Leseprobe Die Heimkehr des Earls

Kapitel eins

Ein Freitagabend im August, Anwesen des Dukes of Grainger

Sie ist sehr hübsch.

Harry Graham, der Earl of Darrow, stand im Musikzimmer des Dukes of Grainger und hörte zu, wie Lady Susan Palmer, die Tochter des Earls of Langley … irgendetwas erzählte. Ah. Ein Kleid, das sie während der Saison auf einem Ball – möglicherweise Lady Nortons? – gesehen hatte.

Sie besaß diese Art der englischen Schönheit, die er in seinen Jahren auf dem Kontinent so vermisst hatte. Porzellanhaut. Blondes Haar. Blaue Augen.

Dunkles Blau, nicht das helle, klare Blau von Pens Augen …

„Und dann fragte ich Lady Sackley nach dem Namen ihres Manteau-Schneiders, obwohl ich die Antwort ja bereits kannte. Ich versuchte lediglich, Konversation zu betreiben. Und sie sagte …“

Wie es Pen wohl ging? Bestimmt war sie mittlerweile verheiratet und Mutter mehrerer Kinder.

Harry hatte gehofft, sie nach seiner Heimkehr nach England wiederzusehen – selbstverständlich nur als alte Freunde. Er hatte jedoch feststellen müssen, dass sie Darrow nur kurz nach ihm ebenfalls verlassen hatte.

Er hatte keine weiteren Fragen gestellt. Es hätte seltsam gewirkt, wenn sich der neue Earl nach der Tochter eines seiner Pächter erkundigt hätte. Jemand hätte sich erinnern können, wie viel Zeit sie miteinander verbracht hatten in dem Sommer, bevor er England verlassen hatte, um gegen Napoleon zu kämpfen.

Nicht dass es etwas besonders Skandalöses über ihre Affäre zu berichten gegeben hätte. Harrys Bruder Walter war derjenige gewesen, der sich an den hiesigen Jungfern seine Hörner abgestoßen und dabei mehrere Früchte gesät hatte. Er hatte so viele Bastarde gezeugt, dass die Leute ihnen sogar einen Namen gegeben hatten: Walters Welpen. Es war leicht, sie zu erkennen – alle besaßen die unverwechselbare Graham-Strähne, ein Bündel grauer Haare inmitten dunkler Locken.

Harry runzelte die Stirn. Er verglich sich nicht gern mit Walter, schon gar nicht in diesem Punkt. Er hatte nicht wie ein Mönch gelebt, aber er hoffte, seine Gespielinnen mit mehr Respekt behandelt zu haben als Walter. Zumindest war er stets vorsichtig genug gewesen, ihnen kein Kind zu schenken.

Walter war nicht der Einzige gewesen, der den Betten der Jungfern – und denen von deren Müttern – regelmäßig einen Besuch abgestattet hatte. Felix, der Sohn des Schmieds, war mit ihm in einen harten – ha! – Wettbewerb getreten. Es war sogar so schlimm gewesen, dass in viel zu vielen Fällen niemand – nicht einmal die Kindsmutter – mehr gewusst hatte, welcher Mann nun der Vater des Kindes war, bis sich schließlich die Graham-Strähne gezeigt hatte.

Für alle Beteiligten war es besser, wenn Felix der Vater war. Wenn ein Ehemann involviert war, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Mann so nie herausfinden würde, betrogen worden zu sein. Harry hatte noch viel zu lebhafte Erinnerungen an die Zeit, als einer der Pächter mit einer Mistgabel in der Hand auf der Suche nach seinem Bruder gewesen war. Üblicherweise kam die Graham-Strähne zum Vorschein, wenn das Kind zwei oder drei Jahre alt war, aber beim erstgeborenen Sohn dieses Mannes hatten sich die silbernen Haare erst nach seinem zehnten Geburtstag gezeigt.

„Genau! Ich bin so froh, dass Ihr mir zustimmt, Lord Darrow.“

Harrys Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Lady Susan. Großer Gott, er hatte keine Ahnung, was sie vor sich hin geplappert hatte. Er hatte den Anschluss verloren. Bei seiner Arbeit für die Krone hatte er seine Umgebung nie so sehr aus dem Blick verloren.

Er musste sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Schließlich hatte er seiner Mutter versprochen, um die Hand dieser Frau anzuhalten. Er plante, ihr die Frage noch an diesem Abend zu stellen.

Lady Susan lachte. „Ehrlich gesagt war ich beeindruckt, dass Madame Merchant …“

„Marchand“, korrigierte Harry und sprach den Namen dabei mit französischer Betonung aus. Offenbar ließ sie sich immer noch über Kleider aus.

Wenn ich sie ins Gebüsch stieße, würde sie zumindest aufhören zu reden.

