Leseprobe Die Leichenzeichnerin

13.07.1919

Wenige Striche können zwischen Leben und Tod entscheiden. Die Zeichnung war der Beweis dafür. Eine Linie an der Unterlippe zu viel, und aus der Leiche wurde eine Schlafende. Setzte sie eine Schraffur ungeschickt auf die Wangenknochen, verwandelte sich die freche Schamesröte in abstoßendes nekrotisches Gewebe. Nachdenklich hielt sie das Papier in den Lichtkegel der Laterne, verglich die Zeichnung mit dem Motiv und lächelte. Eine wunderschöne Träumende hatte sie eingefangen. Erfüllt von einem paradiesischen Frieden, der mit keinem ihrer vorherigen Werke zu vergleichen war. Füße und Hände des Modells deuteten eine übernatürliche Ekstase an, wie in einem göttlichen Fiebertraum, doch schon im nächsten Moment würde der aufmerksame Betrachter die schlaff hängenden Arme, die fehlende Spannung im restlichen Körper bemerken und sich wundern. War es die Stunde des Todes, die eine Schlafende heimsuchte, oder war es gar eine Verstorbene, der man fälschlicherweise Lebendigkeit andichtete?

Nur sie allein wusste, dass Linda Ehrenberg nicht mehr unter ihnen weilte. Früh am Abend hatte man den Leichnam der Bäckerstochter in diesen Keller gebracht, bei unter sechs Grad Raumtemperatur untersucht und festgestellt, dass die Revolten im März auch Wochen später noch Opfer forderten. Ein Granatsplitter war durch das Fleisch gewandert, hatte sich entzündet und das Herz angegriffen. Plötzlicher Exitus. Die Ärzte hätten es beim besten Willen nicht sehen können und über Schmerzen hatte Linda ebenso wenig geklagt, wie über ihr amputiertes Bein.

Eine starke Person.

Vielleicht sollte sie das in der Zeichnung betonen?

Sie drehte am Hahn der Laterne und zügelte die Flamme, an die sich ihre Augen mittlerweile gewöhnt hatten. Dann holte sie die grobe Kohle aus dem Etui und setzte zufällige Punkte auf das Leichentuch im Bild. War es Blut oder waren es Schatten? Der Zufall würde entscheiden. Es galt nicht, die Realität abzubilden, sondern die Realität zu überlisten. Denjenigen in die Irre zu führen, der das Blatt später in den Händen hielt. Indem sie den Zufall herrschen ließ, schälte sich Lindas Silhouette mehr und mehr aus dem zarten Stoff heraus. Sie wurde zur Maria im Gewande. Schlafend, träumend. Tot.

Nur zwei Dinge bereiteten ihr Kopfzerbrechen. Der Tau auf den Lippen war zu schön und der Reflex in den Haaren zu kräftig. Die nebulöse Andeutung von ewigem Schlummer wurde dadurch gebrochen. Energisch wischte sie mit der Kuppe ihres Ringfingers über die aufgetragene Kohle und verrieb den Staub, bis Strukturen auf Lippen und Haar zu erkennen waren, die sich überlagerten. Ein grober Fehler, wie sie schnell bemerkte. Die sanfte Konturlinie von Lindas Körper entwickelte nun hier und da schattige Täler, die viel von der mysteriösen Wirkung nahm. Von da an muteten die Haare stumpf an, das Inkarnat der Haut dreckig.

„Scheiße!“

Retten konnte sie diese Ausschnitte nicht mehr, oder doch? Genervt kaute sie auf der Unterlippe herum, bis sie einen unliebsamen Entschluss fasste. Das Bild war beendet. Sie würde es durch weitere Anpassungen nur ruinieren. Wieso musste sie die Wechsel der Zeichentechnik auch ständig auf die Schnelle erledigen? Sie hätte ahnen können, dass dies einer gewissen Überlegung bedurfte. Aber je öfter sie den Fehler wiederholte, desto besser wusste sie um die passenden Gegenmaßnahmen. Gleich in der nächsten Sekunde überzeugte sie sich vom Gegenteil. Es war noch nicht alles verloren. Sie konnte es retten. Wenn sie mit einem gezielten Strich den Tau auf den Lippen gegen das Verbrauchte, das Verlebte der Vergänglichkeit austauschte, dann reichte vielleicht ein minimaler Eingriff und Lindas Schwebezustand würde wiederkehren.

Sie gönnte sich einen Moment, diese Entscheidung zu überdenken. Die allgegenwärtige Kälte des Leichenkellers durchdrang mittlerweile ihre angespannten Finger, die bei den kleinsten Bewegungen knackten, und die Feuchtigkeit ihres Atems blieb wie ein Film unter ihrer Nase hängen.

Wieso tat sie sich das regelmäßig an? Sie würde sich wieder erkälten und dann … Sie schaute vom Blatt auf und rieb sich die Hände. Der Keller war beklemmend winzig. Die Anzahl an Alkoven für verstorbene Patienten überschaubar, was gut war. Aus der Sicht eines Eindringlings zumindest. Weniger Platz bedeutete auch, dass dieser Keller weniger frequentiert wurde.

Es ging mittlerweile auf Mitternacht zu, schätzte sie und hauchte warme Luft auf ihre Fingerspitzen. Um diese Zeit kam nur dann Personal herunter, wenn es einen Neuzugang gab. Das würde ihr hoffentlich erspart bleiben.

Nur noch zehn Minuten, mehr brauchte sie nicht.

Wer würde da schon auftauchen?

Trotzdem horchte sie nervös in die Stille. Zu wenig Zeit, um es zu Ende zu bringen, befand sie auf einmal und legte das Papier zur Seite. Es musste schneller gehen. Was genau fehlte ihr? Wo lag der Zauber verborgen? Ruhelos steckte sie den Stift zurück in das Etui und erhob sich vom Hocker. Ihre Beine waren eingeschlafen und sackten ihr unter zaghaften Schritten weg, weswegen sie sich am Tisch festklammerte und Linda aus einem anderen Winkel betrachtete.

Sie entschied, dass nun der Moment gekommen war, an dem sie ihre Prinzipien über den Haufen warf. Nicht, dass das Zeichnen einer Leiche ohnehin jenseits aller gesellschaftlichen Regeln stand. Das betete ihr die Stimme ihres Gewissens unablässig vor. Wie aber konnte sie den Gegenstand ihrer Zeichnung wahrhaftig begreifen, wenn sie sich nur auf ihre Augen verließ? Genau! Das war es doch! Wenn es nach ihr ging, war und würde das akademische Diktum des stumpfen Abzeichnens niemals die Lösung für eine junge, eine neuartige Kunst darstellen.

Überwältigt von ihrer aufkeimenden Idee hielt sie inne.

Sie würde Linda berühren. Zum Teufel mit ihrem Hadern! Sie wollte endlich verstehen, was noch geändert werden musste. Also streckte sie ihre Hand aus und führte sie vorsichtig an Lindas Gesicht.

„Sag doch, Linda, wohin soll die letzte Linie?“

Aufgeregt legte sie ihre Finger auf die leblosen Lippen und fuhr sie wie ein wertvolles Schmuckstück ab. Erst die Lippenränder, dann das blauschwarz angelaufene Fleisch. Die Haut fühlte sich spröde an, so wie sie es mit der Zeichnung hatte einfangen wollen, doch unter den Schollen aus toter Haut waren die Muskeln überdies fest und üppig. Fast so, als schürzte Linda sie zu einem Kuss.

Da verstand sie.

Linda hatte ein Wort auf den Lippen.

Es war in Wirklichkeit nicht die fehlende Linie, sondern der fehlende Titel des Bildes, der alles aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Der Schauer über diese Erkenntnis war so groß, dass sie fast überhörte, wie sich hinter ihr etwas regte. Doch im nächsten Moment war das Geräusch nicht mehr zu ignorieren. Das rostige Schloss der Tür oben am Treppenaufgang wurde aufgeschlossen.

Erschrocken zuckte ihre Hand zurück und tausend Gedanken liefen vor ihren Augen als Daumenkino ab.

Linda musste sofort zugedeckt und zurück in die Nische geschoben werden. Dann musste sie ihr Zeichenzeug schnappen, der Hocker musste aus dem Weg, die Laterne …

Jetzt waren eindeutig Schritte auf den Treppenstufen zu hören. Das alte Eichenholz gab charakteristische Töne von sich. Sie verrieten ihr, dass es zu spät für Vertuschungsversuche war.

In Windeseile tat sie das Nächstbeste und warf der Verstorbenen das Tuch über, steckte Zeichnung und Stifte unter ihren Mantel, löschte die Laterne und hastete rüber an eine Stelle des Kellers, wo noch aus Gründerzeiten ein schlecht verbauter Abwassertunnel lag. Dort drückte sie sich hinter ein aufgebogenes Gitter und verhielt sich mucksmäuschenstill. Weiter kam sie von hier aus nicht, der restliche Tunnel war zugeschüttet worden.

Kein Versteck, das einem neugierigen Blick standhalten würde. Sie rechnete also mit dem Schlimmsten.

Eine Sekunde später hörte sie das quengelnde Geräusch der zweiten Tür, ein Schalter wurde umgelegt und es wurde schlagartig hell.

Das kalte, kreischende Licht der Glühbirne brach sich an den blank geputzten Fliesen der Kellerwände. Es blendete so sehr, dass sie nicht erkennen konnte, wer dort in der Tür stand. Einen Herzschlag lang sah es so aus, als würde ein Mann in einem weißen Kittel die Hand über die Augen legen und in ihre Richtung schauen. Er musste erkannt haben, dass Linda bewegt worden war, befürchtete sie. Das Klicken von abgehackten Schritten drang zu ihr herüber. Er kam nicht näher, pendelte eher zwischen zwei nah zusammenliegenden Punkten hin und her.

Ihr Herz schwemmte schneller Blut durch ihre Venen, als die Lunge Sauerstoff aufsaugen konnte.

Dann schaltete der Mann das Licht plötzlich aus und schloss die Tür. Aber, war er hiergeblieben? War er wieder nach oben gegangen? Sie hatte seine Schritte hinauf nicht gehört. Zu laut kam ihr der eigene Atem vor, den sie mühsam zügelte.

Eine gefühlte Stunde verging, bis sie sich aus der Deckung traute und blind den Weg zur Tür ertastete. Erleichtert stellte sie fest, dass sich ihr Herz beruhigt hatte und die Furcht, der Mann könnte sich noch im Keller aufhalten, verflogen war. Über einen Schleichweg stahl sie sich hinaus und öffnete die verschlossene Hintertür mit einem improvisierten Schlüssel. Ein einfacher Haken aus Bügeldraht, dem etliche Versuche vorausgegangen waren, die richtige Form zu finden. An der frischen Luft angekommen spürte sie, dass ihre Kleider klatschnass waren vor Schweiß. Sie fror und ihre Gedanken kamen nach dem Schreck nur träge voran. Durch die Büsche im Hinterhof und vorbei an einem angrenzenden Wäschelager fand sie zurück auf die Straße.

