Leseprobe Belüge niemals eine Lady

1

Sommer, 1823

Die Gräfin Churzy war bisher dreimal verliebt gewesen.

Zuerst, als sie einfach Letty Price, kaum acht Jahre alt und sich des Ernsts des Lebens herrlich unbewusst war, liebte sie ihren besten Freund, Joey Purser. Sie spielten jeden Tag zusammen, bis Joeys Mutter ihn zum Arbeiten in das Sägewerk der Prices schickte. Da durfte sie dann als Tochter des Besitzers nicht mehr mit Joey spielen.

Zum zweiten Mal, als sie verliebt war, war sie Miss Leticia Price, Schwester der Lady Widcoate, und von jedem ehrbaren Mitglied der Gesellschaft gemieden. Da sie nur die Tochter eines Sägewerksbesitzers war, war ihres Vaters Vermögen zwar genug, ihrer Schwester ein Landei mit Titel zu erkaufen, doch dass Leticia dachte, dass ihre Schönheit und Grazie ihr in den oberen Kreisen weiterhelfen würden, das war einfach zu viel der Anmaßung. Da begab sich Konrad Herzog, Graf Churzy, auf die Seite des Raumes, wo sie saß, und forderte sie zum Tanz auf. Er war ein österreichischer Aristokrat, der London genoss, während die letzten Überreste des Krieges sich verflüchtigten, und Leticia verliebte sich im selben Augenblick in ihn, als er ihr während der Quadrille zuzwinkerte.

Das dritte und letzte Mal, da Leticia – nunmehr verwitwet, verzweifelt und auf Ausschau nach einer sicheren Zukunft – wusste, dass sie verliebt war, da hatte sie gerade ihre Schlafzimmertür aufgestoßen und den Earl von Ashby vorgefunden, wie er da auf der Schwelle stand.

»Oh … hallo, Letty«, flüsterte er; seine Hand hing weiterhin in der Luft.

»Guten Abend«, gab sie mit einem halben Lächeln auf den Lippen zurück. »Du scheinst dich zu wundern, mich zu sehen.«

»Ich dachte, du würdest vielleicht schlafen.«

»Warum dann klopfen?« Ihr Morgenrock war keineswegs unzüchtig – leider. Sie arbeitete jedoch, womit sie konnte, rollte ihre Schultern zurück und zeigte ihren Busen so vorteilhaft wie möglich.

Seine Mundwinkel kamen hoch, da seine Augen sich dankbar senkten. Er musste wissen, was sie da vorhatte. Sie hatten dieses Spiel nun schon wochenlang gespielt.

Vor lauter Spannung überschlug sich ihr Herz. Ihr Blut stieg davon auf.

Und an diesem Abend war es nicht das erste Mal, dass der Earl von Ashby ihr solche Gefühle verschafft hatte.

»Weil ich nicht schlafen kann, und ich dachte, du vielleicht auch nicht«, antwortete er.

»Ich versuchte es mit aller Tapferkeit. Es ist schon lange nach Mitternacht, Mylord.«

»Dann ist es ein Glück, dass ich Sie erwische, Mylady.« Etwas fiel ihm über die Augen. Etwas Ehrliches und Schweres. Er holte tief Luft, dann nochmal, bevor er sprach. »Ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht. Ich … ich habe mich heute Abend vorschnell verhalten.«

»Ach ja?«, fragte sie ganz unschuldig. »Wie das?«

»Heute Abend, beim Sommerball, als ich …« Er räusperte sich.

»Als du mich geküsst hast«, sagte sie ihm vor.

Oh ja, er hatte sie geküsst. Sie war auf der anderen Seite des Raumes gestanden und hatte mit jemandem geredet – es mochte ihre Schwester, Fanny, gewesen sein, doch sie konnte sich nicht mehr erinnern, denn in jenem Augenblick stockte ihr der Atem und ihr Herz begann sich aus ihrer Brust zu schlagen, als sie sah, wie der Earl von Ashby herankam und seiner Beute nachjagte.

Wie er ihr nachjagte.

Bevor sie auch nur ausatmen konnte, hatte er sie in seine Arme gerissen und küsste sie, gleich da auf der Tanzfläche einer öffentlichen Halle, vor aller Welt.

Es war, nach einer Lebenszeit voller Enttäuschungen, ihr Sieg.

Obwohl es eine ziemlich skandalöse öffentliche Zurschaustellung war, kam es nicht aus heiterem Himmel. Sie und der Earl von Ashby hatten sich in den vergangenen zwei Wochen angenähert. Er und sein Geschäftsmann, Mr. Turner, waren gekommen, im Anwesen ihrer Schwester zu übernachten, während er einige Schwierigkeiten um ein Grundstück klärte, das ihm in der Nähe gehörte. Dass sie zufällig zur selben Zeit wie ein recht gutaussehender und überaus wohlhabender, bekannter Gentleman ihre Schwester besuchte, das war nicht zu beachten.

Dass sie beinah seit dem Augenblick seiner Ankunft unzertrennlich gewesen waren, das war viel bedeutungsvoller.

Sie hatte nicht erwartet, dass es so einfach wäre. Sie war sich sicher gewesen, dass sie, um den Earl von Ashby zu umgarnen, ihre hingebungsvollste Anhimmelei, die beste Darbietung von Witz und Lebhaftigkeit heraufbeschwören müsste; den Drahtseilakt zwischen Faszination, Nahbarkeit und Unerreichbarkeit zugleich bestehen.

Stattdessen war es gewesen, als glitte man nach einem langen Tag ins Bett. Jeder kleine Blick, jedes Mal, da er ihr den Arm bot, alle Unterhaltungen über alles und nichts … es hatte sich so, so richtig angefühlt.

Es war erstaunlich.

Es war furchteinflößend.

Und nun stand er vor ihr, mitten in der Nacht. Immer noch in seiner Abendtracht vom Ball, mit offenem Hemdkragen, dem Halstuch lose an der Kehle, wodurch unten an derselben ein verführerisches Bisschen Haut zum Vorschein kam. Und doch passten seine Kleider ihm trotz all der Feinheit ungenau, als hätte er lieber Leder und Kniehosen getragen – oder gar nichts.

Doch da war etwas unterhalb. Eine Sorge. Ein … Bedürfnis.

Ein Stoß ging ihr durchs Rückgrat. Vielleicht passte sein Bedürfnis zu ihrem.

»Du warst sehr leichtsinnig«, sagte sie mit Ernst.

»Das war ich. Ich entschuldige mich für jede Kränkung, die ich vielleicht verursacht habe.« Er holte wieder Luft. »Es gibt da Einiges, was ich nicht – also, was wir nicht besprochen haben – und ich fürchte, dass es nur gerecht ist, bevor irgendetwas Weiteres passiert, dass –«

»Ashby«, sagte sie und ihr gerader Tonfall schnitt durch sein nervöses Geplapper.

»Ja?«

Sie schwang die Tür weit auf und zog ihn hinein.

»Ich kann auch leichtsinnig sein.«

***

Und leichtsinnig war es auch. Sie wusste es, als seine Lippen auf ihre trafen. Als ihre Hände die Revers seiner Jacke ergriffen, als seine Überraschung zu Verlangen dahinschmolz, wusste sie, dass es das Leichtsinnigste war, was sie tun konnte.

Leticia hatte eine Strategie – die musste sie haben, denn sie hatte sonst sehr wenig.

Ihr einziger Vorteil in dieser Situation war, dass er sie geküsst hatte. Er hatte der Welt seine Gefühle offenbart. Der nächste logische Schritt war, was jener Kuss andeutete – eine noch öffentlichere Erklärung. Vorzugsweise in einer Kirche, doch sie würde sich mit Gretna Green begnügen; sie war nicht wählerisch.

Ihn aber hier zu haben, in ihrem Schlafzimmer, ohne jegliches formelle Versprechen, wo seine Hände an ihrem Körper auf- und abliefen, das glich einem Fenstersturz all ihrer harten Arbeit.

Und es kümmerte sie nicht.

Sie beschloss, dass es nur eine Erklärung für ihr Handeln gab: Sie hatte den Verstand verloren.

