Leseprobe Die kleine Chocolaterie am See

Kapitel 1

C wie Chocolaterie

 

Cappuccino-Trüffel

Cremig süßer Cappuccino, eingebettet in herbe, duftende Schokolade, umschmeichelt von einem Hauch Zimt, zart schmelzend und die Seele streichelnd.

 

Chocolat, Chocolate, Cioccolato, Czekolada, Choklad, Шоколад, Schoggi, Σοκολάτα, Chocolata, Çikolata, Čokolada, Chocola, Chokolade, Csokoládé, Čokoláda, Sjokolade.

Das sieht großartig aus! Appetitlich glänzt die dunkle Schokoschrift vor mir und der Duft des herben Trinitario-Kakaos verlangt geradezu, mir eine der grazil geschriebenen Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen zu lassen. Jeder Buchstabe verspricht Aromen von Nelke und Zimt, Fichte und Pinie, darüber liegt ein Hauch Zitrus. Perfekt.

Aber nein! Ich bin nicht so maßlos und futtere meine eigene Dekoration auf. Schließlich sollen die hauchzarten Schokoladenwörter zwischen meinen Trüffeln und Pralinen, den Schokoladentafeln und dem Konfekt das i-Tüpfelchen der Auslage in der Chocolaterie sein.

Nur, langsam gehen mir die Sprachen aus. Davon muss es doch noch mehr geben. Platz hätte ich zur Genüge, vor allem in dem Regal gegenüber der Schokobar mit den Trinkschokoladen würden sich ein paar weitere Schokoschriften gut machen.

Gibt es eigentlich in jeder Sprache das Wort Schokolade? Wie viele Sprachen gibt es überhaupt?

»Google, bitte wie viele Sprachen gibt es auf der Welt?«

Mein Handy erwacht in seiner porzellanenen Schokoladenhalterung zum Leben: »Weltweit gibt es heute etwa sechstausendfünfhundert Sprachen, die sich in fast dreihundert genetische Einheiten, einhundertachtzig eigentliche Sprachfamilien mit mehr als einer Sprache und einhundertzwanzig isolierte Sprachen einteilen lassen.«

Oh! Da ist ja noch Luft nach oben. Dann muss ich jetzt nur noch herausfinden, welche weiteren sechstausendvierhundertvierundachtzig Sprachen es für mein Schokoschriftprojekt gibt. Plus Elbisch.

Frank Sinatra unterbricht meine linguistischen Betrachtungen der Schokowelt und kündigt vibrierend meine Schwester an. Dank der Freisprecheinrichtung muss ich nicht einmal die Hände von meiner geliebten Schokolade lassen.

»Hey Schokofee, wie weit bis zu den Ellenbogen steckst du gerade in guter Schoki?« Mays Stimme klingt abgehackt und wird von starkem Rauschen begleitet.

»Hey Flugfee, wie hoch in den Wolken steckt gerade dein Kopf?«

Meine Schwester lacht ihr Tinkerbelllachen und ihr Charme rieselt wie Konfetti auf mich herab. »Ich bin auf dem Heimweg von San Francisco, aber wir haben noch ein paar Stündchen vor uns. Ich brauche dringend das großartigste Sorry-Schokorezept aus Gwenis altem Rezeptbuch.«

Ich halte inne und das Wort Choklad schwebt auf halber Höhe eingeklemmt in der Pinzette in meiner Hand über den Moltobeerentrüffeln. »Was hast du dem armen Ole denn dieses Mal zu beichten?«

»Ich sage nur Cookinseln«, haucht mir May so verführerisch ins Ohr, dass ich statt meiner entzückenden Chocolaterie glasklares, türkises Wasser vor mir sehe, das in sanften Wellen auf einen weißen Sandstrand trifft, während Palmen in einer Brise rascheln.

Damit mir nicht die Schokolade durch meinen Inseltagtraum schmilzt, kehre ich zurück in den dunkelgrauen Berliner Novembermorgen, nicht ohne wenigstens einmal kurz und mitleiderregend zu seufzen. Mein letzter Strandurlaub ist mindestens ein Jahrhundert her und schon eigentlich gar nicht mehr wahr. »Und was genau haben die Cookinseln mit deinem Ehemann zu tun, dass du dich bei ihm entschuldigen musst?«

Es knackst und rauscht sehr ohrunfreundlich und May ist kaum zu verstehen. »… Flug zu Cookinseln … Ole … Geburtstag … Piloten Clark und Brad … bye … muss mich kümmern …«

Zack, weg ist meine Schwester. Zurück irgendwo hoch oben in den Wolken zwischen hier und San Francisco, wo sie mit ihrer stets strahlenden Laune als Co-Pilotin die Passagiere auf dem langen Flug sicher durch die Lüfte navigiert.

May ist einfach so. Sie steht morgens singend auf, umarmt sich und die Welt und geht abends pfeifend schlafen. Dazu ist sie kein Kind von Traurigkeit und legt sich gern mal bei dem einen oder anderen Verehrer dazu – oder eher legte, denn seit sie mit Ole verheiratet ist, liegt sie nur noch bei diesem einem Mann – hoffe ich. So ist das Grüppchen ihrer Verflossenen doch recht beachtlich, wobei sowohl Clark als auch Brad dazugehören. Da ist es wohl eher das kleinere Problem, dass sie offensichtlich ausgerechnet zu Oles Geburtstag unterwegs sein wird.