Wenn er näher darüber nachdachte, würde er jedoch nicht darauf wetten. Selbst wenn er den Versuch eines Kusses wagen würde, könnte er ihre verbalen Fluten wohl nicht stoppen. „Madame Marchand. Sie hat ihr Geschäft in der Nähe der Bond Street.“

„Oh, ja. Ich nehme an, Ihr liegt richtig, Eure Lordschaft.“ Lady Susan rümpfte die Nase. „Wie ich schon sagte …“

Mit einem Ohr lauschte Harry Lady Susans Monolog, während seine Gedanken wieder abschweiften, dieses Mal zu der französischen Schneiderin. Er hatte Bernandine ein paarmal besucht, wenn er in London gewesen war. Er mochte es, sein Französisch – und andere Kenntnisse – mit ihr zu vertiefen. Aber sobald er verheiratet wäre …

Es gab keinen Grund dafür, seine Gewohnheiten nach einer Heirat zu verändern. Besonders dann nicht, wenn er Lady Susan zur Ehefrau nahm. Sie würde ihm vermutlich sogar danken, wenn er seine männliche Lust außerhalb des ehelichen Bettes befriedigte.

Und er würde Lady Susan heiraten – wenn sie ihn zwischenzeitlich zu Wort kommen ließ. Er hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die so flüssig und gleichzeitig so inhaltslos sprechen konnte.

Will ich wirklich ein solches Plappermaul heiraten?

Nein, das wollte er nicht, aber ihm blieb keine wirkliche Alternative. Sie war die beste Wahl unter den schlechten.

In dem Moment, als er nach fast zehn Jahren im Ausland wieder einen Fuß nach Darrow Hall gesetzt hatte, war seine Mutter in dieser Angelegenheit recht deutlich geworden. Er musste so schnell wie möglich heiraten und einen Erben hervorbringen.

Er war in Paris gewesen, als er erfahren hatte, dass Walter sich bei einem Sprung mit dem Pferd das Genick gebrochen hatte. Himmel, Harry würde niemals vergessen, wie er sich beim Lesen des Briefs gefühlt hatte. Es hatte sich so angefühlt, als hätte man ihm mit voller Wucht in den Brustkorb geschlagen und anschließend mehrere Backsteine auf seinen Kopf fallen gelassen.

Ich habe nie damit gerechnet, einmal Earl zu sein. Ich wollte nie Earl sein.

Ihm hatte das Leben gefallen, das er sich aufgebaut hatte. Er hatte das letzte Jahrzehnt in Portugal, Spanien, Frankreich und Österreich verbracht. Dabei hatte er seinen Verstand geschärft, Ideen umgesetzt, sich mit Politik beschäftigt und nicht mit Ernte, Entwässerungsgräben und undichten Dächern.

Aber er war nun der Earl und damit kam für ihn die Verpflichtung, auch in Zukunft die Erbfolge weiterzuführen. Und Walters Tod hatte ihm allzu deutlich gezeigt, dass niemandem ein weiterer Tag auf dieser Erde garantiert war.

Darauf hatte Mama ihn mit Nachdruck hingewiesen. Sie hatte ihm unverblümt mitgeteilt, dass er dringend einen Erben benötigte. Es gab keine Zeit zu verlieren. Walter war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden und nun war er tot. Und wie Walter ebenfalls mehr als deutlich demonstriert hatte, konnte Harry sich in keinem Fall sicher sein, schon bei seinem ersten Versuch einen Sohn hervorzubringen. Oder beim zweiten Versuch. Oder beim dritten. Seine Schwägerin Letitia hatte jedes Jahr ein Kind bekommen: Adrianna, Bianca, Cassandra. Wahrscheinlich hätten Walter und sie, wenn es ihr möglich gewesen wäre, so lange das Alphabet fortgesetzt, bis sie endlich einen Sohn zur Welt gebracht hätte. Aber Letitia hatte drei Fehlgeburten erlitten und Walter danach – wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte – nicht mehr in ihr Bett gelassen.

Mama hatte Harry also eine Liste mit geeigneten Kandidatinnen vorgelegt – junge Frauen mit ordentlichem Stammbaum und mehreren Brüdern. Alles, was er zu tun hatte, war, eine der Frauen auszuwählen, sie zu heiraten und sie bis zur Besinnungslosigkeit zu vögeln.

Nun, Mama hatte den letzten Teil nicht explizit erwähnt, zumindest nicht im selben Wortlaut. Aber ihre Botschaft war schmerzhaft deutlich gewesen: Je eher er einen Erben und einen Ersatzerben hervorbrachte, desto besser.

Sie hatte von Harry erwartet, dass er seine Auswahl an Ort und Stelle traf und sich sofort einen Namen von der Liste aussuchte. Er hatte jedoch darauf bestanden, die Frauen zunächst persönlich zu treffen. Sie hatten alle noch die Schulbank gedrückt, als er England bereits verlassen hatte. Also hatte er sich mit seiner Mutter auf einen Kompromiss geeinigt. Mama hatte zugestimmt, dass er sich eine Saison Zeit ließ, um sich ein eigenes Bild des Heiratsmarktes zu machen, ohne ihn dabei permanent zu bedrängen. Er hingegen hatte sich einverstanden erklärt, nach Ende der Saison eine Entscheidung zu treffen.

Die Saison war im Juni zu Ende gegangen. Er hatte keine einzige Frau kennengelernt, die sein Herz – oder zumindest seine tiefer liegenden Körperteile – nach einer engeren Beziehung hatte streben lassen. Aber er hatte seiner Mutter sein Wort gegeben. Er musste sich für eine Frau entscheiden.