Sein warmer Atem strich über ihre Wange, als er sich von dem Kuss löste und seinen Mund auf ihr Kinn senkte, auf ihren Hals, zu der kleinen Kerbe unten an ihrer Kehle. Ein grober Hauch entkam, als seine Hände an ihrem Rücken hinabglitten, weiter, bis zur runden Erhöhung ihres Hinterteils.

»Du hast … großartige Hände«, sagte sie mit zitternder Stimme, da die wunderbaren Finger über das feine Leinen ihres Morgenrocks tanzten – das Einzige, was zwischen seinen Händen und ihrer Haut lag.

Doch es war, als durchbräche ihre Stimme seine Vernebelung, und er hob den Kopf.

»Ich muss dir sagen …« Er mühte sich mit den Worten. »Wir … wir sollten nicht –«

Sie nahm zweimal tief Luft, versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht …

»Wir sollten nicht?«, fragte sie, da ihr Morgenrock – völlig von selbst! – von einer ihrer vollkommenen Schultern rutschte.

»Zum Teufel«, knurrte er, und sein Mund fand ihren wieder.

Kleider fielen ab, da sie sich den Weg zum Bett ertasteten. Seine Jacke fiel zu Boden. Sein Halstuch, das schon lose herabhing, war im Weg. Und warum mussten Männerhemden nur Knöpfe haben?

Bald aber lag ihr Morgenrock offen und setzte ihre Brüste der kühlen Nachtluft aus, und sie hatte anderes im Kopf.

Nämlich ihn. Den Mann, der ein langes, zittriges Pfeifen aushauchte, als er sie sah.

Sie war noch nie so angesehen worden. Nicht von Konrad. Von niemandem. Da fühlte sie sich …

Mächtig.

Seine Hände – solch wundervolle Hände! – fuhren um die Kurve ihrer hohen Brust (wenn auch nicht so hoch wie einst) und umfassten das Gewicht, bevor sein Kopf sich neigte und sie kostete.

»Ned. Oh, Ned.« Sein Name hallte in der Nachtluft.

Seine Hände, die sich an ihren Beinen hoch begaben, hielten mitten auf der Fahrt an. Sein Mund, der ihre Brüste mit jedem erdenklichen Lob überhäufte, stand einfach still.

Leticia stockte. »Ned?«

»Nenn … nenn mich nicht so«, ächzte er und schaute hoch. Im Dunkeln konnte sie sein Gesicht nicht sehen, konnte nicht sehen, was er meinte.

»Tut mir leid … Ich hätte mich nicht anmaßen sollen, dich beim Taufnamen zu nennen«, flüsterte sie. »Ich dachte nur, da du und ich … da heute Abend …« Doch nicht erst seit heute Abend. Er hatte sie seit seiner Ankunft Letty genannt, einen Namen, den sie außerhalb ihres eigenen Kopfes seit beinah zwanzig Jahren nicht auszusprechen erlaubt hatte. Es hatte als Scherz begonnen. Insgeheim mochte sie es aber.

»Nein, nichts zu entschuldigen«, sagte er schnell.

»Ashby …«

»So auch nicht«, sagte er verbissen – so barsch, dass es sie erschreckte.

»Wie soll ich dich sonst nennen?«, fragte sie, da Sorge sich in ihrer Vorstellung breitmachte. »Schatz?«

Er antwortete nicht.

»Liebster?«, fragte sie versuchsweise und biss sich auf die Lippe.

»Wir können das nicht. Nicht jetzt«, sagte er und bewegte sich von ihr weg. Er hob sich auf die Knie. Die kühle Luft an ihrer Haut schmerzte beinah. Die bekannte Enttäuschung war schlimmer.

»Ich verstehe«, sagte sie und schloss den Morgenmantel um ihren Körper.

»Nein, du verstehst nicht«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. »Ich muss dir etwas sagen … bevor wir einen Fehler begehen. Und ich kann jetzt nicht«, sagte er, da sein Blick auf ihren Körper fiel, dann schnell wieder zu ihrem Gesicht hochschoss. »Ich glaube, es ist bewiesen, dass ich keine zwei Sätze schaffe.«

»Ash– soll heißen, Liebster, was auch immer, du kannst es mir sagen«, sagte sie und setzte sich aufrecht hin. Sie streckte ihre freie Hand nach ihm aus und streichelte ihm über die Seite seines Gesichts. Er lehnte sich an ihre Handfläche und ein verlangendes Schluchzen entkam seiner Kehle.

Er nahm aber ihre Hand in seine und setzte sie an seine Wange an. »Und das werde ich auch«, sagte er mit Entschlossenheit in der Stimme. »Morgen.«

»Morgen?«

»Morgen«, versprach er, nahm ihre Hand und küsste diese. »Morgen werde ich … sagen, was zu sagen ist.«

Seine Küsse wanderten von ihrer Handfläche zu ihrer Ellenbogenbeuge, zogen sie näher heran, verdrehten ihr den Kopf. Er quälte sich selbst.

»Nmmmmmnh«, kam das Gejammer, als er sich losriss, diesmal zum Schluss, und vom Bett sprang, seine Kleidung aufhob, die zerknittert in Lachen auf dem Boden lagen.

Und dann war er weg.

»Morgen«, flüsterte sie, da sie schlaff auf die Kissen zurückfiel. Morgen würde er sagen, was er musste. Und sie wusste, was es war. Seine herrenhaften Instinkte hatten seine niedrigeren überwältigt und er würde die Gräfin nicht entehren, indem er nahm, was sie – im schwindligen Nebel prickelnder Liebe – so sehr geben wollte.

Stattdessen würde er sich auf ein Knie senken, er würde um ihre Hand anhalten, und sie würde sie ihm gewähren. Sie würden heiraten und zur Saison in seinem Stadthaus in London wohnen; auf seinem Familiensitz, wenn es sich gut schießen ließ; und zu jeder anderen Zeit, wenn sie wollten, überall sonst. Sie würde sich nie mehr um Geld sorgen müssen, oder ihren gesellschaftlichen Stand, oder wie sie jetzt weiterleben würde.

Sie wäre die Gräfin Ashby und er ihr Retter.

Es würde alles morgen beginnen, dachte sie, da ihr Herz träger wurde und sie in den Schlaf glitt.

2

Sommer, 1824

»Leticia, möchtest du mich heiraten?«

Leticia lächelte den Mann vor ihr an, der die Arme ausstreckte und ihre Hand zärtlich in seiner hielt.

»Oh, mein Schatz! Natürlich möchte ich!«

Es war kaum zu glauben, doch sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte sich tatsächlich errettet. Es hatte beinah ein ganzes Jahr gedauert, und sie hatte beinah ihren ganzen Schmuck verpfänden müssen (sie hatte die Diamant-Ohrhänger eh nie gemocht, viel zu ungeschickt), doch es war dies alles völlig wert gewesen, denn da stand sie nun und erhielt einen Antrag von keinem Geringeren als dem Mann, mit dem sie glücklich den Rest ihres Lebens verbringen würde.

Er brachte seinen Antrag im Sitzen an, da das Knien nicht wirklich zu seinem Repertoire gehörte.

Sir Bartholomew Babcock erhob sich (mit nur geringer Mühe) und lächelte breit unter seinem buschigen, weißen Schnauzbart hervor. Sein Gewicht richtete sich ein und er fand das Gleichgewicht, indem er seinen Gehstock mit einer Hand und Leticias Hand mit der anderen ergriff.

Er war der Mann ihrer Träume.

Ja. Es hatte sich viel verändert seit letztem Sommer. Seit sie von der Lüge erfahren hatte.

»Stört es, wenn ich dich küsse, Liebste?«, fragte er ein wenig schüchtern.

»In aller Öffentlichkeit?«, fragte sie. In dem Museum waren allerlei Leute um sie, allesamt französisch pompös, und niemand schenkte dem Paar an der mittig gelegenen Bank im Karyatidenraum seine Aufmerksamkeit, doch Leticia hütete sich auch so vor öffentlichen Kundgebungen.

»Bloß, um es amtlich zu machen.« Er errötete und schaute auf seine Zehen – oder eher, in Richtung seiner Zehen. Er konnte sie unmöglich an seinem Bauch vorbei sehen.

Trotz aller Umsicht lächelte Leticia. Er war solch ein großer, grober Mann, viel älter als sie und, ja, genoss einen besonders unglücklichen Anfall seiner Gicht, wollte aber doch liebreizend sein.