Ach May, manche Prioritäten solltest du wirklich lieber anders setzen.

Da ich aber genau weiß, dass meine Gardinenpredigten bei ihr verpuffen wie Morgentau im Sonnenschein, mache ich lieber das, was ich am besten kann – erstklassige Schokolade und in diesem Fall eine schokoladige Überraschung für Ole, die ihn vergessen lassen wird, dass May mit Superman und Mister Universum auf die Cookinseln fliegt. An seinem Geburtstag.

Vorsichtig platziere ich das wundervolle Choklad vor die herbsüßen Moltobeerentrüffeln und greife nach einem der Blöcke mit Klebezetteln, die ich unter der Theke gestapelt habe. Ich notiere mir ein paar Stichworte zu Oles Sorry-Schokolade und skizziere sogleich eine mögliche Form dazu. Ein Surfbrett wäre cool, er liebt das Surfen. Oder besser nicht, das erinnert zu sehr an die Cookinseln. Wie auch immer, auf jeden Fall muss die Schokolade mindestens fünfundachtzig Prozent Kakaoanteil haben, Ole wird das Glück daraus brauchen.

Welche Sprache wird eigentlich auf den Cookinseln gesprochen? Cookisch? Wohl kaum. Aber Schokolade gibt es dort doch bestimmt, wie auch immer sie heißen mag. Ehe ich meine allwissende Freundin Google befragen kann, ertönt das charakteristische Knacken einer vollkommenen, hochprozentigen, tiefdunklen Tafel Schokolade, wenn das erste verheißungsvolle Stück abgebrochen wird. Ich liebe die Türglocke meiner Schokofee.

»Guten Morgen, meine liebe Julie, haben Sie denn schon geöffnet?«

»Für Sie doch immer, Herr Munzel.« Mein Blick wandert von seinem grauen Haarflaum zu der Kakaobohnenuhr über dem Durchgang, in dem er stehen geblieben ist. Zwar öffnet die Schokofee erst ab zehn Uhr ihre Pforten für die Gäste, aber irgendwo auf der Welt ist es jetzt garantiert schon zehn Uhr. »Setzen Sie sich gern an Ihren Lieblingsplatz im Wintergarten, ich bringen Ihnen gleich Ihre französische Schokoladenmilch.«

»Ich danke Ihnen aufs Herzlichste, meine Liebe.« Mit einem Nicken verbeugt sich Herr Munzel leicht vor mir und schlurft zurück in den Wintergarten, durch den er eben hereingekommen ist. In einem Sessel vor dem Panoramafenster in Richtung des Seeschlösschens Wannsee macht er es sich gemütlich und greift nach dem Tagesspiegel auf dem niedrigen Tisch vor sich. Umrahmt von prächtigen Kakaopflanzen, die saftig grün ihre Pracht zur Schau stellen, raschelt sich Herr Munzel durch die Seiten der Zeitung.

In die Milch, die ich bereits erwärmt habe, rühre ich mit einem Schneebesen delikate, edelbittere Schokolade aus ecuadorianischem Nacional-Kakao, bis sie geschmolzen ist und mich mit ihrem Duft nach trockenen Früchten und Sonne umhüllt. Während die Köstlichkeit ruht, verteile ich das slowenische Čokolada, zusammen mit dem norwegischen Sjokolade, zwischen den Himbeerpralinen.

Liebevoll rühre ich wieder die wundervolle Chocolat chaud à l’ancienne für Herrn Munzel um und gieße sie in eine altmodische Schokoladenkanne aus feinstem Tettau-Porzellan. In ein zweites Kännchen gieße ich den Rest und bestreue die Süßigkeit mit einer Prise Fleur de Sel, wohingegen Herrn Munzels Schokoladenmilch einen Hauch Zimt aufgestäubt bekommt.

Gerade als ich ihm seine Leibspeise serviere, öffnet sich ein zweites Mal an diesem Morgen die Tür zur Schokofee. Zusammen mit einem Schwall feuchtkalter, grauer Novemberluft schlüpft Herr Wester herein, grüßt mich formvollendet, reicht mir seinen Mantel und lässt sich gegenüber von Herrn Munzel in einen Sessel sinken. Genießerisch schnuppernd zieht er seine Spezialität zu sich heran. »Das duftet ja wieder ganz famos, Fräulein Blum.«

»Und es schmeckt noch viel famoser.«

»Apropos famos, Sie gestatten einem alten Mann zu sagen, wie famos auch Sie heute wieder aussehen?« Ein Lächeln, welches in den Fünfzigerjahren garantiert reihenweise Mädchenherzen zum Glühen gebracht hat, durchzieht Herrn Westers furchiges Gesicht, wobei mich seine silbergrauen Augen wohlwollend anstrahlen. Und noch heute, sechzig Jahre später, lässt er junge Frauen wie mich erröten und ich streiche mir lachend über die Taille meines blumenübersäten Kleides, das exakt dieselbe granatrote Farbe hat wie die Blüten der Kakaopflanzen rund um mich herum.