Lady Susan würde dabei genauso gut sein wie jede andere. Vermutlich sogar besser. Sie befand sich immerhin in ihren frühen Zwanzigern und war damit älter als die meisten anderen Frauen auf der Liste. Mama hätte es bevorzugt, wenn er sich für eine Debütantin entschieden hätte. Mit einem Mädchen unter zwanzig blieben ihm laut seiner Mutter mehr Jahre für die Zeugung eines Erben. Er konnte jedoch den Gedanken daran, mit einem halben Kind ins Bett zu steigen, nicht ertragen. Und da Lady Susan, soweit er das beurteilen konnte, keinerlei leidenschaftliche Gefühle für ihn hegte, würde sie seine fehlende Anziehung ihr gegenüber nicht kränken.

Harry hoffte lediglich, dass ihr unaufhörliches Geplapper ihn nicht taub werden ließ.

Zumindest war sie hübsch anzuschauen. Und Darrow Hall war ein weitläufiges Anwesen. Es würde nicht schwer werden, ihr dort aus dem Weg zu gehen. Und wenn er in London war, konnte er seine gesamte Zeit in seinen Clubs verbringen. Abgesehen von den Pflichtterminen für die gemeinsame Zeit im ehelichen Bett. Mit etwas Glück würde er sie in ihrer Hochzeitsnacht schwängern und die ersten beiden Kinder würden Söhne werden.

Lady Susans Ausführungen über Mode schienen kein Ende zu nehmen, aber die Zeit lief unerbittlich weiter. Harry konnte spüren, wie die Blicke seiner Mutter und seiner Schwägerin Löcher in seinen Rücken bohrten. Es war der letzte Tag des Hausempfangs. Von ihm wurde erwartet, die Frau zu einem Spaziergang durch den Garten einzuladen, wo er ihr vermutlich einen Kuss stehlen und herausfinden würde, ob sie zustimmte, dass er bei ihrem Vater um ihre Hand anhielt.

Selbstverständlich würde sie zustimmen. Sie wäre nicht auf diesem verdammten Empfang erschienen, wenn es anders wäre. Ihr Vater saß vermutlich in irgendeinem der Zimmer und wartete bereits auf Harrys Erscheinen.

Sein Magen drehte sich um und er nahm einen großen Schluck Brandy. Während des Krieges hatte er schon vor viel größeren Herausforderungen gestanden. Zumindest würde er bei ihrem Ausflug in den Garten nicht sterben – es sei denn, er ertrank in ihrem nicht enden wollenden Schwall an Worten.

Je früher Harry heiratete und einen Sohn zeugte, desto früher bekam er sein Leben zurück. Er war nicht auf der Suche nach einer Liebesheirat. Verdammt, er würde die Liebe nicht einmal erkennen, wenn sie direkt vor ihm stünde.

Was ich mit Pen erlebt habe, fühlte sich sehr wie die Liebe an …

Ha. Er war erst achtzehn gewesen. Was hatte er damals schon von der Liebe gewusst? Nichts. Er hatte ausschließlich Lust verspürt, reine – lupenreine – und pure Lust.

Diese Verbindung mit Lady Susan würde eine typische Vernunftehe werden. Eine geschäftliche Vereinbarung: ein Titel, Ansehen und Reichtum im Austausch gegen einen oder zwei Söhne. Im ton gehörte so etwas nun mal dazu. Sobald seine Ehefrau – sobald Lady Susan – ihren Teil der Abmachung erfüllt hatte, konnte sie, solange sie dabei besonders vorsichtig vorging, ihre eigenen Wege gehen.

Harry hoffte lediglich, in der Zeugung eines Erben effizienter zu sein als Walter.

Er straffte die Schultern – metaphorisch gesprochen. Es hatte keinen Zweck, das Unvermeidbare noch weiter hinauszuzögern. Er öffnete den Mund, um die Worte auszusprechen, die sein Schicksal besiegeln würden.

Und dann erhellte ein Blitz den Raum, gefolgt von einem lauten Donnergrollen und einem sintflutartig einsetzenden Platzregen.

Gott hatte ihn gerettet. An diesem Abend würde es keinen Spaziergang durch den Garten geben.

Der Allmächtige hatte es sogar geschafft, Lady Susans Redefluss zu unterbrechen.

Kurz.

„Meine Güte, das war eine Überraschung. Ich mag Gewitter nicht. Letzten Sommer bin ich nämlich in ein ganz fürchterliches Gewitter geraten.“

War er nun dazu verdammt, einem Bericht über jeden Regentropfen, der jemals auf Lady Susans hübschem Kopf gelandet war, zu lauschen?

Nein. Der Duke of Grainger kam herüber, um das zu vollenden, was der Allmächtige begonnen hatte.

„Guten Abend, Lady Susan“, sprach der Duke in die Stille hinein, die er mit seinem Auftritt erzeugt hatte. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich mich mit Darrow davonstehle, aber es ist leider schon spät und ich muss noch eine dringende Angelegenheit mit ihm privat besprechen.“

Harry sah sich um und stellte überrascht fest, dass fast alle Personen – abgesehen von seiner Mutter, seiner Schwägerin und dem Sherry trinkenden Lord Pembleton in der Ecke – bereits gegangen waren.