»Wenn dem so ist, Sir Bartholomew – selbstverständlich«, sagte sie.

Er küsste sie auf die dargebotene Wange – respektabel, ehrbar. Auf die Art, wie eine Dame von ihrem Versprochenen in der Öffentlichkeit geküsst werden sollte.

»Wo ich dich schon überzeugt habe, mich zu heiraten, wie kann ich dich jetzt überzeugen, mich Sir Barty zu nennen?«

Als Leticia lachte und Sir Bartys Arm nahm, da erlaubte sie sich einen Augenblick der Selbstbeglückwünschung. Wer hätte gedacht, dass Leticia, als sie vor drei Wochen in diese Bildergalerie kam, den Mann treffen würde, den sie heiraten würde?

Will heißen, wer außer Leticia.

Natürlich war Paris nicht ihr erster Halt gewesen. Sie hatte es in London versucht, doch es dauerte kaum drei Wochen, bis die Blicke anfingen. Dann versuchte sie es in Brighton, Portsmouth, Plymouth, flüchtete sogar nordwärts bis nach Edinburgh, doch überall, wo sie hinging, fing das Geflüster an, bevor sie auch nur irgendwie Fuß fassen konnte. Es blieb ihr nichts übrig, als zu fliehen, gehetzt – von der Lüge.

Der Kontinent war ihre letzte Zuflucht gewesen, und das größte Risiko von allen.

Sie wäre beinah nicht gegangen. Paris war eine kostspielige Stadt. Die Unterkünfte waren teuer, die kulinarischen Köstlichkeit außer möglicher Reichweite, und wenn man den oberen Gesellschaftskreisen begegnen und sich untermischen wollte, da war ein kleines Vermögen nötig, oder eine Armee persönlich Bekannter, die für den guten Stand eintraten.

Leticia hatte keines von beidem, aber gerade noch genug Geld für ein Zimmer in einer respektablen Einrichtung für Damen auf Reisen und eine Wocheneintrittskarte für den Louvre.

Und das Wissen, wann die Führer ihre englischen Gäste hindurchgeleiteten.

Das war die beste – und wichtigste – Münze, die sie ausgegeben hatte – die, mit der sie die Männer bestochen hatte, die auf Geld aus waren, außerhalb der englischen Hotels herumlungerten und sich von jungen Gentlemen als Führer anheuern lassen wollten, die frisch aus Oxford oder Cambridge angekommen und auf ihrer großen Reise voller Wunderstaunen waren. Die geschickten Führer würden ihr verraten, wann sie gedachten, ihre Kunden in den Louvre zu bringen, wonach Leticia wüsste, wann sie am besten dort sein, durch die Galerien spazieren und die griechischen, römischen und renaissancezeitlichen Werke und alles Weitere genießen sollte, was nicht in seine Heimat zurückgeschickt worden war, nachdem Napoleon es sich »geliehen« hatte.

Es war natürlich große Geduld vonnöten. So faszinierend man sie auch fand (und alle fanden sie sie faszinierend), waren junge Männer auf ihrem ersten Abenteuer in der Welt nicht sehr gewillt, das Abenteuer gleich aufzugeben, und da Paris oft der erste Halt auf solcher Reise war, gestatteten sie Leticia, sie zu faszinieren (und sonst weiter nichts), während sie sich einige Wochen in Frankreich aufhielten, bis sie sie zugunsten der reizenden spanischen, italienischen und deutschen Ländereien zurückließen.

So ging es monatelang und Leticia stand kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Doch dann saß sie eines Tages auf einer Bank vor einer großen Statue einer geflügelten Frau, und ein runder Mann mit Gehstock humpelte neben ihr heran.

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich mich setze, junge Dame«, hatte der Mann gesagt und sich auf die gegenüberliegende Seite der Bank fallen lassen.

»Na… Natürlich nicht –«, brachte Leticia heraus, da sie von der Anmaßung der Bitte durcheinandergebracht war – wenn man es überhaupt eine Bitte nennen konnte. Immerhin würde kein Gentleman sich übernehmen und einer Dame seine Gesellschaft aufzwingen. Außerdem wartete sie gerade auf eine Gruppe junger englischer Gentlemen, die vorbeikommen würden – der Pförtner, den sie bestach, war sonst so pünktlich.

»Ah, gut! Sie sind Engländerin!«, rief er. »Kann Ihnen gar nicht sagen, wie schwer es ist, sich in dieser Stadt zu bewegen und im Versuch, eine Unterhaltung anzufangen, nicht viel mehr als ›Bonjour‹ zu bekommen.«

»Das … kann ich mir vorstellen«, sagte Leticia dazu.

»Ich tauge nicht zu viel mehr, als zur Unterhaltung«, sagte der Mann. »Wenn ich überhaupt dazu tauge.« Er klopfte sich mit dem Stock an den Oberschenkel, streckte seinen Unterschenkel über dem schwarzweißen Marmorboden aus und zuckte dabei zusammen.

»Ist die Gicht«, sagte er, da er offensichtlich ihre Blickrichtung sah. »Ich fürchte, ich kann mit den jungen Burschen nicht mithalten.«

»Sind … Sind Sie mit Ihrem Sohn hier?«, fragte sie. Vielleicht gehörte er zur Gruppe des Pförtners.

»Hab keinen Sohn! Nur mein kleines Mädchen. Aber die ist auch nicht hier. Die ist zu Hause, in Lincolnshire. Nein – ich bin hier auf großer Reise! Sir Bartholomew Babcock, zu Ihren Diensten. Aber jeder nennt mich Sir Barty.«

Er verbeugte sich ein wenig, doch als er bemerkte, dass es vielleicht nicht auffiel, wenn man sich im Sitzen verbeugte, zog er stattdessen den Hut. Dann bemerkte er, dass er in einem Gebäude mit einer Dame sprach, und tat den Hut gleich ganz weg.

»Sie sind auf großer Reise?«, fragte Leticia.

»Sehe nicht gerade danach aus, wie?«, sagte Sir Barty. »Mein bestes Reisealter liegt schon Jahrzehnte zurück, ich weiß, aber ich konnte nie verreisen, bevor ich geheiratet habe – das hat dieser kleine Frosch Napoleon vermiest – und dann, nach der Hochzeit, da wollte ich die Heimat nicht mehr verlassen.«

Er zwinkerte und lachte, ein riesiges Gebrüll, von dem die Statuen in der Galerie wackelten.

Leticia hatte gelächelt und sich gegenüber den Aufmerksamkeiten des etwas groben aber offensichtlich freundlichen Mannes erwärmt. Immerhin schienen der Pförtner und seine Gruppe sich Zeit zu lassen. Eine kleine Unterhaltung, während sie wartete, konnte nicht schaden.

»Und was meint Ihre Frau dazu, dass Sie jetzt außer Landes reisen?«

Er hantierte eine Weile mit seinem Gehstock, wobei er mit diesem nebenbei an seinen Schenkel klopfte. »Ist verstorben. Vor zwei Jahren.«

Plötzlich wurde dieser Sir Bartholomew – wie hieß er noch, Babcock? – viel interessanter.

»Mein Beileid ob Ihres Verlustes«, sagte Leticia und lehnte sich näher hinzu.

»Danke, meine Liebe«, sagte Sir Barty. »Es war schwer, das gebe ich zu. Aber bevor sie ging, nahm sie mir das Versprechen ab, mir etwas von dem Staub abzuschütteln, und das mache ich jetzt.« Er zuckte und deutete mit dem Kopf auf sein ausgestrecktes Bein. »Auch wenn der Ausgang etwas angenehmer wäre, wenn er im Gang geschehen könnte.«

»Ach, Sie müssen ja furchtbare Schmerzen haben!«, rief Leticia und legte ihre Hand auf seine. »Sie können ja gar nicht auf die Füße …«

»Kann mich aber auch nicht im Hotel einbuchten. Da ist es seltsam. Die essen zum Frühstück … Orangen«, flüsterte er ihr zu, im selben Ton, wie man sagt: »Dort laufen die Uhren rückwärts.«

»Dazu würde ich nie raten«, sagte Leticia dazu. »Nicht wenn Sie auf Heldenfahrt sind.«

»Auf Heldenfahrt? Na, das bin ich wohl.«

»Zum Glück gibt es hier im Museum Stühle zum öffentlichen Gebrauch. Wir mieten Ihnen einen.«

Leticia rief einen Wachmann oder Diener – man schien hier beide Rollen zugleich zu füllen – und wollte ihn bitten, einen der Weidenrollstühle zu holen, doch Sir Barty hielt sie zurück.

