ihnen vorgestellt zu werden, doch er musste uns verlassen, ehe ich dazu kam. Deshalb freut es mich besonders, dass er heute Abend kommen konnte.“

Ich beobachtete, wie Kilgannon mich beobachtete und Will ihn musterte. „Ich verstehe“, sagte ich. „Der Graf war sehr direkt.“

Die Herzogin lachte. „Und erfolgreich, wie mir scheint.“ Will zog die Augenbrauchen hoch, und ich machte eine Bemerkung über das Wetter, um seiner beschützenden Reaktion zuvorzukommen. Wir unterhielten uns noch ein wenig, Will und Kilgannon machten höflich Konversation, und Betty stand schmollend im Hintergrund. Die Herzogin unterbrach die Männer, als sie auf Politik zu sprechen kamen. »Nein, nein, nicht heute Abend, Gentlemen«, sagte sie mit einer abwehrenden Geste. „Kommt herein, der Tanz wird gleich wieder beginnen.“ Sie ging voran, und wir folgten ihr.

Im Ballsaal stand Betty sogleich an Kilgannons Seite. „Tanzt Ihr, Sir?“, fragte sie mit ihrer affektierten, piepsenden Stimme.

Er nickte. „Ja, Mistress, aber nicht das Menuett.“

„Oh“, sagte sie und wurde gleich darauf von Will auf die Tanzfläche geführt. Ich blieb bei Kilgannon stehen und sah den Tanzenden zu. Ich war mir seiner Nähe sehr bewusst und überlegte, was ich sagen könnte, das sich nicht albern anhören würde. Jonathan Wumple blieb vor uns stehen und verneigte sich, und ich stöhnte innerlich. Jonathan, den ich schon ewig kannte, bat mich immer um einen Tanz. Heute Abend jedoch fragte er Kilgannon, ob ich tanzen dürfe. Der Schotte warf mir einen Seitenblick zu.

„Das ist ganz allein die Entscheidung der Dame, Sir. Flirtet nur lieber nicht mit ihr. Sie verabscheut Männer, die flirten“, entgegnete er mit vielsagender Miene und lachte dann über die dezente Grimasse, die ich ihm hinter Jonathans Rücken schnitt.

Ich tanzte also mit Jonathan, doch mein Blick hing an Kilgannon, der allein am Rand des Saals stand. Binnen kürzester Zeit war er von Frauen umringt, und er lachte, unterhielt sich und beugte sich vor, um ihre Worte zu verstehen, doch er widerstand allen Versuchen, ihn zum Tanzen zu bewegen. Er rührte sich auch nicht von der Stelle, nicht einmal, als eine wunderschöne Rothaarige in einem gewagten Kleid sich dazugesellte. Lady Rowena de Burghesse, die Frau des Marquis of Badwell, sah ihm mit einem wissenden Blick in die Augen, und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Wie ich Rowena verabscheute. Ich hatte sie noch nie leiden können, doch in diesem Augenblick hasste ich sie geradezu. Ich fragte mich, was sie zu ihm gesagt haben mochte, als Kilgannon ein nachdenkliches Gesicht machte und sein Blick zu mir herüber huschte.

Als der Tanz endete, befanden wir uns auf verschiedenen Seiten des Ballsaals, und ich plauderte kurz mit Jonathan und seiner Schwester Priscilla. Dann flüsterte Priscilla hinter ihrem Fächer:

„Kilgannon sieht sehr gut aus. Wo hat Ihre Tante ihn kennengelernt?“

„Auf dem Fest der Herzogin, glaube ich“, sagte ich und wandte mich nach ihm um. Doch er war fort. Die Enttäuschung, die ich empfand, überraschte mich, und ich suchte den Saal nach ihm ab, als Priscilla weiter flüsterte.

„Es heißt, er besäße ein wunderschönes Schloss an einem See. Und er soll zwei kleine Söhne haben. Seine Frau ist wohl gestorben, als der zweite Sohn noch ein Baby war. Vielleicht ist er auf der Suche nach einer neuen Ehefrau.“

„Dann wird er zweifellos rasch eine finden“, sagte ich und blickte mich erneut nach ihm um. „Die Frauen liegen ihm jetzt schon zu Füßen.“

„Ich würde nicht Nein sagen“, erklärte Priscilla mit verträumtem Blick. „Aber Sie haben sich ja bereits für Robert Campbell entschieden.“

Ich schüttelte den Kopf. „Es gibt keinerlei Übereinkunft zwischen uns.“

Sie lächelte kokett. „Da habe ich etwas anderes gehört.“

„Miss Wumple“, erklärte ich brüsk, „wenn es eine Verlobung gäbe, die mich betrifft, wüsste ich gewiss davon. Es gibt keine.“ Priscilla lächelte wissend, sodass die Bleischminke in ihren Mundwinkeln Risse bekam. Ich muss hier heraus, dachte ich und entschuldigte mich hastig. Auf dem Weg hinaus aus dem Ballsaal blieb ich des Öfteren stehen, um die vielen Menschen, die ich in der prachtvoll gekleideten Menge kannte, zu begrüßen, doch ich sah nirgends einen Schotten.

Im Flur holte ich tief Luft, drehte mich um und sah Louisa aus dem Speisezimmer kommen. Meine Tante kam lächelnd auf mich zu.

„Du hättest ruhig etwas sagen können, Louisa“, bemerkte ich. Mein eigener Tonfall erinnerte mich unangenehm an Jonathans Schwester.

„Worüber?“

„Den Earl of Kilgannon.“

Ihre Augenbrauen hoben sich. „Ich glaube, das habe ich. Aber, du meine Güte, Kind, du siehst ja aus, als hättest du ein Phantom gesehen.“

„Das habe ich auch.“

Die Augen meiner Tante wurden schmal. „Er ist ein Mann, Mary, keine Vision aus einem Traum. Du solltest in Zukunft darauf achten, dir nicht alle Gefühle so deutlich ansehen zu lassen, Liebes.“ Sie lächelte, um den Tadel zu mildern. „Aber offenbar beruht der gute Eindruck auf Gegenseitigkeit. Er scheint von dir verzaubert zu sein. Er hat ganz London über dich ausgefragt.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass du ebenso klug wie schön bist, dass du einen Ehemann verdienst, der dich wirklich zu schätzen weiß, dass Schottland zu weit fort und zu gefährlich für meine Nichte ist und du viel Zeit in der Gesellschaft von Lord Campbell verbringst.“ Sie sah mich mit strahlenden Augen an. „Ich dachte, Alex‘ Erscheinen und sein Interesse an dir könnten Robert ein Ansporn sein. Es wird höchste Zeit, dass er dir endlich einen Antrag macht. Wie bedauerlich, dass er noch nicht aus Frankreich zurückgekehrt ist.“