„Oh?“ Lady Susan sah unsicher zu Harry. „Aber ich dachte … Ich hatte erwartet …“ Sie runzelte die Stirn. „Lord Darrow, mir wurde zu verstehen gegeben, dass wir etwas von besonderem Interesse zu besprechen hätten.“

Warum dann das Gerede über Kleider?

Harry öffnete den Mund, nicht sicher, welche Worte gleich herauskommen würden, aber Grainger klopfte ihm auf den Rücken und fing an zu sprechen, bevor er es selbst tun konnte.

„Nun, es kommt immer ein Morgen, nicht wahr? Ich bin sicher, die Angelegenheit lässt sich auch später noch klären. Bei meiner ist das leider nicht möglich. Bitte entschuldigen Sie uns.“

Und mit diesen Worten zog er Harry mit sich.

Harry hatte nie zu den Personen gehört, die sich von anderen Leuten leiten ließen, aber er war auch kein Idiot. Er konnte eine Rettungsaktion erkennen, wenn er sich mittendrin befand. Demütig – und schnell – folgte er Grainger, bis sie in dessen Arbeitszimmer angekommen waren und die Tür fest hinter ihnen verschlossen war.

„Sapperlot!“ Harry ließ sich in einen der Ledersessel am Kamin fallen.

Grainger lachte und ging hinüber zu einer Karaffe aus Kristallglas. „Darf ich dir noch einen Brandy anbieten?“ Er schmunzelte. „Der ist noch besser als der, den du gerade trinkst.“

Harry kippte die letzten Tropfen seines Brandys hinunter und hielt Grainger sein leeres Glas zum Auffüllen entgegen. „Ich hätte meine Unterhaltung mit Lady Susan zu Ende bringen sollen, weißt du?“

Ein leises Lachen entfuhr Grainger, als er sich auf dem Sessel gegenüber von Harry niederließ und die Karaffe auf dem Tisch zwischen ihnen abstellte. „Viel Glück dabei, auch nur irgendeine Unterhaltung mit dieser Frau zu Ende zu bringen.“ Er hob eine Augenbraue. „Du warst nicht gerade dabei, ihr das vorzuschlagen, was ich denke, oder?“

„Wenn du meinst, dass ich ihr einen Antrag machen wollte: Ja. Das wollte ich.“

Mit einer Mischung aus Abscheu und Mitgefühl im Gesicht schüttelte Grainger den Kopf. „Einen Antrag für dieses Plappermaul? Du wärst taub, noch bevor die Zeremonie zu Ende wäre.“ Er schnaubte. „Ich wette, du musst diese Frau knebeln, um überhaupt dein Gelübde formulieren zu können.“

Vermutlich. „Sie ist sehr hübsch.“

„Dann gib ein Gemälde von ihr in Auftrag und häng es in deinem Arbeitszimmer auf. Gemälde reden nicht.“

Wenn das nur sein Problem lösen könnte. „Ich habe meiner Mutter versprochen, noch während dieser Saison eine Frau zu finden.“

Grainger runzelte angewidert die Nase. „Und du hast dir Lady Susan ausgesucht?“

Harry zuckte mit den Schultern, nahm einen weiteren Schluck Brandy und starrte ins Feuer. „Ich werde kein Kind heiraten, das gerade erst die Schule beendet hat. Lady Susan wird schon gut genug sein.“

„Wofür? Um dich in den Wahnsinn zu treiben? Das wird ihr im Handumdrehen gelingen, da bin ich mir sicher.“ Grainger verzog das Gesicht. „Ich hatte das Pech, bei mehr als einem Essen neben ihr sitzen zu müssen. Ihre Lippen bewegen sich und Worte kommen heraus. In den meisten Fällen ergeben sie sogar einen Sinn, aber sie sind so verdammt langweilig. Am liebsten würde man sich ein Messer greifen und sie damit erstechen, nur um sie zum Schweigen zu bringen. Oder man schlitzt sich selbst die Kehle auf, um sein eigenes Elend zu beenden.“ Grainger schüttelte den Kopf. „Und sie hört nicht zu. Nie. Ich würde sie meinem schlimmsten Feind nicht an den Hals wünschen.“

Grainger lehnte sich nach vorn und deutete mit dem Zeigefinger in Harrys Richtung. „Heirate sie, und ich werde dich nie wieder hierher einladen. Mir ist meine Gesundheit zu viel wert. Großer Gott, ich schwöre dir: Mit jedem weiteren Wort, das sie von sich gibt, verliere ich ein Stückchen meines Verstands.“

Grainger übertrieb in dieser Angelegenheit doch ein wenig.

„Warum hast du sie dann zu diesem Empfang eingeladen?“ Zugegeben, hierbei hatte es sich nicht um eine der üblichen ländlichen Feiern des ton gehandelt. Es waren nur ältere Gäste erschienen. Keines der Mädchen, die gerade die Schule beendet hatten, war gekommen. Ein paar der Frauen waren Witwen mit Kindern im Schlepptau, was durchaus Sinn ergeben hätte, wenn Grainger eine erneute Heirat in Betracht ziehen würde. Graingers Frau war vor einigen Jahren gestorben, nur Tage nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, du könntest tatsächlich dazu tendieren, um ihre Hand anzuhalten. Ich möchte keinesfalls auf deine Bekanntschaft verzichten. Ich hatte gehofft, dass der ausgedehnte Kontakt zu ihr dich wieder zur Vernunft bringen würde.“ Er grinste und fügte hoffnungsvoll hinzu: „Und, hat es funktioniert?“

