Leseprobe Die Lügen der Vergangenheit

EINS

»My Paradise had still been incomplete«

The Prophecy of Dante, I, 27

»Trüb blieb mein Paradies«

Die Prophezeiung Dante’s, I, 27

Florenz, Italien, Juli 1873

Es scheint fast unmöglich, dass die Dauer eines Augenzwinkerns reicht, um ein Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Da es mir jedoch genau so ergangen ist, weiß ich: Es ist möglich.

An einem lauen Florentiner Abend erlebte ich einen Moment, der zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schwebte, und darin eine Wandlung, die mich mein Leben mit neuen Augen sehen ließ: Ich hatte eine Vision von meiner Zukunft, die in strahlenden, bis dato unvorstellbaren Möglichkeiten heraufdämmerte. Ich konnte nicht sicher sagen, wohin dieser neue Optimismus führen würde. Aber meine Welt hatte sich gewandelt, und von Stund an fieberte ich den nachfolgenden Tagen entgegen, denn sie bargen so viele Möglichkeiten, von denen ich eine Woche zuvor nicht einmal geträumt hätte.

Ich, Claire Clairmont, hätte es nicht gewagt, davon zu träumen.

Als vornehm Verarmte lebten meine Nichte Paula, ihre Tochter und ich in Florenz, und unser Leben drehte sich immer wieder darum, jede Lira umzudrehen und nach neuen Wegen zu suchen, wie wir unsere schäbigen, angemieteten Räume im Palazzo Cruciato davor bewahren könnten, völlig auseinanderzufallen. Ich musste all die geschickten Schachzüge aufbieten, die ich in meinem langen Leben gelernt hatte, um in dieser alten italienischen Stadt den Anschein von Ehrwürdigkeit aufrechtzuerhalten, aber Erfindungsreichtum war eine meiner großen Stärken. In meiner Jugend hatte mir mein Köpfchen zu meinen Reisen verholfen. So hatte ich den Vesuv in der Morgendämmerung gesehen, einen eisigen Winter im zaristischen Moskau überlebt und auf dem Montmartre in meinem Häuschen mit französischen Männern geflirtet – immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer, immer auf der Suche nach einer weiteren Überlebensmöglichkeit. Doch als ich meine achte Lebensdekade begonnen hatte, begann die Not mich auszulaugen. Meine Tage schienen sich unendlich auszudehnen, ohne dass ich Morgenluft witterte. Sie brachten mich dazu, mein Testament zu schreiben, meine Bestattung im Voraus zu zahlen, und mich auf die Zeit zu freuen, in der ich meiner geliebten, verstorbenen Tochter Allegra im Himmel gegenübertreten würde. Die nächste Welt schien mich mit ihrem Flüstern über das große Danach anzulocken, eine süße Hoffnung, die mir meine angenommene katholische Religion geschenkt hatte.

Doch all das hatte sich geändert, sobald ich erfuhr, dass sie vielleicht noch leben könnte.

Allegra.

Allegrina, wie ihr italienisches Kindermädchen sie vor langer Zeit genannt hatte – das Licht meines Lebens.

Meine Tochter von einem der berühmtesten (und berüchtigtsten) Literaten seiner Zeit: George Gordon Lord Byron, der romantische Dichter, dessen Ruf sich in immer höhere Höhen geschraubt hatte, seit er vor gut fünfzig Jahren in Mesolongi im Kampf für die griechische Unabhängigkeit den Tod gefunden hatte.

Brillant, charmant, skandalös und grausam.

All das konnte Byron sein – und noch mehr. Ich hatte seinen Tod betrauert, wie ich fast drei Dekaden später auch den meiner Stiefschwester Mary Shelley betrauerte, die in ihrem Heim in England im Kreise ihrer Familie diese Welt verließ, gefeiert und berühmt. Sie und ich hatten die Männer überlebt, die uns verzaubert und verraten hatten.

Byron, mein Geliebter. Percy Bysshe Shelley, ihr Geliebter und Ehemann.

Der Klang ihrer Namen rief heutzutage andächtige Stille hervor, aber ich hatte sie gekannt, als sie jung, leidenschaftlich und sorglos waren. Höchst talentiert, ohne Zweifel. Aber als Byron sich auf den Weg zu seiner aussichtslosen Mission in Griechenland machte und als Shelley in der Bucht von Lerici in der Nähe von La Spezia törichterweise in einem heftigen Sturm mit seinem Segelboot hinausfuhr – da hatten sie beide keinen Gedanken an diejenigen verschwendet, die sie zurücklassen würden.

Byron. Shelley. Mary. Alle waren sie tot.

Nur ich lebte noch immer.

Ich war das letzte Mitglied unseres magischen Kreises in Genf in jenem »Jahr ohne Sommer«, 1816, in dem wir uns allabendlich versammelten, wenn die Gewitterstürme heranrollten und die Blitze um uns herum einen grausamen, wilden Tanz aufführten. Wir erzählten uns in Byrons Villa Diodati Geistergeschichten, während wir behaglich um den Kamin herum beisammen saßen, und versuchten, uns gegenseitig in Angst und Schrecken zu versetzen.

Diese kurze Zeitspanne war für uns alle ein Zwischenspiel, in dem wir die Gestaltung unserer restlichen Leben teilten: Shelley und Byron schufen Gedichte von nie erreichter Schönheit, Mary entwarf Frankenstein, Byrons unberechenbarer Arzt Polidori schrieb Der Vampyr, und ich empfing meine Tochter von Byron.

Wir lebten damals mit einer brennenden Intensität, die ich danach nie wieder erfahren hatte – bis vor wenigen Tagen, als ein Mörder mich mit einer Waffe bedrohte und mein alter Freund Edward Trelawny unerwartet in Florenz zu meiner Rettung auftauchte. Danach enthüllte er mir die Wahrheit über den Tod meiner Tochter: Sie hatte die Typhusepidemie überlebt, die ihre Klosterschule heimgesucht hatte. Dieses Geheimnis hatte er viele Jahre vor mir verborgen gehalten, obwohl er mir erklärt hatte, wie sehr ich ihm am Herzen läge. Sein Verrat traf mich tief. Danach brauchte ich Tage, um die Stärke zu finden, ihm wieder gegenüberzutreten. Zu guter Letzt gab ich nach, und er erschien zur Teezeit mit einem Strauß weißer Rosen und einem reumütigen Ausdruck im Palazzo Cruciato.

»Claire, ich danke dir dafür, dass du einem Treffen mit mir zugestimmt hast. Ich habe dir versprochen, alles, was ich über Allegra weiß, zu berichten, und nun bin ich hier, um mein Versprechen einzulösen. Ich habe keine Entschuldigung für mein Verhalten, aber ich bitte dich, mich anzuhören und mich nicht zu verurteilen«, bat Trelawny flehentlich, während er in meinem Wohnzimmer auf und ab ging. Noch immer gab er mit seinem breiten Rücken und dem silber gesträhnten Haar, das auf seine Schultern fiel, eine attraktive, beeindruckende Figur ab. Sein bärtiges, wettergegerbtes Gesicht trug jedoch die Anzeichen des Alters und der auf See verbrachten Tage, die seine Haut rau und rot hatten werden lassen und fedrige feine Linien um seine blitzenden Augen herum eingezeichnet hatten. Eine Musketenkugel in seinem oberen Rücken, Überbleibsel eines Mordversuchs während des griechischen Unabhängigkeitskrieges, hatte ihm zudem eine leicht gebeugte Haltung verliehen.

Ein alternder Korsar, auf seine Weise immer noch todbringend – und er war sich seiner durchschlagenden Wirkung in der Damenwelt durchaus bewusst, die er mit den Erzählungen über seine Kriegserlebnisse erzielte.

Was für eine faszinierende Mischung aus Mut und Eitelkeit! Auf seine Weise unwiderstehlich.

Allerdings hatte er seinem Repertoire an Vorzügen »Betrüger« hinzugefügt, und das konnte ich schwerlich akzeptieren.

Von meinem Ohrensessel neben dem Fenster aus, das auf den Boboli-Garten hinausblickte, betrachtete ich die Züge dieses Mannes, der mir vertraut und zugleich fremd erschien. Auch ich war seinem Zauber vor langer Zeit erlegen. Trelawny. Einst hatte ich ihn für meinen Freund und Unterstützer gehalten. Ich hatte ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, obwohl wir die ganze Zeit brieflich in Kontakt standen. Zum ersten Mal war ich ihm 1822 in Pisa begegnet, als er sich den Shelleys und mir als Leutnant zur See (nicht ganz die Wahrheit) und jemand vorstellte, der Shelley die Komplexität im Umgang mit einem Seeboot lehren konnte (größtenteils der Wahrheit entsprechend). Ein Held im Stile Byrons, selbst entworfen, der um die Ehrlichkeit herum mäanderte, als wäre sie mit Dornen bewehrt, und doch hatte ich ihn immer leiden gemocht. Deshalb zerriss sein Verrat mir das Herz umso mehr.

»Du hast mich mit deinen Lügen verletzt«, begann ich und bemühte mich, meine Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen.

»Ich weiß.«

Nur das, mehr nicht. Was blieb sonst noch zu sagen? »Es ist so lange her, seit wir uns gesehen haben, und so vieles ist geschehen, aber ich will mir erst ein Urteil über deinen Verrat bilden, wenn ich angehört habe, was du mir zu berichten hast.« Ich bedeutete ihm, sich auf den Sessel auf der anderen Seite des Teetischs zu setzen. »Ich muss dich warnen, dass sich die Dinge in den letzten paar Jahren geändert haben. Meine Lebensumstände sind nach meiner desaströsen Investition in den Hof in Österreich auf ein ärmliches Niveau gesunken. Ich bin also sehr vorsichtig gegenüber den Menschen, denen ich nicht … vollends vertrauen kann.«

Meinem Neffen zu helfen hatte sich als schlechte finanzielle Entscheidung entpuppt, als Risiko, das auch den Rest des Vermächtnisses von Shelley an mich aufgefressen hatte. Aber das Wohl meiner Familie brachte mich immer dazu, den gesunden Menschenverstand beiseite zu schieben.