„Ich verstehe“, erwiderte ich spitz. „Wie reizend, dass ihr beide so ausführlich über mich gesprochen habt. Ich komme mir vor wie eine Zuchtstute.“

Sie lachte. „Du meine Güte, Mary, erlaube dem armen Mann doch zumindest, sich mit dir zu unterhalten, und sei es nur, weil er mein Cousin ist. Nun ja, ein angeheirateter Cousin. Ich glaube, du könntest ihn mögen, und es wäre gut, wenn Robert endlich feststellen würde, dass er nicht der einzige Mann auf der Welt ist, dem du aufgefallen bist.“

„All das habt ihr in die Konversation eines einzigen Abends einfließen lassen?“

„Liebes, ich kenne Alex, seit er ein kleiner Junge war. Seine Mutter war eine Keith, und dein Onkel Duncan war ebenfalls ein Keith, hast du das vergessen? Oder hast du vergessen, dass ich zwölf Jahre lang mit einem Schotten verheiratet war? Ich habe Alex oft gesehen, als er noch jung war.“

„Du hättest mir trotzdem vorher von ihm erzählen können.“ Ich hörte mich an, als sei ich höchstens zehn Jahre alt.

Sie tätschelte meinen Arm. „Ich war überrascht, festzustellen, zu was für einem Mann er geworden ist. Er wird vielen Frauen in London den Kopf verdrehen. Dein Kopf war nicht der Erste, und er wird gewiss nicht der Letzte sein. Genieße seine Gegenwart für den Augenblick. Robert wird bald zu Hause sein. Es ist doch nur ein Dinner, Mary. Ich bitte dich darum, einen Abend lang höflich zu sein. Du wirst ihn vermutlich nie wiedersehen.“ Sie glitt davon in den Ballsaal und ließ mich allein zurück.

2

Während ich darauf wartete, dass zu Tisch gebeten wurde, suchte ich den Ballsaal nach Kilgannon ab. Ich unterhielt mich mit Freunden und Bekannten meiner Tante und schließlich auch mit der Herzogin, die vor verschmitzter Befriedigung glühte, als sie mich von den anderen fortführte, auf die Terrassentüren zu. „Warum gehen Sie nicht ein wenig vor die Tür, meine Liebe?“, schlug sie vor und verbarg ihr Lächeln hinter dem geöffneten Fächer. „Die frische Luft wird Ihnen guttun.“

Ich erwiderte das Lächeln und trat hinaus. Da war er. Er lehnte an der Brüstung und starrte in den Garten, und seine Gesichtszüge wurden vom weichen Licht der Lampen erhellt. Er blickte über die Schulter und nickte mir zu, als ich in der Tür stehen blieb.

„Wollt Ihr mir ein wenig Gesellschaft leisten, Miss Lowell?

Wir haben eine herrliche Nacht.“

„Herrlich, Lord Kilgannon.“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht Lord Kilgannon, Mädchen. Nur Alex.“ Er drehte sich zu mir um und beobachtete mit undurchdringlicher Miene meine Reaktion.

„Mary“, sagte ich in demselben Tonfall und trat zu ihm.

Er lächelte gemächlich und nickte. „Dann also Mary und Alex.“

Mary und Alex, dachte ich, Alex und Mary. „Wir brechen

sämtliche Regeln, Sir“, bemerkte ich. „Wir sollten einander mit dem Titel ansprechen.“

Er nickte. „Ja, vor den anderen werden wir uns benehmen müssen.“

„Aber nicht, wenn wir unter uns sind?“

Er sah mich einen Augenblick lang an und lächelte dann.

„Nein, dann nicht.“

Ich hoffte, das Licht möge zu schwach sein, als dass er die Röte bemerken könnte, die mir ins Gesicht stieg, und platzte mit den erstbesten Worten heraus, die mir einfielen. „Ihr tanzt wohl nicht gern, Sir?“ Innerlich zuckte ich über die Ähnlichkeit zu Bettys Worten zusammen.

Er nickte erneut. „Doch. Aber ich kenne das Menuett nicht, und ich habe auch nicht den Wunsch, einen solch albernen Tippeltanz zu lernen. Es sieht aus, als würden alle auf Zehenspitzen umhergehen.“ Ich lachte und lehnte mich an die Balustrade; der Stein unter meiner Hand fühlte sich kühl an. Ich wusste nichts mehr zu sagen. Sein Zeigefinger zeichnete das in den Stein gemeißelte Muster nach, doch er beobachtete mich unablässig.

„Mary, seid Ihr mit Robert Campbell verlobt?“

Ich blickte verblüfft zu ihm auf. „Ihr seid sehr direkt, Sir.“ Er nickte. „Ja, das spart viel Zeit. Seid Ihr nun verlobt?“

„Nein.“

„Aha.“ Er starrte in den Garten hinaus, und ich beobachtete sein Gesicht im Profil.

„Weshalb fragt Ihr danach?“

Er wandte sich mir mit undurchdringlicher Miene zu. „Die Damen sagten, Ihr wäret verlobt.“

„Und wenn ich es wäre?“

„Dann würde ich meine Aufmerksamkeit einer anderen jungen Frau widmen.“

„Ich verstehe.“ Nun war ich an der Reihe, mit starrer Miene in den Garten zu blicken.

Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Nein, das stimmt nicht.“

„Was stimmt nicht?“

„Ich würde meine Aufmerksamkeit niemand anderem zuwenden. Ich müsste dafür sorgen, dass Ihr es Euch anders überlegt.“ Nun grinste er.

„Ich verstehe.“ Ich starrte ihn einen Augenblick lang an und erwiderte dann sein Lächeln. „Habe ich in dieser Angelegenheit denn nichts zu sagen?“

„Aber ja.“ Plötzlich wirkte er ernst. „Es wird so sein, wie Ihr es wünscht.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Ihr meint, Sir.“

„Es wird so sein, wie Ihr wünscht, Mary Lowell. Wenn Ihr wünscht, dass ich Euch in Ruhe lasse, werde ich das tun. Wenn Ihr meine Gesellschaft wünscht, bin ich bei Euch.“

„Ihr kehrt nicht nach Schottland zurück?“

„Oh doch, ich muss zurück nach Kilgannon. Ich habe zwei Söhne und noch andere Verpflichtungen. Aber ich werde zurückkommen, wenn Ihr es wünscht.“

„Wie könntet Ihr das?“

„Indem ich sehr schnell reite.“ Er grinste wieder, und ich musste lachen. „Wir würden einander nicht langweilig, Mary, das sehe ich schon.“

Einen Moment lang standen wir verlegen schweigend da, und dann wurde glücklicherweise verkündet, das Essen werde nun serviert. Wir wechselten einen Blick, als wir wieder in den Ballsaal traten, blieben stehen und sahen zu, wie die Paare das große Esszimmer betraten. Paare. Die Vorstellung, er könnte an der Tafel neben einer anderen sitzen, war unerträglich. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu.