»Sie Charmeur, lassen Sie beide es sich bitte schmecken und wenn Sie noch etwas benötigen, rufen Sie mich.« Beschwingt gehe ich durch den bogenförmigen Durchgang aus dem Wintergarten zurück in die Chocolaterie und richte mir dabei das Tuch, das meine schokobraune Haarflut zumindest am Anfang des Tages halbwegs bändigt.

Kaum habe ich mir überlegt, wo ich das schweizer Schoggi drapieren soll, beginnt der Ansturm des Tages. Die Schokoladenknacktürklingel knackt in einem fort und ein Strom an schokoverliebten Kunden beehrt meine Chocolaterie. Liebevoll wähle ich für sie zart schmelzende Trüffeln aus, verpacke süße Geschenke und berate schokohungrige Gaumen. Für die Gäste, die es sich im Wintergarten bequem machen, schmelze ich je nach Vorliebe würzige dunkle oder aromatische helle Schokolade in warmer Milch, arrangiere köstliches Konfekt auf blütenweißen Tellern und reiche Törtchen, aus deren Inneren die noch warme, dickflüssige Schokolade quillt, wenn die Gabel sie zerteilt.

Trotz des grauen Tages funkelt die Schokofee, es duftet nach frisch gemahlenem Kakao, edler Vanille und einem Hauch Zimt. Gegen Mittag reißt eine schüchterne Sonne ein paar Lücken in die Wolkendecke und schickt ihre Strahlen durch die großen Panoramafenster der Chocolaterie. Warm glänzen die honigfarbenen Dielen im goldenen Licht. Es lässt die Maserung des Olivenholzes leuchten, aus dem die Schokoladenbar und die Regale geschreinert wurden. Verliebt fahre ich mit den Fingern eine geschwungene Struktur auf der Theke nach. Leon hat hier großartige Arbeit abgeliefert, die Oberfläche fühlt sich an wie Seide.

»Wenn Se dann mal fertig sind mit Ihre Träumerei, will ich zwee Marsriegel.«

Ich zucke zusammen und blicke auf. Der Mann vor mir sieht aus, als hätte er Erfahrung mit Unmengen an Marsriegeln. Der könnte glatt die zwei geforderten Riegel quer in seinen Mund schieben. Aber nicht mit mir! »Sie meinen, Sie möchten gern eine hervorragende Edelbitterschokolade aus Ecuador, die mit einer wundervollen Honigcreme gefüllt und von einer Lage goldgelben Karamells gekrönt ist?«

Ohne ihm die Chance auf ein Nein zu geben, hole ich von der Schokobar einen Riegel vollkommenen Glücks, schneide diesen auf, sodass sein goldenes Inneres zum Vorschein kommt, und reiche ihn dem Schokoladenfrevler. Der Duft der edlen Criollo-Kakaobohne, vermischt mit dem nuancenreichen Acahual-Honig, wirkt seinen Zauber und die Knopfaugen meines Kunden weiten sich. Ich sehe regelrecht den Appetit auf den Happen Purzelbäume in ihm schlagen. »Probieren Sie ruhig, der Erste geht aufs Haus.«

Mit spitzen Fingern greift er nach dem Schokotraum und schiebt ihn sich in den Mund, wo der Geschmack augenblicklich explodiert. Oh ja! Treffer und versenkt.

Er räuspert sich umständlich und schielt zur Schokobar. Unter einer Glashaube stapeln sich die Riegelköstlichkeiten und locken ihn. »Bei den Dings, bei den, Se-wissen-schon-Riegeln krich ich imma Zahnweh. Aber das hier …«

Ich lächele strahlend wie eine Prophylaxeschwester bei der Zahnreinigung. »Meine Riegel sind ja auch keine in Fett gebadeten Zuckernacktmulle.«

Wieder schielt er zur Schokobar.

»Wie viele darf ich Ihnen einpacken?«

Umständlich zuppelt er ein kariertes Taschentuch aus dem Ärmel und betupft sich damit die Stirn. »Ähm, alle.«

»Aber gern doch. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

»Dat reicht. Für heute. Denke ich.« Er legt dreißig Euro in die Geldschale und greift nach der Packung mit den Riegeln. »Stimmt so.«

Oh ja, wie recht er hat, genauso stimmt meine Welt und ich hoffe, dass ich seine damit ein wenig köstlicher machen konnte. Und das nächste Mal zeige ich ihm, wie wundervoll die wirklich längste Praline der Welt mundet.

Apropos Welt, mir fehlen noch immer Sprachen für meine Schokoladendekoration. Wie wäre es mit Walisisch? Ich will eben zum Handy greifen und nach einer Übersetzung suchen, da stürmt Leander herein und rennt dabei fast eine meiner ältesten Kundinnen um, deren Namen ich noch immer nicht herausgefunden habe. Sie ist mindestens so zugeknöpft wie ihre hochgeschlossene Spitzenbluse von neunzehnhundertfünf. Ich kenne nur ihren Schokogeschmack und der badet in allem, was mehr als fünfzehn Volumenprozent beinhaltet.