»Oh nein – darum kann ich ja nicht bitten.«

»Warum denn nicht?«

»Das ist nicht … Ich will ja nicht, dass … Ich bin meinen Fuß gewöhnt, und zu Fuß zu gehen, das ist alles.«

Ein katzenhaftes Lächeln kam über Leticias Gesicht. Natürlich. Ein großer, grober Mann aus Lincolnshire würde nicht schwächlich wirken wollen. Das männliche Ego war etwas furchtbar Albernes, und es schien, dass dieser Sir Barty ein recht typisches hatte. Es hieß aber auch, dass Leticia seine Schwäche kannte – seinen Stolz.

»Da haben Sie wohl Recht«, meinte sie. »Es wäre töricht, wenn ein kräftiger Mann wie Sie sich in einen Stuhl setzte. Da würde der Stuhl jemandem genommen, der ihn wirklich braucht.«

»So ist es.« Sir Barty entspannte sich. »Und mit solch liebreizender Gesellschaft warte ich gerne hier auf den Führer – so ein Franzmann namens Gaston – der mir versprochen hat, mir die Sehenswürdigkeiten an diesem noblen Ort zu zeigen. Hab dem Mann fünf Francs bezahlt – meinte, er kenne den Louvre wie seine Westentasche.« Seine Mundwinkel senkten sich. »Ich glaube zumindest, dass er das gesagt hat.«

Leticias Braue hob sich. Sie kannte Gaston – er war einer der weniger achtbaren Pförtner. Sie war sich tatsächlich sicher, dass er eine umfassende Führung versprochen hatte, bezweifelte aber, dass er sich im Museum sehen lassen würde – es war viel wahrscheinlicher, dass er gerade Sir Bartys Francs versoff.

»Wenn Ihr Gaston sich so verspätet, würde ich Ihnen gerne das Museum zeigen«, bot Leticia an. »Ich komme so oft her, dass ich meine, ich kenne jedes Kunstwerk persönlich.« Als er verwirrt dreinschaute, zeigte sie auf ein bronzenes Basrelief, einen Halbkreis an der Wand, auf dem eine Nymphe unter dem Kopf eines Hirsches lag. Die Nymphe von Fontainebleau – eines von Leticias Lieblingswerken. »Das zum Beispiel ist Nancy.«

»Nancy?«, fragte Sir Barty und sah sich die Skulptur durch zusammengekniffene Augenlider an.

»Jawohl. Nancy die Nymphe. Sie war den ganzen Morgen über auf der Jagd und hat endlich einen Hirsch erlegt – was, wie Sie wissen müssen, äußerst anstrengend ist. Deshalb hat sie beschlossen, all ihre Kleidung abzulegen und sich zu einem kleinen Schläfchen hinzulegen.«

»Das kann ja nicht stimmen.« Sir Barty schaute völlig verwirrt von der Nymphe zu ihr und wieder zurück. »Oh, ich verstehe!«, rief er dann. »Sie haben sich zu der Statue eine Geschichte ausgedacht. Wie lustig!«

»Ich fürchte, so sehr ich das Museum auch genieße, bin ich keine wirkliche Gelehrte«, sagte Leticia zögerlich.

»Ich auch nicht, meine Liebe«, sagte Sir Barty vertraulich. »Sah nie viel Sinn dahinter, die Namen all dieser Dinge zu kennen. Also, was ist mit der da?«

Er deutete auf eine sehr große Statue eines Mannes mit Flügeln, der eine Frau umarmte. Psyche.

»Nun, das ist offenbar ein Mann, der nebenbei auch ein Vogel ist.«

»Kein Engel also?«, fragte Sir Barty.

»Nein. Er wird aber immerfort mit einem verwechselt, und das lastet schwer auf ihm. Sie ist die Einzige, die je richtig erraten hat, dass er ein Vogelmensch ist, und darum hat er sich sofort in sie verliebt.«

Sir Barty brüllte sein tiefes Lachen, wobei diesmal einiges davon obendrein durch seine Nase kam.

»Wenn Sie das lustig finden, sollten Sie sich die Frau ohne Arme im nächsten Raum ansehen – die hat eine äußerst interessante Geschichte«, sagte Leticia lächelnd. »Sie hat sich beide Arme abgeschnitten«, flüsterte sie.

»Wie schneidet man sich denn selbst die Arme ab?«, fragte Sir Barty, da er aufstand und Leticia seinen Arm anbot. »Man würde ja meinen, dass man die Arme zum Schneiden braucht.«

»Das ist ja so interessant.«

»Ich glaube, das Interessante ist, wer ihre Geschichte erzählt«, sagte Sir Barty mit einem Kleinstmaß an Galanterie. Sie verbrachten den Rest des Nachmittags zusammen – Leticia bahnte sich als Scheherazade den Weg durch die Galerie und erfand Geschichten für jede Statue und jedes Gemälde, wobei Sir Bartholomew Babcock mit jeder neuen Albernheit mehr und mehr ihrem Bann verfiel. Sie bewegte sich gewollt langsam und nahm etwas von seinem Gewicht auf ihren Arm, weswegen er nie fand, dass sein gichtiges Bein ein Problem darstellte.

Sie gingen an dem Tag auseinander, ohne irgendwelche Angaben auszutauschen. Am nächsten Morgen standen keine Blumen vor Leticias Tür, keine Schokolade oder ein betagter Gentleman aus Lincolnshire, der sich förmlich an sie wandte. Als sie aber am nächsten Tag zum Louvre kam, war Sir Barty dort, genau da, wo sie ihn erwartet hatte.

Sie erfuhr viel über ihn, während sie im Schneckentempo durch die Räume trotteten. Sie erfuhr, dass die Babcocks seit der Zeit König Karls zu den größten Landbesitzern in Lincolnshire gezählt hatten. Sie erfuhr, dass er zuletzt als junger Mann in London gewesen war und nicht viel davon gehalten hatte. Wenn er in die Stadt musste, zog er eher das nahegelegenere York vor, um sich Szene und Gesellschaft zu verschaffen. Sie erfuhr sogar, wieso er sich so vor einem Hotel erschrocken hatte, das Orangen zum Frühstück servierte.

»Nun, das ist ja Angeberei, oder nicht?«, fragte er. »Ich bin ein recht vermögender Mann, ich besitze einen Obstgarten – aber Orangen habe ich vielleicht dreimal im Leben gegessen. Eine ganze Schale zum Frühstück hinzustellen, also …« Es schauderte ihn, und Leticia lachte.

Sir Barty hatte keine Kinder, außer seiner Tochter Margaret, die, wie Sir Barty es formulierte, »zu Hause wahrscheinlich gerade in der Erde wühlte und ihre Knie furchtbar aufscheuerte.«

»Ich habe so eine Nichte«, sagte Leticia dazu. »Sie ist neun und verrückt nach Pferden.«

Sir Barty brummte zustimmend. »Sie braucht eine Frau zum Vorbild«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich versuche, was ich kann, aber seit ihre Mutter gestorben ist …«

Leticia legte ihre Hand auf die von Sir Barty. »Ich verstehe völlig.«

Und sie verstand tatsächlich. Sie verstand, dass Sir Barty eine Mutter für seine Tochter genauso brauchte wie eine Frau für sich selbst. Und zum Glück stand sie bereit, als beides herzuhalten – wodurch er mitten in ihren Machtbereich kam.

Natürlich erfuhr Sir Barty auch einiges über sie, doch nur, was sie erlaubte.

Sie erzählte ihm von ihrem geliebten Konrad, der drei Jahre zuvor bei einem Reitunfall in Brighton verstorben war. Sie erzählte ihm von ihrer Schwester, Fanny – Lady Widcoate – und wie lieb sie Fannys Kinder hatte, Rose und Henry. (Sie erwähnte nicht, dass sie Kinder erst erfreulich fand, wenn diese einmal das Alter erreicht hatten, in dem sie sich selbst zu unterhalten verstanden.)

Und dann erzählte sie ihm von der Lüge.

Natürlich nicht die auffälligen Kleinigkeiten. Nur, was relevant war.