»Wann hätte Geldmangel je eine Rolle für uns gespielt?« Er glitt auf das abgewetzte Samtkissen und streckte seine langen Beine aus, die in Reithosen und Stiefel gekleidet waren. »Ein Reichtum an Geist und Seele überwiegt weltlichen Wohlstand um vieles.«

»Sehr wahr, aber Rechnungen zahlen sich nicht mit guten Absichten.« Ich hob ironisch eine Braue und richtete meinen Blick zur Küche, in der Paula damit beschäftigt war, den Nachmittagstee zu bereiten. »Ich muss nun das Wohlergehen meiner Nichte und ihrer Tochter Georgiana im Auge behalten, und die Welt ist nicht immer freundlich gegenüber den Menschen, die im Herbst des Lebens angekommen sind.« Mein Spiegel zeigte mir sehr deutlich, dass mein mediterraner Charme etwas verblasst war. Meine olivfarbene Haut trug einige Falten, und meine dunklen Locken waren von silbernen Strähnen durchzogen, auch wenn ich fand, dass das Funkeln in meinen Augen ungebrochen leuchtete.

Aber ich war keine junge Frau mehr.

»Du wirst immer die temperamentvolle Schönheit bleiben, die ich in Pisa kennengelernt habe – quirlig, lebendig und mit der Stimme eines Engels.«

Ich lächelte und glättete die Falten meines gelben Baumwollkleides mit den kleinen, sorgfältig ausgebesserten Löchern im Stoff. All meine Kleider hatten bessere Tage gesehen, um es beschönigend auszudrücken. »Die Lektionen, die das Leben mir aufgab, haben mich verändert, wie du dir sicher vorstellen kannst. Eine Frau meines Standes hat unter allen Umständen den ihr zugewiesenen Platz einzunehmen, und das Leben in Florenz hat mich eine weitere Lektion gelehrt, nämlich dass Geld im Alter sowohl der große Segen als auch der Fluch menschlichen Lebens ist. Ich kann es mir nicht leisten … Fehler zu machen.« Ich sah ihn forschend an. »Du und ich, wir haben mit dem Leben gespielt und uns – aber auch andere – ein Mal in Gefahr gebracht, aber das darf nicht mehr geschehen. Es sind bereits Menschen gestorben, die zu Allegras Schicksal in Verbindung standen, und wir dürfen kein weiteres Blutvergießen zulassen.«

Natürlich meinte ich Vater Gianni, meinen Priester und Vertrauten, der vor vierzehn Tagen in der Basilika di San Lorenzo niedergestochen worden war. Er hatte mir bei meiner Suche nach der Wahrheit über Allegras Schicksal zur Seite gestanden und die Archive des Klosters von Bagnacavallo durchsucht, jenes Ortes, an dem sie angeblich als Kleinkind gestorben war. Es hatte sich herausgestellt, dass unser Vermieter Matteo Ricci sein Mörder war, ein Dieb und Verbrecher, der aus den wertvollen Byron- und Shelley-Erinnerungsstücken hatte Profit schlagen wollen, die ich im Zuge meiner Bitte Vater Gianni überlassen hatte. Nach seiner Verhaftung hatte Matteo gestanden, dass seine Spielschulden ihn zu diesem bösen Akt getrieben hatten, als Vater Gianni ihn daran hinderte, meine Korrespondenz zu stehlen. Hätte ich von Matteos verzweifelter Lage etwas geahnt, hätte ich niemals meinen Priester in die Sache mit einbezogen, doch die Tat konnte nicht rückgängig gemacht werden.

Ich würde mein Handeln immer bedauern. Und es betrauern.

»Im commissariato di pubblica sicurezza habe ich heute Morgen erfahren, dass Matteo dafür zahlen wird – auf Mord steht die Todesstrafe. Und bei Gott, er hat es verdient, für eine solch abscheuliche Tat gehängt zu werden.« Tiefe, scharfe Furchen durchzogen Trelawnys Gesicht. »In der nächsten Welt wird er verflucht sein. Wenn man an solche Dinge glaubt.«

Er glaubte nicht daran, wie ich nur zu genau wusste.

Meine Hand bedeckte das kleine goldene Medaillon, das an einer zarten Kette um meinen Hals hing – das letzte Geschenk meiner Mutter an mich. Sie hatte es von meinem Vater bekommen, den ich nie kennengelernt hatte. Ich hielt es in Ehren, obwohl meine Mutter mich oder mein Leben nie anerkannt hatte. »Vielleicht verdient Matteo keine Gnade von uns, aber die göttliche Vergebung könnte ihm immer noch gewährt werden.«

»Nicht sehr wahrscheinlich.«

In Wahrheit musste ich ihm recht geben. »Leider hatte Vater Gianni noch keine Antwort aus Bagnacavallo erhalten. Also weiß ich lediglich, dass Allegra nicht im Kloster gestorben ist, und dass du und Byron diese Tatsache aus irgendeinem Grund vor mir verborgen habt. Genauso wie dieses Kunstwerk, dass meine Armut deutlich hätte abmildern können.« Ich verschluckte mich fast bei diesen Worten und deutete auf die Zeichnung aus Bleistift und Tinte auf geprägtem Papier, die auf dem Teetisch lag. Sie zeigte den ägyptischen Obelisken im nahe gelegenen Boboli-Garten, und ein berühmter italienischer Künstler hatte sie gezeichnet, Giuseppe Cades. Erst vor Kurzem hatte ich sie erhalten, nachdem Polidoris Neffe auf sie gestoßen war. Eines der Wahrzeichen von Florenz, war dieses nadelförmige Granitmonument einst im alten Ägypten errichtet und später nach Italien gebracht worden, wo es schließlich hinter dem nahegelegenen Palazzo Pitti seinen Platz fand. Für mich hatte der Obelisk eine besondere Bedeutung, denn Byron und ich hatten uns 1822 dort zum letzten Mal getroffen und heimlich an seinem Fuß ein Andenken an unsere Tochter begraben. »Ich würde gern wissen, warum ihr beide gelogen habt.«

Ein reuevoller Schatten glitt über sein Gesicht. »Darf ich zuerst sagen, wie sehr ich das alles bedaure? Ich wollte dir nie Leid zufügen.«

Ich antwortete nicht.

»Meine einzige Verteidigung ist, dass Byron mich auf Geheimhaltung eingeschworen hat.« Er atmete tief ein, griff nach der Skizze und betrachtete jedes Detail der Zeichnung. »Als er mir das hier gab, nahm er mir das Versprechen ab, dir die Zeichnung oder Allegras wahres Schicksal niemals zu enthüllen, und ich bin seiner Bitte gefolgt.«

»Umso schlimmer, dass du dieser Falschheit auch noch zugestimmt hast«, sagte ich scharf in einer Mischung aus Wut und Bitterkeit. »Es ist die schlimmste Art des Verrats – mich von meiner eigenen Tochter fernzuhalten, als ich quasi allein in der Welt stand und jeden Moment mit ihr geliebt hätte. Um ehrlich zu sein: Wenn ich nicht die ganze Geschichte erfahren wollte, die du mir erzählen willst, würde ich dich nicht wiedersehen wollen. Nie wieder

Er zuckte zusammen und sah kurz nach unten. »Du hast jedes Recht, wütend auf mich zu sein. Aber Byron beharrte so fest auf seinem Standpunkt, dass ich es nicht wagte, gegen seine Wünsche zu handeln. Damals schien es die beste Möglichkeit zu sein, sowohl dich als auch Allegra zu beschützen …«

Einige Augenblicke vergingen in Schweigen, während ich über all die Zeit nachsann, die ich mit meiner Tochter hätte verbringen können, und die mir genommen worden war. Momente in einem Leben, die einer Mutter teuer waren – das Lächeln, die Tränen. Als ich Allegra Lebewohl gesagt hatte, war sie erst zwei Jahre alt gewesen, und meine Erinnerungen waren verblasst, aber nicht vergessen. Die Zeit hatte die Konturen einiger Dinge, die in der Vergangenheit lagen, verwischt. Ich hatte meine Tochter nie aufgeben wollen, aber ich war eine mittellose Frau von zwanzig Jahren gewesen. Da war es einfach sinnvoller, dass sie bei Byron lebte, der Wohlstand und soziales Ansehen in Italien genoss, ganz abgesehen von seiner Berühmtheit. Ich hatte nicht vorausgeahnt, dass er mir nicht mehr erlauben würde, sie zu sehen, als er in Ravenna und ich in Pisa lebte. Dafür hatte ich ihn gehasst.

»Denkst du noch an ihn?« Trelawnys Stimme kroch durch die Stille. Seinen Namen brauchte er nicht zu nennen; den wusste ich.

»Wann denke ich je nicht an ihn?« Mit einem Seufzen blickte ich hinaus auf die Terrassen, die blühenden Bäume und römischen Statuen des Boboli-Gartens. Diese üppige Schönheit war viele Jahre mein Trost gewesen … und zugleich der Ort meines größten Leids.

»Es gab nie jemanden wie ihn, weder vorher noch seither, so brillant und kühn, doch gleichzeitig stur und töricht. Als er mal sagte, er erkenne in sich selbst nicht mehr als ein Chamäleon, lag er richtig. Er war mein Freund und mein Waffenbruder, aber manchmal blieb ein Teil seines Wesens nur schwer zu fassen.« Trelawny sprach langsam, so, als suche er Puzzlestücke zusammen. »Byron war immer der Schatten zwischen uns beiden, oder, Claire? Wie hätte ich es je mit einem Geist aufnehmen können?«

Ich drehte mich vom Fenster weg und betrachtete ihn nachdenklich. »Vielleicht war nicht er der Geist, sondern Allegra.«

»Oder beide.«

»Möglich … Ich glaube, er war ein bisschen eifersüchtig auf dich«, fügte ich in etwas leichterem Tonfall hinzu. »Wie oft kommt es vor, dass ein Dichter die Verkörperung seiner eigenen dichterischen Kreationen vor sich sieht? Als du nach den Kämpfen in den Napoleonischen Kriegen unverhofft in Pisa auftauchtest und offenkundig mehr das Bild des Byronischen Helden verkörpertest als Byron selbst, muss ihn das sehr bekümmert haben. Zumindest ist mir das zu Ohren gekommen.«

»Er war couragiert, Claire«, sagte er ruhig und bestimmt. »Zweifle nie daran.«

»Wenn du es sagst.« Ich zuckte die Schultern. Da ich immer noch unter der Verschwörung litt, die Byron angezettelt hatte, war ich nicht in der Stimmung, irgendetwas Positives zu seinen Gunsten zu hören. »Aber siehst du, wir sprechen schon wieder nur über ihn, wo wir uns doch auf Allegra konzentrieren sollten …« In diesem Moment trat Paula mit dem Tablett herein. Darauf standen meine geliebte antike Teekanne und drei zugehörige Tassen, außerdem eine kleine Büchse mit meinem geliebten Oolong-Tee. Meine Vorliebe für seinen intensiven und bitteren Geschmack hatte ich nie verloren.