»So passen Sie doch auf, junger Mann«, echauffiert sie sich auch sogleich und pikst ihn mit ihrem Mary-Poppins-Regenschirm. »Und ziehen Sie sich gefälligst anständige Beinkleider an!«

»Sorry, ich meine Entschuldigung, dass ich Sie nicht gesehen habe.« Leander entfernt sich mit erhobenen Händen aus der Reichweite des Regenschirmes und wendet sich mir zu. »Und sorry, dass ich so spät dran bin, mich hat die Polizei aufgehalten und ewig mein Bike inspiziert. Nur weil ich verkehrt in eine Einbahnstraße rein bin! Die alten Pingel, die sollen lieber mal die Autofahrer ins Visier nehmen …«

Ehe er sich weiter über die altbekannten Streitigkeiten zwischen Radfahrern und Autofahrern auslassen kann, halte ich ihm eine Chilitrüffel unter die Nase. »Hier, probiere mal, das müsste genau dein Geschmack sein.«

Ich bin wenig darüber erstaunt, dass er die Trüffel direkt aus meiner Hand futtert, anstatt danach zu greifen. Na, auch egal, Hauptsache nicht wieder die Straßenkampfgeschichten. Leander ist ja wirklich ein großartiger und zuverlässiger Kurier für meine Schokoladenbestellungen und ich weiß, dass alle Kreationen heil und sicher an ihren Bestimmungsorten ankommen, doch manchmal ist seine Meinung dann doch sehr meinungshaft.

Nur leider kommt mir seine Zuverlässigkeit heute ungelegen und das, obwohl er sogar zu spät ist, denn kochend heiß fällt mir ein, dass ich die Schokoladen für die mittwöchigen Pralinenabos noch nicht fertig habe. Eigentlich habe ich damit noch nicht einmal begonnen. Ich lächele ihn an und neige den Kopf, ganz so, wie die hübschen Damen im Film es immer so gut hinbekommen. »Magst du eine heiße Schokolade zur Stärkung? Gemütlich im Wintergarten und vielleicht ein Törtchen dazu? Und einen kleinen Spaziergang durch den Schlosspark? Gisela wäre bestimmt entzückt, dich mal wieder zu sehen.«

Leander stemmt die Hände in die knallgelbe Taille. »Ich war dort erst letzten Sonntag spazieren, genauso wie letzten Mittwoch und, wenn mich nicht alles täuscht, auch den Mittwoch davor.«

»Es tut mir leid, wirklich, aber ich habe so viel zu tun. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Die Schokoladen sind alle fertig und wenn du nur ein klitzekleines bisschen warten magst, packe ich alles schnell zusammen.« Ich lächele ein Ehepaar an, das gerade die Chocolaterie betritt, und nicke einem Grüppchen Damen im Wintergarten zu.

Die rollenden Augen von Leander sind regelrecht zu hören. »Und das bevor oder nachdem du deine Kundschaft bedient hast?«

Ich greife nach zwei weiteren Chilitrüffeln von der Schokobar und drücke sie Leander in die Hand, während ich ihn sanft in Richtung Wintergarten schiebe. Leider sind dort alle Plätze belegt.

Ergeben schließt Leander den Reißverschluss seiner knallengen Jacke. »Du bist mir was schuldig, du Schokohexe. Ich habe in der Nähe noch einen Auftrag, den kann ich vorziehen, in einer Stunde bin ich wieder hier und dann …«

»… dann steht alles fix und fertig für dich bereit. Du bist der Größte!« Ich kreuze Zeige- und Mittelfinger beider Hände und nehme mir ganz fest vor, die Pralinenabobestellungen sofort zu verpacken. Nachdem ich das Whiskykonfekt der Namenlosen hübsch eingewickelt und abkassiert habe. Und nachdem ich das Ehepaar bei seiner Wahl der Schokolade der Woche beraten habe. Und nachdem ich noch gefühlte siebenhundert heiße Schokoladen für meine entspannt plaudernden Gäste geschmolzen und gerührt habe.

 

Weit nach vier Uhr kehrt wieder Stille in die Schokofee ein. Vielleicht habe ich heute nicht immer zur richtigen Zeit alles im Griff gehabt, doch am Ende gab es für jeden die richtige Schokolade – und darauf kommt es schließlich an.

Zufrieden richte ich die letzten Pralinen in der Theke gerade und fülle die Gläser der Schokobar mit ihren Köstlichkeiten auf. Da ich in den vergangenen Tagen gut vorgearbeitet habe, könnte ich mir heute einen frühen Feierabend gönnen. Vor ein paar Wochen habe ich das Reiten für mich entdeckt, also theoretisch. Gut, um das Buch Der Pferdeflüsterer zu lesen, habe ich rund ein halbes Jahr gebraucht, aber ich finde nur abends Zeit zum Lesen und dann schaffe ich höchstens zwölf Zeilen, ehe mir die Augen zufallen. Sorry, Herr Evans, an Ihrem Buch liegt es ganz sicher nicht. Wie auch immer, heute ist ein guter Tag, um mit dem Reiten zu beginnen, schließlich habe ich hier auf dem Schlossgrund ganz exklusiv einen Reitstall zur Verfügung.

Aber es ist schon ganz schön dunkel draußen.