In der nächtlichen Einsamkeit der Häuserzeilen klammerte sie sich an ihre Zeichnung. Nirgendwo fand sie eine vielversprechende Ecke oder eine Bank unter einer eingeschalteten Laterne, die ihr einen ruhigen Moment beschert hätten. Sie wollte unbedingt über den Titel nachdenken, sich ablenken von dem Schrecken, der ihr in den Gliedern saß.

Sie horchte in sich hinein, während sie in Richtung ihrer Wohnung lief.

Zu ihrem eigenen Erstaunen war die Energie der Berührung verpufft. Das Gespräch mit Linda war unterbrochen worden, und so kamen ihr auch alle Worte für einen Titel abgebrochen und unfertig vor. Sie beschloss, dass das Blatt vorläufig Die Niederlage heißen würde. So lange, bis sie einen besseren Titel fand.

14.07.1919

Eingeklemmt zwischen einem müde glimmenden Ofen, einem Stuhl und dem sperrigen Küchentisch starrte Minna Dahl aus dem Fenster ihres Berliner Dachzimmers rüber zum Gelände der Brauerei Bützow. Am Himmel hinter den weißen Rauchfahnen war auch heute keine Spur vom Juli zu erkennen.

„Welch eine Schande …“

Enttäuscht wischte sie mit den Fingern den Staub von den Fensterscheiben.

Sie vermisste den Sommer zum ersten Mal in ihrem Leben. Schwer zu sagen, wieso. Denn eigentlich hasste sie es, zu schwitzen, sich vor Gewittern zu fürchten und in ihrer engen Wohnung einen Platz zu suchen, an dem sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Doch mittlerweile erinnerte sie sich nur schlecht an das Gefühl von Sonne auf ihrer Haut und hätte jederzeit vierzig Grad und Angstzustände ertragen, nur um Berlin im Licht zu sehen.

Was machte sie sich vor? Sie würde so oder so nicht viel von der Stadt mitbekommen. Entweder räumte sie sich selbst in der Bude hinterher oder schob zusätzliche Schichten in der Klinik. Was der ausstehenden Miete der letzten zwei Monate sicherlich guttun würde.

Sie legte Stellenanzeigen und Bleistift, die unangerührt auf ihrem Schoß lagen, zurück in die Kommode und löschte die Glut im Ofen. Es lohnte nicht, ihn heute noch einmal anzufachen, sollte sie wieder in der Klinik essen. Doch beim Gedanken an die Verpflegung fing ihr Magen an zu rebellieren. Sicherlich gab es wieder Steckrüben, dazu Brotrand oder Kartoffelsuppe. Aufgekocht mit Brühe vom Vortag. Spartanischer war da nur noch der Bodensatz, dessen Aroma von Gericht zu Gericht gleich blieb. Zumindest konnte Minna ein wenig Geld dadurch sparen, dass sie nicht einkaufen und kochen musste. Nicht viel Geld, aber immerhin. Unter Umständen war auch eine zusätzliche Schicht frei, dann lohnte sich das Dableiben umso mehr.

Mit einem aufmunternden Lied auf den Lippen stand sie vom Stuhl auf, ging rüber ins Schlafzimmer und lupfte einen Schal aus einem Haufen Kleidung. Es war das lebendige Chaos auf sechs Quadratmetern – und sie liebte es innig. Alles hier gehörte ihr. Nicht wie bei den anderen Mädchen, die sich solche Zimmer wegen der üblen Nachrede zu mehreren teilten. Ein Refugium, ein Sanktum, eine übertrieben schöne Bruchbude eben. Das Maß an Selbstbestimmung, das in diesen vier Wänden herrschte, mochte auch der Grund sein, weswegen sie wieder zu spät dran war.

Minna holte ihre Stiefel aus der Ecke, polierte mit einem Tuch darüber, bis sie wieder glänzten. Dann zog sie ihr graues Kleid an und eine weiße Schürze darüber, in die an einer unauffälligen Stelle die Namen Hof und Sallinger eingestickt waren. Mit zwei schnellen Handgriffen richtete sie ihr Haar und schnappte sich die Umhängetasche vom Kleiderhaken. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, lief sie noch einmal zurück in die Wohnung, kontrollierte den Ofen und flitzte schließlich ins Treppenhaus.

Dort wehte ihr eine Wolke aus Essig entgegen, dass sie die Nase kräuselte. Der Essig sollte die Ratten davon abhalten, aus ihren Löchern zu kriechen, doch die Köttel auf den Treppenstufen verrieten die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens. Als einer der neu eingezogenen Nachbarn die Haupteingangstür für sie offenhielt, huschte Minna hindurch und murmelte im Vorbeigehen ein Dankeschön. Wahrscheinlich hätte sie sich ihm höflich vorstellen sollen, wie man das so unter Nachbarn tat. Aber die Gesichter in den Wohnungen unter ihr wechselten mit einer solchen Frequenz, dass sie es für unsinnig hielt, sich die Namen einzuprägen. So abenteuerlich sich das auch anhörte, dass dort die unterschiedlichsten Männer und Frauen zusammenkamen, so wenig hielt Minna davon, sich in Schwierigkeiten zu stürzen, die diese Leute mit sich bringen konnten. Ihre eigenen Freunde, wenn diese sie nach der Zeit im Krankenhaus denn noch wiedererkannten, waren ihr genug Aufregung. Da gab es Streit, Liebeleien, durchzechte Abende und sonstige Ausfälle, die die Nächte so mit sich brachten und von denen sie gerne Auszeiten nahm. In diesen Zeiten wusste niemand, ob er morgen noch Arbeit hatte oder Berlin ihn verschlucken würde. Sie hatte Arbeit und sie war stolz darauf, ihr Leben allein im Griff zu haben.

Sie sprang auf eine Bahn auf, die gerade von der Haltestelle Greifswalder Straße abfuhr, und fand nah beim Schaffner einen Platz. Er grüßte, sie lächelte und zeigte pflichtbewusst ihr Billett. Wahrscheinlich sah er auch, dass es abgelaufen war und Minna längst wieder ein neues hätte kaufen müssen, aber er ignorierte es wohlwollend.

Nah der Danziger Straße lenkte der seit Wochen unveränderte Anblick des Gehwegs die Fahrgäste allesamt von ihren Zeitungen ab. Obdachlose und Tagelöhner harrten auf der Länge der Straße aus, um einen Platz im Schlafsaal zu ergattern. Dutzende, wenn nicht Hunderte, standen vor dem größten Asylheim der Gegend an. So ist das nun mal, dachte Minna zynisch, wenn man einen Krieg verliert.

An der Friedensstraße wechselte sie in eine kleinere Bahn, fuhr weiter in Richtung Friedrichshain und stieg dort am Park aus. Es war gespenstisch ruhig um das Städtische Krankenhaus. Bettler kreuzten ihre Wege, flehten sich gegenseitig an. Eine Mutter saß mit ihrem kranken Kind im Wagen neben dem Zeitungsstand und hielt ein Pappschild mit unleserlicher Schrift darauf hoch. Der Standverkäufer hatte einen Wassereimer griffbereit, aber er hielt es anscheinend mit der Alten aus. Zumindest durfte Minna ihr ein paar Pfennige in den ausgefransten Hut werfen, ohne dass er murrte.

„Gott sei mit dir, Kind.“

Minna wusste nicht, was eine angemessene Erwiderung gewesen wäre, und nickte ihr stattdessen zu. Dann ging sie mit großen Schritten in Richtung der gusseisernen Tore des Städtischen, bog vor dem Klinkerbau in eine schmale Seitenstraße ein und erreichte die Klinik mit dem unübersehbar angeschlagenen Namen Hof & Sallinger.

Von den beiden Namensgebern hatte lediglich Doktor Sallinger die turbulenten Kriegsjahre überstanden. Friedrich Salomon Hof war dem europäischen Albtraum nicht gewachsen gewesen und hatte einen, für ihn einfacheren, Ausweg aus den Abgründen der menschlichen Seele gewählt. Mit einer Überdosis des Schlafmittels Veronal und einem teuer importierten Brandy.

Minna hatte gerade erst angefangen, in der Klinik zu arbeiten, als es passiert war. Hof und Sallinger hatten nach der Rückkehr der Soldaten unterschiedliche Ansichten bezüglich Aufnahmekapazitäten und Behandlungsansätzen gehabt, dennoch war die Klinik schnell dafür bekannt geworden, schwierige Fälle aufzunehmen. Wahrscheinlich, stellte Minna nicht wenig selbstironisch fest, war sie aus genau diesem Grund selbst dort gelandet. Seit sie von Dresden nach Berlin gezogen war, entwickelte sich auch ihr Leben zu einem hoffnungslosen Fall.

„Mann! Vorsicht!“

Die Tür vor ihr war urplötzlich aufgeflogen und Minna konnte der Person dahinter nicht mehr ausweichen.

„He! Hast du keine Augen im Kopf?“

„Doro?“ Minna nahm die Arme, die sie schützend vor sich geworfen hatte, samt ihrer Tasche herunter und fauchte sie wütend an: „Was fällt dir ein, die Tür so aufzutreten? Denkst du eigentlich nie an deine Mitmenschen?“

„Ach … das ist ja passend!“, säuselte Dorothea und überhörte Minnas Anschuldigung. Ein triumphales Grinsen machte sich im Gesicht ihrer Kollegin breit und Minna ahnte, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Dorothea spielte nämlich gern die Überbringerin schlechter Nachrichten und hatte seit Anbeginn einen offensichtlichen Hass auf Minna. Dass dieser aus einem früheren Leben, einem verkorksten Abend in der Kneipe Zur seligen Henne rührte, konnte Minna nur noch dank verschwommener Erinnerungen nachvollziehen.

Prompt sollte sich Dorotheas Botenrolle erneut bestätigen. „Herr Doktor Sallinger will dich sprechen, Minnchen. Klang dringend, wenn du mich fragst. Hast ja kein Telefon oder so … Sag, du hast doch nichts angestellt, oder?“

Minna stellte sich vorsichtshalber dumm. „Du weißt doch sonst immer alles. Was hat er gesagt?“

„Ich weiß von nix“, sagte sie zuckersüß, trat zur Seite und tat ganz galant wie ein Schwarm beim Tanz. „Darf ich Sie hineinbitten, Mademoiselle?“

„Schwirr ab, Täubchen.“ Minna glättete ihre Schürze und zog an Dorothea vorbei in die Klinik.

Also direkt in sein Büro, dachte sie angefressen, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie durchquerte den grün gekachelten Flur, in dem zurzeit nur wenige Patienten oder Ärzte zu sehen waren. Allein die Schwestern, die mit Minnas Ankunft schon auf eine kleine Pause aus waren, sahen von ihren Krankenblättern auf und verfolgten neugierig ihren Weg. Wussten sie bereits, um was es in ihrem Gespräch mit Dr. Sallinger gehen würde? Doros Andeutung brachte Minnas Gedanken ordentlich durcheinander. Was genau hatte der Doktor auf dem Herzen? Ging es um die Sache mit den Schmerzmitteln, die sie vor einiger Zeit hatte mitgehen lassen, um sich auf einer Feier damit zu benebeln – nur, um es dann doch sein zu lassen? Oder hatte er herausbekommen, dass sie manchmal eine Viertelstunde zu viel auf die Stundenzettel schummelte?