»Letztes Jahr … Letztes Jahr war ich beinah verlobt«, sagte sie, und ihr Blick fiel auf den Steinboden zwischen ihnen. »Doch es stellte sich heraus, dass der Mann, der in Frage kam, mir falsch mitspielte.«

»Wie das?«

»Er hatte gelogen. Darüber, wer er war. Woher er kam. Über seinen Namen sogar.«

Es war ein Name gewesen, den sie sich für sich selbst erhofft hatte – Ashby. Doch der gehörte nicht dem Mann, der sie auf der Tanzfläche geküsst und sie im Dunkel ihres Schlafzimmers vor Verlangen verrückt gemacht hatte. Stattdessen war sein Name grob und gewöhnlich, so wie er: Turner. Genauer noch, Mr. John Turner, der Sekretär des wahren Earls von Ashby. Während sie bei ihrer Schwester zu Besuch gewesen waren, hatten Mr. Turner und der Earl zum Jux die Rollen getauscht.

Und zum Jux beinah Leticias Leben ruiniert.

»Zum Glück kam seine Lüge zur rechten Zeit heraus«, erzählte Leticia und schüttelte ihren anwachsenden Zorn ab. »Es war aber sehr peinlich.«

»Hat Ihnen das Herz gebrochen, wie?«, hatte Sir Barty rau dazu gesagt.

»Ich weiß nicht –« Doch sie stockte, denn so sehr sie es auch hasste, es zuzugeben – zuzugeben, dass irgendjemand solche Wirkung auf sie gehabt hatte – war es doch das eine, was sie nie sehr gut zu verbergen schaffte. »Ja, das hat er. Doch das liegt zum Glück in der Vergangenheit.«

»Zum Glück«, sagte Sir Barty dazu. Dann ließ er mit einer Kühnheit, die sie sich nicht von ihm vorgestellt hätte, seine Hand auf ihre fallen, wo diese lag. »Meine Liebe, ich hoffe, dass Sie wissen, dass ich Sie nie so belügen würde. Ich würde mich viel lieber um Sie kümmern.«

Und sie strahlte vor Triumph.

Spaziergänge durch den Louvre führten zu Schokolade, die sie in kleinen Cafés an der rue tranken. Dann zu Mahlzeiten, die sie zusammen in Sir Bartys Hotel aßen, bevor sie ins Theater gingen. Alles unter den Augen von Dienern und mit dem höchsten Anstand. Sir Barty reiste ohne Freunde, und Leticia hatte keine, also hätten sie leicht achtlos handeln können. Doch die Tatsache, dass Sir Barty mit seinen Aufmerksamkeiten so umsichtig und Leticia bei ihren so beherrscht war, hatten zu dem Moment im Louvre geführt, in dem Sir Barty ihre Hand in seine genommen hatte und mit seinem Antrag herausgeplatzt war.

Es war ein strategischer Triumph, und den hätte sie nicht besser ausspielen können, fand Leticia.

»Natürlich werde ich dich Barty nennen«, gab sie zurück. »Wenn du es wünschst. Und du musst mich Leticia nennen.«

»Aber ich nenne dich doch schon Leticia.« Seine Mundwinkel senkten sich.

»Na, dann überlegen wir uns einen anderen Kosenamen.« Sie tätschelte ihm lieb die Hand.

»Du wurdest noch nie Letty genannt, nehme ich an?«, sagte er.

Ein reumütiger Schmerz durchzog sie. Sie musste jedoch angeschlagen ausgesehen haben, denn Sir Barty drückte ihr sofort die Hand. »Nein, selbstverständlich nicht. Niemand so Feines wie du wäre jemals Letty genannt worden.«

Leticia zwang sich, sich zu beruhigen, zu lächeln. »Mir gefällt es, wie du ›meine Liebe‹ sagst, Sir Barty«, bot sie mit sanfter Stimme an.

Da leuchteten Sir Bartys Augen auf. »Dann also ›meine Liebe‹.« Er drückte ihr die Hand, diesmal zärtlicher. »Nun, meine Liebe, ich meine, dass ich gerade genug von der Reise auf dem Kontinent hatte, dass es für eine Lebenszeit reicht. Würdest du gerne nach Hause fahren?«

Er meinte nicht zurück ins Hotel, oder in ihre Unterkunft. Nein, er meinte nach Hause.

Nach England.

Endlich.

Ja, Leticia Herzog, Gräfin Churzy, geborene Price, und bald Lady Babcock, würde zurückkehren, wo sie hingehörte.

Triumphal.

»Ja, Barty«, gurrte sie. »Fahren wir nach Hause.«

3

Lincolnshire war nicht so, wie Leticia es erwartet hatte.

Nicht, dass es irgendwie anders gewesen wäre als all die anderen Male, als sie zuvor in Lincolnshire gewesen war. Sie war sich sicher, dass sie und Konrad hier durchgefahren waren und vielleicht ein, zwei Tage in einer Herberge im Hügelland am Meer – den Lincolnshire Wolds – verbracht hatten, als sie Gerüchte absterben zu lassen hatten. Sie erinnerte sich, dass es malerisch gewesen war, wenn auch etwas karg. Weit offen, doch mit viel zu viel windgebeuteltem Getreide auf den Hügeln und grasendem Vieh.

Dann war sie natürlich auf ihrem Weg nach und von Edinburgh vorbeigekommen, als sie der Lüge entkommen musste.

Jenes Mal hatte sie nicht so viel zu sehen bekommen.

Nein, an Lincolnshire war nur unerwartet, dachte Leticia, dass es ihr Zuhause werden sollte.

Seltsam, denn das Zuhause fühlte sich für gewöhnlich nicht so … fremd an.

»Ich werde mich gewöhnen«, sagte Leticia sich selbst, während die Kutsche über die Hügel rollte.

»Was sagst du, meine Liebe?«, fragte Sir Barty, als er mit einem Schnauben erwachte.

»Nichts – nur dass mir wie gewöhnlich schön warm ist.«

»Oh …« Er ließ sich wieder auf die Kissen sinken. »Sag mir, falls du noch eine Decke brauchst, oder …« Und da schnarchte er wieder.

Sie würde sich an Lincolnshire gewöhnen, entschied sie. Ja, sie würde auch etwas daran zu lieben finden. Wie zum Beispiel … den Himmel. So einen blauen Himmel sah man nur selten in der Stadt!

Und das Marschland, dachte sie, als sie aus den niederen Grafschaften wirklich nach Lincolnshire kamen. Solche Marschen gab es nirgends sonst auf der Welt! Andere Marschen, nicht annähernd so flaches und weites Ackerland, hatten kaum so viel Lob verdient wie die Marschen von Lincolnshire.

Vierzig Minuten später hielten sie an, um die Pferde zu wechseln und einen Happen zu essen, und Leticia lernte die örtliche Küche kennen.

»Na, was hältst du von der Wurst, meine Liebe?«

»Die ist sehr … wurstartig«, meinte Leticia.

»Das ist sie! Lincolnshire ist für seine Würste bekannt. Und die Schweinspastete. Und das Haslet – das ist Schweinshackbraten, weißt du? Das müssen wir dich mal verkosten lassen!«

Sir Barty bestellte zwei Scheiben Haslet, die sofort angerichtet wurden, und als Leticia hineinbiss, verkündete sie zwischen schweren Schlucken und ungelogen: »Das beste Haslet, das ich je gegessen hab.«

Einige Stunden später fuhren sie über die Wolds, die weiten Hügel, bekannt für ihre Schönheit, und Leticia musste zugeben, dass sie recht malerisch waren.

Das schönste Hügelland, das sie je gesehen hatte.

Während Sir Barty wieder schnarchte und Leticia die Vorhänge der Kutsche weggezogen hatte, um etwas frische Luft hereinzulassen, sah sie eine stolze, hohe Windmühle am Eingang eines Marktdorfes, und da musste sie wirklich lächeln.

Fünf Flügel vom hellsten, reinsten Weiß saßen königlich im Kreis auf einem Turm aus rotem Backstein. Der Turm gehörte zu einem langen, niedrigen Gebäude – die eigentliche Mühle, nahm sie an. Zu einer Seite wurde gerade an einem weiteren, kleineren Gebäude gebaut.