Egal, in der Reithalle gibt es Licht.

Pfeifend hänge ich die Schürze an den Haken, schließe die Chocolaterie ab und wandere hinüber zum Schlosshof. Böiger Wind samt grauem Nieselregen tanzen um mich herum und ich vergrabe die Hände in den Taschen des Mantels. Das Wetter könnte wirklich mal angenehmer werden. Ich taste nach meinem Handy, um nach dem Wetterbericht zu schmulen, doch ich habe es nicht eingesteckt. Soll ich zurück gehen? Ach was, ich hole es später. Oder morgen.

Kapitel 2

H wie Hunde

 

Himbeer-Ganache

Gibt es etwas Sinnlicheres als in heißer Sahne gelöste Schokolade à la couleur?

Oh ja, das gibt es, nämlich wenn auf der sinnlich-sahnigen Schokoladencreme süße Himbeeren das Wunder vollenden.

 

Der Weg zwischen der Chocolaterie und dem Schloss ist gesäumt von blühendem Winterschneeball. Im Dämmerlicht lässt der Kontrast zwischen dem stahlgrauen Himmel und den lieblichen rosa Blüten das fiese Wetter gleich viel weniger ungemütlich erscheinen und ich atme tief den Honigduft der Sträucher ein.

Auch die weiße Fassade des Seeschlösschens mit seinem leuchtend roten Spitzdach, die von altmodischen Laternen golden beschienen wird, kämpft tapfer gegen die hundert Graunuancen an, die von dem Wannsee im Hintergrund ergänzt werden. Das Wasser wirkt heute so kalt und abweisend, dass ich mir nicht vorstellen kann, dort jemals wieder fröhlich zu planschen.

Verlassen liegt die bogenförmige Auffahrt da und der Kies knirscht laut unter den Sohlen meiner Stiefel.

Vielleicht sollte ich wieder umkehren in meine heimelige Chocolaterie und ein paar nette, wärmende Trüffeln herstellen. Doch da öffnet sich das imposante Eingangstor des Schlosses und innerhalb von Sekunden bin ich umgeben von bellenden, schwanzwedelnden Hunden, die mir alle auf einmal ihre Liebe schenken wollen. Allen voran Willi, der riesige Rottweiler, der meint, ein Schoßhündchen zu sein. In seiner Aufregung stolpert er über die Yorkshire-Dame Happy, die sich nach dem Aufrappeln kurz schüttelt und dann wieder ihren Luftsprüngen hingibt. Währenddessen läuft die scheue Erna ein paar Schritte auf mich zu und wieder rückwärts von mir weg. Sie würde so gern wollen, traut sich aber nicht.

»Ist ja gut, ihr Lieben, lasst mich heil.« Lachend verteile ich möglichst gerecht meine Streicheleinheiten, was gar nicht so einfach ist, wenn ein Sechzig-Kilo-Hund neben zwei Fünf-Kilo-Exemplaren um Aufmerksamkeit buhlt.

»Julie, wie schön, zu dir wollte ich gerade.« Gisela umarmt mich ähnlich stürmisch wie die Hunde, was ihren altmodischen Glockenhut beträchtlich in Schieflage geraten lässt. »Und ihr! Aus!«

Wow, wenn ich den Hunden das sage, kichern sie höchstens, doch bei Gisela wirkt es. Augenblicklich sitzen alle drei Racker brav auf ihren Hinterteilen, die Zungen bis zum Anschlag aus dem Maul hängend.

Gisela richtet den Hut auf ihrem Schopf, doch das Ergebnis sieht lediglich anders schief aus. »Bille hat sich gestern von den Gästen, die abgereist sind, unsere letzten Betthupferl aus dem Kreuz leiern lassen, jetzt haben wir keine mehr für die heute angereisten Gäste. Ich sage dir, dieses Mädel würde ungeniert ihre eigenen Rippen zum Abendessen servieren, wenn man sie darum bittet. Und sich dafür auch noch bedanken.«

»Meine Betthupferl sind ja auch die besten.« Kokett verneige ich mich vor Gisela. »Ich laufe schnell zurück und hole welche, ich habe ohnehin schon den ganzen Weg über mit mir gehadert, zurückzugehen, weil ich mein Handy liegen gelassen habe.«

Entsetzt schlägt Gisela die Hände vor der Lodenmantelbrust zusammen. »Oh du meine Güte! Das geht ja natürlich überhaupt gar nicht. Ihr jungen Leute ihr, ohne euer Handy! Lauf rasch, meine liebe Julie, nicht, dass diese Absenz einen bleibenden Schaden anrichtet.«

Betont langsam verschränke ich die Arme. »Und wer genau benötigt noch einmal meine Betthupferl für seine Gäste? Nicht auszudenken, wenn ich diese kleinen Köstlichkeiten nicht fände, wo ich doch sooo mit meinen Entzugserscheinungen zu kämpfen habe.«

Nonchalant gibt mir Gisela einen Nasenstüber. »Oh meine Liebe, ich kenne da eine herzensgute Chocolatière, die es gar nicht aushalten würde, wenn unsere Gäste ohne ihr berühmtes Schloss-Betthupferl zu Bett hupfen müssten.«