„Alex.“ Ich hörte mich an wie ein Kind, und als er mich ansah, brachte ich kein Wort mehr heraus. Ich stand da und starrte zu ihm auf wie eine Schwachsinnige.

Er lächelte. „Ja, Mary?“

„Würdet Ihr mich zu Tisch führen?“

Er bot mir seinen Arm. „Das werde ich, danke Euch. Es ist sehr nett von Euch, so freundlich zu einem Fremden zu sein.“ Ich legte die Hand auf seinen Arm, spürte seine Kraft unter dem weichen Samt der Jacke und lächelte.

Louisas elegantes Esszimmer war üppig ausgestattet, und damit niemand vergaß, dass sie eine verheiratete Frau war, blieb der Stuhl am Kopf der Tafel dieser Tage stets leer, wenn sie Gäste hatte, als könnte mein Onkel Randolph für diesen Abend aus Frankreich heimkehren. Alex und ich saßen zusammen etwa an der Mitte der Tafel, Rowena zu seiner Rechten. Ich fragte mich, wie sie das angestellt haben mochte, oder ob das Louisas Absicht gewesen sei. Rowena tat so, als wäre ich ihr völlig unbekannt. Natürlich, so sagte ich mir, war es gut möglich, dass sie mich die vielen Male zuvor nicht bemerkt hatte. Schließlich war ich da nicht in Begleitung eines Mannes gewesen.

„Sie sind die Nichte der Gräfin Randolph“, sagte Rowena zu mir und lehnte sich fast an Alex‘ Schulter, um an ihm vorbeizuschauen. Ich sagte Ja, doch das reichte ihr nicht. Sie erkundigte sich in allen Einzelheiten nach meinen Eltern, um genau bestimmen zu können, wo ich in der Hierarchie Londons hingehörte. Ich war versucht, ihr mit scharfen Worten den Spaß zu verderben, schluckte die Antwort jedoch herunter und blickte an Alex‘ Profil vorbei zu ihr hinüber. „Und Ihre Familie? Haben Sie weitere Verwandte in London, abgesehen von Ihrer Tante?“, beharrte sie.

„Mein Bruder Will und seine Frau Betty sind heute Abend

hier. Sie und Tante Louisa sind die einzigen Verwandten, die ich in London habe.“

„Sie sind doch außerdem die Nichte von Sir Harry Lowell, Duke of Grafton?“

Ich nickte. Rowena warf einen Blick auf ihren Mann, der ein Stück weiter abwärts an der Tafel saß, und ich folgte ihrem Blick. Der Marquis sah aus, als müsste er fast siebzig sein. Kein Wunder, dass sie Alex musterte wie ein köstliches Häppchen. Und mein Onkel, der Herzog, ist von höherem Rang als ihr Ehemann, der Marquis, sagte ich zu mir, doch das war mir kein Trost. Mein Onkel Harry, der Duke of Grafton, war kein geselliger Mensch, ganz im Gegensatz zu meinem Vater. Soweit ich wusste, war Harry seit Jahren nicht mehr in London gewesen. Er behauptete, die Menschenmengen seien ihm ein Gräuel, also blieb er lieber auf seinem Landsitz. Meines Wissens hatte er nie geheiratet oder einen Erben gezeugt. Seit dem Tod meiner Mutter hatte ich ihn nur zwei Mal gesehen.

„Weilt er ebenfalls in London?“, fragte Rowena.

„Nein. Mein Onkel lebt auf seinem Anwesen in Grafton.“

„Wie interessant“, sagte sie, verwarf mich als uninteressant und wandte sich Alex zu, mit einem lieblichen Lächeln und leicht zur Seite geneigtem Kopf. Alex lachte leise.

„Und wo, Miss Lowell“, sagte er, wobei er Rowena perfekt nachahmte, „verwahrt Euer Onkel sein Geld? In Grafton oder in London?“ Rowena und ich sahen ihn überrascht an. „Und, Miss Lowell, was werdet Ihr morgen zum Frühstück essen?“ Er beugte sich mit belustigt blitzenden Augen zu mir herüber. „Es ist äußerst wichtig, dass wir das erfahren.“ Er zwinkerte mir zu, und ich lachte.

Rowena machte schmale Augen, lächelte aber gezwungen, als er sich ihr zuwandte. „Erzählt mir vom Krieg in Frankreich, Sir“, sagte sie, und ihr Blick hing an seinen Lippen. „War es schrecklich dort? Man hat mir erzählt, Ihr seiet verwundet worden.“

Alex‘ Miene war beinahe nichtssagend. „Es war nicht besonders schrecklich, Madam. Ich war nicht lange genug dort, um zu leiden.“

„Seid Ihr deshalb zurückgekehrt, obwohl der Krieg noch nicht vorüber ist?“

„Ich war nicht bei der Armee. Ich bin heimgekehrt, als meine Frau starb.“

„Oh! Wie furchtbar für Euch.“

„Ja“, sagte er und verlangte mit einer Geste mehr Wein. Er beobachtete, wie der Diener ihm einschenkte, als sei das sehr wichtig.

„Ihr armer Mann! Was ist ihr geschehen?“

„Sie ist krank geworden und am Fieber gestorben.“ Alex lächelte Rowena höflich an. „Habt Ihr und der Marquis schon Kinder?“

„Nein, zu meinem größten Bedauern.“

„Nun, dann wünsche ich Euch viel Glück“, sagte er und wandte sich wieder mir zu. Rowenas Augen blitzten, doch sie unterdrückte hastig ihren Zorn, und ich musste mich beherrschen, um nicht laut zu lachen. „Wart Ihr schon jemals in Schottland, Miss Lowell?“

„In Lothian, als ich noch sehr klein war, Sir. Wir haben die Besitzungen von Louisas erstem Ehemann besucht, aber ich kann mich kaum daran erinnern.“

„Dann habt Ihr das wahre Schottland noch nie gesehen.“ Seine Augen leuchteten. „Die Highlands kann man nicht mit Lothian vergleichen, so wenig wie man die Sonne mit dem Mond vergleichen könnte. Ihr müsst die Highlands besuchen. Ihr könntet dort eine wunderbare Zeit verleben.“

Ich lachte erneut. „Vielleicht nehme ich Euch beim Wort.“

„Das glaube ich gern. Ich werde mit Eurer Tante sprechen, damit wir bald einen Besuch arrangieren können.“

„Ich war auch noch nie in Schottland, Sir“, bemerkte Rowena.