An Harrys Vernunft hatte es nie gemangelt. „Du scheinst die Angelegenheit nicht zu begreifen, Grainger. Ich brauche einen Erben, also brauche ich auch eine Ehefrau.“

„Aber vielleicht nicht gerade diese Frau.“ Grainger schenkte ihnen Brandy nach. „Wozu die Eile? Du bist noch nicht einmal dreißig.“

„Das stimmt, aber der plötzliche Tod meines Bruders – du weißt, dass Walter nur fünfunddreißig Jahre alt geworden ist – hat mir …“ Jetzt konnte er genauso gut alle Karten auf den Tisch legen. „Nun, er hat vielmehr meiner Mutter und meiner Schwägerin deutlich vor Augen geführt, wie unsicher doch das Leben ist. Meine Kutsche könnte sich auf dem Heimweg überschlagen und ich könnte mir das Genick brechen.“

„Was der Heirat mit Lady Susan durchaus vorzuziehen wäre.“

Beinahe hätte Harry seinen Brandy durch die Nase herausgeprustet. „Das würde ich so nicht sagen.“ Wenn er jedoch schonungslos ehrlich war, konnte er Graingers Aussage nicht vollständig widersprechen.

Ich kann doch meinen eigenen Tod nicht wirklich einer Heirat mit Lady Susan vorziehen, oder?

Nein, natürlich nicht.

Skeptisch hob Grainger eine Augenbraue. Er widersprach Harry jedoch nicht. „Hast du nicht einen Cousin oder einen anderen Verwandten, der den Titel bei einem vorzeitigen Ableben deinerseits erben würde?“, fragte er stattdessen.

Harry nickte. „Ja. Einen weit entfernten Cousin in der Linie des Bruders meines Urgroßvaters.“

„Ah. Das würde wohl zu einem großen Desaster führen, nicht wahr?“, fragte Grainger, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

Natürlich sah Grainger kein Problem darin, den Titel des Earls an … Harry war sich nicht einmal sicher, wie der Mann, der ihm als Erbe folgen würde, hieß. Die Suche nach weit entfernten Verwandten im verstaubten Stammbaum der Familie war genau die Methode gewesen, wie Grainger zu seinem Titel gekommen war. Bis zum Frühling dieses Jahres war er lediglich Edward Russell, ein Londoner Anwalt, gewesen. Und dann war der vierte Duke of Grainger zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern plötzlich und unerwartet an der Grippe gestorben.

Mit einem Schulterzucken bestätigte Harry Graingers Gedanken. „Vielleicht würde es das nicht, aber Mama und Letitia sind nicht gerade darauf erpicht, ihren komfortablen Lebensstil aufzugeben.“

Grainger hob auch seine andere Augenbraue und runzelte anschließend die Stirn. Er biss sich ganz offensichtlich auf die Zunge.

Nun, Grainger trug nicht die Bürde von – ähm … war gesegnet mit – weiblichen Verwandten.

„Beiß dir nicht die Zunge ab“, warnte Harry. Grainger schmunzelte. „Und natürlich geht es nicht nur um die beiden“, fuhr Harry fort. „Ich trage eine Verantwortung gegenüber allen Personen, die auf dem Anwesen leben.“ Er mochte sich zwar nie genau mit einem Dasein als Earl auseinandergesetzt haben, aber seine Jahre in der Armee und die Arbeit für die Krone hatten ihn zu einer Person gemacht, die auf die Menschen achtgab, die von ihr abhängig waren.

Grainger wirkte noch immer nicht überzeugt. „Ich verstehe. Nun, dann tut es mir leid, deine Pläne vereitelt zu haben. Ich hoffe – nein, eigentlich hoffe ich nicht, denn ich halte das für eine verdammt schlechte Idee. Aber wenn du wirklich so von deinem Plan überzeugt bist, kannst du Lady Susan sicherlich morgen früh einen Antrag machen.“

Harry ächzte und nahm einen weiteren Schluck Brandy. Er war nie von der Idee begeistert gewesen, um Lady Susans Hand anzuhalten, doch plötzlich fühlte er sich, als säße er in der Falle.

Verdammt, warum hatte Grainger nur die Tür seines Gefängnisses geöffnet? Die Versuchung war groß, doch noch zu flüchten. Der Brandy musste schuld sein.

Er nahm noch einen Schluck. „Gibt es denn nun tatsächlich eine wichtige Angelegenheit, die du mit mir zu besprechen hast, Grainger? Oder war das eben nur ein Vorwand, um mich von Lady Susan wegzulocken?“

Erneut schenkte Grainger ihnen Brandy nach. Wäre Harry eine misstrauische Person gewesen, hätte er vermutet, der Duke wollte ihn betrunken genug machen, um das Pflichtbewusstsein seines besseren und verantwortungsvolleren Ichs über Bord zu werfen.

„Tatsächlich habe ich etwas mit dir zu besprechen“, erwiderte Grainger, „die Angelegenheit ist jedoch nicht wirklich dringend.“

Harry musste wohl ein Knurren von sich gegeben haben, denn Grainger schmunzelte.