Pikiert hebe ich den alten Kater Nörgi auf den Arm, der mir um die Beine streicht, und drehe mich von Gisela weg. »Schokolade ist nun mal eine Berufung, und entweder gibt man sich ihr ganz hin oder gar nicht.«

»Aber selbstverständlich, deshalb bist du ja auch unser Goldstück.« Gisela klopft mir auf den Popo und pfeift die Hunde zu sich. »Bringst du die Schokolade bitte direkt zu Lotte, sie verteilt sie dann, wenn die neuen Hausgäste durch das Schloss geführt werden. Ich muss zum Flughafen, Holger abholen. Hab einen schönen Abend.«

Mit dem Kater auf dem Arm drehe ich mich zu Gisela zurück und winke ihr mit Nörgis Pfote zu. Ich bin vieles, aber nachtragend zu sein gehört definitiv nicht zu meinem Portfolio. Das ist mir viel zu anstrengend. »Du auch, und grüße Holger von mir. Ich freue mich, dass er wieder hier ist.«

»Und ich mich erst.« Wie ein junges Mädchen dreht sich Gisela einmal im Kreis, sodass der weite Rock zusammen mit ihrem Mantel schwingt. So verliebt wie die beiden noch nach so vielen Jahren sind, möchte ich auch gern sein. Es ist das pure Glück bei ihnen, selbst wenn es mal rappelt.

Apropos viele Jahre, begehen Gisela und Holger nicht dieses Jahr zu Weihnachten ihren vierzigsten Hochzeitstag? Das muss doch gebührend gefeiert werden!

Ich setze Nörgi auf die Bank vor der Schokofee, wo er mich mit zusammengekniffenen Katzenaugen ob meiner Unverfrorenheit anklagt. »Ich bin gleich wieder da, aber in die Chocolaterie darfst du nicht hinein, das weißt du doch. Selbst wenn du wie deine Brüder nicht dieses puschelige Perserfell hättest.«

Sein Maunzen lässt mich fast schwach werden, aber nur fast, und so schließe ich schnell die Tür hinter mir, eile durch den Wintergarten in die Schokoküche, wasche mir die Hände und hole aus der Kühlung die vorbereiteten Betthupferl. Bevor ich wieder hinausstürme, klebe ich noch einen weiteren Notizzettel an meine Erinnerungspinnwand: G + H = 40 ???

Ich will eben abschließen, da fällt mir mein Handy ein, also sause ich zurück und nehme es dieses Mal mit.

 

Im Schloss ist es angenehm warm und Nörgi windet sich träge aus meinem Arm, um seinen Lieblingsplatz auf dem Kaminsims im kleinen Salon einzunehmen. Dass er sich dort nicht seinen Pelz verbrennt, wundert mich immer wieder, aber vermutlich hat er so viel Fell, dass es gar nicht auffällt, wenn mal eine Schicht verloren geht.

Über die geschnitzte Freitreppe der Eingangshalle gehe ich in den ersten Stock und dort in den Südflügel, wo die drei Ferienwohnungen des Schlosses untergebracht sind und auch Lotte ihren Herrschaftsraum, ich meine ihr Büro, hat.

Ich atme tief durch, straffe die Schultern und klopfe zögerlich an. Es raschelt hinter der Tür, dann wird sie geöffnet und die gestrenge Hausdame mustert mich durch den Kneifer, der auf ihrer Nase klemmt. »So haben mich meine Ohren doch nicht getäuscht, bitte Frau Blum, wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie gefälligst hörbar anklopfen sollen, wenn Sie Einlass begehren! Und stehen Sie bitte gerade, eine junge Dame wie Sie sollte keinen so krummen Rücken machen.«

»Jawohl, Fräulein Lotte.« Ich drücke meinen Rücken noch gerader, auch wenn es sich anfühlt, als hätte ich ein Bügelbrett vernascht. Aber Widerstand ist hier zwecklos, und davon mal abgesehen würde ich mich diesen gar nicht getrauen. »Ich habe hier die gewünschten Betthufperl für Sie.«

»Bitte Frau Blum, so beginnen Sie doch keine Sätze mit ich! Das schickt sich nicht. Und die Gute-Nacht-Grüße für unsere Gäste sind nicht für mich, sondern eben für die Gäste.« Die Hausdame streckt die Hände aus und ich lege den Karton mit den Süßigkeiten hinein. Nicht ohne dabei ein klein wenig zu zittern. Aber schon viel weniger als früher.

Froh, meinen Auftrag und meine Last endlich los zu sein, knickse ich vor ihr.

»Frau Blum, ich bitte Sie! Was legen Sie heute nur für ein seltsames Gebaren an den Tag.«

Oh, das frage ich mich auch gerade. Und wenn ich schon beim Fragen bin, wie komme ich jetzt hier halbwegs anständig so schnell wie möglich weg?

»Fräulein Lotte, Fräulein Lotte, es ist etwas Schreckliches passiert, der alte Enno, er hat … er hat nicht …« Die dreifache Rettung in Gestalt der jungen Schlossköchin kommt heftig atmend neben mir zum Stehen. Billes ohnehin immer roten Wangen leuchten intensiv und der Dutt unter ihrem Häubchen verdient den Namen nicht mehr, so zerrupft wie er aussieht.