„Habt Ihr eine Empfehlung, was man unbedingt sehen sollte?“

In diesem Moment sprach mich der Mann zu meiner Linken an, und ich wandte mich ihm widerstrebend zu. Ich konnte weder Alex‘ Antwort verstehen noch das weitere Gespräch zwischen ihm und Rowena. Während des gesamten nächsten Ganges warf ich hin und wieder einen Blick auf die beiden, wenn sie lachte, was oft vorkam, und ich schäumte innerlich, als sie ihm die Hand auf den Arm legte und ihm tief in die Augen blickte. Ich wollte eine vernichtende Bemerkung machen, doch mir fiel nicht ein, was ich zu ihr sagen könnte, das an Louisas Tafel auch nur halbwegs angemessen gewesen wäre. Ich begnügte mich damit, ihr verächtliche Blicke zuzuwerfen, die sie jedoch nicht bemerkte. Beim dritten Gang fühlte ich mich gleich besser, denn nun waren Alex und ich mit den uns gegenübersitzenden Gästen in ein interessantes Gespräch über die Zukunft der Kolonien verwickelt, während Rowena sich mit dem sehr jungen Mann zu ihrer Rechten unterhielt.

Ich beobachtete, wie Alex unseren Gesprächspartnern aufmerksam zuhörte, nickte oder Argumente vorbrachte. Sein Benehmen war tadellos, seine Art gewinnend. Bald hatte er die anderen zum Lachen gebracht, und sie stimmten seinem spaßhaften Vorschlag gut gelaunt zu, während ich still dasaß, wie verzaubert von seinem Auftreten. Er fühlte sich in dieser feinen Gesellschaft sichtlich wohl und wirkte ganz und gar nicht wie der ungehobelte Schotte, der er angeblich war. Natürlich, rief ich mir ins Gedächtnis, war er ein Graf, der Zehnte seiner Linie, und hatte in seiner Erziehung zweifellos eine gewisse Verfeinerung genossen, die der gewöhnliche Schotte vielleicht vermissen ließ. Er beantwortete meine Fragen geradeheraus, aber ohne große Ausschmückungen, und ich bemühte mich, nicht so zudringlich zu sein wie Rowena. Der Herr, der uns gegenübersaß, erkundigte sich, ob es stimme, dass Alex mit dem Festland Handel treibe. Als er das bestätigte, wurden an der Tafel Blicke gewechselt, und ich beobachtete, wie die Anwesenden vermerkten, dass der Earl of Kilgannon sich als Kaufmann betätigte. In dieser vornehmen Gesellschaft gab es kaum eine schlimmere Sünde als Fleiß und Geschäftstüchtigkeit.

Als die Tafel aufgehoben wurde, schlenderten die meisten Gäste in den Ballsaal hinüber, während sich einige Herren zum Rauchen zurückzogen. Alex warf mir einen Blick zu und lehnte die Einladung der Herren, sie zu begleiten, höflich ab. Tante Louisa, die Gäste aus dem Esszimmer geleitete, blieb kurz hinter meinem Stuhl stehen. „Warum kehrst du nicht in den Ballsaal zurück?“, fragte sie und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Die Musik beginnt gleich wieder.“

Ich nickte Louisa zu, doch als sie fort war, rührte ich mich noch immer nicht, denn ich wollte Alex nicht wieder in einem Saal voller Menschen verlieren. Rowena jedoch erhob sich, und Alex stand auf, machte die erforderlichen höflichen Bemerkungen und beugte sich über ihre Hand. Sie schwebte mit raschelnden Seidenröcken von dannen, um anderswo nach willigerer Beute zu suchen, und wir blieben allein mit den Bediensteten im Esszimmer zurück. Alex nahm mit einem Grinsen wieder neben mir Platz und stützte das Kinn auf die Hand. „Wo waren wir stehen geblieben, Mary?“, fragte er, und ich musste lachen. Ich hatte keine Ahnung.

Wir unterhielten uns, während alle anderen in den Ballsaal schlenderten und die Bediensteten mit dem Aufräumen begannen, und als wir ihnen ihm Weg waren, rückten wir an einen Teil der Tafel, der bereits abgeräumt war, denn wir waren immer noch ins Gespräch vertieft. Louisa lief immer wieder draußen im Flur an der offenen Tür vorüber, trat aber nicht zu uns. Niemand trat zu uns, und mir wurde vage bewusst, dass die Dienstboten gähnten und Kerzen löschten. Als Louisa und Betty gemeinsam in der Tür des Esszimmers erschienen, bemerkte ich erst, dass alle anderen schon gegangen waren und das Fest vorüber war. Alex blickte erschrocken zu Louisa auf, erhob sich abrupt und griff nach meiner Hand, als ich ebenfalls aufstand. Seine Hand fühlte sich warm und stark an, und ich wollte sie nicht loslassen, doch er gab sie frei, und wir warteten am Fuß der Tafel, während Louisa näher kam. Mit ihr kehrte offenbar auch meine Vernunft zurück. Ich begriff, dass wir uns ungeheuerlich schamlos benommen hatten und morgen ganz London über uns tratschen würde. Bevor einer von uns etwas sagen konnte, streckte Louisa ihm die Hand entgegen. „Gute Nacht, Alex“, sagte sie freundlich. „Ihr habt meine Nichte lange genug mit Beschlag belegt, zumal für Eure erste Begegnung mit ihr.“

„Ich bitte um Verzeihung“, begann Alex, doch sie winkte ab.

„Nicht doch, ich bin zu müde, um mir das anzuhören. Ihr dürft mich bald besuchen, um Eure Entschuldigung vorzubringen. Gute Nacht, Alex.“ Er verneigte sich, lächelte mir zu und verabschiedete sich. Will schüttelte ihm die Hand. Betty gähnte. Und dann war Alex fort. Ich wartete auf Louisas und Wills Tadel, doch keiner von beiden sagte mehr zu mir als »Gute Nacht«. Wie betäubt ging ich in mein Zimmer und spürte noch immer seine Hand in meiner.

 

Am nächsten Morgen empfand ich genauso, und ich dachte an Alex mit einer Aufgeregtheit, die beinahe berauschend war. Was

auch immer London von uns denken mochte, ich hatte unsere Gespräche sehr genossen und ging sie im Geiste immer wieder durch. Er war der zehnte Earl of Kilgannon, hatte das jedoch mit einem Schulterzucken abgetan und erklärt, er sei für diese Aufgabe erzogen worden, wichtiger sei ihm jedoch, dass er das Oberhaupt des Clans MacGannon sei. „Das ist eine gewaltige Verantwortung bei uns zu Hause, der Laird zu sein“, hatte er erklärt.