»Ihr beide scheint sehr in euer Gespräch vertieft zu sein«, stellte sie mit kühler Stimme fest. Trelawny stand sofort auf und nahm das Tablett von ihr entgegen, um es auf den kleinen Tisch vor mir zu stellen, wobei er die Zeichnung zur Seite legte.

»Grazie.« Sie glitt auf das Kanapee, das unseren Sesseln gegenüber stand, und begann mit dem Ritual, den schwarzen Tee abzumessen, wobei sie ihr Gesicht, das einer Kamee glich, ihrer Aufgabe zuwandte. Ihre Bewegungen, als sie einen Löffel nach dem anderen in die Kanne zählte und dann das heiße Wasser darüber goss, verrieten die Effizienz langer Übung. »Ich hoffe, ich habe nichts Wichtiges versäumt?«

Trelawny schüttelte den Kopf. »Ich wollte gerade erst damit anfangen, deiner Tante alles über Allegra zu erzählen.«

»Tatsächlich?« Sie blieb weiterhin auf das Teeritual konzentriert und strich eine Strähne ihres blonden Haares zurück. »Ich für meinen Teil würde gerne hören, warum du Tante Claire so lange belogen hast. Sie war tagelang über deine Handlungsweise außer sich. Das schien nicht die Haltung eines Menschen zu sein, dem etwas an ihr liegt, wenn man bedenkt, wie sehr sie den Tod ihrer Tochter betrauert hat. Wir haben sicherlich die Absicht, dich anzuhören, aber erwarte keine Zustimmung …«

»Oder gar Vergebung«, fügte er hinzu. »Wenn ihr erst die gesamte Geschichte gehört habt, werdet ihr verstehen, warum ich so lange geschwiegen habe. Zumindest hoffe ich das.« Er setzte sich wieder hin und beobachtete Paula mit einen angedeuteten Lächeln. »Du ähnelst sehr deiner Tante – temperamentvoll und unabhängig.«

»Wir mussten beide für uns selbst sorgen.« Paula goss von der dunklen Flüssigkeit in eine der Tassen. »Milch und Zucker?«

»Nichts von beidem, danke.«

Sie reichte ihm die Tasse.

Ich beobachtete, wie Trelawny in belangloser Konversation mit Paula, die Tee in die beiden anderen Tassen goss, versuchte, seinen Zauber auf meine Nichte auszuspielen. Mit seiner gleichzeitig respektvollen und maskulinen Art stellte er eine ungewöhnliche Mischung aus Gentleman und Schurke dar. Es war eine attraktive Kombination, aber mich zog die Güte an, die hinter seiner Großspurigkeit lag. Trelawny, der nie ein Mann für Spielereien war, beschützte immer diejenigen, die ihm am Herzen lagen. Mit einer Ausnahme …

Paula und ich nippten an unserem Tee und warteten darauf, dass er begann. Die Zeit schien in der stillen Kammer stehenzubleiben, obwohl die Goldbronzeuhr auf dem Kaminsims in stetem Rhythmus tickte und das Pendel mit einem klackenden Stakkato vor- und zurückschwang, jedes »Klack« eine Gelegenheit für Trelawny, seine Geschichte auszubreiten.

Schließlich beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. »Wie ihr wisst, fragte mich Byron, ob ich zu ihm stoßen würde, als er im Herbst 1823 von Genua aus nach Griechenland aufbrach, um im Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken zu kämpfen. Natürlich konnte ich ihn nicht im Stich lassen. Welcher Mann würde die Aussicht auf Ruhm und Ehre nicht zu schätzen wissen, besonders, wenn es um die Sache der Griechen ging? Noch am Tag, an dem ich seine Nachricht erhielt, setzte ich die Segel nach Cefalonia. Pietro Gamba hatte die Überfahrt von Italien aus bereits gemacht …«

»Ah, ja. Pietro, der Bruder von Byrons letzter Geliebten, Teresa.« Ich konnte mich nicht bremsen, diesen Einwurf mit leichter Missbilligung in meiner Stimme loszuwerden.

»Er war ein feiner junger Mann, loyal und von starkem Willen. Nach Byrons Ableben kämpfte er weiter in Griechenland, verstarb unglücklicherweise aber ebenfalls in jungen Jahren.« Ein melancholischer Schatten glitt über Trelawnys Gesicht. Dann fuhr er fort: »Aber ich schweife ab … Als ich in Cefalonia anlandete, war die Lage ernst. Söldnergruppen bekämpften einander, es gab keine klaren Schlachtpläne und kaum Geld für die Finanzierung einer Armee. Byrons Anwesenheit war mehr als willkommen, denn er zeigte überraschende diplomatische Fähigkeiten darin, die Männer zusammenzuhalten. Außerdem brachte er eine große Kriegstruhe voller Gold, um den ersten Feldzug zu finanzieren.«

»Byron ein Diplomat?«, sagte Paula, verzog überrascht die Brauen und ließ ihren Blick in meine Richtung wandern. »Das klingt nicht nach dem Mann, von dem du mir erzählt hast, Tante. Das dichterische Genie, das Menschen rücksichtslos behandelte und ohne klares Ziel kreuz und quer durch Europa reiste. Der soll so ein Held gewesen sein?«

»Ich vermute, meine Meinung über ihn ist durch die Behandlung, die er unserer Tochter hat zukommen lassen, etwas getrübt. Vielleicht ist das ungerechtfertigt, wenn man das Bild des Mannes dagegenhält, zu dem er sich in Griechenland anscheinend gemausert hat«, gestand ich zögernd ein. Aber ich war nicht bereit, Byron zu vergeben – auch wenn er in seinem späteren Leben Buße getan hatte.

»Vielleicht ein bisschen«, murmelte Paula.

Falls in ihren Worten der Hauch eines Vorwurfs mitklang, hörte ich ihn nicht, obwohl mein Herz in Erwartung dessen, was Trelawny als Nächstes sagen würde, seinen Schlag beschleunigte.

»Ich hätte mein Leben für Byron gegeben – das hätten wir alle, weil wir für eine gerechte Sache kämpften und ihm vertrauten.« Er starrte in die Ferne, sah dort eine Erinnerung, die ich nicht wahrnehmen konnte … an einem fernen Horizont im Leben eines Soldaten, wo Männer vor Herausforderungen standen, die ihr Durchhaltevermögen und ihre Kraft auf die Probe stellten. »Byron und ich drillten die Truppen am Morgen und waren an den Abenden beim Essen doch nur zu zweit. Pietro schlief schnell ein, während Byron durch die ständige Gefahr, die wir spürten, seltsam energiegeladen wirkte. Er blühte dabei auf. Er schrieb damals nicht, aber seine Gespräche drehten sich um Politik, um sein Leben in England, seine Liebschaften …«

»Über viele dieser Dinge hast du in deinen Memoiren geschrieben«, unterbrach ich ihn ungeduldig. Trelawny hatte sein Buch ›Letzte Sommer. Mit Shelley und Byron an den Küsten des Mittelmeers‹ fünfzehn Jahre zuvor veröffentlicht. Darin fanden sich militärische Details über den griechischen Konflikt, aber nur wenig emotionale Einzelheiten, wie ich sie hören wollte – oder Fakten über meine Tochter. Ich hatte es nur überflogen und das Gefühl gewonnen, Trelawny hätte ihre Heldentaten übertrieben, aber vielleicht hatte er das gar nicht.

»Ja, aber natürlich habe ich Byrons Bemerkungen über dich ausgelassen, Claire, oder über die Schuld, die er wegen Allegra verspürte. Er sprach Abend für Abend davon. Ich hörte die Geschichten, wie ihr beide euch in England zum ersten Mal begegnet seid und euch dann in Genf wiedergefunden habt, mit Mary und Shelley in der Villa Diodati. Wie ihr zwischen den Stürmen über den Genfersee gesegelt seid, wie ihr euch abends versammelt habt, um über das Leben zu philosophieren … und wie er etwas später erfahren hat, dass du sein Kind trugst.«

Ich seufzte. »Es war eine … bemerkenswerte Zeit. Wir waren so jung und so voller Optimismus, dass es mir schwerfällt, mich zu erinnern, wer ich damals überhaupt war. Ich weiß nur noch, dass ich mir wünschte, dieser Sommer würde nie enden.«

»Das wünschte er sich auch … scheint es«, fügte Trelawny mit einem halbherzigen Lächeln hinzu. »Unglücklicherweise steht das Leben niemals still, nicht wahr?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er leerte seine Teetasse in einem langen, tiefen Zug. »Die Ereignisse entwickelten sich in Cefalonia recht schnell, nachdem wir damit begonnen hatten, die Soulioten für die erste große Offensive gegen die Türken auszubilden. Zunächst gab es nur kleinere Scharmützel, aber wir planten, am Ende die Festung von Lepanto anzugreifen. Ich glaube, es war Februar, als Byron nach Mesolongi reiste, um die militärischen Einheiten zu vereinen, während er mich in den Norden schickte, um Gesandte des London Greek Committee zu treffen. Für mich lief alles gut, aber nicht für ihn. Mesolongi war ein deprimierender Ort, eine in einem Sumpfgebiet errichtete Stadt, heimgesucht von Moskitos und von Malaria geplagt. Die See und der Himmel schienen in einer surreal anmutenden, düsteren Landschaft ineinander zu verschmelzen. Belagerungen waren an der Tagesordnung, doch die Feldherren konnten sich nicht darauf einigen, wie die Türken zu attackieren waren.« Seine Stimme zitterte leicht. »Byron, der von den Streitigkeiten um ihn herum frustriert war, ritt aus, weg von der Stadt, und geriet in einen Regensturm. Wenig später entwickelte er ein Fieber und wurde rasch schwächer. Zunächst stand ihm nur sein Diener Fletcher zur Seite …«