Es schien so albern, so etwas erfreulich zu finden – doch es schien auch albern, es überhaupt zu finden. Sie war die Stadt gewohnt – und wenn sie auf dem Land war, dann bei ihrer Schwester, so kurz, wie sie es bewerkstelligen konnte – also begeisterte es sie, etwas so Putziges und Zweckdienliches wie eine Windmühle zu Gesicht zu bekommen.

Es war das Erste, wovon sie sich zu Hause fühlte.

Ja, vielleicht könnte sie sich wirklich an Lincolnshire gewöhnen.

Obwohl ihr an der Windmühle etwas seltsam vorkam.

Die Windmühle und die dazugehörigen Gebäude wiesen sich selbst (mittels eines ordentlich gemalten Schildes, an dem sie vorbeikamen) stolz als am Rande des Dorfes Helmsley gelegen aus – wovon Leticia laut Luft schnappen musste.

»Sir Barty – wir sind in Helmsley!«, rief sie und zwang ihren Verlobten so wiederum aufzuwachen.

Er war darüber aber froh, dachte sie, denn als er blinzelte und aus dem Kutschenfenster sah, da verzog sich sein dicker Schnauzbart zu einem Lächeln.

»Dann sind wir beinah zu Hause, meine Liebe!«, gab er zurück. Helmsley war das nächste Dorf von Sir Bartys Anwesen aus gesehen. »Nächster Halt, Bluestone Manor.«

»Sitz von Generation über Generation der Babcocks?«, fragte Leticia.

»Nicht zu vergessen der derzeitigen Generation. Und der nächsten.« Sir Barty zwinkerte und drückte ihr dann die Hand. »Soll heißen … falls du Kinder möchtest. Ich habe ja meine Margaret, und das Anwesen ist kein Erbgut, also brauche ich keinen Erben, aber … falls Kinder in unserer Zukunft zu erhoffen sind …« Sein Satz endete im Gemurmel, da ihm die Worte ausgingen.

Leticia wusste, dass man eine solche Frage nicht geradeheraus beantwortete. »Bei dem ganzen Gerede von Kindern meine ich, dass du dich auf die Hochzeit freust«, meinte sie keck. »Vielleicht solltest du dem Bischof mit der Bitte um eine Sondererlaubnis schreiben und diese Warterei umgehen.«

Sir Barty lachte und schüttelte den Kopf. »In Helmsley würde man nach meinem Kopf verlangen, wenn ich dem Dorf eine Hochzeit verweigerte. Nein – wir werden warten, wie es sich gehört, bis das Heiratsaufgebot verlesen ist, und eine Hochzeit feiern, wie sie das Dorf noch nie gesehen hat. Also, willst du die Kirche sehen, wo du Lady Barty Babcock werden wirst?«

Sie nickte und ließ ihn auf die Steintürme in der Mitte des Dorfes deuten, die den Pfarrsitz markierten.

Es würde beinah einen Monat dauern, bis das Heiratsaufgebot verlesen war. Drei aufeinanderfolgende Sonntage, an denen die Versammlung gefragt wurde, ob es irgendeinen Einwand gegen die Eheschließung gab, gefolgt von einer Woche, in der man auf die Hochzeit selbst wartete. Dann, und erst dann, würde sie sich in Sicherheit wiegen. Bis dahin musste sie jedoch sicherstellen, dass es keine Einwände geben würde.

Sie richtete den Blick auf Sir Barty, wie er den Arm aus dem Kutschenfenster schob und den Leuten auf der Straße zuwinkte, froh und erleichtert, wieder zu Hause zu sein. Während der Monat verstrich, würde sie sich darauf konzentrieren, Sir Barty glücklich zu machen, indem sie ihm das Leben leichter machte und sich hier ein Leben schuf.

Ein seltsamer Hall füllte ihre Brust, als ob etwas unter ihrer Haut schief lag. Als ob etwas nicht stimmte.

Und sie begriff, was es gewesen war.

Die Windmühle. Sie war nicht in Bewegung. Selbst an einem Tag wie heute, wo eine kräftige, durchgehende Brise den neuen Weizen in Wellen über die Hügel wehte, standen die Flügel still.

Eine Windmühle, deren Flügel sich nicht bewegten, hatte etwas überaus Trauriges an sich, fand sie. Da führte die Mühle ein letztendlich unerfülltes Leben.

***

Während Leticia ganz und gar entschlossen war, dass sie sich an Lincolnshire gewöhnen würde, fing sie an, sich Sorgen darüber zu machen, ob Lincolnshire – oder genauer noch, Helmsley – sich an sie gewöhnen würde.

Der Ärger nahm seinen Anfang – und sein Ende, wie manche gemeint hätten – als sie Margaret Babcock traf.

Weniger als eine Stunde, nachdem sie an der roten Backsteinmühle mit den weißen Flügeln vorbeigefahren waren, fuhr Sir Bartys Kutsche vor Bluestone Manor vor.

Das Anwesen war von respektabler Größe – größer als das ihrer Schwester, Puffington Arms. Und auch graziöser; den Namen hatte es ob des bläulichen Granits, der die Fassade des Hauses bildete. Das Grundstück war reizend; da gab es teilweise mehr Blumen und Bäume, als sie je zuvor gesehen hatte – ein besorgniserregender Anblick.

Was Leticia aber von der Einfahrt aus nicht sehen konnte, war die Dienerschaft.

Kein Gefolge an Hausmädchen. Keine Diener in Tracht oder Stallburschen, die kamen, um die Zügel der Kutsche zu nehmen. Kein einziger Mensch.

»Wo sind denn alle?«, fragte Leticia, als Sir Barty ihr auf die Einfahrt hinaus half. »Dein Haushälter, dein Hausdiener, und so weiter?« Herrje, er hatte doch wohl einen Haushälter, oder? »Und deine Tochter, Margaret?«

Sir Barty schnaubte. »Ich bestehe nie auf Zeremonie, wenn ich nach Hause komme. Allesamt im Halbkreis versammelt und zur Überprüfung bereit? Das scheint mir sinnlos – sollen sich besser um ihr Geschäft kümmern.«

Leticia meinte, dass deren Geschäft darin bestand, nach Sir Barty zu sehen, doch anstatt auf ihrer Ansicht zu bestehen, zuckte sie einfach mit den Achseln und sagte sanft: »Du hast wohl Recht, Liebster, doch ich meinte, dass man mich wohl begrüßen wollen würde – zumindest zum ersten Mal.«

»Ah, nun, diesbezüglich –« Sir Bartys buschige Augenbrauen senkten sich so tief, dass sie beinah seinen Schnauzbart berührten. »Man weiß nicht von deiner Ankunft.«

»Man … weiß nicht davon?«

»Es schien albern zu schreiben. Immerhin kommen wir geradewegs aus Paris – wir hätten wohl jeden Brief überholt, den ich hätte senden können.«

»Ja, aber« – sie blinzelte vor Verwirrung – »heißt das, dass man überhaupt nicht von mir weiß? Man weiß nicht, dass du eine Verlobte mit nach Hause bringst?«

Sir Barty biss sich auf die Unterlippe. »Ich nehme an, nicht. Nun ja – wir werden uns unverzüglich um die Vorstellung kümmern. Hallo?«, rief er und öffnete selbst die Eingangstür des Anwesens. »Wir sind da!«

Die Aufregung, die sie erwartet hatte, als sie herangefahren waren, fand letztendlich statt, als ein grauhaariger Mann aus der Vorratskammer des Hausdieners neben der Eingangstür hervortrat, da er offensichtlich aus dem Schlaf geschreckt worden war. Ihm folgten bald zwei stämmige Hausmädchen, die oben über das Geländer schauten und quietschten: »Herrje! Sir Barty ist zurück! Oh, Sir, verziehen Sie! Schnell, lauf und sag es Mrs. Dillon!«

Kurz danach versammelte sich ein Schwarm Dienstmänner, Hausmädchen und Küchenpersonal in der Eingangshalle, wobei sie einen solchen Radau machten, dass Leticia wusste, dass Sir Barty genau so begrüßt zu werden erwartete (und wünschte).

»Sir, wir haben Sie erst Wochen später erwartet«, schimpfte der alte Hausdiener, und Leticia musste sich auf die Zunge beißen.