„Nicht wie in England, wo man nur elegante Kleidung trägt, seine Pacht einsammelt und viel auf seinen Titel hält. In den Highlands ein Laird zu sein, das bedeutet, dass man viele Aufgaben hat, um die man sich nur selbst kümmern kann. Es ist meine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass alle meine Leute gut zu essen bekommen und es zu Wohlstand bringen. Wenn ich versage, werden sie verhungern.“ Er war so ernst gewesen, dass ich es nicht über mich gebracht hatte, über seine Beschreibung des englischen Adels zu lachen oder seine Wahrnehmung geradezurücken.

Wie verschieden unser beider Leben war, hatte ich gedacht, während ich ihm zuhörte. Er war das älteste von vier Kindern seiner Eltern Ian und Margaret, doch zwei seiner Geschwister waren früh gestorben, nur Alex und sein Bruder Malcolm hatten überlebt. Beim Tod seines Vaters war er neunzehn Jahre alt gewesen, und er hatte die Führung des Clans übernehmen müssen. Zwei Jahre später hatte er Sorcha MacDonald geheiratet, – eine Ehe, die seine Eltern arrangiert hatten, als er noch ein Junge gewesen war. Sie hatten zwei Söhne bekommen, Ian und Jamie. Alex‘ Mutter war im Jahr nach Jamies Geburt gestorben, und bald danach hatte man Alex gebeten, nach Frankreich zu gehen, um die Einigkeit mit Königin Anne zu demonstrieren. Während seiner Abwesenheit war seine Frau verstorben. Ian war jetzt vier, Jamie zwei Jahre alt und Alex für einen Clan von fünfhundert Personen verantwortlich.

Im Gegensatz dazu war mein Leben geradezu ereignislos verlaufen. Ich war in Mountgarden in Warwickshire aufgewachsen, auf dem Landsitz, den mein Vater geerbt hatte, zusammen mit Will, meinem Spielgefährten und Verbündeten. Ich war verwöhnt und gut behütet gewesen. Erst in den vergangenen paar Jahren, als mein Vater gestorben und meine Mutter krank geworden war, hatte es auch in meinem Leben Unerfreuliches gegeben, aber selbst in meiner jetzigen Lage hatte ich meine Tante und viele Freunde, die sich um mich kümmerten und mich trösteten. Meine größte Leistung bisher bestand darin, keinen der Männer geheiratet zu haben, die man mir ständig vorführte, doch das hatte keine große Schwierigkeit dargestellt, weil ich bis vor Kurzem noch in Trauer gewesen war.

Ich rekelte mich und dachte daran, wie Alex neben mir gesessen hatte, das Gesicht von seinem goldenen Haar umrahmt. Ich hatte mich gestern Abend gefragt, wie es sich anfühlen würde, dieses Haar zu berühren, oder die glatte Wange, die es streifte, und dann hatte Alex mir eine Frage gestellt, und mir war bewusst geworden, dass ich keines seiner vorherigen Worte gehört hatte. Ich begann also, besser aufzupassen. Alex würde bald nach Schottland zurückkehren, doch er würde wieder nach London kommen, um sich mit Abgeordneten des Parlaments zu treffen. Er sagte nicht, wann er kommen würde. Ich erkundigte mich, ob er selbst Abgeordneter sei, und handelte mir einen eisigen Blick ein.

„Es gibt einhundertvierundfünfzig Mitglieder des Oberhauses in Schottland. Ich bin einer von fünfundsiebzig Grafen in Schottland, doch uns werden nur sechzehn Abgeordnete im House of Lords zugestanden. Ihr Engländer habt einhundertneunzig. Wir haben außerdem fünfundvierzig Abgeordnete im House of Commons und ihr fünfhundertdreizehn. Was meint Ihr, wie gut unsere Interessen also vertreten sind? Wir müssen uns Stimmen von den englischen Abgeordneten kaufen. Deshalb bin ich in London, und deshalb besuche ich solche Abendgesellschaften. Nicht, weil es mir Spaß machen würde. Ich habe mehr als genug von der englischen Politik“, erklärte er mit grimmigem Gesicht.

„Ich verstehe“, sagte ich, und als er den Blick mir zuwandte, hellte sich seine Miene wieder auf.

„Nun ja, das entspricht nicht ganz der Wahrheit.“ Er lächelte. „Heute Abend bin ich gekommen, weil ich wusste, dass Ihr hier sein würdet.“

Mir fiel keine passende Erwiderung ein, also stammelte ich schließlich: „Warum?“

„Warum?“ Er zögerte, blickte zur Decke auf und sah mich dann wieder an. „Habt Ihr Euch denn noch nie im Spiegel gesehen, Mary? Man hat Euch doch gewiss schon oft genug gesagt, wie Ihr ausseht.“ Ich spürte, wie meine Wangen scharlachrot wurden. Er straffte die Schultern und schaute auf seine Hände hinab, die ein eingebildetes Stäubchen von seinem Kilt fegten.

„Ich habe mich selbst überrascht. Ich dachte, ich sei in geschäftlichen und politischen Angelegenheiten hier, doch als ich Euch auf dem Fest der Herzogin gesehen habe, da fand ich Euch wunderschön, und ich konnte mich gar nicht sattsehen an Euch. So etwas tue ich für gewöhnlich nicht. Ich bin ein bisschen alt dafür, meint Ihr nicht?“ Er warf mir einen Blick zu und starrte dann ins Leere. Der Spitzenbesatz an seinen Ärmeln fiel auf seine Handrücken und hob sich weiß von der gebräunten Haut ab. Lange, schlanke Finger, ein Siegelring. „Ich habe das Fest verlassen und angenommen, dass ich Euch rasch wieder vergessen würde. Aber ich habe Euch nicht vergessen und bin heute Abend hierhergekommen, um mir zu beweisen, dass Ihr nicht so schön sein könnt, wie ich Euch in Erinnerung hatte.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihm danach ein wenig wirr um den Kopf stand. „Aber das seid Ihr, und ich hätte nie gedacht, dass mir Eure Gesellschaft so angenehm sein könnte. Dann erzählen mir alle, Ihr wäret bereits vergeben.“ Er sah mir in die Augen.