Als Trelawnys Stimme verklang, war ich nicht fähig, etwas zu sagen. Zwar hatte ich seinen Bericht über Byrons Tod in Griechenland in seinem Buch Letzte Sommer gelesen, doch die Einzelheiten über die letzten Tage meines verlorenen Geliebten so aufzusaugen zündete in mir einen neuen Funken des Mitgefühls. Byron hatte die Rolle eines Kriegsführers übernommen und sich dafür isoliert. Und er hatte sich so lange außerhalb Londons aufgehalten, dass er den Kontakt zu den Menschen verloren hatte, die früher einmal ein wichtiger Teil seines Lebens gewesen waren. Es blieb nur das seltene Schreiben von Briefen dann und wann. Diesen letzten Part kannte ich nur zu gut. So sehr ich meine Wahlheimat liebte, gab es doch immer eine Einsamkeit in diesem fremden Land, die mich niemals ganz verlassen hatte. Das bittersüße Verlangen nach der heimischen Erde. Ich konnte mir Byron vorstellen, wie er über die adriatische See blickte, an sein geliebtes Newstead Abbey dachte und sich fragte, ob all seine englischen Freunde ihn vergessen hatten.

Ich räusperte mich. »Er muss gewusst haben, dass er Griechenland nicht überleben würde.«

Trelawny nickte mit einem grimmigen Zug um die Lippen.

»Das hört sich so an, als wollte er auf diese Art sterben.« Paula füllte Trelawnys Tasse feierlich wieder auf. »Vielleicht gab es ihm das Gefühl, Buße zu tun, wenn auch nur in seinem Geiste.«

Ich beugte mich vor, um die Wange meiner Nichte zu berühren. »Dein gutes Herz beschämt mich, meine Liebe. Ich war in meiner Haltung gnadenlos und habe mein Herz gegenüber Byron verhärtet. Aber jetzt, da ich von seiner Tapferkeit höre, muss ich eingestehen, dass er zu einem anderen Mann gereift ist, als der, den ich in Erinnerung habe.« Ich lächelte, als sie verwundert blinzelte. »Sieh mich nicht so schockiert an. Die letzten paar Tage habe ich nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass mein fortdauernder Groll gegen ihn nichts an dem ändern wird, was geschehen ist.«

»Womöglich wirst du sogar zu Vergebung finden … für uns beide, wenn du den Rest meiner Geschichte anhörst«, fügte Trelawny hinzu und hielt die Skizze des Obelisken in die Höhe. »Bevor Byron nach Mesolongi abreiste, zeigte er mir diese Zeichnung und sagte, er werde sie immer bei sich tragen. Dann erzählte er mir, was am Fuß des Obelisken im Boboli-Garten versteckt lag: ein Kästchen mit Allegras Haarlocke, das ihr dort gemeinsam vergraben hattet.«

Das emaillierte Kästchen.

Wir hatten es dort bestattet.

Nun war es an Paula, mich mit einer Berührung zu trösten, denn sie hatte erst vor Kurzem davon erfahren. »Es muss dir schwergefallen sein, dieses Geheimnis so lange Zeit zu bewahren, aber ich verstehe, warum du es verborgen gehalten hast. Es birgt für dich ein sehr persönliches Gefühl.«

»Niemand wusste etwas darüber – oder zumindest hatte ich das geglaubt.« Ich biss mir auf die Lippe, um das Zittern zu unterdrücken. »Byron war sechs Monate nach Allegras vorgeblichem Tod mit dem Kästchen nach Florenz gekommen, und wir vergruben es dort, damit etwas von ihr bewahrt bliebe. Ich glaube, ich wollte diese wertvollen Momente für mich behalten, weil es private Minuten waren, und außerdem das letzte Mal, dass ich Byron sah.« Mit einem Seufzen erinnerte ich mich an seine Abschiedsworte voller Liebe und Schuldgefühle. Er hatte über seine Jahre hinaus gealtert gewirkt – ein Mann, der zu vieles in seinem Leben erfahren hat. »Ich hatte nicht geahnt, dass er mir eine Nachricht hinterlassen hatte, in der er schrieb, dass unsere Tochter nicht gestorben, sondern zu ihrer Sicherheit versteckt worden sei. Die entdeckte ich erst vor wenigen Tagen in dem Kästchen, als ich es ausgrub.«

Paula, der die Erkenntnis dämmerte, sagte langsam: »Es war nie seine Absicht, dass du das lesen solltest, richtig?«

»Nein.« Ich spürte nochmals seine kalte Wange an der meinen, als er mich zum Lebewohl küsste und mir das Versprechen abnahm, dass ich den Inhalt des Kästchens nie wieder ansehen würde.

»Es tut mir so leid, Tante.«

Mit einem Blick auf Trelawny fuhr ich fort: »Aber du wusstest es.« Ich formulierte es nicht als Frage.

»Byron erzählte es mir in unserem letzten Gespräch – neben dem Geständnis, dass Allegra ihre Tage in der Klosterschule überlebt hatte …«

»Warum hast du mich betrogen?«, fragte ich, als der Zorn in mir aufwallte. »Ich habe dir vertraut, nachdem du mir in unseren frühen Tagen in Pisa gesagt hattest, wie viel ich dir bedeutete, und dann, als du mir nach meiner Rückkehr aus Russland einen Heiratsantrag machtest. Wenn ich Ja gesagt hätte, hättest du das Geheimnis vor mir als deiner Ehefrau auch gewahrt?«

Ich hörte, wie Paula scharf die Luft einsog.

»Ja«, antwortete er.

Ich stellte die Tasse so heftig auf der Untertasse ab, dass sie zerbarst. Das fragile Porzellan zerbrach in mehrere gezackte Teile, die auf den Teppich fielen. Sofort ging Trelawny in die Knie, suchte die Bruchstücke zusammen und legte sie auf den Teetisch. Dann nahm er meine Hände und untersuchte sie, tastete mit einer sanften Berührung nach meiner Handfläche. »Keine Schnitte – Gott sei Dank.«

»Das soll nicht deine Sorge sein.« Ich zog meine Hände zurück und suchte in seinem Gesicht nach dem ehrbaren und aufrichtigen Mann, den ich einst gekannt hatte. »Es scheint, als hätte ich einen schwerwiegenden Fehler gemacht, als ich mein Vertrauen in dich setzte, Edward.«

»Bitte … ich bin noch nicht fertig.« Trelawny erstarrte bei meinem Betrugsvorwurf. »Du musst jetzt alles erfahren, obwohl du es vielleicht nicht hören magst. Byron ließ mich schwören, dir nichts von Allegra zu sagen, weil es euer beider Leben in Gefahr gebracht hätte. Als er in Ravenna lebte, machten Gerüchte über eine Revolution die Runde, und jemand versuchte ihn zu erschießen, als er in den Pinienwäldern in der Nähe von Filetto ausritt – der Schütze verfehlte ihn. Doch danach machte Byron sich Sorgen – nicht um sich selbst, sondern um Allegra. Er schickte sie zu ihrem Schutz ins Kloster von Bagnacavallo, aber nur wenige Monate darauf versuchte ein gedungener Mörder, sie zu töten. Sie entging dem Tod nur, weil die Äbtissin den Eindringling auf frischer Tat ertappte. Er war in Allegras Kammer eingedrungen, um sie mit einem Messer im Schlaf zu töten. Die Nonne rief um Hilfe, aber er entkam. Er schien auf die Beschreibung eines Mannes zu passen, der im Haushalt von Ludovico di Breme arbeitete. Danach, das wusste Byron, war es für eure Tochter nicht mehr sicher, dort zu bleiben.«

»Di Breme? Der Mann, der Byron besuchte, als wir in Genf waren? Du hast mir erst kürzlich im Boboli-Garten erzählt, dass Byron über sein Aufkreuzen verunsichert war, besonders nach meinem verdächtigen Sturz in Schloss Chillon.« Ich starrte ihn einfach an und versuchte, in seiner Geschichte Sinn zu erkennen. Es war, als könnte ich nur Echos aus dieser bizarren Version der Vergangenheit erhaschen – nichts schien zusammenzupassen, weder damals noch heute. »Aber warum?«

»Byron lernte di Breme später in Italien als Dichter und als Revoluzzer näher kennen – aber er hatte entschieden, mir diesen Teil der Geschichte nicht mitzuteilen. Nur, dass di Breme einen Diener namens Stefano hatte, von dem er annahm, dass er versucht hatte, Allegra etwas anzutun. Als einige Monate später die Typhusepidemie das Kloster heimsuchte, täuschte er Allegras Tod vor und ließ sie in ein Versteck bringen.« Trelawny machte eine Pause, damit ich das Gewicht seiner Worte sacken lassen konnte.

»Kann das wahr sein?«, sagte Paula, und ihre Hand zitterte, als sie die Teetasse abstellte. »Aus welchem Grund würde jemand ein Kind töten wollen?«

Mein Atem ging schwer, während ich versuchte, der Gefühle Herr zu werden, die mich bestürmten. Ich hatte mich danach gesehnt, die ganze Wahrheit hinter dem Tod meiner Tochter zu erfahren, aber diese Enthüllung entsprach kaum dem, was ich erwartet hatte. Ein Mörder im Kloster? Das war fast zu grausam, um es zu glauben, aber Trelawnys klarer, direkter Blick verriet mir alles, was ich über den Wahrheitsgehalt seiner Darstellung wissen musste. Die Geschichte erklärte zu einem großen Teil seinen Part in Byrons Täuschung sowie den Grund dafür, dass die beiden solch ein Szenario geschaffen hatten. »Es waren damals chaotische Zeiten in Italien – das Land stand vor einem Krieg gegen seine österreichischen Unterdrücker. Und Byron war mittendrin gefangen, wegen seiner Verbundenheit gegenüber Teresa und ihrer Familie in Ravenna«, erklärte Trelawny Paula, während er sich auf die Beine rappelte, etwas langsamer, als ich es vom letzten Mal, als wir uns gesehen hatten, in Erinnerung hatte. »Sie waren tief in ein Geheimnis und eine alte Verbindung verstrickt …«

In mir begann eine Erkenntnis zu erwachen. »Die Carbonari?«

»Du wusstest davon?« Er berührte sacht meine Schulter.