»Aber, aber, Jameson, ist denn etwas abgebrannt? Eingestürzt? Eine Minute zu spät geschehen?«

»Nun, ein paar Gardinen müssen unbedingt genäht werden.«

»Jameson …«

Da seufzte der würdevolle alte Mann. »Nein, Sir.«

»Dann sei doch still, Jameson. Denk doch, was für einen Eindruck du auf meine zukünftige Braut machst.« Das Blut entwich Jamesons Gesicht, als sein Blick auf Leticia zuschoss. Leticia gab sich alle Mühe, freundlich zu lächeln, doch das mangelnde Geschick der Ankündigung verschaffte ihr sofort einen Nachteil. Wirklich, wusste Sir Barty denn nicht, dass die ersten paar Augenblicke im Haushalt von immenser Wichtigkeit waren, wenn man seinen Ersteindruck anbringen wollte? Jeder hier hielt sie wohl für eine liederliche Einmischerin – nicht die königliche zukünftige Hausherrin, die sie in ihr erkannt hätten, wenn er einen einfachen Brief verfasst hätte!

Der Schreck der Ankündigung war zu Gekicher und Geflüster geworden. Leticia lehnte sich an Barty heran. »Vielleicht solltest du die Vorstellung angehen, Liebster?«, hauchte sie ihm ins Ohr.

»Ach? Oh! Selbstverständlich!«, sagte er und nahm den Hinweis entgegen, so gut er konnte. »Jameson, Mrs. Dillon« – er deutete mit einem Nicken auf die Frau mit dem nüchternen Blick, deren Kompetenz sie als die Haushälterin auswies. »Ich möchte euch meine liebe Leticia Gräfin Churzy vorstellen, die baldige Lady Babcock.«

Zumindest hatte Sir Barty sie ordentlich vorgestellt. Sie fühlte, wie sie mit jeder Silbe ihres Titels – und ihres zukünftigen Titels – größer wurde.

»Es ist eine große Freude, Sie alle kennenzulernen«, sagte Leticia mit geregeltem Tonfall, zugleich schüchtern und befehlend.

Eine ihrer besonderen Gaben – die Leute allein mit ihrer Stimme zu beruhigen. Es zahlte sich aus, Zurückhaltung geübt zu haben. Wenn man sie aussprach, hörte Zurückhaltung sich nach Grazie an.

»Oh, Gott sei Dank sind Sie Engländerin!«, rief die aufmerksame Mrs. Dillon und trat mit einem wippenden Knicks vor. »Einen Augenblick lang hatte ich Angst, dass Sir Barty eine ausländische Braut herbeigeschafft hat, und wir uns mit französischen Mägden und Köchen und dergleichen herumschlagen müssten.«

Leticia lächelte amüsiert. »Ich habe in Frankreich gelebt, finde aber wenig Nutzen an der Haartracht oder der Küche der Franzosen«, log sie. »Da habe ich doch lieber englische Kost.«

»Sie hat auf dem Weg hierher ihr erstes Haslet probiert!«, sagte Sir Barty und drückte ihr die Schulter. »Fand es großartig, nicht wahr, meine Liebe?«

Da konnte Leticia nur an ihren Zähnen vorbeilächeln.

»Dann werde ich der Köchin sagen, sie soll es diese Woche einplanen«, sagte Mrs. Dillon dazu. »Oh, aber – da nehme ich an, dass Sie sich den Speiseplan ansehen wollen, Mylady? Verzeihung, es ist nur lange her, dass wir –«

»Ich würde mir liebend gern mit Ihnen den Speiseplan ansehen, Mrs. Dillon, will aber niemandem auf die Zehen treten. Immerhin sind wir noch nicht verheiratet«, sagte sie sachte.

»Das wird sich in einem Monat ändern«, sagte Sir Barty stolz.

»Ich glaube, dass ich zur Zeit nichts lieber täte, als mich umzuziehen und Margaret kennenzulernen. Ist sie im Schulzimmer?«

Jedermann blinzelte und einige Blicke fielen auf Sir Barty. Seltsam, doch niemand sagte ein Wort.

»Äh, nein, nicht im Schulzimmer, Mylady«, entgegnete Mrs. Dillon mit einem verwirrten Blick zu Sir Barty. »Sie ist draußen, glaube ich.«

»Ah ja«, lächelte Leticia im Versuch, sie alle zu beruhigen. »Sie Barty meinte, dass sie wohl in der Erde wühlen würde, nicht wahr, Liebster?«

»Sie wird vor dem Abendessen noch hereinkommen«, sagte Sir Barty, warf einen Arm um Leticias Schulter und drückte grob zu. »Nun, Jameson – wollen wir in die Bibliothek gehen? Ich muss meinen Fuß hochlegen und meinem Verwalter einen Brief schreiben, dass ich angekommen bin. Und auch rechtzeitig zur Ernte!«

Als Sir Barty mit Jameson im Gefolge den Flur hinuntertrottete, wandte Leticia sich Mrs. Dillon zu.

»Mylady, ich würde Ihnen gerne Ihre Räume zeigen, aber –«

»Doch es wurden keine Räume für mich bereitet, da Sie nicht von meiner Existenz in Kenntnis gesetzt wurden«, beendete sie der nervösen Haushälterin den Satz. »Das ist schon in Ordnung. Ich begnüge mich gerne damit, mir erst einmal das Haus anzusehen.«

»Ich werde gleich Tee und eine kalte Mahlzeit ins Sitzzimmer bringen lassen«, sagte Mrs. Dillon dazu.

»Tun Sie das, machen Sie sich aber keine Eile. Ich warte gerne.«

Mrs. Dillon schaute die Hausmädchen an, die hinter ihr in einer Reihe standen, und es juckte sie, Befehle zu erteilen.

»Darf ich zu einem Spaziergang im Garten raten? Der würde Ihnen nach der langen Kutschfahrt guttun.«

»Oh, aber ich –«

»Wir werden uns in einigen Minuten viel vorteilhafter präsentieren können«, sagte Mrs. Dillon leise, und die Hausmädchen, die sie hören konnten, nickten im Einklang mit.

Leticia wusste, dass es zum guten Ton gehörte, sich Mrs. Dillons Bitte zu fügen, und frühe Zugeständnisse würden für ihre zukünftige Beziehung Wunder wirken.

Doch vor dem Garten ängstigte sie sich.

»Nur ein paar Minuten, Mrs. Dillon«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Dann können Sie und ich uns schön lange über den Speiseplan unterhalten, und die Gardinen, die genäht werden müssen, und alles Weitere.«

»Jawohl, Mylady«, sagte Mrs. Dillon zum Schluss und begab sich nach einem Knicks im Laufschritt in die Küche.

Wonach es Leticia freistand, draußen herumzuspazieren.

Bluestone Manor war ein wunderbares Stück Land. Es war gut gelegen; die Eichen, die am Rande der Einfahrt wuchsen, waren hochgewachsen und im Alter kräftig geworden, was auf die Tatsache verwies, dass die Babcocks schon eine recht lange Zeit in der Grafschaft gewesen waren. Das Haus selbst war ein Würfel, drei Stockwerke hoch mit etwas eingebuchtetem Eingang, was einen anzog. Während sie um das Gebäude herumging, entdeckte sie, dass nur die Vorderseite des Hauses mit dem blauen Granit verkleidet war, die ihm seinen Namen gab. Der Rest des Gebäudes bestand aus Ziegelsteinen, die in warmem Gelb stuckiert waren. Als sie um die Seite ging, fand sie eine Terrasse und gläserne Türen, die in einen Salon führten, den Mrs. Dillon gerade wie verrückt herrichtete und dabei ein Teeservice in die exakt richtige Position stellte. Gut. Sie hatte der Frau den richtigen Eindruck gegeben – ihr gezeigt, dass sie bereit war nachzugeben, aber auch streng und es wert war, beeindruckt zu werden.

Sie würde ihr noch einige Augenblicke gönnen. Sie alles vervollkommnen lassen.

Es sollte sich besser auszahlen, denn sie fühlte bereits den Stich, der in ihrer Nase begann, und wie ihre Ohren dicht wurden. Einer der vielen Gründe, warum Leticia die Stadt vorzog, waren die Blumen, die sie zum Niesen brachten.

Und der östliche Garten war voll davon.