„Aber Ihr verhaltet Euch nicht wie eine Frau, die einem anderen versprochen ist.“

„Das bin ich auch nicht.“

„Gut.“ Er nickte und lachte. „Schaut nicht so verängstigt drein, Mary. Ich werde Euch nicht entführen, obwohl das gar kein übler Gedanke ist. Wie würde es Euch in Schottland gefallen, Mädchen?“ Er stützte sich auf einen Ellbogen und lächelte mich an. Ich wusste nicht recht, ob das ein Scherz sein sollte. Ich wusste eigentlich gar nichts mehr, außer dass ich mir wünschte, er möge sich noch lange mit mir unterhalten.

„Aber Ihr kennt mich doch gar nicht, Sir!“

„Und das müssen wir unbedingt ändern. Aber ein wenig weiß ich schon über Euch.“

„Zum Beispiel ...?“

„Zum Beispiel, dass Ihr gern und sehr gut tanzt, diesen Jonathan aber nicht mögt. Ihr seid nach dem Tod Eurer Mutter und den langen Reisen erst kürzlich nach London zurückgekehrt, und alle Männer finden Euch sehr schön, doch Lord Campbell behauptet, Ihr wäret sein Mädchen, und ganz London scheint das zu glauben. Euer Bruder hat zusätzlich zu Mountgarden Land von der Familie seiner Frau geerbt, und er wird vermutlich eines Tages auch Titel und Ländereien Eures Onkels Grafton erben. Ihr lebt im Augenblick hier, bei Eurer Tante Louisa, doch wenn deren Mann aus Frankreich zurückkehrt, werdet Ihr London vermutlich verlassen. Ihr besitzt kein eigenes Land und liebt Schokolade. Soll ich fortfahren?“

„Nein. Das ist gewiss mehr, als ich dachte.“

„Ja, und das ist noch nicht alles.“

„Ich verstehe.“ Ich beobachtete ihn und fragte mich, was als Nächstes kommen mochte.

„Ja.“ Er betrachtete einen Moment lang den Teppich. „Mary“, sagte er dann, hob die blauen Augen und sah mich an. „Darf ich Euch wiedersehen, oder sollte ich gehen? Sagt es mir lieber jetzt, Mädchen, ehe ich mich zum Narren mache.“

Ich war nicht sicher, ob es klug sei, sich weiterhin mit ihm zu unterhalten, doch der Gedanke, diesen Mann nie wiederzusehen, war unerträglich. Ich hätte ihm sagen sollen, er müsse gehen, denn jegliche romantische Beziehung zwischen uns sei unwahrscheinlich und unpassend. Wir waren zu verschieden, unser beider Welten nicht miteinander vereinbar. Ich beobachtete, wie er mich musterte, mit klarem, aufrichtigem Blick, und ich holte tief Luft.

„Ja, Alex, Ihr dürft mich wiedersehen.“

Er stieß den angehaltenen Atem aus und lächelte. „Schön, dann werde ich Euch wiedersehen. Und wenn uns beiden gefällt, was wir dann erleben, können wir Weiteres besprechen.“

Ich spürte, wie sich vor Überraschung meine Augenbrauen hoben. „Dann werde ich Euch wiedersehen, noch bevor Ihr nach Schottland heimkehrt?“

Nun rekelte ich mich behaglich und zog mir die Bettdecke über die Schulter. Ich wusste, dass Alex nicht so unkompliziert war, wie er auf den ersten Blick erschien, doch er faszinierte mich wie noch kein Mann vor ihm, und ganz gewiss nicht Robert. Robert war ebenfalls Schotte, doch ich hatte ihn nie als solchen betrachtet, vielleicht deshalb, weil er fast sein ganzes Leben in England verbracht hatte und er und seine Cousins hierzulande ebenso viel Grund besaßen wie in Schottland.

Lächelnd gestand ich mir ein, dass ich es herrlich fand, endlich einen Mann zu kennen, der mich so leidenschaftlich umwarb. Ich konnte nicht behaupten, dass mich das kalt ließ. Ich war mir während des vergangenen Abends unziemlich bewusst gewesen, wie lang seine ausgestreckten Beine waren, wie seine Schulter zuweilen die meine berührte, wie entwaffnend diese blauen Augen auf mich wirkten. Es stand außer Zweifel, dass seine Erscheinung ungemein anziehend und sein Humor herrlich erfrischend waren. Plötzlich stand mir ein lebhaftes Bild vor Augen, wie ich ihm diese verirrte Locke aus dem Gesicht strich, mich dann vorbeugte und ihn küsste. Oh nein, ich war nicht immun gegen Alex MacGannon. Und er gegen mich offenbar auch nicht. Ich lächelte bei diesem Gedanken.

 

Louisa verließ ihre Gemächer erst am späten Nachmittag, und bis dahin streifte ich mit Will und Betty durchs Haus. Als Betty sich nach dem Mittagsmahl zurückzog, um sich ein wenig hinzulegen, hatten Will und ich endlich Gelegenheit, uns unter vier Augen zu unterhalten, und ich betrachtete meinen Bruder voller Zuneigung. Er war oft ein Schelm, manchmal auch herrisch und schwierig, aber er war mir immer ein liebender Bruder, und nun lächelte er mich an. Ich war dankbar dafür, dass er hier war.

„Dein Highlander hat mir geschrieben und um meine Erlaubnis ersucht, dich sehen zu dürfen“, sagte er mit neugieriger Miene und fischte ein Briefchen aus der Westentasche, das er mir reichte. »Louisa hat auch so eine Nachricht von ihm erhalten, also nehme ich an, dass er uns beide um dasselbe bittet. Was soll ich ihm antworten?“

„Er ist nicht mein Highlander, Will“, sagte ich knapp und las dann Alex‘ sehr höflich formulierten Brief, in dem er Will um Erlaubnis bat, die Bekanntschaft mit Eurer Schwester vertiefen zu dürfen. Er schrieb korrektes Englisch, dennoch konnte ich irgendwie den schottischen Zungenschlag heraushören. „Sag ja.“

„Und was ist mit Robert?“

Ich blickte zu meinem Bruder auf. „Was soll mit Robert sein?“

„Stell dich nicht dumm. Alle Welt geht davon aus, dass ihr heiraten werdet.“

„Nun, dann sollte Robert seinen Absichten vielleicht Ausdruck verleihen.“

Seine Augenbrauen hoben sich. „Es gibt keine Übereinkunft zwischen euch?“

„Er hat nicht um meine Hand angehalten, falls du das meinst.“

„Aber ich dachte –“

„Anscheinend denkt das ganz London. Aber eine Frau kann nicht einfach davon ausgehen, dass sie bald heiraten wird, solange sich nichts Förmlicheres ereignet.“