»Erst seit Kurzem.« Ich erzählte, wie Vater Gianni die winzige Zeichnung eines Kohlenbrenners auf einem von Byrons Briefen bemerkt und mir ihre Bedeutung erklärt hatte. »Er war derjenige, der mir von dem Geheimbund erzählte, der sich in der Bergbaubranche gebildet hatte, und dass Byron vermutlich ein Mitglied geworden war.«

»Dann hatte der Priester Vermutungen bezüglich Byrons Verbindung zu den Carbonari.« Trelawny runzelte die Stirn und rieb sich in einer abwesenden Geste den Nacken. »Es mag Zufall sein, dass er es zur selben Zeit entdeckte, als Matteo ihn in der Basilika konfrontierte, aber das scheint Vater Giannis Tod ein weiteres Detail hinzuzufügen.«

»Allerdings.« Mein Ärger war etwas verflogen, aber nun beschäftige mich noch mehr, was tatsächlich geschehen war. Steckte mehr als ein simpler Mord hinter Vater Giannis Tod, und wenn ja, was hatte das alles mit Byrons Rolle in der Sache der Carbonari zu tun?

Vielleicht war nichts, wie es schien … und würde es auch nie wieder sein.

»Verstehst du jetzt, warum ich es nie gewagt habe, über diesen Teil meiner gemeinsamen Zeit mit Byron zu schreiben oder dir etwas über Allegra zu berichten?« Seine Stimme klang dringlich, als er auf mich einsprach. »Ich habe ihm mein Wort gegeben und war davon überzeugt, dass ich Allegra damit vor einer weiteren Bedrohung ihres Lebens bewahren würde. Viele Menschen wollten Byron tot sehen, sowohl in Italien, als auch später in Griechenland. Er hatte sich viele Feinde geschaffen, und sie hätten alles getan, um ihn oder einen seiner Anverwandten zu töten.«

Trotzig wandte ich das Gesicht ab. »Er hätte Allegra zu mir nach Pisa schicken können, wo ich mit Mary und Shelley lebte; wir waren weit weg von Ravenna.«

»Du begreifst sicherlich, dass diese Möglichkeit voller Gefahr war. Shelley war bekannter Atheist mit revolutionären Ideen und stand unter polizeilicher Beobachtung. Eure Tochter in diese Situation zu schicken, hätte die Lage für sie und für dich sogar noch gefährlicher gemacht.«

»Und später, nach Byrons Tod?«, drängte ich ihn und wandte ihm den Blick wieder zu. »Warum hast du es mir da nicht gesagt?«

»Ich war nicht sicher, ob die Gefahr überstanden war«, sagte er schlicht. »Ich weiß es ja nicht einmal jetzt.«

In meinem Herzen wusste ich, dass er recht hatte, aber ich konnte es nicht sagen. Noch nicht.

Paula presste die Handflächen gegen ihre Wangen, die noch blasser geworden waren. »Diese ganze Geschichte ist dermaßen unglaublich – mit all dem Gerede von Geheimbünden und gedungenen Mördern. Und dazu noch die Geschehnisse der letzten beiden Wochen. Mörderische Vermieter, Geheimnisse, Lügen. Ich habe das Gefühl, unser beschauliches Leben in Florenz ist ein für allemal vorbei …«

»Ich wünschte, wir müssten dich nicht mit dem Wissen über die düsteren Zeiten lange vor deiner Geburt belasten«, begann ich, »aber nun, da die Dinge in Bewegung gekommen sind, bleibt uns keine andere Wahl mehr.«

»Ich weiß.« Ihre Stimme verriet ihre Missbilligung, als sie aufstand und das Teetablett anhob. »Ich muss Georgiana zu Bett bringen, aber ich bitte euch, mit aller Umsicht bei der Suche nach deiner lange vermissten Tochter vorzugehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Georgiana in Gefahr gerät.« Sie verließ den Raum mit anmutiger Würde und einer Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete.

Ihre Worte lösten großes Bedauern in mir aus, eine Regung, die die starrköpfige Impulsivität meiner Jugend widerspiegelte. Sicherlich hatte ich immer meine eigenen Segel gesetzt und war ohne klares Ziel hinausgefahren, ohne auf mich oder andere Rücksicht zu nehmen … bis ich selbst Mutter einer Tochter wurde. Dann versuchte ich für eine Weile, einen konventionelleren Kurs einzuhalten, aber sobald sie diese Welt verlassen hatte, sah ich wenig Grund, ein gewöhnliches Leben zu führen. Das hatte ich doch nie gewollt.

Trelawny berührte mich an der Schulter. »Paula wird es auch noch verstehen.«

»Was genau?«

»Dass wir in anderen Zeiten aufgewachsen sind und von dem Wunsch nach Freiheit angetrieben wurden.« Er trat zu dem großen Fenster und blickte hinaus, als er meine Gedanken so laut aussprach. »Wir lehnten einen zahmen, langweiligen Gang durchs Leben ab und wollten jeden Moment so erleben, als wäre es unser letzter. Erinnere dich, was Byron einst sagte: ›Das große Ziel im Leben ist die Emotion – zu spüren, dass wir leben, selbst wenn es Schmerz bedeutet.‹ Nie wurden Worte gesprochen, die mehr der Wahrheit entsprechen.« Er drehte sich zu mir um. »Bereue dies nicht, Claire. Viele Frauen erleben nicht einmal einen Tag, an dem sie ihre eigenen Gedanken denken und ihren eigenen Zielen folgen. Du hast immer nach deinen eigenen Bedingungen gelebt – und musst es immer tun.«

»Selbst mit fünfundsiebzig Jahren noch?« Ich konnte mich nicht bremsen, nachzuhaken.

»Gerade in diesem Alter. Frieden und Ruhe ist etwas für diejenigen, die im Grab liegen, nicht für uns.« In seinen Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an. »Wir müssen schwören, mit ganzer Kraft gegen die Dunkelheit anzukämpfen.«

Trotz des emotionalen Aufruhrs in meinem Innern entzündete sich in mir ein kleiner Funken froher Erwartung, und ich erwiderte sein Lächeln.

»In deinen Augen sehe ich die Claire von damals wieder – diesen überschäumenden Funken«, sagte er und näherte sich mir wieder. »Wie habe ich ihn vermisst.«

»Von dieser Freude gab es in letzter Zeit nur wenig in unserem Leben«, gab ich zu.

Er hob die Zeichnung des Obelisken hoch und betrachtete sie. »Ich wünschte, Byron hätte mir mehr über Allegras Schicksal erzählt, aber er behielt weitere Einzelheiten für sich. Hätte er es getan und hätte ich erfahren, wo sie versteckt war, so hätte ich einen Weg gefunden, um sicherzustellen, dass es ihr über die Jahre an nichts fehlte … Ich habe alles getan, um zu ihm nach Mesolongi zu gelangen, als ich erfuhr, wie krank er war. Ich habe die Berge überquert und bin die letzten zehn Meilen zu Fuß durch den Matsch gewandert, um an seiner Seite sein zu können. Aber als ich ankam, war er schon gestorben.«

»Sein Tod hat die Welt unerwartet getroffen.« Selbst nach so langer Zeit stockte mir der Atem, als ich es aussprach, und ich erinnerte mich daran, wie die Nachricht alle Menschen geschockt hatte. Wie benommen hatte der große Dichter Tennyson die Worte Byron ist tot in einen Stein gemeißelt, ahnend dass mit seinem Ableben ein kalter Wind über die Erde hinwegfegte.

Die Nachricht seines Todes hatte mich im Sommer 1824 erreicht. Ich lebte bei Familie Zotoff in Russland, als Gouvernante ihrer Tochter Betsy. Wir waren zum Sommerhaus der Familie außerhalb Moskaus gereist, einem niedrigen Gutshaus aus Holz auf einem Gelände von fünfhundert Hektar. Ich ging am See spazieren und bewunderte im Sonnenuntergang die violetten Wolken mit golden leuchtenden Konturen, da kam Gräfin Zotoff mit einer Zeitung in der Hand zu mir. Sie wusste nichts über meine Verbindung zu ihm und berichtete mir in gestelztem Französisch, dass mein Landsmann in Griechenland gestorben sei. Der Tod eines Helden, sagte sie und sprach flüsternd ein Gebet.

Stumm nickte ich nur.

Und der Moment ging vorbei, als hätte er nie stattgefunden. Erst Wochen später brach ich an einem frühen Sonntagmorgen beim Glockengeläut des Zagorsky-Klosters in Tränen aus und weinte über das, was hätte sein können.

»Claire?« Trelawnys Stimme holte mich zurück in die Gegenwart.

Langsam kehrte ich in mein Wohnzimmer zurück, das mir so normal und vertraut erschien, und doch irgendwie verändert.

Ich berührte mein Medaillon und ließ mir einen Augenblick Zeit, um die feine Filigranarbeit als etwas Reales und Greifbares zu ertasten. »Du weißt, dass es nicht meine Art ist, zu lange in der Vergangenheit zu verweilen, sodass ich es etwas schwierig finde, mich zurückzuversetzen. Ich danke dir, dass du mir alles erzählt hast, aber es hält auch viele … Schatten bereit.«

»Bin ich wieder dein Freund?«

Den Anhänger noch immer in der Hand, hörte ich tief in meinem Herzen Vater Giannis Mahnung. Du musst denjenigen vergeben, die dich falsch behandelt haben. Compassione. Du musst Mitgefühl haben. Ich hatte meiner Mutter vergeben, dass sie mich enterbt hatte, aber das war eine andere Angelegenheit gewesen …

»Wir werden sehen.« Das war alles, was ich ihm geben konnte.