Und schon geht es los. »Frau Viersturm, erstens schreien wir nicht! Zweitens verbitte ich mir, Herrn Boltenhagen als alten Enno zu bezeichnen, und drittens, wie sehen Sie überhaupt aus! Und bitte stehen Sie gerade!«

Froh, nicht mehr das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, entferne ich mich seitwärts mit kleinen Schritten.

»Sie bleiben, wo Sie sind, Frau Blum. Bitte.« Fräulein Lotte nimmt mich durch ihren Zwicker ins Visier, ehe sie sich wieder an Bille wendet. »Und Sie, Frau Viersturm, erzählen mir, was dieses ganze Tohuwabohu zu bedeuten hat, bitte.«

Bille knetet unbarmherzig ihre Schürze und ich befürchte, wenn wir hier fertig sind, wird es diese Schürze auch sein, für immer und ewig, denn diese Falten werden sich nie wieder glätten lassen. Andererseits kennen Billes Schürzen keine andere Behandlung von ihr, sobald sie ihr Allerheiligstes, die Schlossküche, verlässt. »Der alte, ich meine der Enno, also der Herr Boltenhagen, der hat keine Stimme mehr.«

Frau Lotte hebt die linke Augenbraue in einem perfekten Schwung. »Bitte, wo ist das Problem? Wenn er an einer Dysphonie leidet, so kochen Sie ihm doch bitte einen Salbeitee und lassen ihn damit gurgeln.«

»Das haben wir schon gemacht! Und er bekommt noch immer keinen Pieps heraus!« Der Stoffberg in Billes Händen nimmt ungeahnte Größe an und ich will ihr schon solidarisch meinen Mantel zum Zerknüllen anbieten, da zwingt Fräulein Lottes Blick sie dazu, das arme Stoffknäuel doch endlich loszulassen.

»Sie versuchen mir also mitzuteilen, dass Herr Boltenhagen die heutige Führung durch unser Seeschlösschen Wannsee nicht durchführen kann?« Frau Lotte tippt sich mit dem Zeigefinger auf die Nase, nimmt den Kneifer ab und zeigt damit auf mich. »Frau Blum, wenn Sie bitte so nett wären, die Führung zu übernehmen. In Anbetracht von Frau Viersturms überreiztem Gemüt fällt meine Wahl auf Sie.«

»Ich?« Entsetzt hebe ich die Hände. »Aber warum machen Sie nicht die Führung?«

»Bitte, Frau Blum, meine Aufgabe ist es, die Gäste am Ende der Schlossführung gebührend in Empfang zu nehmen und ihnen einen unvergesslichen ersten Abend zu bereiten.«

»Ich wollte reiten gehen.« Zugegeben, in meinem Kopf hört sich die Erklärung viel besser an.

»Seit wann bitte reiten Sie?« Fräulein Lottes Blick wandert an meinem Kleid nach unten zu meinen Wildlederstiefeln. »Mir dünkt, Sie sind eher für eine innerhäusliche Veranstaltung gekleidet.«

»Ich wollte heute mit meinem neuen Hobby anfangen.«

Frau Lotte schließt für einen Moment die Augen, wie um sich zu sammeln. »Ihre Hobbys wechseln in so regelmäßigen Abständen, dass selbst ich mit dem Zählen nicht nachkomme, und ich merke mir sonst alles. Also, wenn ich bitten dürfte, die Gäste warten. Und Gäste lassen wir nicht warten!«

Damit scheucht sie Bille und mich die Treppe nach unten. Schicksalsergeben wende ich mich dem Salon mit den wartenden Hausgästen zu, während Bille eilig in die Küche zurückhuscht.

Keine Panik, ich kann das. Ich kenne das Schloss, ich weiß, wo ich hinein- und wieder hinauskomme, ich weiß, wo die Küche ist und der kleine Salon und natürlich auch die Gästewohnungen.

Und wenn ich nicht gleich mehr weiß, wird dies eine ziemlich kurze Schlossführung werden.

Doch zum Glück bin ich mit Google befreundet. Ich ziehe das Handy aus der Manteltasche und diesen danach gleich aus. Mir ist jetzt definitiv warm und die Truhe neben der Salontür ein prima Mantelversteck.

Eine Nachricht von Lukas blinkt mir vom Display entgegen. Tief verschüttet zwischen all den Terminen in meinem Kopf – und meinem neuen Hobby – leuchtet plötzlich ein ganz besonderer Termin auf. Oh nein! Ich bin gerade jetzt mit Lukas verabredet! Wir wollten endlich unsere Hochzeit planen!

Da wir aber nicht unbedingt gleich heute oder morgen heiraten, hat Lukas bestimmt Verständnis, wenn ich unser Treffen absage oder besser verschiebe. Schnell tippe ich eine liebe Entschuldigung an meinen Verlobten und widme mich wieder der Recherche zum Schloss: »Google, erzähle mir bitte etwas zum Seeschlösschen Wannsee

Doch meine Freundin bleibt stumm und ich sehe dabei zu, wie das Display schwarz wird. Theorie eins: Meine Frage hat ihre Intelligenz beleidigt. Theorie zwei: Der Akku ist leer.