„Dann ist Robert ein Narr.“

„Möglich. Oder sein Interesse ist nicht so stark, wie du annimmst.“

„Wenn er nicht aufpasst, wird Kilgannon dich ihm stehlen.“

„Um Himmels willen, Will, habe ich denn in dieser Sache gar nichts zu sagen? Robert hat mich nicht gebeten, seine Frau zu werden, und, lieber Bruder, Lord Kilgannon hat das auch nicht getan. Aber wenn Kilgannon meine Gesellschaft öfter genießen möchte und das auch mein Wunsch ist, wird es so sein. Und augenblicklich ist das mein Wunsch.“

Nach kurzem Zögern warf Will den Kopf in den Nacken und lachte. „Tatsächlich? Ich mochte ihn auch, was mich ein wenig überrascht. Ich hatte ganz andere Dinge über ihn gehört, die gar nicht zu dem Mann passen, der er zu sein scheint. Louisa gibt offen zu, dass er auch für sie eine Überraschung ist. Allerdings hat sie ihn ja seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ich würde meinen, auch wir beide haben uns seit Kindertagen ein wenig verändert.“

„Du nicht“, erwiderte ich lachend.

„Nun, vielleicht hast du recht.“ Er lachte mit mir. „Aber, Mary“, – er beugte sich vertraulich vor – „soll ich Kilgannon wirklich meine Erlaubnis geben?“

„Ich habe nicht vor, ihn nach einem einzigen Abend gleich zu heiraten. Du meine Güte, Will, ich habe ihn gestern erst kennengelernt.“ Ich seufzte. „Aber er ist ein faszinierender Mann.“

„Du hast den ganzen Abend mit ihm allein im Esszimmer verbracht.“

„Das stimmt nicht ganz“, entgegnete ich trocken.

„Alle haben darüber geredet.“

„Natürlich.“ Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als kümmerte mich das nicht. „Und morgen werden sie über jemand anderen reden.“

„Vermutlich.“ Er nickte, gähnte und erhob sich dann, als Louisa hereingeeilt kam. Sie umrundete die Tafel und blieb ein wenig brüsk vor Will stehen, die Hände vor der Taille gefaltet.

„Mary und ich machen einen Spaziergang im Garten“, sagte sie.

Will lachte. „Ich glaube, man hat mich soeben entlassen“, sagte er, verneigte sich und verließ den Raum. Louisa bedeutete mir, ihr zu folgen.

Doch im Garten schwieg sie. Ich spazierte mit ihr zwischen den Rosen hindurch und ließ mich neben ihr auf einer Bank nieder. Noch immer sagte sie nichts, und ich machte mir allmählich Sorgen. Als sie endlich sprach, klang sie belustigt. „Ich weiß nicht recht, was ich dir sagen soll, Mary.“

„Du bist gewiss zornig auf mich, Louisa ...“

„Nein, Liebes, ich bin nicht zornig.“ Sie sah mich an. Ihre schönen Augen blickten ernst, ihre Stimme klang ruhig. „Ich fürchte um dich. Als ich euch beide nebeneinander platziert

habe, dachte ich, Alex MacGannon würde für dich eine interessante Ablenkung an der Tafel sein, eine Abwechslung von den Londoner Herren. Ich dachte, du würdest ihn für ein paar Stunden ganz amüsant finden, so lange Robert noch nicht zurück ist. Ich hatte nicht erwartet zu sehen, wie tief du ihm nach wenigen Minuten der Bekanntschaft in die Augen blicken würdest. Ich habe seinen Charme unterschätzt, so scheint mir.“ Stirnrunzelnd ließ sie den Blick über den Garten schweifen. „Und deine Reize ebenfalls. Ich hätte es besser wissen müssen.“

Ich errötete ob ihrer Beschreibung unseres Verhaltens. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm tief in die Augen geblickt zu haben. Oder vielleicht doch, dachte ich, als ich plötzlich Alex‘ Gesicht vor mir sah, mit diesen strahlend blauen Augen. Ich seufzte. „Er ist faszinierend.“

„Offensichtlich.“ Sie warf mir einen Blick zu. „Aber er ist Schotte.“

„Louisa, du hast einen Schotten geheiratet und warst sehr glücklich mit ihm.“

Ihr Blick wirkte entrückt. „Ich war sehr glücklich“, sagte sie nickend. „Aber, Liebes, Schottland ist nicht England, und Alex ist nicht dein Onkel Duncan. Ich habe nicht gescherzt, als ich Alex gesagt habe, Schottland sei zu gefährlich und zu weit fort.“ Sie seufzte. „Ich kenne Alex, seit er ein kleiner Junge war, und er scheint sich kein bisschen verändert zu haben. Er war mit zehn Jahren ebenso offen und aufrichtig wie jetzt, doch er hat mir erst letzte Woche anvertraut, dass er nicht vorhabe, sich bald wieder zu verheiraten, und ich glaube ihm.“

„Vielleicht hat er das auch gar nicht vor, Louisa. Wir haben nichts weiter getan, als uns zu unterhalten. Er bietet mir nicht die Ehe an, noch hätte ich eingewilligt.“

Sie seufzte erneut. „Als ich heute seine Nachricht erhielt, erkannte ich, dass er tatsächlich in Erwägung zieht, um dich zu werben. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Da gibt es nichts zu tun.“

„Du meinst, man kann ohnehin nichts dagegen tun.“

„Louisa, du sorgst dich viel zu sehr. Ich habe ihn doch erst einmal gesehen.“

„Warum ist Robert nicht hier, dieser Narr? Ich hätte nicht auf die Herzogin hören dürfen. Jetzt fürchte ich, ich könnte dich an Schottland verlieren.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe im Augenblick nicht die Absicht, irgendjemanden zu heiraten. Außerdem könnte ich auch in Schottland leben, wenn ich Robert heiraten würde.“

„Nein, Liebes, wenn du Robert heiraten würdest, würdet ihr in London leben oder auf seinem Landsitz, und ihr würdet Schottland einmal im Jahr besuchen, so wie ich es getan habe. Aber ganz gleich, was in diesem seltsamen Land geschehen mag, du wärest sicher in England. Wenn du Alex heiratest, wirst du am Ende der Welt leben, und ich werde dich vielleicht nie wiedersehen. Es ist allgemein bekannt, wie sehr er an seinen Söhnen hängt. Er hat bereits eine Familie, die er in eine neue Ehe mitbringen würde, und zahlreiche Verpflichtungen. Und offenkundig, – ob es ihm bewusst ist oder nicht, – sucht er eine Ehefrau.“ Ihre Schultern sanken herab. „Ich war ja so dumm.“ Sie tippte mit den Fingern an ihre Unterlippe und richtete sich dann auf. „Ich werde ihm schreiben, dass er dich nicht wiedersehen darf. Dann wird er nach Hause gehen und irgendeine polternde Schottin heiraten, die sehr viel besser zu ihm passen wird, und du und Robert, ihr könnt euer ewiges Werben fortsetzen. Damit ist das Problem gelöst.“

Meine erste Reaktion war Ärger, doch ich hielt mich zurück. Die Tatsache, dass ich so heftig auf ihre Worte reagierte, bedeutete, dass sie sich zu Recht sorgte. Vielleicht war mein Interesse an Alex nur eine plötzliche Vernarrtheit, die verblassen würde, wenn wir einander besser kennenlernten. Vielleicht hatte ich mich einfach von einem gut aussehenden Neuankömmling in fremdländischer Kleidung blenden lassen. Aber ihn nie wiedersehen? Das würde ich nicht ertragen können. „Louisa –“, begann ich.