Sie würde es recht bald wissen, denn die Tür seines Büros stand offen.

„Eintreten, bitte.“

„Herr Doktor?“

„Fräulein Dahl.“

Doktor Sallinger saß tief versunken über aufgeschlagenen Lehrbüchern. Vor sich ein Papier mit Notizen, auf dem er ein Wort mehrmals in unterschiedlichen Farben eingekreist hatte. Seine hohe, drahtige Figur täuschte, denn er war überaus kräftig und hatte starke, ruhige Hände. Seine Gestik und seine Wortwahl verrieten, dass er aus einem anderen Jahrhundert stammte. Man sah ihm seine sechzig Jahre jedoch keineswegs an.

„Ich wollte gerade nach Ihnen schicken lassen, aber wie ich sehe, hat Frau Brandt erneut ihr gutes Gehör bewiesen und ist mir zuvorgekommen.“

Sie nickte verlegen und trat ein. „Was kann ich für Sie tun?“

Es herrschte eine kühle Atmosphäre in seinem Büro. Seine unterbrochenen Überlegungen hingen spürbar in der Luft, verlangten weiter nach Aufmerksamkeit. Aber die galt nun Minna.

Der Doktor kratzte sich an einer auffälligen Stelle seines Kopfes, an der ein tiefer Kanal durch den Schädelknochen verlief. Eine mit dünner Narbenhaut überzogene Verletzung aus dem vorletzten Krieg. Minna wusste alles darüber aus langwierigen Operationen, in denen sie ihm assistiert hatte, und der damit verbundenen Zeit für seine Erzählungen. So ungefähr konnte man das Verhältnis zwischen ihnen beiden umreißen. Er erzählte gern und sie hörte zu, während sie die Handgriffe übernahm, die ihn seine Gelassenheit kosteten. Manchmal schickte er sie für Medikamente und Einkäufe quer durch die Stadt, was ihm ausreichend Zeit verschaffte, sich den Patienten zu widmen. Manchmal, das war überdeutlich, konnten die anderen Schwestern diese freundliche Sonderbehandlung für sie als Neuling nicht verstehen und versuchten hinter ihrem Rücken die Welt wieder ein wenig geradezurücken. War sie deswegen hier?

„Wir müssen in absoluter Vertraulichkeit sprechen, Fräulein Dahl.“ Doktor Sallinger stand auf, schob ihr einen Stuhl heran und schloss die Vorhänge, dann schaute er auf den Flur und schloss seine Tür ab.

„Was hat das zu bedeuten?“ Minna bemerkte, dass sie bei der ganzen Geheimnistuerei ins Flüstern verfiel.

„Das würde ich Sie selbst gern fragen. Leiden Sie in letzter Zeit an starker Migräne?“

„Nein, wieso?“

Er hob mahnend den Zeigefinger. „Abwarten! Zweite Frage: Haben Sie einen Verwandten verloren oder stehen Sie eventuell unter Schockzustand durch eine gravierende Erfahrung in meiner Klinik?“

„Ebenfalls Nein.“

„Ein Letztes noch. Ich klammere mich dabei an einen dünnen Strohhalm.“ Er setzte sich auf seinen Stuhl und verschränkte die Arme. „Haben Sie in letzter Zeit unerklärliche Wachphasen durchlebt? Somnambulie, um genau zu sein?“

Minna schüttelte erneut den Kopf. Ihr gefiel nicht, in welche Richtung das Verhör verlief. Worauf zielte er mit seiner Frage nach dem Schlafwandeln ab?

„Nein, ich schlafe fest und wache auch meistens in meinem eigenen Bett auf.“

Die schnippische Bemerkung brachte Doktor Sallinger sichtlich aus dem Konzept. Seine rechte Augenbraue gefror einen Zentimeter über dem Normalzustand fest, bis er sich räusperte und sehr viel ernster wurde.

„Dann habe ich keine gute Nachricht für Sie, Fräulein Dahl. Ich schätze, Sie haben sich zwar mit den Regeln meiner Klinik zufriedenstellend vertraut gemacht, aber da es uns angesichts Ihrer Verfehlungen an psychisch bedingten Ausflüchten mangelt, sehen Sie mich mehr als indigniert.“ Er nahm ein Klemmbrett vom Schreibtisch und hielt es ihr kurz entgegen, bevor er es zurück auf den Schreibtisch legte und sich ihm erneut widmete. Sie hatte nicht einmal Zeit, über das seltsame Wort ‚indigniert‘ nachzudenken. „Sie erkennen diese Zeilen wieder, vermute ich? Das ist das Einstellungsschreiben, das ihr Vater unter Zähneknirschen signiert hat. Hier steht, Sie hätten von drei Schwestern das Gymnasium mit der besten Leistung abgeschlossen, wären für ein Jahr kriegsbedingt auf die Schwesternschule für höhere Berufung gekommen, wären dann freiwillig und mit großem Eifer ins Lazarett gewechselt, hätten dort einen kurzen Dienstanschluss in einer Badeanstalt vollzogen, und seien dann wieder in das bürgerliche Leben entlassen worden. Bis zum Kriegsende hätten sie geholfen, in Dresden Plakate und Flugblätter für Liebesgaben und Kriegsanleihen zu entwerfen. Ich habe übrigens selbst viel zu viele Anleihen aufgekauft, habe ich das mal erwähnt?“

Minna spürte einen Kloß in ihrem Hals, der mit jedem seiner Worte anschwoll. „Das ist alles richtig. Daran hat sich auch nichts geändert.“

„Nun, dann verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig die Langmut verliere, aber wie um alles in der Welt setzt sich eine so hervorragende Existenz zusammen und stellt dann einen so groben Unfug an wie vorige Nacht?“

„Das … ich wollte nicht –“

„Aha!“ Trotz des Flüstertons war sein Ausruf markerschütternd. Er hatte sie am Schlafittchen. „Wusste ich es doch, dass meine Sinne keiner Täuschung unterlagen. Machen Sie sich frei von schlechtem Gewissen, Fräulein Dahl, und erzählen mir auf der Stelle, was Sie in der Leichenhalle meiner Klinik zu suchen hatten. Verschweigen Sie mir auch nur einen Umstand, eine vorausgegangene, gleichgeartete Tat, sehe ich mich genötigt, die Ordnungshüter herzubeordern.“

„Nein, ich … Das verstehen Sie falsch!“

„Ich verstehe zunächst einmal, dass ich mich selbst strafbar mache, wenn ich eine Leichenfledderin in meinem Spital beschäftige.“

„Ich bin keine –“ Sie wollte das Wort nicht aussprechen.

Doktor Sallingers Geduld spannte sich sichtlich bis aufs Äußerste an. Er klammerte sich bereits mit beiden Händen an seinen Schreibtisch aus rotem Tropenholz. So fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Minnas Haltung verkrampfte sich ebenfalls. „Ich erkläre Ihnen alles. Bitte. Es wird nicht nötig sein, mich bei der Polizei zu melden. Sie müssen niemanden rufen.“

„Auch nicht Ihre Eltern? Ich hätte nicht wenig Lust dazu, wenn Sie verstehen.“

„Ich verstehe … aber das muss nicht sein.“ Minna warf einen Blick in den Raum hinter ihr. Sie hatte doch niemandem wehgetan oder etwas Bösartiges angestellt.

„Also?“

„Es verhält sich folgendermaßen …“ Sie sog tief Luft ein und fing ohne Umschweife an, zu erzählen. Von ihren Zeichnungen und den ungewöhnlichen Motiven, von ihrem Wunsch, irgendwann Mitglied der Berliner Secession zu werden und ihre Kunst ausstellen zu dürfen. Auch ein kleines Zusammentreffen mit ihrem Idol Käthe Kollwitz ließ sie nicht aus. Hatte diese doch eine ältere Zeichnung von ihr gelobt und Minna damit in dem Wissen bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Ohne es zu ahnen, verbrachte sie eine halbe Stunde damit, ihrem Vorgesetzten alles genau zu erläutern. Doktor Sallinger unterbrach sie nicht ein einziges Mal, schob allerhöchstens eine Hand über die andere oder rieb sich das glattrasierte Kinn. Zu ihrer Beunruhigung schien er wenig überrascht von dem, was sie vorzutragen hatte.

„Das ist alles“, sagte sie, am Ende angelangt. „Mehr gibt es nicht zu sagen. Es tut mir wirklich schrecklich leid, falls –“

„Schweigen Sie, Fräulein Dahl. Bitte. Ich habe genug gehört.“ Er stand auf und streckte fordernd die Hand aus. „Überreichen Sie mir unversehens die Mappe mit Ihren Zeichnungen.“

„Das geht nicht“, platzte es aus ihr heraus. „Die brauche ich!“

„Sofort!“ Doktor Sallingers Stimme hatte den Kokon ihrer verschwörerischen Ruhe verlassen. Hörten die anderen auf dem Flur, was zwischen ihnen vorfiel? Lauschte Dorothea bereits an der Tür? „Ich will es sehen!“

Minna zog hastig ihre Tasche unter dem Stuhl hervor, öffnete den Verschluss und überließ ihm die heiß geliebte Ledermappe.

„Danke.“

„Es sind nur Skizzen“, beteuerte sie. „Es wird nicht wieder vorkommen.“

Doktor Sallinger überhörte diese Bemerkung und ging jedes der Blätter nach und nach durch. Manchmal steckte er eines zurück in den Stapel, zog es dann später wieder hervor und verglich es mit einem anderen. Es war, als erstellte er für sich eine eigene Reihenfolge, nur war Minna das Kriterium seiner Auswahl gänzlich unbekannt. Irgendwann nahm er den Stapel Zeichnungen und schloss die Mappe in seinem Tresor ein.

„Was kann ich noch sagen, um mich zu entlasten?“

Der Doktor formte auf ihre Frage hin mit seinen Fingern eine Pistole und zeigte auf den Tresor. „Sie haben sich mir geöffnet. Um ehrlich zu sein, bin ich tatsächlich über alle Maßen erleichtert. Ich hatte Sie die Nacht über in meinen Überlegungen aus den dunkelsten Blickwinkeln heraus betrachtet. Und das gesagt …“, der Doktor stockte, denn ein leichtes Lächeln eroberte mit einem Mal seine Lippen, „… könnte man behaupten, dass ich sogar beeindruckt bin. So viel Talent, so viel Hingabe für die Verfassung des menschlichen Körpers. Ich hätte eine solch spezielle Begabung niemals von Ihnen erwartet.“

„Wirklich?“

Er schüttelte abwehrend den Kopf. „Aber das ist nur meine eigene Freude an der Schaffenskunst und sicherlich keine weithin akzeptierte Meinung. Sie verstehen, worauf ich hinauswill? Ich werde Konsequenzen ziehen müssen.“

Minna standen die Tränen in den Augen, aber sie wollte nicht weinen. „Heißt das, Sie setzen mich auf die Straße?“

„Denkbar.“

In ihrem Inneren spürte Minna den zarten Faden reißen, der ihre Anstellung im Krankenhaus bedeutet hatte. Hätte sie doch niemals der Verführung nachgegeben, die Toten ausgerechnet an ihrem Arbeitsplatz zeichnen zu wollen. Verzweifelt sprang sie auf und lief bis an den Rand seines Schreibtisches, faltete die Hände ineinander. „Ich weiß aber nicht, wohin. Ich gehöre doch hierher.“

„Sie haben alles aufs Spiel gesetzt und verloren, Minna. Trägt der Spieler seine Schulden nicht mit Würde?“

„Nicht in diesem Fall“, gab Minna zu.