„Die Sache erfordert jedoch Diskretion“, fuhr er fort, „und ich weiß, dass du für die Krone schon einige diskrete Aufgaben erledigt hast.“

Ich sollte nicht darauf eingehen …

Er konnte sich jedoch nicht zurückhalten. „Sprich weiter.“

Grainger hatte ihn am Haken. Wenigstens erlaubte sich der Duke nur ein leichtes Schmunzeln, als er fortfuhr.

„Ich bin die Bücher des Anwesens durchgegangen“, begann Grainger mit seiner Erklärung. „Sie sind ziemlich chaotisch.“

Harry nickte. Darrows Bücher waren nicht die schlechtesten, aber es stellte immer eine Herausforderung dar, sich von jetzt auf gleich mit einer Angelegenheit auseinandersetzen zu müssen, für die jegliche Erfahrung fehlte.

„Soweit ich das beurteilen kann, hat das Anwesen über ein Jahrzehnt lang jemanden oder etwas in einem Dorf mit dem Namen Little Puddledon unterstützt.“

Harry runzelte die Stirn. „Von dem Ort habe ich noch nie gehört. Und was meinst du mit ‚jemanden oder etwas‘?“

Grainger zog die Schultern nach oben. „Im Eintrag wird der Empfänger lediglich als JSW abgekürzt. Das könnte für Joseph Samuel Withers, aber auch für die Jäger zum Schutz der Wiesel stehen.“

Harry schnaubte. „Ich würde sagen, wenn der vorherige Duke keine Vorliebe für Wiesel hatte, muss JSW wohl sein Bastard sein.“

Der Duke verzog das Gesicht. „Ja, der Gedanke ist mir auch bereits gekommen.“

„Konnte der Bevollmächtigte des alten Dukes dir nicht sagen, wofür das Geld ist?“

Grainger fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Genau das ist das Problem. Auch er war auf dem Anwesen, als die Grippe sich ausbreitete, und starb an der Krankheit. Sonst scheint niemand irgendetwas über diese Angelegenheit zu wissen.“

Harry runzelte die Stirn. „Das ist merkwürdig.“

Grainger nickte. „Sehr merkwürdig. Es handelt sich jedoch nur um eine kleine Summe, die einmal im Jahr ausgezahlt wird. Deshalb ist es vermutlich auch verständlich, dass die Zahlung übersehen wurde. Ich habe die Sache zuvor gewiss auch nicht als Priorität betrachtet.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Zahlung für dieses Jahr wäre vor zwei Wochen fällig gewesen. Ich habe sie jedoch gestoppt, bis ich die Einzelheiten kenne. Ich hatte geplant, selbst nach Little Puddledon zu reisen, sobald das Treffen hier vorbei ist, und zu sehen, was ich herausfinden kann.“

Nun war Harry an der Reihe, eine Augenbraue zu heben. „Der Duke of Grainger plant, ein unbekanntes Dorf zu besuchen? Das wird in Rekordzeit für Gerede sorgen.“

Grainger lachte auf. „Ich bezweifle, dass mich jemand erkennen wird. Ich hatte nicht geplant, meinen Besuch dort anzukündigen. Ich wollte mit dem Pferd dorthin reiten und mich mit meinem Familiennamen statt meines Titels vorstellen. Allerdings …“ Er sah Harry hoffnungsvoll an. „Ich gebe offen zu, keinerlei Erfahrung im Herumschleichen zu haben.“

„Aber ich habe Erfahrung.“ Harry ahnte, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickelte.

„Exakt. Die Situation könnte durchaus unangenehm werden, abhängig davon, was mich dort erwartet, wenn man meine Identität aufdeckt. Aufgrund der Tatsache, dass du tatsächlich bereits Erfahrung mit … ähm … dem Herumschleichen mitbringst, wärst du vermutlich die bessere Wahl, diese Nachforschungen anzustellen.“ Er schmunzelte. „Außerdem würde die Aufgabe dir eine Pause von Lady Susan und den Beschwörungen deiner weiblichen Verwandten verschaffen.“

Das ist richtig.

„Obwohl ich mich schon so oft gefragt habe, wie du es geschafft hast, auf dem Kontinent keine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.“ Grainger zeigte auf Harrys Schläfe. „Mit deiner silbernen Haarsträhne könntest du genauso gut ein Schild mit deinem Namen auf der Stirn tragen.“

Seine silberne Strähne, die im starken Kontrast zu seinem dunklen Haar stand, ließ Harry tatsächlich aus der Masse herausstechen. Er wäre jedoch überrascht, wenn irgendjemand in Little Puddledon von der Graham-Strähne wüsste. „Das ist kein Problem, das man nicht mit ein bisschen Schwärze lösen könnte.“

Der Gedanke daran, Mama und Letitia – und Lady Susan – zu entfliehen und zumindest einen Teil seines alten Lebens zurückzuerhalten, wenn auch nur für kurze Zeit, war sehr reizvoll.

Es wäre ja nur für ein paar Tage. Lady Susan wird schon nicht so schnell einen anderen heiraten.

Es war bezeichnend, dass der Gedanke daran, sie könnte sich für einen anderen Mann entscheiden, Harry eine Art Erleichterung verschaffte.

Ich nehme diesen letzten Spaß mit und lasse mich dann als Vorzeige-Earl nieder.