»Ich verstehe.« Er berührte meinen Arm. »Wenn du alles bedenkst, was ich dir erzählt habe, wirst du mir im Laufe der Zeit sogar vergeben können.«

Es war alles noch zu neu, zu frisch für mich, um diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.

»Vielleicht hilft dir das hier, deine Meinung zu ändern.« Trelawny griff in seine Manteltasche und zog eine kleine lederne Mappe hervor, die mit einem einzelnen Riemen zugebunden war. »Als Byron 1820 nach Ravenna kam und sich inmitten eines Aufstands wiederfand, entschied er sich, eigene Aufzeichnungen über die Carbonari zu machen – und über seine Rolle in ihrem Bund. Hier drin steht alles, angefangen von seiner Ankunft in Ravenna bis zum Ende der Revolte vierzehn Monate später.« Er hielt inne und drehte das Lederetui in seiner Hand um, um das eingeprägte Zeichen eines Kohlenbrenners auf der Rückseite zu zeigen. »Byron gab es seinem venezianischen Freund Angelo Mengaldo, einem aufrechten Mann. Doch der fürchtete, die Erinnerungsschrift könne, wenn die Öffentlichkeit davon erführe, viele Leben in Gefahr bringen. Mengaldo verbrannte es also unbesehen. Die Cades-Zeichnung verblieb glücklicherweise bei Byrons Papieren und wurde schließlich Polidori zugeschickt, wie du weißt.«

Ach ja, John Polidori, Byrons Leibarzt in Genf. So unberechenbar, so erpicht darauf, Schriftsteller zu werden, und so eifersüchtig auf jeden in Byrons Dunstkreis. Ich hatte lange geglaubt, Polidori wäre im Sommer 1816 mein Feind gewesen, aber schließlich hatte ich erfahren, dass andere gegen mich intrigiert hatten.

Verwirrt zwinkerte ich. »Aber wenn Signor Mengaldo die Schriften zerstörte – wie kommt es, dass du die Mappe hier in Händen hältst?«

»Byron machte eine Abschrift und vertraute sie mir an, als wir in Griechenland waren, wobei er mir das Versprechen abnahm, sie versteckt zu halten …«

Ich stieß einen ungeduldigen Schrei aus. »Noch mehr Lügen und Geheimnistuerei?«

Er schüttelte den Kopf. »Dieses Dokument ist viel mehr als das. Es ist der einzige bekannte Bericht vom inneren Zirkel der Carbonari und enthält nicht nur Byrons Aktivitäten, sondern auch Informationen über Einwohner, die Mordanschläge planten. Viele ihrer Handlungen würden als Hochverrat gelten, auf den Tod durch Erhängen stand. Deshalb habe ich dies alles in meinem Buch ausgelassen.«

»Erwähnt er di Bremes Diener Stefano?«

»Ja, aber die beiden waren nur verdächtig – er fand nie Beweise.«

»Er wäre jetzt ohnehin tot.« Trotzdem bereitete es mir Unbehagen, diese Frage seiner Absichten nicht gelöst zu haben. »Ich will alles über Allegra wissen, aber wieso könnten Byrons Erinnerungen heute, nach dem Risorgimento, noch als wichtig angesehen werden? Diese Zeiten sind doch vorbei. Die Revolution war am Ende erfolgreich, und Italien ist nun geeint. Die Carbonari existieren nicht mehr.«

»Kannst du dir da so sicher sein?«

Eine warnende Stimme flüsterte in meinem Kopf, während ich das Etui anstarrte.

Ich konnte jetzt nicht mehr zurück. Ich nahm die Mappe von ihm entgegen und bemerkte Risse im Leder, tief eingegraben und im Lauf der Jahre weich geworden. »Ich hatte nicht damit gerechnet, wie sehr die Hoffnung und die Angst einen Menschen auf einen neuen Weg führen können, sogar noch in diesem Lebensabschnitt. Diesen Weg kann ich nicht einfach auslassen.«

Er beugte sich vor und flüsterte: »Deine Kühnheit würde den hartgesottensten Soldaten beschämen -«

Ein betontes Hüsteln unterbrach Trelawny, und ich wandte rasch den Kopf, um William Michael Rossetti auf der Türschwelle zu sehen, den britischen Touristen und Neffen Polidoris, der vor etwas mehr als zwei Wochen nach Florenz gekommen war, um meine Briefe für seine neue Shelley-Biografie zu kaufen. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass die Sache anders verlief, als er geplant hatte, aber im Boboli-Garten hatte er sein Leben riskiert, um meines zu retten, und dafür würde ich ihm ewig dankbar sein. Hinter ihm tauchte Paula auf; sie hielt die Hand von Raphael, unserem Hausangestellten und attraktiven Liebsten meiner Nichte.

»Mister Rossetti, was für eine Freude, Sie zu sehen.« Erfreut lächelte ich beim Anblick seiner angenehmen Züge und seiner Erscheinung eines Gentleman.

»Besonders nach unserer letzten Begegnung, die – nun – außergewöhnlich war«, sagte er mit leichter Ironie, während er zuerst Trelawny und dann mir die Hand schüttelte. »Ich dachte, es wäre das Beste, Ihnen etwas Zeit zu lassen, damit Sie sich von dem Trauma erholen können, aber noch länger konnte ich nicht fernbleiben. Geht es Ihnen gut genug, mich zu empfangen?«

»Sicherlich.« Ich bedeutete ihm, hereinzutreten und auf dem Sessel neben dem meinen Platz zu nehmen, wobei ich das Büchlein außer Sichtweite zog. Er setzte sich, und Paula und Raphael ließen sich auf dem Kanapee nieder, womit unsere kleine Gruppe vollständig war. Alle, an denen mir etwas lag, waren nun in diesem Raum versammelt, vertraute und liebe Menschen – mit Ausnahme von Trelawny, der jetzt und für immer in Ungnade gefallen war. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen für all Ihre Umstände meinetwegen zu danken, Mister Rossetti. Sie sind den ganzen Weg von England nach Florenz gereist, um meine Korrespondenz zu kaufen, aber am Ende fanden Sie sich in einer Mission wieder, die ein altes Unrecht ausgleichen sollte. Etwas Vergleichbares gab es noch nie.«

Er neigte den Kopf. »Es war mir eine Ehre. Als John Polidoris Neffe war es das Mindeste, was ich tun konnte, um für die Art und Weise, wie er Sie behandelt hat, Abbitte zu leisten.«

»Sie haben meinen Glauben an die Zukunft wiederhergestellt.« Natürlich waren sowohl seine Verbindung zu Polidori als auch weitere Einzelheiten über den Charakter seines Onkels eine Überraschung gewesen, als er sie mir enthüllte. »Sie haben mir Nachricht über Allegra gebracht und die lang verschollene Cades-Zeichnung in meinen Besitz übergeben. Ich kann meiner Dankbarkeit nicht angemessen Ausdruck verleihen.«

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Ihnen bei meiner Ankunft noch nicht alles erzählen konnte, aber ich wartete auf Trelawnys Eintreffen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Vater Giannis Tod hätte vielleicht vermieden werden können – das ist mein großes Leidwesen. Er war in jeder Hinsicht ein guter Mensch.«

»Sie sind nicht für seinen Tod verantwortlich«, versicherte ich ihm. »Matteo hatte seit vielen Monaten die Absicht verfolgt, meine Byron/Shelley-Korrespondenz zu stehlen.«

Raphael senkte den Blick und murmelte sich auf Italienisch etwas in den Bart. Es war ein scharfer, heftiger Fluch. Paula ergriff seine Hand und hielt sie fest. Ihre Liebe war seit ein paar Tagen so augenscheinlich. Hatte sie zunächst noch im Verborgenen geblüht, so strahlte sie jetzt ein lebendiges, atmendes Gefühl aus, das die beiden in ihrem geteilten Glück fast sichtbar umgab. Solch eine anrührende Verbindung - »aus Stoff, wie Träume sind«, wie Shakespeare einst sagte.

»Tante Claire, du musst uns sagen, was du und Mister Trelawny noch besprochen haben, nachdem ich hinausgegangen war«, sagte Paula mit fester Stimme. »Lauert nach Matteos Verhaftung noch irgendeine Gefahr?«

Ich zögerte und bat Trelawny mit einer Geste, zu antworten.

Er räusperte sich. »Ich glaube wirklich, dass Matteo den Mord an Vater Gianni aus seiner finanziellen Notlage heraus begangen hat, aus keinem anderen Motiv.«

Paula zog eine Grimasse. »Und ich hatte immer geglaubt, unser Vermieter wäre so freundlich. Wie sehr wir uns alle in ihm getäuscht haben.«

»Jedenfalls ist er jetzt im Gefängnis und kann niemandem mehr schaden«, fügte ich grimmig hinzu. »Es gibt immer diese Menschen, die sich hinter einer freundlichen Maske verstecken, doch am Ende verschwindet die Illusion, und die Wahrheit wird sichtbar. Trotzdem hätte Vater Gianni, wenn er Matteos böses Herz erkannt hätte, noch geglaubt, er könnte die Dunkelheit in Licht wandeln. So ein Optimist war er bezüglich der menschlichen Natur.«

»Allzu wahr.« Mit einem Seufzen lehnte sie sich an Raphaels Schulter, der schützend seinen Arm um sie legte.

»Und dennoch … wenn ich diskreter mit dem wirklichen Grund meines Besuchs umgegangen wäre …« Mister Rossetti zuckte die Achseln.