„Nein. Das können Sie nicht und das sehe ich. Ihr Fehlverhalten zwingt mich zu großer Kreativität, was Ihre weitere Anstellung in meinem Dienst betrifft.“

Minna ließ sich zurück auf ihren Platz fallen. Ihre rastlos auf den Knien abgelegten Finger verknoteten sich förmlich vor Anspannung.

„Was soll ich tun?“, fragte sie nervös. Was konnte er von ihr verlangen? Zu was war dieser Mann imstande?

„Nicht was, sondern wo. Hier können Sie nicht bleiben. Das steht außer Frage. Ihr Geheimnis trübt unsere Zusammenarbeit, sie wird schon bald auch Ihre Beziehung zu den Ärzten und Schwestern trüben. Bedenken Sie: Ich verlasse mein Büro nachts nur in dringenden Fällen. Die Schwestern wiederum, wer weiß, wie man sich schon das Maul über Sie zerreißt, Fräulein Dahl. Allein, dass ich Sie herrufen ließ und das Gespräch sich in die Länge zieht. Es ist offensichtlich, dass Sie zum Gesprächsthema würden. Das wird Ihnen nahegehen, verstehen Sie? Das liegt in der menschlichen Natur. Nur, ein so vernebelter Kopf kann mir nicht assistieren.“

„Sie wollen wirklich, dass ich weiter für Sie arbeite?“

„In Anbetracht unserer derzeitigen Konjunktur setze ich niemanden leichtfertig auf die Straße, wenn ich nicht muss. Sie werden eine Anstellung erhalten. Nur nicht hier.“

„Wo dann?“

Er wies die Frage mit einer Geste ab. „Da machen Sie sich mal keinen Kopf, wo ich doch gerade dabei bin, diesen zu retten. Ich werde Sie ultimativ auf die Probe stellen. Vertrauen Sie mir, Fräulein?“

Minna sagte nichts und nickte nur heftig. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst wie ein Kind, das den Stockschlägen um ein Haar entgangen war.

„Wohlan, ich muss meine Bibliothek nach einer dringenden Antwort durchforsten. Melden Sie sich bei der Oberschwester ab. Quittieren Sie per Formblatt Ihre Stelle. Ich erledige den Papierkram für die neue Arbeit und veranlasse die Überweisung Ihres letzten Salärs.“

„Heißt das, ich bin von nun an privat bei Ihnen angestellt?“

„So könnte man es sagen. Aber bitte, gehen Sie jetzt. Meine Zeit ist kostbar. Ich melde mich bei Ihnen.“

Minna verabschiedete sich und meldete sich wie angewiesen bei der Oberschwester ab. Diese verzog keine Miene bei der Bemerkung, dass Minna nicht mehr in der Klinik arbeiten würde. Statt einer gesunden Neugier zeichnete sich in den Gesichtern der Kolleginnen am Ende des Flurs nur Ärger ab. Ärger darüber, dass sie heute Überstunden schieben würden. Die Tür ins Freie ließ sich noch nie so schwer öffnen wie an diesem Morgen.

Zurück in ihrer ausgekühlten Wohnung ging Minna geradewegs ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Ohne den Ofen von der alten Asche zu befreien und ohne neues Feuer anzufachen. Sie weinte minutenlang die überstandene Angst hinaus, die sich wie ein Tier in ihrer Brust verbissen hatte. Die Sonne war dabei, zu versinken, als sie sich endlich beruhigte und die Stimmen von Hausbewohnern den Flur hinaufschallten. Die Morgenschichten läuteten den Feierabend ein.

Minna rieb sich das Gesicht an ihrem Laken ab und reckte den Kopf. Um sie herum lagen die verbliebenen Zeichnungen der Toten, die sie in diese missliche Lage gebracht hatten. Versteckt zwischen Buchdeckeln und Papierstapeln.

Minna rappelte sich vom Bett auf, ging zu einem Atlas auf ihrem Schreibtisch und zog die Zeichnung eines Jungen heraus, die sie dort zum Pressen hineingelegt hatte. Trotzdem musste sie gegen das störrische Papier ankämpfen, das sich an den Seiten wieder aufzurollen versuchte. Es war mittlerweile zu dunkel in der Wohnung, um alle Feinheiten zu erkennen. Eine Kerze musste her. Minna warf sich eine dünne Strickjacke vom Kleiderhaken über, holte Streichhölzer aus ihrer klapprigen Kommode und ging in die Küche. Dort entzündete sie eine fast abgebrannte Kerze auf dem Küchentisch und betrachtete das Papier im aufflackernden Licht.

Was für eine Schönheit. Ein Engel, der die Erde nicht hatte verlassen wollen. Der Junge lächelte noch, obwohl ihn die Unterwelt zu sich gerufen hatte, dachte Minna gerührt und stieß dabei ungeschickt mit einem Bein gegen das erkaltete Ofenblech. Sie griff zum Kehrblech und machte sich an die Arbeit.

Der Anblick des Jungen ging ihr nicht aus dem Kopf. Auch, als sie dem Holz im Ofen auf die Sprünge half, zu entflammen, formte sich aus den hellen Kränzen um das Feuerholz sein Gesicht. Was war das für ein Tod, der nicht vollständig die Flammen zu erlöschen vermochte? Der Menschen wie Minna die Angst nicht nahm, diesen Ort endgültig zu verlassen, um zu einem anderen zu gelangen?

Kurz war sie davor, die Zeichnung zu zerknüllen und in den Ofen zu schmeißen. So wütend war sie über ihre Sorge, sie könnte wie ihre Motive zwischen den Sphären hängen bleiben. Nur weil der Schnitter nicht auch die Erinnerungen töten wollte. Doch als Minna an sich herabsah, ruhte da zwischen ihrer Hand und ihrem Herzen das Papier wie eine Membran. Hob und senkte sich mit jedem Atemzug als Teil ihres Körpers.

Ich möchte auch so gezeichnet werden, dachte sie plötzlich und spürte keine Kraft mehr, sich länger gegen ihre Gedanken zu wehren. Wo genau wollte sie sein? In welcher Form im Nachleben existieren?

Minna geriet in einen Strom aus Unruhe, den sonst nur Freunde aufzuhalten vermochten. Aber sie war allein in ihrem Zimmer. Da war niemand, der ihr Halt geben konnte. Wäre Doktor Sallinger bei ihr gewesen, er hätte sie erst wachrütteln müssen, um ein Wort aus ihr herauszubekommen.

Was für ein Charakter! Minna presste die Lippen aufeinander. Jeder andere hätte sie hochkant hinausgeworfen.

Obwohl das im Auge des Betrachters lag, nicht?

Vielleicht ging es ihm nicht darum, Minna aufzuwecken. Womöglich wollte er sie einfach von der Stelle bewegen. Sie loswerden, weil er so eine Abartigkeit nicht duldete.

Innerlich leer fing sie bei diesem ungerechten Gedanken an zu weinen.

Was zum Henker stimmte nicht mit ihr?

14.08.1919

Einen Monat später kam der Sommer zurück, und Minna saß im Zug in Richtung Westen. Sie wechselte zweimal die Zuglinie, fuhr zeitweise sogar wieder in Richtung Berlin, überquerte dabei einen großen Fluss und verlor allmählich das Gefühl für die Städtenamen, bis selbst diese nicht mehr auftauchten und die Bahn einfach nur geradeaus fuhr. Durch enge Tunnel in den Hängen schroffer Berge, vorbei an gut genährten Wasserfällen, deren Rauschen sich mit dem Schnaufen der Lokomotive vermischte. Sie hielt die ganze Zeit über ihr Skizzenbüchlein in den Händen und wartete auf den Kuss der Muse. Ein üppiger Baum oder ein glänzender Fluss hätten gereicht. Doch ihr kam alles stumpf und belanglos vor. Sie hatte angefangen, den Blick aus dem Fenster zu zeichnen, war dabei eingeschlafen, und als sie wieder aufwachte, war die Landschaft nicht mehr dieselbe. Gelangweilt von der Einsamkeit in ihrem Abteil holte sie die Morgenausgabe des Berliner Volksblatts heraus und überflog die Schlagzeilen. Es war ein seltsames Gefühl, sich auf den Schienen quer durchs Land zu bewegen, während in der Hauptstadt fundamentale Dinge passierten. Sicherlich, sie kannte sich zu wenig aus mit den Vorgängen in der Regierung, aber sie musste kein gestandenes Parteimitglied sein, um das Inkrafttreten der neuen Verfassung bemerkenswert zu finden. Die restlichen Nachrichten wiederum wiederholten sich seit Wochen. Soldaten in Gefangenschaft sollten heimkehren, aber niemand wusste wie. Menschen litten Hunger, aber eine verlässliche Lösung gab es nicht. Hier und da schimmerte zwischen den Zeilen der Redakteure durch, dass die niedergeschlagene Revolution eine verpasste Chance gewesen sein mochte. Doch neue Gewalt wünschte sich niemand.

Die Geschehnisse in dieser Welt verloren für Minna jegliche Bedeutung, wenn sie den Brei jeden Tag durchkaute. Zur Ablenkung blätterte sie in der Zeitungsbeilage. Die ULK, ein scharfzüngiges Witzblatt, hielt nicht mit ihrer Kritik hinterm Berg. Das Volk, die Politiker, die Reichen, alle bekamen ihr Fett weg. Leider währte dieses Vergnügen nur kurz. Zeitung und Beilage waren zügig ausgelesen, doch noch konnte Minna sich ein wenig mit dem Buch Petersburg von Andrei Bely beschäftigen. Seine Worte erzeugten einen Sog, der bis zum Ende der Geschichte anhielt. Was ihr danach blieb, war Sallingers Brief. Der Doktor hatte ihn in einen großen Umschlag zu den Fahrkarten gelegt. Im runden Siegelwachs glänzten die Initialen H. u. S., gerahmt von zwei Ähren.

Minna erkannte sich selbst seit Fahrtbeginn nicht wieder. Normalerweise hätte sie sich darauf gestürzt und ihn sofort geöffnet. Allerdings entschied der Inhalt über die nächsten sechs Monate ihres Lebens. Grund genug, ihn aufzuschieben.

Als die restlichen Ablenkungen verwirkt waren, holte sie das Schreiben aus dem Umschlag und brach das Siegel mit den Fingernägeln auf. Was half es, wenn sie sich die restliche Fahrt über nicht traute? Sie würde ja spätestens bei ihrem Ausstieg nachsehen müssen.

Der Brief selbst bestand nur aus einer halben Seite. Unmittelbar erkannte sie in den kleinen, minutiös verfassten Buchstaben die Handschrift des Doktors. Seine Fähigkeit, simpler schwarzer Tinte etwas Bedrohliches zu verleihen, verstärkte ihr schlechtes Gefühl.