Harry zögerte nur noch einen Augenblick. „Also gut. Ich würde mich freuen, die Nachforschungen für dich übernehmen zu dürfen.“ Begeisterung wäre wohl die passendere Beschreibung seiner Emotionen gewesen. „Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg.“

Grainger erhob sein Glas. „Hervorragend. Ich würde dir empfehlen, so früh wie möglich aufzubrechen, bevor die Frauen erwachen. Ich werde ihnen mitteilen, dass du in einer dringenden Angelegenheit für mich unterwegs bist.“ Er grinste. „Und ich verspreche dir, ihnen dein genaues Reiseziel nicht zu verraten.“

Kapitel zwei

Sonntag, Little Puddledon

Penelope Barnes saß neben ihrer Tochter Harriet und betrachtete den Pfarrer eingehend, während er die Stufen zur Kanzel hinaufstieg.

Leider hatte sich Reverend Godfrey Wright nicht auf wundersame Weise über Nacht in einen Prinzen verwandelt. Seine leicht vorstehenden, wässrig blauen Augen erinnerten sie noch immer eindringlich an eine Amphibie. Hinzu kamen sein dünner werdendes braunes Haar, seine Hakennase, sein fliehendes Kinn und sein ausgeprägter Bierbauch, den er in diesem Moment unter seinem Gewand verbarg.

Puh.

Alleinstehende Männer sind Mangelware in Little Puddledon, das weißt du doch, erinnerte Pen sich streng. Godfrey ist deine beste – deine einzige – Chance, Harriet aus dem Heim zu holen.

Für Harriet würde sie alles tun, sogar Godfrey heiraten.

Und was hatte das schon wirklich zu bedeuten? Harry Graham war der einzige Mann gewesen, der ihr Herz jemals hatte höherschlagen lassen. Sie musste vernünftig sein. Und Godfrey war nun mal eine vernünftige Wahl. Mit dreißig Jahren war er alt genug, seine jugendliche Unvernunft abgelegt zu haben, aber nicht so alt, bereits auf dem Weg in die Senilität zu sein.

Ein scheußliches Bild des nackten Godfrey und davon, wie er sich ihrem ehelichen Bett näherte, trat unaufgefordert und viel zu detailgetreu vor Pens inneres Auge. Galle stieg in ihr hoch.

Alt und schwach wäre wohl die bessere Wahl.

Unsinn. Sie legte die Stirn in Falten und setzte sich ein wenig aufrechter hin, um das erdrückende Gefühl in ihrem Magen zu vertreiben. Wie gern würde sie Harriet eine Schwester schenken. Sie war selbst ein Einzelkind und hatte sich immer Geschwister gewünscht. Godfrey war ein Geistlicher, der sich viel mehr dem Seelischen als dem Körperlichen gewidmet hatte. Sein Verlangen sollte nur schwach ausgeprägt sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach müsste sie ihren ehelichen Pflichten nur unregelmäßig nachgehen – nur so oft, dass es für die Zeugung eines Kindes reichte. Wenn sie Glück hatte, würden sie dieses Ziel schon in der Hochzeitsnacht erreichen.

Pen war mehr als gewillt, ihren anderen fraulichen Pflichten gegen Gewährung eines Daches über ihrem und Harriets Kopf nachzukommen. Eines Daches, unter dem nicht auch gleichzeitig Verity Lewis ein Zuhause fand.

„Hör auf!“

Pen fuhr zusammen und schaute ihre Tochter an, als Godfrey, der mitten im Satz verstummt war, den Kopf in ihre Richtung drehte.

Verdammt! Der Mann durfte nun keinesfalls eine Abneigung gegen Harriet entwickeln.

Pens willensstarke Tochter wirkte nicht so, als hätte sie von der Aufmerksamkeit Notiz genommen. Ihr gesamter Fokus lag auf Verity, dem elfjährigen Mädchen in der Kirchenbank hinter ihnen. Verity blickte sittsam auf ihre lose in ihrem Schoß gefalteten Hände. Sie war ein Abbild der Unschuld – wenn man darüber hinwegsah, dass ein leichtes Grinsen ihre Mundwinkel umspielte und dass Martha Hall, Veritys wichtigste Komplizin, neben ihr kicherte.

Lieber Gott, was hat dieses Mädchen Harriet nun schon wieder angetan?

Pen überkam ein ihr mittlerweile sehr vertrauter Anflug von Wut, Schmerz und Verzweiflung. Sie beugte sich zu ihrer Tochter hinüber und flüsterte: „Pst. Du störst Mr Wright und den Rest der Gemeinde, Harriet.“

Verity war der Grund dafür, dass Pen ihre Tochter Harriet so dringend aus dem Wohltätigen Heim für die Betreuung und Unterstützung von Jungfern, Witwen und verlassenen Frauen und ihren unseligen Kindern holen musste.

Bereits im Frühling, kurz nach seiner Ankunft im Dorf, hatte Pen mit dem Gedanken gespielt, Godfrey zu heiraten. Sie war es müde geworden, sich ein Haus mit so vielen Frauen teilen zu müssen, und wollte, dass Harriet in einer richtigen Familie aufwachsen konnte. Und seit dem Tag, an dem Verity und ihre Mutter Rosamund durch die Türen des Heims getreten waren, hatte sich ihr Entschluss, Godfrey in Richtung einer Heirat zu bewegen, nur noch gefestigt.