Es wäre ja nicht schlimm gewesen, wenn es feines, damenhaftes Niesen gewesen wäre, doch ob ihrer Empfindlichkeit gegenüber Blumen musste sie oft grob und wütend niesen, was für gewöhnlich mit einer rot geschwollenen Nase und Augen einherging, die sich so röteten, dass es ihr schwerfiel, zu sehen.

Vielleicht wäre der Westgarten besser, dachte sie und erhoffte sich blütenfreies Gebüsch, da sie sich schnell auf die andere Seite des Hauses begab.

Sie fragte sich, wo Margaret sich versteckt hielt. Ehrlich gesagt war sie gespannt darauf, ihr vorgestellt zu werden – es hätte das arme Mädchen erschrecken können, sie beim Abendessen anzutreffen. (Und wenn Leticia sich Gedanken darüber gemacht hätte, dass ein kleines Mädchen mit den Erwachsenen zu Tische saß, hörten die sofort auf – wenn nur Sir Barty und Margaret hier wohnten, mussten sie es selbstverständlich gewohnt sein, en famille zu dinieren. Das ließ viel über Sir Bartys Zuneigung zu seiner Tochter und seinen Enthusiasmus vermuten, Leticia in die Familie aufzunehmen.)

Sie sah sich um, doch es gab nirgendwo ein Zeichen von einem jungen Mädchen. Anzeichen eines geschickten Gärtners gab es aber sehr wohl. Die Hecken waren zu perfekten Kegel- und Rundformen geschnitten und allesamt mit Veilchen umrahmt. Der Obstgarten, den sie in der Ferne erblickte, schien ordentlich Frucht zu tragen. Es musste eine ganze Truppe erfahrener Männer geben, die sich um die vielen Pflanzenarten und Blumen kümmerte, die sie allein in dieser Ecke des Grundstücks sah.

Es schien ein Aufwand zu sein, den Sir Barty zu bezahlen bereit war, und darüber war Leticia froh.

Oh, nicht über den Garten selbst (ihre Augen wurden wässrig, wenn sie nur hinsah), sondern dass er das Geld überhaupt ausgeben wollte – zweifelsohne, um seiner Tochter eine Freude zu machen, die gerne darin spielte. Da wuchs ihre Hoffnung, dass er auch die Kosten anderer Freuden nicht scheute.

Plötzlich erspähte Leticia ein Gewächshaus, das hinter den Bäumen verborgen stand, etwa dreißig Schritt von der Seite von Bluestone Manor abgelegen.

Wo konnte ein kleines Mädchen sich besser verstecken? Sie ging über einen lieblich kurvigen Pfad, neben dem Rosenbüsche wuchsen (wobei sie versuchte, im Vorbeigehen nicht einzuatmen), auf die Gewächshaustür zu.

»Hallo?«, rief sie und steckte den Kopf hinein. Da begrüßte sie eine ganz andere Welt.

»Meine Güte …« Etwas anderes konnte man wirklich nicht sagen. In dem Gewächshaus war es warm – das war anzunehmen. Die Luft aber war ganz feucht, nebelig sogar, wie nach einem warmen Sommerregen. Lange Kletterpflanzen schlängelten sich bis zur Decke hoch und reichten nach mehr und mehr Sonnenschein, die gierigen Dinger. Ein Schrank war voller Fläschchen mit Tinkturen in verschiedenen Bernstein- und Brauntönen. Eine unverständliche Reihe Zahlen und Buchstaben standen in Wachsstift auf die Fläschchen geschrieben.

Es gab reihenweise exakt aufgestellter Töpfe mit Erde darin, die ebenfalls Zahlen und Buchstaben trugen. Manche hatten grüne Triebe darin, andere nicht.

Nun, selbstverständlich gab es in manchen keine Triebe – die kargen Töpfe standen alle in der Reihe hinten, vom Licht entfernt.

»Zum Wachsen braucht es Licht«, summte sie für sich selbst, als sie eine der hinteren Pflanzen anhob und nach vorne stellte. Selbst sie, die sich vor allen Pflanzen scheute, wusste das.

»Was zum Teufel tun Sie da?«

Leticia wirbelte so schnell herum, dass sie beinah den Topf fallen ließ, den sie hielt.

Dort, an der Gewächshaustür, stand eine Amazone. Das blonde Haar entkam unordentlich ihrem Zopf, der ihr über den Rücken fiel; der Filzhut, den sie trug, neigte sich mit zurückgebogener Krempe auf eine Seite. Sie trug ein weites Kleid an ihrer spindeldürren Gestalt – Leticia konnte sie als spindeldürr erkennen, denn ihr Rock war zwischen ihren Beinen zusammengeschnürt, wodurch ihre Glieder bis zum Knie zum Vorschein kamen. Und alles, von der Hutspitze bis zu den Spitzen ihrer Stiefel, war voller Erde.

Leticia wusste nicht, was erschreckender war – die Kleidung der Frau oder der schlichtweg mörderische Blick auf ihrem Gesicht.

»Ich sagte: Was zum Teufel tun Sie da?«, wiederholte die Frau, wobei ihr Blick auf den Topf in Leticias Hand fiel. »Haben Sie den verschoben?«

»Ich … Er wollte Licht.«

»Das ist die Kontrollgruppe! Die soll kein Licht bekommen!« Sie stapfte vor und riss Leticia den Topf aus den Händen. Gute Güte, die Frau war größer als manche Männer. »Sie Schwachkopf«, murmelte sie leise.

»Was haben Sie gesagt?«, erboste Leticia sich.

»Ich sagte: ›Sie Schwachkopf‹«, wiederholte die Frau kaltschnäuzig und deutlich, während sie den Topf sorgfältig an seinen alten Platz zurückstellte.

Leticia kniff die Augen zusammen. Sie hob den Kopf und zwang ihre Schultern nach unten. Sie mochte nicht so groß sein wie diese Person, doch sie vermochte ihre Gegenwart sehr wohl bemerkbar zu machen. »Ich weiß nicht, was Ihre Stelle in diesem Haus ist, doch die wurde gerade ernsthaft untergraben«, sagte sie mit ihrer gelassensten, ruhigsten Gräfinnenstimme.

»Meine Stelle?« Die Frau hob den Kopf an, da sie Leticia ansah. Zum ersten Mal konnte Leticia sehen, dass sie jünger war, als sie zuerst angenommen hatte, und hellblaue Augen hatte, deren Blick sich in ihre Gegenspielerin bohrte. »Meine Stelle ist Tochter des Hauses. Und ich wäre dankbar, wenn Sie aus meinem Gewächshaus verschwinden!«

Leticia fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Tochter?«, fragte sie nach, wobei ihre Gräfinnenstimme versagte. »Sie sind Margaret Babcock?«

Kein kleines Mädchen. Nicht annähernd. Nein, Margaret Babcock war voll ausgewachsen, und allem Anschein nach völlig dem Wahn verfallen.

»Ja«, grummelte Margaret und nahm ein kleines Notizbuch samt Bleistift aus ihrer Tasche. »Und Sie sind immer noch in meinem Gewächshaus.«

»Ich … ich glaube, dass wir unseren Ersteindruck verhunzt haben. Ich heiße Leticia – Lady Churzy, und ich –«

»Ist mir egal«, unterbrach Margaret sie, da sie damit begann, die grünen Keime in der Topfreihe mit einem Stab abzumessen und ihre Beobachtungen aufzuschreiben. »Dies ist jetzt das dritte Mal, dass ich Sie bitte zu gehen. Beim vierten Mal werde ich einen Dienstboten rufen.«

Ach, so sollte es also laufen? Da war kein Platz für Entschuldigungen, keine Höflichkeit. Nichts, was damenhaften Manieren auch nur ähnelte. Nun, Leticia war soeben mit kaltem Wasser begossen worden – es blieb ihr wohl nichts übrig, als welches zurückzugießen.

»Ich werde Sie sein lassen«, sagte sie und ging zur Tür. Margaret brummte kaum, als sie an ihr vorbeikam. »Egal sollte es Ihnen aber nicht sein – denn ich heiße Lady Churzy und werde bald Ihre Stiefmutter.«

Sie hielt nicht inne, um zu sehen, ob es eine Reaktion gab. Sie öffnete nur die Tür und schwang sich hinaus, denn sie wusste genau, dass sie sich verständlich gemacht hatte. »Ich sehe Sie beim Abendessen.«