Hoch verehrtes Fräulein Dahl,

es freut mich, dass Sie sich der Bedeutung Ihrer Situation bewusstgeworden sind und das Angebot annehmen, das Sie nach getaner Arbeit wieder mit einer Anstellung in Berliner Luft vereinen soll. Diese Probe ist, wenn auch auf den ersten Blick einfach, mit einigen Tücken behaftet. Ihre Dienste werden in einem kleinen Ort namens Mühldorf benötigt. Seit eine Unzahl katastrophaler Zustände sich nach Ausbruch des Krieges verfestigt hat, ist Mühldorf einer der wenigen Kurorte, an denen Soldaten ohne gesellschaftliche Stütze, aber mit monetärem Rückhalt aufgenommen werden. Das sporadisch eingesetzte medizinische Personal folgte vor kurzem den verlockenden Rufen besserer Anstellungen gen Stadt. Ihre Patienten werden Ihnen die sorgsame Rundumpflege also sicherlich zutiefst danken. Wie ich auch sicher bin, dass Ihnen selbst der Abstand zu den Kellergewölben meiner Klinik die Augen öffnen wird. In der Hoffnung, dass Sie alsbald zu frischen und lebendigeren Motiven finden, ist ihr Aufenthalt in diesem Kurort auch teils zur Verbesserung Ihrer eigenen, nennen wir sie mutig ‚Krankheiten‘, gedacht. Halten Sie sich an das örtliche Personal und überbringen Sie Herrn Doktor Wilhelmsen, der Sie an der Haltestelle begrüßen wird, meine exquisiten Grüße.

Ihnen stets postalisch zur Verfügung,

Dr. med. K. L. Sallinger

PS: Wie besprochen halten Sie sich bitte an den Schaffner, der Ihnen bei Ihrer Destination mit dem Gepäck helfen wird.

Die Stimme des Doktors, die sie beim Lesen im Kopf hatte, verstummte und ließ einen Raum voller Fragen zurück. Fragen, so dringend, dass Minna für eine Sekunde von ihrem Platz aufsprang, den Brief mit beiden Armen ausgestreckt vor sich hielt und sich nach den Antworten umschaute. Was, um alles in der Welt, hatte er mit ihr vor? Wieso schickte er sie in ein Dorf voller pflegebedürftiger Soldaten? Dieses höchst seltsame Szenario wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, als sie ihre Reise antrat. Insgeheim hatte sie gehofft, dass der Doktor Minna einem befreundeten Arzt, einer Klinik oder einem Sanatorium auslieh. Dann hätte sie jemanden gehabt, den sie um Rat hätte fragen können.

„Wilhelmsen …“ Sie überflog die letzten Zeilen und merkte sich den Namen gut. Ein Kollege Sallingers schien in Mühldorf ansässig zu sein. Diese Erkenntnis beruhigte sie allmählich. „Immerhin.“

Der Rest des Briefs blieb so enigmatisch wie der Hinweis auf der Fahrkarte, dass sie gegen vier Uhr dreißig ihren Halt erreichen würden. Bei dem Blick aus dem Fenster aber konnte das unmöglich sein. Es war zehn Minuten vor halb fünf und an diesem Teil der Strecke gab es nichts. Keine Häuser, keine Straßen und erst recht keinen Bahnhof.

Wie gerufen klopfte es an die Abteiltür. „Fräulein Dahl?“

Minna fuhr geradewegs in die Höhe. „Ja?“

Das Gesicht des Schaffners lugte durch einen Spalt in der Tür und sah Minna fragend an. „Ich … also … Sie müssen sich aber doch gleich bereitmachen, Fräulein! Wir können nicht viel Zeit auf den Ausstieg verwenden.“

„Sind wir denn schon da?“

„Kaum mehr sieben Minuten von hier“, antwortete er und trat ein. „Bitte. Ich nehme Ihre Koffer.“

„Ich wusste nicht, dass wir so zeitig ankommen.“ Sie sah betreten auf den Brief und steckte ihn hektisch zurück in den Umschlag. Der Schaffner griff an ihr vorbei auf die Gepäckablage.

„Schon gut, lassen Sie mich das machen“, meinte Minna und stopfte den Brief und das Büchlein in ihre Handtasche, setzte ihren gelben Sommerhut auf und streckte die Hand nach ihrem Koffer aus.

„Glauben Sie mir, Sie wollen, dass ich Ihnen zur Hand gehe“, behauptete der Schaffner und holte den großen beigen Reisekoffer von der Ablage. Minna spürte, dass der Zug allmählich an Fahrt verlor. „Außerdem muss ich Ihnen beim Abstieg über die Leiter helfen. Wollen wir also?“

„Wie charmant.“ Minna runzelte die Stirn und folgte dem Schaffner aus dem Abteil über den schmalen Zwischengang bis zum Ausstieg. Mitten in einer Kurve kam die Lokomotive zum Stehen. Durch das Fenster sah Minna nicht viel, außer den zerklüfteten Hang des Bergs, der von niedrigen Gräsern und gelblichen Flechten überwachsen war.

„Ich bin sofort wieder zur Stelle.“

Der Schaffner öffnete mit einem Ruck am Hebel die Tür, kletterte die Leiter hinab, griff nach Minnas Gepäck und verschwand. Kurz darauf kam er wieder zu ihr hoch und streckte ihr die Arme entgegen.

„Kommen Sie, Fräulein Dahl. Ich habe Signal zum Halten gegeben. Der Zug fährt nicht los, bevor ich nicht pfeife.“

„Welche Haltestelle ist das?“, wollte Minna wissen und bemühte sich, ihr Kleid in den Griff zu bekommen. Sie hielt sich am Geländer fest und lehnte sich hinaus. Nichts. Hier gab es keinen Bahnhof. Der Schaffner stand gut eine Körperlänge tief unter ihr am Hang. Das Gleisbett war an dieser Stelle nicht vom Waldboden zu unterscheiden.

„Fräulein, bitte. Ich habe dem Doktor einiges zu verdanken, aber je länger wir hier stehen bleiben, desto eher kostet es mich meinen Kopf.“ Er wurde äußerst nachdrücklich. „Wenn ich also bitten dürfte?“

Minna sagte nichts, senkte ihre Handtasche herab und ließ sie auf den Boden fallen. Dann kletterte sie die erste Sprosse hinab und fühlte den Griff seiner Hände oberhalb ihrer Hüfte, wie sie versuchten, ihr Gewicht aufzufangen.

„Ich werde Ihnen nicht zu nahekommen“, schnaufte er angestrengt und wandte dabei tatsächlich den Kopf ab.

Minna kletterte weiter hinunter, ließ auf der letzten Sprosse los und vertraute darauf, dass er sie halten würde. Problemlos setzte er sie auf dem Boden ab, nahm seine Mütze vom Kopf und verbeugte sich kurz.

„Danke, dass es so schnell ging“, sagte er kurzatmig und blies in seine Trillerpfeife. Der Zug fuhr sofort an und der Schaffner lief das erste Stück der Anfahrt noch nebenher. Dann sprang er mit dem Geschick einer jungen Gazelle auf das Trittbrett.

Minna ließ ihre Sachen zurück und folgte ihm verwirrt. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wo genau bin ich hier?“

„Das hat der Doktor Ihnen doch sicherlich gesagt, oder?“ Der Zug wurde schneller. Minna kam nicht mehr hinterher, denn das stramme Kleid erlaubte nur kleine Schritte.

„Nein!“, rief sie ihm nach. „Hat er nicht!“

„Das hier ist das Tal am Breitbach. Da unten liegt Mühldorf!“

„Kommt mich jemand abholen?“ Ihre Frage wurde vom kreischenden Signal der Dampflok verschluckt. Der Schaffner zeigte auf seine Ohren und schüttelte den Kopf. Er konnte sie nicht mehr hören. Dann stieg er ein und Minna blieb auf der Stelle stehen, beobachtete, wie die Bahn in der Entfernung kleiner wurde und dann endgültig in einem Tunnel verschwand.

Sie drehte sich zu ihren Sachen um.

 „Das wird ja immer besser.“

Zähneknirschend ging sie zu ihrer Tasche, griff nach dem Brief und las ein zweites Mal. Wilhelmsen, ja, das war der einzige Name, der hier genannt wurde. Der würde hoffentlich bald vorbeikommen, um sie abzuholen. Oder … hatte man ihr übel mitgespielt und es war gar nicht üblich, dass die Leute aus Mühlbach oder Mühldorf oder wie auch immer das hier hieß in der Kurve aus dem Zug stiegen?

Genervt stieß sie ihren Koffer um und setzte sich obenauf. Ein tiefer Seufzer löste sich aus ihrer Brust und Minna lauschte in die Natur. Die Abwesenheit der Bahn hinterließ eine Leere, in die Vogelstimmen und Blätterrascheln drangen. Vom Berghang hinter ihr ging eine leichte Kühle aus, die unter ihren Füßen entlangzog und einen Hauch von verbrannter Kohle mit sich trug. Minna blinzelte, dort wo das grelle Sonnenlicht sich durch das Geäst wühlte, auf den Boden traf und das Grün erhellte. Die Fächer kleiner Farnwedel leuchteten auf, die sich zwischen hoch gewachsener Bärenkralle und trockenen Brombeerbüschen ausgebreitet hatten.

Es waren wohl erst fünf Minuten verstrichen, doch Minnas Geduld ließ spürbar nach.

Sie dachte an das Etui in ihrer Handtasche, in dem sie ein paar Zigaretten aufbewahrte. Sie entschied sich gegen das Rauchen, auch weil sie nicht wusste, ob das ausgetrocknete Gras unter ihren Füßen nicht sofort Feuer fangen würde. Ohne den Fahrtwind des Zuges flirrte die Sommerhitze über dem Tal und heiße Winde stiegen zwischen Tannen und Eichen zu ihr hinauf.

Minna entdeckte eine Schneise im Wald, durch die sie hinaus bis zum Horizont blicken konnte. Die Landschaft konnte sich sehen lassen.

Das Tal unter ihr war geformt wie der Faustabdruck eines Riesen, als habe er sie in frischen Ton gedrückt und das Ergebnis danach im Ofen für die Ewigkeit eingefangen. An den Rändern wölbten sich Gesteinsmassen zu glatten, steil verlaufenden Gebirgszügen. Auch im Tal selbst schob sich zwischen die Wipfel der Bäume hier und da ein turmgleicher Felsen. Nach und nach filterte Minnas Gehör aus der Umgebung die Geräusche einer Fabrik heraus, nur sehen konnte sie diese nicht.

Neugierig stand sie vom Koffer auf, ging ein paar Schritte auf die Waldkante zu und spähte den Hang hinunter.

Wenn Mühldorf dort unten verborgen lag, musste Herr Doktor Wilhelmsen zu ihr rauf. Oder traf sie ihn weiter abwärts? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Auch ein Doktor Sallinger dürfte wissen, dass eine junge Frau sich mit einem knöchellangen Kleid keinen Steilhang hinabwagen würde.