Als mir jemand auf die Schulter tippt, zucke ich zusammen und fahre herum. »Enno!«

Der Schlossmann-für-Alles verzieht entschuldigend das Gesicht und ruckelt an der Schiebermütze auf seinem Haupt. Dann zeigt er kopfschüttelnd auf seinen Mund.

»Noch nicht besser?«

Weiteres Kopfschütteln vernichtet meine aufgekeimte Hoffnung.

»Hast du ein Handy dabei?« Probehalber drücke ich den Startbutton an meinem Telefon, doch es bleibt aus.

Enno kräuselt die buschigen Augenbrauen und will etwas sagen, was jedoch in einem Hustenanfall mündet.

Ach, stimmt ja, Enno braucht solch einen Schnickschnack nicht, er hat schließlich sein Walkie-Talkie. Leider scheidet auch Bille aus mit ihrem Dinosaurier-Tastentelefon. Und über Frau Lottes mobile Vorlieben weiß ich nicht Bescheid, auch wenn hier alles möglich ist – von einem tragbaren Wählscheibenmodell bis hin zum neuesten iPhone. Außerdem traue ich mich ohnehin nicht, sie zu fragen.

Für einen Moment starre ich auf die verschlossene Salontür. Es gibt ein paar Dinge, die ich über das Schloss weiß, und ich würde sagen, dass diese nicht die uninteressantesten sind.

Ich wende mich wieder Enno zu. »Eine Frage nur, aus welcher Epoche stammt das Schloss?«

Er beugt sich zu mir und flüstert etwas durch seinen Pfirsichatem. Pfirsichbonbons sind die einzige Ausnahme in meiner Schokowelt, extra für Enno.

»Renaissance?«, frage ich nach.

Er nickt und gestikuliert wild mit den Armen. Doch ich kann nicht erraten, was es bedeutet.

Schließlich legt er die Hände gefaltet an seine Wange und schließt die Augen, um sie gleich wieder zu öffnen und heftig mit dem Kopf zu schütteln.

»Schlafen?«

Kopfschütteln.

»Nicht schlafen! Ah, ich verstehe, nicht abends, morgens, also früh. Frührenaissance!«

Enno nickt begeistert angesichts meiner historischen Meisterleistung und zeigt mir ein paar Ziffern mit den Fingern.

»Eins, fünf, fünf, null. Erbaut in 1550! Du bist ein Schatz.« Damit umarme ich ihn kurz, atme tief durch und gehe in den Salon, um bei der heutigen Schlossführung zu debütieren.

 

Verstohlen linse ich auf meine Armbanduhr. Eine Viertelstunde Herumführen im Schloss sollte reichen. »Liebe Gäste, wenn Sie mir nun bitte nach draußen folgen möchten. Nur ein paar Meter weiter erwartet Sie das Highlight unseres fabelhaften Seeschlösschens Wannsee

Ich geleite die zwei Frauen und vier Männer durch das Eingangstor und hinüber in die Chocolaterie. Bibbernd schließe ich die Schokofee auf und schalte das Licht an. Goldene Lampen funkeln zwischen den Kakaopflanzen und wohlige Wärme begrüßt uns im Wintergarten.

»Voilà, herzlich willkommen in der alten Gutsküche des Schlosses. Damals wie heute das Herzstück dieses wunderbaren Anwesens.«

Fröhlich miteinander plaudernd folgen mir die Schlossgäste durch den Wintergarten in die Chocolaterie. Auch hier tauchen kleine, versteckte Lampen den Raum in warmes Licht, doch so, dass die kühl gehaltene Schokolade nicht beeinträchtigt wird.

Ich drehe mich einmal um mich selbst. »Ebenso wie das Schloss stammt die ursprüngliche Gutsküche aus der Frührenaissance. Sie wurde auch noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts aktiv genutzt, jedoch in ein Bistro umgebaut, als das Schloss für Besucher geöffnet wurde. Mit der Idee der Gästewohnungen vor etwa zehn Jahren wurde die neue Küche im Nordtrakt des Schlosses so modernisiert, dass von dort aus die Gäste bewirtet werden können. Vor drei Jahren hatte ich das Glück, hier meine Vision eines Schokoladenparadieses zu erschaffen und mit meiner Schokofee ein Teil des Schlosses werden zu dürfen.«

Wohlwollend blicken sich die Gäste in dem alten Gebäude um, in dem so viel Geschichte lebt und Tag für Tag spürbar ist.

»So, und damit Sie nun selbst Teil dieser Geschichte werden, bitte ich Sie zu mir an die Schokotheke. Wir machen jetzt unsere eigene Schokolade.«

 

Zufrieden lösche ich drei Stunden später das Licht in der Schokofee. Unter viel Gelächter und noch mehr Kostproben haben wir zartschmelzende Schokoladen gerührt, die nun über Nacht in der Schokoküche fest werden dürfen, während die Schlossgäste sanft in ihren Himmelbetten schlummern. Intensiver Duft nach geschmolzener Criollo-Kakaobutter und das herbe Aroma von gemahlenen Trinitario-Kakaobohnen begleiten mich hinaus und glücklich schließe ich die Chocolaterie zu.