Sie hob die Hand. „Ich wusste, dass du damit nicht einverstanden sein würdest. Also schön. Wir sagen ihm, dass er uns besuchen darf. Aber ihr werdet keinen Augenblick allein sein, und ich werde auch noch einmal mit ihm sprechen. Mary, du weißt ja nicht, wie sein Leben auf Kilgannon aussieht. Ein Earl zu sein, das bedeutet in Schottland nicht dasselbe wie hier.“

„Wie kannst du so etwas sagen? Duncan war Schotte, und ihr wart glücklich miteinander.“

„Duncan war kein Highlander. Er war sehr zivilisiert.“ Sie beugte sich mit glänzenden Augen zu mir herüber. „Mein Liebes, ich hatte mir Alex als Gefährten für dich vorgestellt, aber für einen Abend, nicht für das ganze Leben.“

Ich straffte die Schultern. „Meinst du nicht, dass all das furchtbar übertrieben ist, nachdem wir uns nur einen Abend miteinander unterhalten haben? Ein Mal. Vielleicht werde ich anders von ihm denken, wenn ich ihn wiedersehe. Aber, Louisa, ich werde ihn wiedersehen.“ Unsere Blicke trafen sich, und sie seufzte.

„Ich hatte befürchtet, dass du so etwas sagen würdest. O weh, ich wünschte so sehr, dein Onkel Randolph wäre hier. Ich bin ja so dumm gewesen.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin für mein Verhalten selbst verantwortlich, Louisa, und Alex für das seine. Wir haben nichts weiter getan, als uns zu unterhalten. Womöglich werde ich ihn ohnehin nie wiedersehen.“ Doch in meinem Kopf hörte ich ihn sagen, dass wir alles Weitere besprechen könnten, falls uns beiden unser nächstes Treffen gefiele. Und mir gefiel, was ich von ihm gesehen hatte.

Sie nickte mit gerunzelter Stirn.

 

Als der Tag zur Neige ging, versuchte ich, so zu tun, als kümmerte es mich nicht, dass weder Louisa noch Will mit einem Wort erwähnt hatten, ob sie Alex bereits eine Antwort geschickt hatten. Wir speisten einfach, nur wir vier, und wollten gerade vom Tisch aufstehen, als ein Dienstmädchen einen Brief für mich brachte. Louisa zog die Augenbrauen hoch, doch sie sagte nichts, als ich nach der Botschaft griff. Ich erkannte weder die Handschrift noch das Emblem auf dem Siegel. Der Brief war natürlich von Alex.

„Was denkst du, ob das wohl eine weitere Entschuldigung ist?“, bemerkte Will.

„Was meinst du damit?“, fragte ich und erbrach das Siegel. Will lachte. „Dein Highlander hat sich wortreich bei Louisa entschuldigt, weil er dich gestern Abend so mit Beschlag belegt hat. Ich nehme an, das ist der einzige Grund dafür, dass er noch am Leben ist.“ Louisa protestierte, doch ich ignorierte die beiden.

Liebe Miss Lowell, hatte Alex geschrieben. Eure Tante und Euer Bruder waren so gütig, mir zu gestatten, Euch wiederzusehen. Ich würde Euch gern morgen Vormittag meine Aufwartung machen und Euch meine Cousins vorstellen. Bitte benachrichtigt mich, falls Euch das nicht genehm sein sollte. Ergebenst Alexander MacGannon. Er hatte seine Adresse beigelegt. Ich las den Brief laut vor.

„Er ist weiß Gott beharrlich“, bemerkte Louisa scharf. „Wir werden ihn doch empfangen, nehme ich an?“

„Ich werde ihn empfangen“, sagte ich und wandte mich meinem Bruder zu. „Will?“

Will nickte mir zu. „Natürlich. Wann soll Robert zurück sein?“

„Morgen, glaube ich“, antwortete ich in ebenso beiläufigem Tonfall wie er. „Vielleicht besucht er uns ja.“

„Vielleicht.“ Er lächelte mit blitzenden Augen.

Ich entschuldigte mich, verfasste rasch eine Antwort und übergab sie dem groß gewachsenen jungen Mann, der geduldig im Foyer gewartet hatte. Er hatte sehr helles Haar und sah sehr gut aus, und er ähnelte Alex dermaßen, dass ich wusste, er musste ein Verwandter von ihm sein. Ich fragte ihn danach, als ich ihm meine Botschaft brachte, zum Entsetzen von Louisas Butler Bronson, der die Ansicht vertrat, junge Damen sollten niemals direkt mit Fremden sprechen, und ganz gewiss nicht mit den Botenjungen von Fremden. Bronson hielt mich ohnehin für übermäßig kühn. Ich ignorierte ihn, so gut es ging, und er mich ebenfalls.

„Jawohl, Miss“, sagte der Junge, als ich mich nach ihm erkundigte. „Ich bin Matthew MacGannon, Kilgannons Cousin. Alex ist draußen und wartet auf Eure Antwort.“ Er war jünger, als ich auf den ersten Blick vermutet hatte, und furchtbar ernst. Ich lächelte ihn an und widerstand dem Impuls, die Tür aufzureißen und Alex selbst zu sehen. Ellen, eines der Dienstmädchen, die sich im Foyer herumdrückten, kicherte hinter vorgehaltenen Händen, als sie meinen Blick auffing.

„Richte ihm aus, dass ich ihm einen angenehmen Abend wünsche und wir uns morgen Vormittag sehen“, sagte ich zu Matthew und versuchte, Ellens Gelächter würdevoll zu ignorieren.

„Jawohl, Miss. Guten Abend, Miss“, sagte Matthew, verbeugte sich linkisch und machte auf dem Absatz kehrt. Ich blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach, dann wechselten Ellen und ich ein heimliches Lächeln.