Trelawny schüttelte den Kopf. »Matteo war wegen seiner Spielschulden zu dem Diebstahl wild entschlossen. Sie sind nicht für den Tod des Priesters verantwortlich.«

»Ich hoffe es.« Mister Rossettis Züge hellten sich auf, obwohl eine Spur des Zweifels in seinen Augenwinkeln zurückblieb. »Darf ich fragen, wie Sie mit dem neuen Wissen über das Schicksal Ihrer Tochter umgehen wollen? Ich vermute, Sie werden versuchen, sie zu finden?«

»Ja, das will ich«, antwortete ich bereitwillig. »Allegra müsste jetzt in den späten Fünfzigern sein, möglicherweise hat sie eigene Kinder und Enkelkinder, und hoffentlich lebt sie noch in Italien. Stellen Sie sich nur vor, meine Tochter könnte nur wenige Kilometer von mir entfernt wohnen. Ich wage es mir fast nicht auszumalen.«

Paula hob den Kopf und zog die Stirn kraus. »Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie nicht ein einziges Mal ihre Herkunft bezweifelt hat? Da ich weiß, wie wichtig die Familie für Italiener ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass niemand ihr die Wahrheit sagte oder in ihrer Gegenwart eine Andeutung fallen ließ – besonders nach dem Tod von Byron. Würdest du mir nicht zustimmen, Raphael?«

»Si, aber wir Italiener wissen auch Geheimnisse zu wahren«, antwortete er und zog sie noch etwas fester in seine schützende Umarmung. Seine Worte waren jedoch an mich gerichtet. »Mi scusi, per favore, aber wenn ihre Wachen den Auftrag bekommen hätten, sie zu ihrer eigenen Sicherheit zu verstecken, würden sie die Wahrheit mit ins Grab nehmen.«

Es war klar, was er meinte. Ich hatte bereits an die Möglichkeit gedacht, dass die Suche nach meiner Tochter sich als Herausforderung entpuppen würde, deren Ausgang vielleicht nicht meinen Gebeten folgte – und ich akzeptierte es. Aber auch wenn es den Rest meines Lebens dauern sollte, würde ich nicht damit aufhören, bis ich sicher wusste, was mit Allegra geschehen war.

»Wir müssen es wagen, meine Freundin. Der Feige hat noch nie Erfolg gewonnen.« Trelawny erhob sich vom Sessel und richtete sich zu seiner beachtlichen Größe auf. Er straffte zuversichtlich die Schultern, und ich wusste, er würde in der Aufgabe, das Schicksal meiner Tochter herauszufinden, mein Verbündeter sein. Ob seine Taten der Vergangenheit damit vergolten sein würden oder nicht, blieb abzuwarten, aber ich wollte ihm zumindest die Chance auf Vergebung bieten.

»Ich glaube, das Sprichwort lautet ›Der Feige hat noch nie die holde Dame gewonnen‹«, korrigierte ich ihn freundlich.

»Das ist sogar noch besser«, stimmte er mit einem Lachen zu.

»Wollen Sie sich unserer Suche anschließen, Mister Rossetti?«, fragte ich und blickte ihn ermutigend an. »Ihre Gesellschaft wäre überaus erwünscht.«

»Nichts würde mich glücklicher machen, Miss Clairmont, aber ich fürchte, ich muss zurück nach England. Just heute habe ich von meiner Schwester Christina ein Telegramm mit der dringenden Bitte erhalten, so schnell als möglich nach Hause zu kommen. Meine Mutter ist erkrankt.«

»Nichts Schlimmes, hoffe ich?«, fragte ich besorgt.

Mister Rossetti zog die Schultern hoch. »Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Mama hat einen starken Willen, ist jedoch an Jahren schon etwas fortgeschritten.«

Er meinte »alt«.

Warum griffen die Jungen auf solche Euphemismen zurück, um ein völlig ehrliches Wort zu vermeiden? Alt. Ich war alt. Ich lebte seit sieben Jahrzehnten und auch, wenn es wenig »Fortschrittliches« über den Alterungsprozess zu sagen gab, hatte er doch seinen eigenen Reiz. Ich konnte sagen, was ich dachte. Ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich konnte allein durch die Straßen von Florenz flanieren, ohne das missbilligende Gemurmel anderer britischer Exilanten hören zu müssen. In vielerlei Hinsicht also molto bene. Wenn Momente der Einsamkeit angesichts der Tatsache, dass ich meine liebsten Freunde und Verwandten überlebt hatte, in mein Bewusstsein rückten … nun, was war die Alternative? Das Leben war für die Lebenden da, nicht für die Toten.

»Ich werde eine Novene zur Heiligen Katharina von Siena für sie beten«, versprach ich. »Bitte, lassen Sie mich wissen, wie es ihr geht.«

»Wann reisen Sie ab?«, wollte Paula wissen.

»Morgen.«

»Dann müssen wir fünf diesen Abend feiern«, sagte Trelawny mit Nachdruck. »Keine traurigen Gesichter oder schwermütigen Gedanken. Lasst uns unter dem Sternenzelt essen, toskanischen Wein trinken und einfach diese Zeit zusammen genießen. La vita è bella

»Ich kenne den perfekten Ort, beim Ponte Vecchio«, schwärmte Raphael. »Mio cugino Lorenzo besitzt diesseits des Arno ein Restaurant – nichts Großartiges, nur echtes toskanisches Essen, das mein Cousin selbst zubereitet.«

»Oh ja«, Paula strahlte ihn an, dann wandte sie sich mir zu. »Tante, können wir hingehen?«

Ich lächelte. »Wer könnte eine solche Einladung ablehnen?«

Sie stand rasch auf und zog Raphael mit sich hoch. »Ich muss Georgiana wecken. Wenn du mich zum Haus ihrer Freundin begleitest, kann sie dort bleiben, während wir zum Abendessen gehen. Tante Claire und ich werden weiße Rosen im Haar tragen – für Firenze

Sie zog ihn aus dem Raum und plauderte weiter auf ihn ein. Ich hörte ihr Lachen, das hinter ihnen in der Luft hing. »Es ist so erbaulich, junge Liebe zu sehen.«

»Glücklicherweise ist in Italien jeder irgendjemandes Cousin – ob ersten oder zweiten Grades, alle gehören zur Familie.«

Lächelnd stand ich auf und richtete meinen langen Rock, wobei ich das Büchlein in seinen Falten versteckt hielt. Ich würde ihnen später davon erzählen. Ich spürte etwas von meiner früheren Beschwingtheit in mir erwachen und schwor mir, die Freude dieses Augenblicks zu packen, auch wenn es nur für diesen einen Abend sein sollte. Zum Teufel mit vornehmer Verarmung. »Auch ich werde mich für unseren abendlichen Ausgang kleiden – und zwar in mein roséfarbenes Kleid mit Spitzenbordüre. Wir werden unser Abendessen genießen und der Sonne dabei zusehen, wie sie über dem Arno untergeht, während wir mit Chianti auf die Zukunft anstoßen.«

»Danke, mein Freund.« Trelawny klopfte Mister Rossetti auf die Schulter. »Was braucht man mehr? Wir haben die Geschehnisse der letzten paar Tage überlebt – wir sind lebendig und voller Hoffnung. Also sollten wir feiern. Das Morgen wird bringen, was immer es mag.«

»Carpe diem - ja, wir müssen den Tag pflücken … oder eher die Nacht«, witzelte Mister Rossetti. »Danach, wer weiß?«

 

***

 

Und wir hielten unseren Schwur.

Wir nahmen unser Abendessen unter dem Sternenhimmel ein und feierten mit cinghiale, Wildschwein, das mit Antipasti serviert wurde. Der Wein floss, und ich fühlte mich jünger als seit vielen Jahren. Alle Schichten von Herzschmerz und Armut fielen von uns ab. Unser Geist stieg in die Höhen. Irgendwann am Abend betrachtete ich Trelawnys Gesicht im Licht der zunehmenden Dämmerung. Auch wenn er so lange ein schreckliches Geheimnis vor mir gewahrt hatte, hatte er mir doch den Glauben an diese Zeit und diesen Ort gegeben. Und nicht nur diesen einen glücklichen Abend, sondern eine Gegenwart, die sich in die Zukunft streckte und mir etwas versprach, das ich mir niemals erhofft hätte: meine Tochter.

Sein Blick traf den meinen, und in diesem Moment wusste er, dass ich ihm vergeben würde. Vielleicht nicht heute oder morgen – aber es würde so kommen.

Er hob sein Glas und flüsterte: »Amici

Freunde.

Ah, einst waren wir mehr als das gewesen … wenn auch nur für eine einzige Nacht.

Nachdem der Mond aufgegangen war, wehte ein kühler Wind von den toskanischen Hügeln herab und brachte uns den süßen Duft von Rosen und Lilien. Er vermischte sich mit dem erdigen Geruch alter Steinbauten und der Feuchtigkeit des Arno. Der perfekte Hintergrund für das florentinische Essen mit seinen goldenen Olivenölen, frischen Kräutern und reifen, saftigen Tomaten. Raphael bat seinen Cousin, uns Panforte, einen üppigen Früchtekuchen, zum Dessert zu servieren, und wir feierten seine kulinarische Kunstfertigkeit und unser Glück, daran teilhaben zu können.

Später, nach einem abschließenden Gang mit Caffè und Biscotti gegen Mitternacht, gingen wir durch die engen gepflasterten Straßen, die jetzt in stiller Dunkelheit dalagen, zurück zum Palazzo Cruciato. Auf unserem Weg entlang der alten Patrizierhäuser schien nur hier und dort Licht hinter einem der Fenster der oberen Stockwerke hervor, doch der größte Teil der Stadt hatte sich zur Nachtruhe begeben. Als wir vorbeischlenderten, wagte ich mir auszumalen, wie dieses Licht sogar über die alten und schönen Gebäude hinausstrahlte, und dass der Abend einen Neubeginn signalisierte, den Eingang in eine Zukunft voller Glück und Wohlstand. Vielleicht war der ewige Kreislauf aus Schulden und Niederlagen endlich durchbrochen.

Als wir an unserer Wohnung ankamen, geleitete Trelawny uns hinein und entzündete die Gaslampe neben der Eingangstür. Als das Licht unseren Salon erhellte, schnappte ich nach Luft, fuhr zurück und klammerte mich an seinen Arm. Das Zimmer war durchwühlt worden, jedes Möbelstück war umgekippt, Bücher auf dem Boden verstreut und die Vorhänge heruntergerissen worden. Überall herrschten Chaos und Zerstörung.

»Che disastro!« Raphael hielt Paula zurück.