Nach weiteren Minuten der ereignislosen Warterei ertönte eine Stimme. Erst zaghaft, dann wiederholend. Jemand rief Minnas Namen.

Erst wusste sie nicht, woher die Stimme kam. Dann meinte sie, einen Umriss zu erkennen, der zwischen den Bäumen hin und her wankte.

„Herr Doktor Wilhelmsen?“, erwiderte Minna den Ruf, und es schwang ein wenig mehr Hilflosigkeit mit, als sie eigentlich empfand. Schließlich war sie kurz davor gewesen, selbst loszugehen und die Dinge in die Hand zu nehmen.

„Fräulein Dahl?“

„Ich bin hier oben!“

Beim Anblick des Doktors, als dieser durch die Büsche brach, war Minna erleichtert. Doktor Wilhelmsen war ein Mann mit einem kräftigen Kreuz und brachialen Händen. Eine davon umklammerte den Griff einer schwarzen Ärztetasche. Im Gesicht trug er einen dichten Bart von den Wangen bis über den Adamsapfel. Nach seinem Aufstieg gönnte er sich keine Verschnaufpause, stellte sicher, dass sein hellgrauer Hut saß, und streckte ihr die Hand entgegen.

„Freut mich, dass ich Sie hier in einem Stück vorfinde.“

Minna machte einen Knicks und wartete statt des Handschlags auf seine Verbeugung, aber die blieb aus. Er wischte sich mit einem Schnupftuch die Schweißperlen von der Stirn und blinzelte in die Sonne. „Wir haben endlich Sommer.“

„In Berlin hatten wir wochenlang kaum mehr als zwölf Grad“, erwiderte sie reflexartig und holte die Zeitung aus ihrer Handtasche, um sich Luft zuzufächern.

„Ist das so?“

Minna nickte, dann trat Stille ein. War nicht eigentlich ein guter Zeitpunkt gekommen, um zu besprechen, wieso sie hier war? Minna sah ihn erwartungsvoll an, aber weit gefehlt. Der Doktor bot an, ihren Koffer zu tragen, machte jedoch keine Anstalten, das Gespräch fortzusetzen, sondern lediglich ein unzufriedenes Gesicht, als würde seine Kavalierspflicht ihn den Rücken kosten. Schweigend gingen sie auf einem deutlich angenehmeren, aber weiter abgelegenen Waldpfad den Hang hinunter. In jeder Kurve der Serpentinen stellte er den Koffer und seine Arzttasche ab, wechselte die tragende Hand und ächzte unter der Last des Gepäcks. Seine Körpergröße täuschte eine entsprechende Kraft wohl nur vor, dachte Minna und versuchte mehrfach den Einstieg in ein Gespräch. Nach einer durchwanderten Dreiviertelstunde hielt sie die peinliche Stille zwischen ihnen nicht mehr aus und schlug eine Pause vor.

Im Schatten einer stattlichen Buche setzte sie ihren Hut ab. „Sie sind hier in dieser schönen Gegend geboren, Herr Doktor?“, fragte sie interessiert, um endlich Herrin der Lage zu werden.

„Ich?“, fragte er verwundert. „Nein, ich komme eigentlich aus dem Norden. Nahe Emden.“ Es blieb dabei: Er war kurz angebunden. Genervt glättete er mit der Hand die krausen Barthaare um sein Kinn. Minna konnte den wehmütigen Seefahrer in ihm schlummern sehen, zu dem er sich nicht entwickelt hatte.

„Aber jetzt sind Sie hier, und …“

Doktor Wilhelmsen schüttelte den Kopf und wehrte die Frage mit den Händen ab, noch bevor Minna sie zu Ende gestellt hatte.

„Schauen Sie, Fräulein. Ich kenne die Beweggründe nicht, wieso mein hochgeschätzter Kollege derartige Konsultationsreisen von Ihnen verlangt, aber ich muss Sie wohl oder übel enttäuschen. Ich kann Ihnen kaum etwas zu Mühldorf erzählen, denn ich hielt mich selbst nur wenige Monate zur medizinischen Versorgung der Patienten hier auf. Vor kurzem habe ich eine höhere Dienststelle in einer radiologischen Versuchsklinik angeboten bekommen und bin aus Mühldorf fortgezogen.“

„Können Sie mir verdenken, dass ich mehr wissen will?“, fügte sie seiner Erklärung säuerlich hinzu. „Ich wurde in einen Zug gesetzt mit einem Schreiben in der Hand, wohin ich zu gehen habe. Aber ich weiß nicht, was mich dort erwartet.“

Doktor Wilhelmsens Augen verfinsterten sich. Seine Stimme war voll bissigen Sarkasmus. „Dann ergeht es Ihnen ja ungefähr so, wie Millionen von Männern vor vier Jahren.“

Minna rann bei seinen Worten ein Schauer über den Nacken. Sie wollte es sich um Gottes willen nicht mit diesem Mann verscherzen und zum Glück kam er ihrer überstürzten Verteidigung zuvor, indem er eine rote Mappe aus seiner Arzttasche zückte.

„Werfen Sie einen Blick hinein, während wir weitergehen. Ich denke, das wird den Löwenanteil Ihrer Fragen klären.“

Er nahm das Gepäck und ging an ihr vorbei. Minna schloss schnell auf und fing an zu lesen. Die Mappe war recht dünn und es gab keine Einträge in den verschiedenen Reitern. Nur ein einziger Name stand dort.

Paul Frauenlob.

„Nur ein Patient?“, fragte sie erstaunt.

„Es gibt keine anderen mehr.“

„Wieso?“

„Wieso? Was denken Sie? Verstorben, verzogen, genesen. Das ganze Programm.“

Minna lachte verzweifelt. Das musste ein schlechter Scherz sein. In dem Brief war von einem ganzen Dorf die Rede gewesen. Auf einmal reduzierte sich ihr Aufgabenbereich auf einen einzigen Patienten? Sie hätte sich ja gefreut, aber nicht darüber, sechs Monate an einem einzigen Krankenbett Wache zu halten. Außerdem hatte es dieser Fall in sich. Das verrieten die Vermerke und Rezeptblätter, die mit rostigen Büroklammern der Akte angefügt worden waren.

„Paul Frauenlob litt nach dem Krieg an der Spanischen Grippe“, las sie laut vor und hoffte, dass der Doktor abseits seiner Aufgabe als Kofferträger noch ein wenig Fachwissen für sie übrig hatte. „Der Ansicht Ihrer Vorgänger nach hat er dabei eine Schlafkrankheit entwickelt.“

„Die Symptome sind nicht eindeutig“, gab Wilhelmsen zu verstehen. „Ich hatte damals Schwierigkeiten, ihn in einem wachen Moment zu erwischen. Zugleich versicherte man mir, dass er ausreichend trank und aß.“

Minna wollte ihm eine weitere Frage stellen, doch ihre Aufmerksamkeit driftete vom Inhalt der Akte hinüber zu einer Brücke, die weiter vor ihnen auftauchte. Am hinteren Ende stand ein Mann, der an einem Handkarren lehnte. Sobald sie dort ankamen, das ahnte sie, würde der Doktor das gerade begonnene Gespräch sofort beenden und sie abgeben. Wilhelmsen gab ein Handzeichen, das mit einem Nicken des Fremden bedacht wurde und Minnas Vermutung untermauerte. Sie bat den Doktor, langsamer zu gehen, und tat so, als schmerzten ihre Füße.

„Und die Medikamente?“, wollte sie wissen, während sie die Schnallen ihres Koffers öffnete, ziellos herumkramte und zu ihm aufsah.

„Das ist eine höllische Mischung“, gab er zu. „Er bekam früher Aufputschmittel. Aber nur Buschpflanzen. Keine europäischen Anbauten. Ich habe gelesen, dass er daraufhin Fieber entwickelte und man ihm mit Gewalt fiebersenkende Mittel verabreichen musste. Sein Körper reagierte sehr schlecht auf die Therapie und der Zustand verschlimmerte sich. Ich selbst habe empfohlen, die Dosis aller Medikamente zu reduzieren und ein breiteres Spektrum an Nervenheilmitteln zu geben. So kann er die letzten Tage seines Lebens in Würde verbringen. Lesen Sie sorgfältig die letzten beiden Einträge. Derartige Schmerzmittel gebe ich nicht grundlos.“ Er lachte plötzlich heiser und sah Minna herausfordernd an. „Wer weiß? Vielleicht ist das der Grund, warum Sie hier sind? Ein Engel für das letzte Geleit?“

Minna sah ihn erschrocken an. „Sie gehen davon aus, dass er in Kürze sterben wird?“

„Ich vergaß, Sie sind ja nur eine Schwester.“ Er wartete kurz ab, wie Minna reagierte, aber seine Bemerkung konnte er sich schenken. „Verzeihen Sie, wenn ich Sie mit meinen Fachausdrücken ermüdet habe. Mir fehlt hier in der Einöde der geistige Austausch mit anderen Ärzten.“

Minna konnte nicht mal mit der Augenbraue zucken, weil die Selbstverständlichkeit hinter seinem Kommentar so groß war. Er festigte seine Position ihr gegenüber mit sichtlicher Genugtuung und ebenso überheblich fuhr er fort, seine Gesten gezügelt durch das Gewicht der Taschen, als sie sich wieder auf den Weg begaben. „Das Fieber hat die Schlafkrankheit wahrscheinlich – ich sage bewusst wahrscheinlich – als eine seltene Anschlusserkrankung zur Folge. Sein ausgelaugter Körper ist schwach und phasenweise sehr fragil. Vergleichbare Patienten beschreiben ein Gefühl des Ausgehöhltseins. Doch neben den zahlreichen Fehlfunktionen seiner Organe und seines Verstandes ist eher die Tatsache erschreckend, dass die Letalität der Krankheit unvorhersehbar ist. Die Patienten sterben oftmals dann, wenn man sie weckt.“

„Wenn man sie weckt?“, wiederholte Minna und erinnerte sich unweigerlich an ein Motiv ihrer Zeichnungen. In Berlin hatte sie kurz nach den Straßenschlachten die Erfahrung gemacht, dass sie allein und ohne viel Aufhebens Material für neue Werke hatte finden können. Darunter ein auf offener Straße erschossener Soldat. Minna hatte fälschlicherweise angenommen, er wäre schon verstorben gewesen, und sich vor ihn gehockt, um mit einfachen Strichen seine Konturen zu bewahren. Nur, und das drängte sich ihr in dieser Sekunde mit Schrecken auf, sein Sterben war noch nicht beendet gewesen. Als habe das Kratzen der Kohle auf dem Papier ihn für eine letzte Minute auf die Erde geholt, war er aufgeschreckt und hatte sie angestarrt. Reglos, bis auf einen leichten unterdrückten Hustenreiz. Minna hatte Stift und Papier fallen lassen, doch es war zu spät gewesen. Der stumme Austausch zwischen ihnen, dieser intensive Blick des Geweckten, war in der Ferne erstarrt. Sie hatte dem grauen Schleier förmlich dabei zusehen können, wie er sich über die weit aufgerissenen Augen legte und seine Seele in die Tiefe seines Körpers zurückgezogen wurde.