Trelawny griff nach der Lampe, hielt sie hoch und betrachtete die Zerstörung. »Bleibt hier«, flüsterte er und gab Raphael ein Zeichen, ihm zu folgen.

Sie verschwanden nach drinnen, Paula hielt sich mit zitternden Händen an mir fest. Ich legte meinen Arm um ihre Taille, und wir gingen in den Flur. »Wir müssen stark sein – alles wird gut.« Ich wusste, dass ich nicht ängstlich klingen durfte, sonst würde ich ihre Furcht noch vergrößern.

Zehn Minuten vergingen in Stille, abgesehen von dem Geräusch ihrer Schritte auf dem Steinboden.

Schließlich kam Trelawny mit der Lampe zurück, seine Züge wirkten streng und grimmig. »Kommt herein, es ist sicher.«

Erleichterung durchflutete mich, obwohl Paula meinen Arm nicht losließ. Als Raphael aus der Küche herauskam, eilte sie an seine Seite, und er umarmte sie fest, streichelte ihr Haar und murmelte italienische Beschwichtigungen.

»Dies ist das einzige Zimmer, das beschädigt wurde«, sagte Trelawny. »Geht es euch gut?«

»Nein, aber ich werde es überleben.« Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und spürte eine Woge der Verzweiflung beim Anblick des zerbrochenen Porzellans und Kristalls. Unsere Welt war ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt worden.

Paula riss den Kopf hoch und rief aus: »Ich muss sofort Georgiana abholen.«

»Aber sie schläft sicher, und wir müssen die Polizei rufen …«, begann ich.

»Nein«, schnitt sie mir das Wort ab. »Ich muss sie bei mir haben.«

Raphael wandte sich mir zu und sagte: »Ich werde nach der polizia schicken, sobald Georgiana hier ist.«

Ich nickte und bedeutete ihnen, zu gehen. Nachdem sie uns verlassen hatten, sah ich in Trelawnys verdüsterte Augen. »Gott sei Dank habe ich meine Byron- und Shelley-Korrespondenz nach dem Zwischenfall im Boboli-Garten in meinem Schreibtisch eingeschlossen. Glaubst du, das ist es, wonach sie gesucht haben?«

»Schwer zu sagen.« Er durchsuchte das Zimmer nochmals mit den Blicken und blieb an einem Buch mit Byrons Gedichten hängen, dessen Ledereinband am Rücken halb abgerissen worden war. Seiten waren herausgerissen und in kleine, ausgefranste Schnipsel zerfleddert worden. Sie waren mit einem Messer auf dem Boden festgenagelt. Es sah nach einem Akt der Wut aus. Ich beugte mich hinunter und hob eine einzelne Seite auf, die noch intakt war. Sie enthielt das Gedicht, das Byron im Sommer 1816 für mich geschrieben hatte und das mit den Zeilen begann:

Keine von der Erde Schönen

Doch die Magie war verflogen.

Ich ließ das Blatt zu Boden fallen.

Trelawny stieß einen unterdrückten Fluch aus, während er die Bücher und Blätter durchsuchte. Nach mehreren Momenten erhob er sich und drehte sich mit einem düsteren Ausdruck zu mir. »Es tut mir leid, Claire, aber es sieht so aus, als fehlte die Cades-Zeichnung, die wir auf dem Tisch haben liegen lassen.«

Dio mio. Unser letzter Traum, der Armut zu entfliehen, war gerade gestorben. Und mit ihm alle Hoffnung.

 

Palazzo Guiccioli, Ravenna, Italien, Juli 1820

Allegras Geschichte

Es war so schön, wieder bei meinem lieben Papa zu wohnen.

Lord Byron.

Als er endlich wieder nach mir schicken ließ, konnte ich kaum schlafen, bis ich aus Venedig aufbrach. Es war eine lange Kutschfahrt nach Ravenna, fast zwei Tage. Aber es machte mir gar nichts aus, weil ich mich so darauf freute, ihn wiederzusehen. Das liebe Kindermädchen aus England, das mit mir reiste, wurde immer verwirrter, weil ich die ganze Zeit auf Italienisch von meinem neuen Zuhause sprach.

Wie würde es aussehen? Würde ich eine Gouvernante haben? Wie lange blieben wir dort?

Sie tupfte ihre geröteten Wangen mit einem Taschentuch ab, beschwerte sich über die Hitze und verlangte, dass ich Englisch sprechen sollte, aber ich konnte mich kaum noch an die Sprache erinnern. Ich sprach nur noch Italienisch, was sie noch mehr zu ärgern schien. Aber mir war es egal. Wenn wir erst ankamen und ich wieder bei meinem Papa war, wäre alles einfach wundervoll.

La bella vita.

Als wir am späten Nachmittag zum Palazzo Guiccioli in der Via Cavour hinauffuhren, sprang ich sofort aus der Kutsche und schaute mir mein neues Zuhause an. Es war groß und imponierend, wie alle Häuser meines Papas. Es war drei Stockwerke hoch, aus bräunlichem Backstein, und hatte haufenweise Fenster mit grünen Rahmen. So elegant!

Dann sah ich Papa, der in der Tür stand und ein weißes Hemd mit offenem Kragen zu schwarzen Hosen trug.

Ich hörte, wie das Kindermädchen in der Kutsche nach Luft schnappte.

Papa hatte immer diese Wirkung auf Menschen, egal ob Männer oder Frauen. Weil er so berühmt war, waren sie in seiner Gegenwart immer ganz eingeschüchtert. Dann starrten und stammelten sie nur noch. Er war freundlich zu ihnen, aber ich merkte genau, dass er sich bei diesem Verhalten unwohl fühlte – erst recht, wenn sie auf seinen Klumpfuß glotzten. Für mich war er einfach Papa, der großzügige Mann, der mir Seidenkleider und Porzellanpuppen gekauft hatte, als wir in Venedig lebten. Manchmal, wenn er abends zu Hause blieb, las er mir mit sanfter, melodischer Stimme englische Gedichte vor, auch wenn ich die meisten Wörter nicht verstand. Manchmal hörte er mittendrin auf und starrte mit einem traurigen Blick in die Ferne, aber er sagte nie, was nicht stimmte.

Als er nach Ravenna gezogen war, hatte er gesagt, dass er mich nachholen lassen würde, und so war es nun endlich. Er hatte mich nicht vergessen.

Ich rannte auf ihn zu und streckte die Arme aus. Er drückte mich kurz, dann bat er mich, ins Haus zu gehen, während er einen Diener damit beauftragte, mein Gepäck zu holen.

Ich winkte dem Kindermädchen zum Abschied zu, aber sie hatte nur Augen für Papa. Er sagte etwas auf Englisch zu ihr, entließ den Kutscher und folgte mir in den Palazzo. Als ich das Foyer betrat und mich in der reichen Umgebung umsah, bekam ich große Augen wegen der Marmorböden und den Möbeln mit vergoldeten Kanten. Wahrhaftig ein Palast!

Dann entdeckte ich Papas Katzen, die mit zwei kleinen Hunden herumtollten. Sie stolperten spielerisch um- und übereinander, bis ein Pfau kam und zu kreischen begann. Die Tiere huschten davon und Papa lachte. Er scheuchte mich die Treppe hinauf in den dritten Stock, wir betraten sein Studio, einen großen Raum mit hoher Decke und vollgestopft mit Bücherstapeln. Ich erkannte den Schreibtisch und die Möbel aus Venedig und fühlte mich zu Hause.

Eine hübsche Dame mit blondem Haar stand neben der bemalten Leinwand beim Fenster. Sie sprach mit einem jungen Mann, der genau wie sie selbst charmant und liebenswert aussah. Als sie mich erblickten, brach ihre Unterhaltung abrupt ab.

»Das ist Contessa Guiccioli und ihr Bruder, Pietro Gamba«, sagte Papa.

Die Dame neigte den Kopf und glitt auf das Sofa, wo sie mit einladendem Lächeln auf das Kissen neben sich klopfte, und ich hüpfte sofort zu ihr, um mich zu setzen.

»Buongiorno, Allegra

»Buongiorno, Contessa.«

Sie fragte mich über meine Reise aus, und ich erzählte ihr von der Adriatischen Küste und den Wasservögeln, die auf der Isola d'Ariano brüteten, und wie faszinierend ich das alles gefunden hatte.

»Si … incantevole«, stimmte sie mir zu. »Unbeschreiblich.«

Während die Contessa mir von ihrer Familie in Ravenna erzählte, merkte ich, dass Papa zu Pietro gegangen war und mit ihm eine leise Unterhaltung auf Italienisch angefangen hatte. Ich schnappte nur die Wörter turba und apprendista auf. Rotte und Lehrling. Das ergab für mich keinen Sinn. Da betrat ein großer Mann mit schwarzem Bart den Raum. Ich sprang auf und rief: »Tita!«

»Allegrina!« Lachend hob er mich in seine kräftigen Arme und hielt mich fest. Tita Falcieri war ursprünglich Gondoliere und jetzt Papas Diener. Er war ein starker Mann mit kräftiger Stimme und trug immer einen Hut mit einem Federbusch und ein Schwert in seiner Schärpe. Als wir noch in Venedig lebten, brachte er mir auch immer Frittelle. Ich liebte am meisten die mit Schokolade gefüllten.

Er ließ mich wieder herunter und tätschelte meinen Kopf, bevor er zu Papa und Pietro ging. Tita wurde rasch in das Gespräch gezogen, und ihre Stimmen wurden vor Aufregung ganz laut. Ich dachte, ich hörte das Wort Carbonari und fragte sie, was es bedeutete, bekam jedoch keine Antwort.

Sofort fragte mich die Contessa, ob ich nicht mein neues Zimmer sehen mochte, aber ich wollte Papa nicht schon wieder verlassen, nachdem ich gerade erst angekommen war. Ich begann zu heulen und zu schmollen, bis er mir versprach, dass er mir nach dem Abendessen ein Gedicht vorlesen würde.

Da ich wieder glücklich und zufrieden war, ließ ich die Contessa meine Hand nehmen, um mich rauszuführen. Über die Schulter sah ich nach Papa, aber er war wieder ins Gespräch mit Tita und Pietro vertieft.

Sie sahen besorgt aus.