„Langweile ich Sie?“

„Bitte?“ Minna blickte sich um. Sie waren schon an der Brücke angelangt. Grob gestapelte Steine, in die man kleinere Findlinge gelegt hatte, und schlecht verarbeiteter Mörtel, der von dunklen Balken gestützt wurde, spannten sich über den Fluss.

„Er ist eigentlich ganz in Ordnung, der Paul“, hörte sie den Doktor in einer unverhofft menschlichen Art sagen.

Das wilde Wasser des Breitbachs stürzte sich über steinerne Treppen gute fünf Meter in die Tiefe. In seiner Verlängerung konnte Minna an einer Schlaufe ein Gebäude mit einem Schornstein ausmachen. Das musste die Fabrik sein, die sie von den Gleisen aus gehört hatte.

„Fräulein Dahl, darf ich Ihnen Franz Pardonner vorstellen? Franz und seine Familie sind seit Generationen hier ansässig. Was ich Ihnen nicht an Lokalkolorit in der Kürze der Zeit vermitteln konnte, wird seine Frau Mutter an einem Abend wettmachen, da bin ich mir sicher.“

„Herr Doktor!“ Der Mann neben dem Karren tippte sich an die Schirmmütze und deutete eine Verbeugung in Minnas Richtung an. Seine Haltung wechselte in diesem Moment von der eines Dorfburschen zu der eines gewissenhaften Soldaten und wieder zurück. Er rückte sich seine Mütze zurecht und schob das kurze braune Haar mit den Fingerspitzen darunter. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein. Sie sind also gekommen, um Paul zu pflegen?“

„Sobald ich mich mit allem Nötigen vertraut gemacht habe … Ja, ich denke, das ist meine Aufgabe.“

Minna suchte im Gesicht des Doktors nach letzten Hinweisen oder Warnungen hinsichtlich dieses Patienten, doch er war geistig schon abwesend.

„Sie sind hiermit sicher angekommen. Franz zeigt Ihnen den Rest des Tals und bringt Sie in Ihre Unterkunft.“

Für ihn war die Liste damit abgehakt. Mit einer nichtssagenden Verabschiedung entfernte sich der Doktor, während Franz Minnas Koffer auf den Handkarren hob.

„Sind Sie ein Freund des Patienten?“ Minna sah dem Doktor mit gemischten Gefühlen hinterher. Das Tempo, mit dem er sich auf den Rückweg machte, musste aus irgendwelchen unergründlichen Reserven stammen.

Franz Pardonner sah sie verwundert an. „Nun, das stimmt. Wie kommen Sie darauf?“

„Ihre Art, seinen Namen zu sagen, hatte etwas Familiäres, muss ich zugeben.“ Sie drehte sich ihm zu und reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Minna Dahl. Doktor Sallinger von Hof und Sallinger schickt mich. Ich stehe Herrn Frauenlob als Krankenschwester für die nächsten Wochen zur Seite.“

Franz grinste, während er ihr die Hand schüttelte. Es war nicht die gute Art zu grinsen. „Bei Ihnen würde ich auch gern mal Patient sein.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich und den knarzenden Karren in Bewegung. Minna verkniff sich eine bissige Bemerkung und folgte ihm. Zwischendurch warf sie einen Blick zurück zur Brücke, bevor diese hinter Birken und Eichen verschwand.

Sie hielten sich auf einem schmalen Schleichpfad links vom Fluss hinab ins Tal, und Franz zeigte ihr eine Bergquelle, aus der sie trinken konnten. Minna konnte sich nicht erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein, trank reichlich und genoss das Plätschern des Wassers um sich herum. Franz bemerkte offenbar mit der Zeit, dass Minna schlecht auf einen längeren Marsch vorbereitet war, und teilte seinen eigenen Proviant mit ihr. Ein trockenes Brot und ein Stück Käse. Er hatte die Ration in ein Geschirrhandtuch eingewickelt und breitete dieses auf einem Baumstumpf aus, an dem sie Platz nahmen. Minna aß mit großem Hunger und träumte sich an dem rosafarbenen Himmel fest. Das Gezwitscher der Vögel an diesem Abend war so dicht und laut, dass ihr später keine andere Erinnerung präsent war, wenn sie an ihren ersten Weg nach Mühldorf zurückdachte.

 

Es war durch die Berghänge schneller dunkel geworden, als Minna erwartet hatte, und die Äste der Tannen schwebten in diesen Stunden wie schwere Vorhänge über dem Pfad vor ihr. Franz hatte scheinbar alle Mühe, Minna vor Wurzeln und Sträuchern zu warnen, denn zunehmend wich auch die Höflichkeit aus seiner Stimme.

Die abendliche Luft des Bergs kroch ihr in die Glieder, doch Minna ignorierte die Kälte. Sie blieb fasziniert vom Rauschen des Breitbachs. Der Fluss wurde zum Rhythmus der anbrechenden Nacht, in deren Symphonie Eulen und Grillen um das Solo warben.

Auch Franz selbst bekam Probleme, sich zu orientieren, und entzündete eine Laterne. Er erwies sich beharrlich als schweigsame Person, weswegen Minna oft mit ihren Gedanken allein blieb. Erst als sie die ersten Häuser links und rechts des Wegs passierten, die manchmal wirkten wie abgestellt und nicht an den rechten Platz gerückt, teilte er ihr mit, dass sie Mühldorf erreicht hatten.

Unter gelupften Gardinen erschienen Gesichter in den Fenstern. Die Gerüche von frisch zubereitetem Essen drangen aus den Kaminen und bereiteten Minna Hunger. Doch sie beschwerte sich nicht. Der Weg nach Mühldorf hatte seine ganz eigene, von Hunger und Schmerz ablenkende Magie in ihr bewirkt. Es gab so viel zu entdecken. Vor ihr und auch in ihr selbst. Die Linien der Bäume und Felsen waren schroff und ehrlich, die wilden Geräusche der Tiere wiederum mischten sich auf eine angenehme Art unter die Szenerie. Gern hätte Minna sich die Zeit genommen und mit Franz als Aufpasser die Geister gezeichnet, die ihre Laterne aus den Astlöchern lockte.

„Was denken Sie, Fräulein?“ Franz bog auf einen unsichtbaren Gehweg ab, der zwischen eng stehenden Tannen vom eigentlichen Pfad führte.

„Ich?“

„Ja. Was ich selbst denke, weiß ich ja.“

„Und was wäre das?“, erwiderte Minna misstrauisch. Erst wollte er nicht mit ihr reden und nun konnte er es kaum abwarten, ihre innersten Gedanken zu ergründen?

„Ich frage mich“, setzte er an und ruckelte am Handkarren, der sich in einem Brombeerbusch verhakt hatte. „Ich frage mich, warum eine so junge Frau wie Sie von einem Arzt hier zu uns abgestellt wird.“

Minna konnte bei so viel Direktheit nur in den Angriff übergehen. „Vielleicht hab ich ja etwas angestellt? Als Strafe sozusagen.“

„Sie?“ Er lachte schmutzig. „Das glaub ich im Leben nicht. Eher machen Sie mir den Eindruck, als würden Sie gern mal raus in die Freiheit. Die Stadt und den Trubel vergessen. Stimmt’s?“

„Nicht ganz falsch“, antwortete sie und probierte so ehrlich wie möglich zu klingen. Eine gelangweilte Krankenschwester aus gutbürgerlichem Haus mit ländlichen Fluchtfantasien. An dieser Entschuldigung fand sie durchaus Gefallen. „Aber ich komme nicht nur deswegen.“

„Nein. Sie haben einen Auftrag, ich weiß.“ Franz deutete mit der Laterne vor sich und begrub sein Interesse an Minnas Geschichte unter der soldatischen Geschäftigkeit, der er offenbar mit Gefallen Raum gab. „Da wären wir auch schon. Nicht ganz das Château, das Sie womöglich erhofft haben, aber mehr Luxus gibt es im ganzen Umkreis nicht.“

„Sie untertreiben! Ist das ein Anwesen?“ Minna traute ihren Augen nicht. Nein, es war kein Château und auch keine romantische Burganlage. Es war viel besser.

„Ein Landgut.“

Minnas Neugier wollte sich gerade gegen ihre gute Kinderstube durchsetzen, da kam er ihrer Frage nach seiner Rolle auf dem Gut zuvor. „Das Gut Pardonner ist im Besitz meiner Familie. Meine Mutter wird Ihnen die ganze Geschichte des Hauses noch erzählen. Mit ziemlicher Gewissheit mehr als einmal, wenn Sie es das ganze halbe Jahr bei ihr aushalten.“ Franz öffnete das kleine Gartentor im Jägerzaun und führte Minna hinein.

So unscheinbar der überwucherte Zugang zum vorderen Teil des Geländes auch wirkte, so beeindruckend war das Anwesen, auf dem sie sich jetzt befanden. Drei große weiße Häuser standen in einem langgezogenen Hufeisen mitten im Wald. Das Mauerwerk durchzogen mit massivem Fachwerk, ein Dach mit hölzernem Schmuck am First und einer Traufe wie eine elegant darüber hinausragende Hutkrempe. Dazwischen lag eine Wiese mit einer Handvoll Obstbäumen. Fast alle Fenster im vorderen Hauptgebäude waren hell erleuchtet, im mittleren dagegen kein einziges, und im rechten wiederum schien ein einzelnes Licht durch die Dachgaube.

„Das ist Pauls Zimmer“, sagte Franz aufmerksam und bat sie, die Treppenstufen zur Haustür hinaufzugehen. „Manchmal mache ich mir Sorgen, dass er uns alle abfackelt.“

„Sie lassen Licht bei ihm brennen?“

„Er macht es sich an, wenn er wach ist.“

Minna sah ihn überrascht an. „Dann muss ich jetzt doch aber zu ihm!“

„Nein, das wäre keine gute Idee.“ Er nahm den Koffer vom Karren, ließ Minna in den Flur eintreten und folgte ihr hinein. „Er weiß noch nichts davon, dass Sie kommen. Ich werde ihm nachher Bescheid geben.“

„Und wenn er dann wieder eingeschlafen ist?“ Minna wusste selbst nicht, was sie in diesem Moment befallen hatte. Es war sicherlich richtig, den Mann schnellstmöglich kennenzulernen, den sie von heute an pflegen würde. Andererseits konnte sie nicht behaupten, sich auf das erste Zusammentreffen vorbereitet zu fühlen.

„Er wird sicherlich noch auf sein. Wenn er erst mal wach ist, dann richtig. Sein letzter Anfall war übrigens vor einer Woche.“

„Die Abstände zwischen seinen Anfällen werden länger. Nicht wahr, Franz?“ Eine Stimme drang aus dem Wohnzimmer, das links vom Flur lag. Auf einem kleineren Sessel saß eine Dame in einem schwarzen Kleid in strengem Schnitt umgeben von einem Tisch in der einen Ecke und einem Sofa, zwei Sesseln und einem Buffet in der anderen. Im dicken Butzenglas der Biedermeier-Vitrine brach sich das Licht eines Kronleuchters.

Die Dame sah Minna erwartungsvoll an. „Verzeihen Sie, dass ich Ihnen so begegne. Es ist unhöflich, einfach herumzusitzen.“

„Mutter, bleib doch bitte sitzen. Du wusstest doch nicht, wann wir eintreffen.“

„Diese Manieren hast du nicht von mir.“ Sie erhob sich schwer aus dem Sessel und ging in kleinen Schritten auf Minna zu. Als sie vor ihr stand, roch es nach Lakritz und Parfüm. Die Gastgeberin hatte das schmalste Lächeln, das Minna je gesehen hatte. „Mein Name ist Maria Pardonner. Manche nennen mich Baronin, aber ich bevorzuge nach wie vor Maria.“

Minna machte einen höflichen Knicks. „Sehr erfreut, Frau Pardonner. Mein Name ist Minna Dahl. Ich habe soeben von Ihrem Sohn erfahren, dass Sie mich auf ihrem Gut aufnehmen, damit ich mich um den Patienten kümmern kann?“

„Wir haben ein Zimmer für Sie herrichten lassen. Hoffentlich fühlen Sie sich darin wie zu Hause. Franz ist so gut und wird gleich den Tisch eindecken. Sie essen doch mit uns?“

„Selbstverständlich. Nichts lieber als das!“, antwortete Minna. „Dürfte ich mich zuvor ein wenig frisch machen? Die Reise war sehr anstrengend und ich bin lange Wege wie diesen nicht gewöhnt.“

„Franz zeigt Ihnen Ihr Zimmer. Dort können Sie ablegen.“

Franz hatte den Koffer schon wieder in der Rechten und deutete mit dem Kinn hinter sich. „Es ist oben.“

Gerne hätte Minna sich länger mit Maria Pardonner unterhalten, aber das konnte noch einen Moment warten. Die Hausherrin war auf eine eigenwillige Art überaus freundlich zu Minna, was ihr gefiel.

Zudem bekam Minna Gelegenheit, das Haus zu bestaunen. In den geräumigen Fluren schlummerte ein Museum einer längst vergangenen Epoche. Armlange Pfeifen aus Ton und lackiertem Holz hingen mit stockigen Tabakbeuteln an den Wänden. Säbel, Abzeichen und Teile einer Uniform, die man mit ihren auffälligen blauen und roten Farben so heute nicht mehr tragen würde, gesellten sich zu ausgestopften Fasanen, Mardern und Spechten. Entlang der Treppe hinauf war die Wand mit Schützenabzeichen geschmückt. Königswappen, Schützenehren und Jagdwürden gaben kaum einen Fleck der Wand dahinter frei. Der Name Laurenz Pardonner war überall zu lesen.

„Wer ist Laurenz Pardonner?“

„Mein Großvater“, antwortete Franz, als Minna am oberen Ende der Treppe ankam. Ein eingestaubter, ausgestopfter Dachs starrte sie aus toten Knopfaugen an. In der angelaufenen Plakette am Podest spiegelte sich flackerndes Kerzenlicht.

„Hat er den Dachs geschossen?“

Franz blies hörbar Luft durch die Nase aus. Nervte sie ihn etwa mit ihren Fragen? Hätte sie ihm lieber schweigsam folgen sollen wie im Wald?

„Wahrscheinlich ist jedes der ausgestopften Tiere auf dem Gut meinem Großvater vor die Flinte gelaufen. Der Dachs stellt keine Ausnahme.“

„Darf ich?“

Er zuckte mit den Schultern. „Tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Er ist wunderschön.“ Minna strich dem Tier über das borstige Fell und war erstaunt über den ungewohnten Widerstand der einzelnen Haare. Sie wollte die Hand kaum mehr von ihm lassen.

Erneut erntete sie von Franz einen eher abfälligen Blick. „Sie verwundern mich.“

„Ach ja?“ Minna fixierte seine dunklen Augen. „Weil ich dieses Tier schätze oder weil ich mich traue, es anzufassen?“

Franz schüttelte belustigt über ihre Reaktion den Kopf und griff nach ihrer Handtasche, die Minna nach kurzem Widerstand losließ. „Geben Sie her. Sie scheinen mir erschöpft, so langsam, wie sie die Treppe hinaufsteigen.“ Er wandte sich von ihr ab, öffnete die Tür zu seiner Rechten und stellte Koffer und Handtasche vor einem schmalen Bett ab. Minna war überrascht, wie ungeduldig er mit ihr war, schob es aber auf den Umgang mit seiner Mutter und beobachtete ihn dabei, wie er das offenstehende Fenster schloss und die Vorhänge zuzog. „Bitte sehr. Es ist Ihres.“

Minna konnte sich gerade noch bedanken, da drückte er ihr den Schlüssel ruppig in die Hand und ging.

Sie lugte durch das Fenster hinaus zum gegenüberliegenden Gebäude. Das Licht war erloschen. Bedeutete das, dass Paul wieder schlief? Oder schaute er sich den Sternenhimmel an, der wie ein Baldachin über den Baumwipfeln hing?

Minna plante, während des Essens mehr über diesen Mann herauszufinden, der ihr Patient sein würde. Die Versuchung allerdings, direkt auf dem Bett liegen zu bleiben und bis zum Morgen durchzuschlafen, hatte auch ihren Reiz. Es kostete Minna eine ordentliche Portion Willenskraft, sich die Kleider von den schmerzenden Gliedern zu streifen, die Stiefel gegen ein Paar Halbschuhe aus dem Koffer zu tauschen und sich für das Essen herzurichten.

Doch bevor sie sich zu den Pardonners gesellte, holte sie ihre Zeichenutensilien aus der Handtasche, breitete sie ordentlich auf dem Tisch aus, schnitt mit einem Skalpell die ergebnislos bekritzelten Seiten der Zugfahrt aus ihrem Skizzenbuch und schärfte mit dem gleichen Skalpell die abgenutzten Bleistifte. Nur für alle Fälle.

 

Das Essen fand im Speisezimmer im Untergeschoss statt. Maria und Franz Pardonner aßen schweigend die aufgetischte Karottensuppe. Beide mit einer großen Haube steifer Sahne, auf die Minna verzichtete. Die Konversation am Tisch bestand mehr aus Essgeräuschen, als aus Worten. Maria Pardonner schien ihre Neugierde vornehm zu zügeln und hoffte sichtlich darauf, dass Minna von sich aus anfing zu erzählen. Nur fand Minna kein Thema, das nicht mit ihrer Arbeit zu tun hatte, und sie fühlte sich, als wäre ihr die Fähigkeit einer ungezwungenen Unterhaltung abhandengekommen. Daran allein lag es jedoch nicht. Minnas Ankunft in Mühldorf war der Vorbote langer und wahrscheinlich anstrengender Arbeit, das schienen auch Franz und Maria zu ahnen. Die Einarbeitung in die Patientenakte, das Finden der alltäglichen Routine, der Umgang miteinander auf dem Gut selbst. Sie würden sich die nächsten Tage erst so richtig aneinander gewöhnen müssen.

So aß Minna höflich weiter und starrte sich, am Boden ihres Tellers angekommen, in einem matt schimmernden Fleck im Porzellan fest. Das Geschirr war wie das Besteck. Es glänzte am Rand, war ansonsten aber völlig abgegriffen und zerkratzt. Diese Beobachtung wiederholte sich im restlichen Interieur. Die Tischdecke mit dem feinen Häkelmuster musste früher strahlend weiß gewesen sein, bevor Bratensoße und Rotwein ihre eigenen Landkarten darauf gezeichnet hatten. Deckenleuchter, Bodendielen und auch das Kleid von Maria Pardonner selbst wirkten edel, aber ausgedient.

„Minna?“

„Hm?“

„Schmeckt Ihnen die Suppe?“ Maria schnitt mit dem Messer ein Stück Brot vom Laib und tunkte es in den Suppenrest auf ihrem Teller. „Wir haben noch reichlich, wenn Sie möchten. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man so eine anstrengende Reise macht.“

„Danke vielmals, aber ich würde mir an der leckeren Vorspeise nur den Magen vollschlagen.“

Franz ließ seinen Löffel hörbar in den Teller fallen und rückte mit dem Stuhl vom Tisch ab. „Das ist die Hauptspeise.“

Minna zuckte unter seinem schroffen Ton erschrocken zusammen. „Ich wollte nicht …“

„Was? Wünschen die Dame noch Jahrgangssekt und Konfekt?“

„Franz!“ Seine Mutter hob drohend ihre Stimme. „Fräulein Dahl konnte das doch nicht wissen. Sie müssen ihn entschuldigen. Franz, entschuldige dich!“

Doch Franz ignorierte sie, erhob sich geräuschvoll vom Tisch und schleuderte seine Serviette auf den Teller. „Das werde ich, Mutter. Und zwar dafür, dass ich jetzt so plötzlich gehe. Paul braucht seine Vorspeise.“ Franz schnappte sich den Rest der Suppe und warf Minna einen abfälligen Blick zu, bevor er das Zimmer verließ.

Das kurze Gewitter ließ Minna überfordert zurück.

Sofort wandte sie sich an Maria und rückte auf Franz’ Platz nach.

„Sie müssen mich für eine furchtbare Person halten.“

„Mitnichten, Kind!“

„Ich wollte Sie nicht vor Ihrem Sohn bloßstellen. Wie hätte ich ahnen sollen –“

„Genug davon.“ Maria Pardonner griff nach Minnas Hand. „Es war nicht böse gemeint.“

Maria saß eine gefühlte Ewigkeit so da und hielt Minnas Hand. Irgendwann stand sie auf, bat Minna, alles abzuräumen und in die Küche zu tragen.

„Ich bin müde, Minna, und es war gewiss auch für Sie ein langer Tag. Schlafen Sie gut und erholen Sie sich. Morgen werde ich mit Franz reden, machen Sie sich keine Sorgen.“

Sie tätschelte Minna zum Abschied den Arm und löschte auf ihrem Weg in ihr Zimmer das Licht in der Stube. Erst als Minna hörte, dass eine Tür abgeschlossen wurde, ging sie die Treppe hinauf auf ihr eigenes Zimmer, wo sie ihre Kleider auf den Boden warf und unter die Decke kroch.

Die Gedanken an das Essen wollten sie vorerst nicht schlafen lassen. Sie fühlte sich betroffen, auch wenn es eigentlich Franz war, der sich in seiner Ehre gekränkt fühlen musste. Woher hätte sie ahnen sollen, wie es um die Familie stand? Schließlich ließ das Haus auf den ersten Blick einen ganz anderen Schluss zu. Unwillkürlich musste Minna an die Menschen auf den Berliner Straßen denken. Die Idylle der Landschaft hatte sie auf die falsche Fährte gelockt. Sie änderte nichts daran, dass die vergangenen vier Jahre des Krieges die Menschen zur Rechenschaft zogen.

Sie schüttelte über die aufkommenden Sorgen, sich auf dem Gut der Pardonners nicht wohlzufühlen, den Kopf. Das alles ging nicht auf sie zurück, und Franz würde sich schon beruhigen. Mit einem tiefen Seufzer ging sie in sich und spürte, wie sich ihre Kieferknochen entspannten. Paul Frauenlob, ja. Für den war sie eigentlich hier, und mit diesem Ziel vor sich konnte sie endlich beruhigt einschlafen.