Sie hatte versucht, Verity nicht grundlos zu verurteilen. Neue Mädchen hatten es häufig schwer, sich an das Heim zu gewöhnen. Verity und Rosamund lebten erst seit zehn Tagen an diesem Ort – ja, Pen hatte die Tage gezählt –, aber jeder weitere Tag war nur noch schlimmer gewesen als der vorherige. Verity hatte all die anderen Mädchen gegen Harriet aufgebracht.

Jedes Kichern, jedes vorlaute Flüstern machten Pen wütend und die verletzten und irritierten Blicke ihrer Tochter trafen sie direkt ins Herz.

Bis zum vergangenen Morgen war es ihr noch gelungen, ihre Wut zu zügeln. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie gehört hatte, wie Juliet Walker, Harriets beste Freundin – und zu diesem Zeitpunkt auch ihre einzige Freundin – Harriet erzählt hatte, dass Verity ihr verboten hatte, weiterhin mit Harriet zu spielen.

Die Erinnerung daran brachte Pens Blut auch jetzt noch zum Kochen, selbst im Hause des Herrn.

Und sie hätte schwören können, dass an diesem Morgen noch etwas anderes passiert war. Harriet war ungewöhnlich bedrückt gewesen, als sie aus dem Schlafsaal in Richtung Gottesdienst gegangen war.

Harriets blaue Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren, funkelten. „Verity hat an meinen Haaren gezogen, Mama“, flüsterte sie aufgebracht.

Pen konnte es nicht lassen – sie drehte sich zu Verity um.

Das Grinsen auf Veritys Gesicht wurde breiter.

Diese fiese kleine Ratte. Am liebsten würde ich …

Nein.

Pen zwang sich dazu, tief durchzuatmen. So dringend sie Verity auch ohrfeigen wollte, das Mädchen war noch immer ein Kind – ein unausstehliches und hinterhältiges Kind, aber eben dennoch ein Kind.

„Vielleicht war es ein Versehen“, versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen.

Genau. Weder sie noch Harriet glaubten daran.

Harriet war die Sturheit im Gesicht anzusehen. „Nein, war es nicht. Sie …“

Pen legte ihre Hand auf Harriets Arm. Sie war sich sicher, Godfreys bohrenden, finsteren Blick auf ihrem Hinterkopf spüren zu können. Immer wenn er etwas missbilligte – und das kam leider häufiger vor –, flatterten seine Nasenflügel und er rümpfte die Nase, so als hätte er die Schweine von Farmer Smith gerochen.

„Wir sprechen später darüber. Hör jetzt Mr Wrights Predigt zu.“

Harriet zog ihre Brauen so angestrengt zusammen, dass sie sich fast berührten, und schob ihre Unterlippe vor Wut schmollend nach vorn. Zum Glück hielt sie ihre Zunge im Zaum.

Pen entspannte sich ein wenig und drehte sich wieder zu Godfrey um. Er rümpfte die Nase und fuhr fort, seine Predigt herunterzuleiern.

Nein, er hielt eine aufschlussreiche … ähm … eine interessante … nun, eine ernst zu nehmende …

Oh, warum diese Heuchelei? Godfreys Predigten waren eine Einladung, seinen Geist zu entspannen und seine Gedanken treiben zu lassen.

Pen setzte einen andächtigen Gesichtsausdruck auf – mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie es perfektioniert, ihre Langeweile durch Aufsetzen einer falschen Fassade zu verschleiern – und widmete sich wieder dem Grübeln über ihr Problem. Selbst wenn sie Godfrey an diesem Tag noch dazu brachte, ihr einen Antrag zu machen, müssten sie noch mindestens drei weitere Wochen warten, bis das Aufgebot bestellt wäre. Sie konnte Harriet nicht so lange leiden lassen. Es musste so bald wie möglich etwas gegen Verity unternommen werden.

Sie hatte die Sache nach dem Vorfall mit Juliet bei Jo zur Sprache gebracht – Jo war die Gründerin und Leiterin des Heims –, aber Jo war eine verdammte Heilige. Sie hatte Pen zu Geduld und Verständnis geraten. Die andere Wange hinhalten.

Zum Teufel damit! Hier ging es um Harriet. Jo hatte keine Kinder, sie konnte also gar nicht verstehen, wie erbittert das Bedürfnis in Pen loderte, Harriet zu verteidigen. Zum Schutze ihrer Tochter würde sie selbst dem Prinzregenten persönlich die Stirn bieten.

Wenn es nötig wäre, würde ich sogar damit drohen, unseren Betrieb zu verlassen.

Pen versteifte sich. Dieser Gedanke war ihr zuvor noch nicht gekommen.

Würde ich wirklich kündigen?

Eine gähnende Leere breitete sich in ihrem Bauch aus. Das Wohltätige Heim war der Ast gewesen, nach dem sie gegriffen hatte, als das Leben sie und Harriet zu verschlucken gedroht hatte. Wenn Mrs Simpson, Tante Margarets Freundin, ihr nicht am Tag nach Tante Margarets Tod von diesem Ort erzählt hätte, wäre Pen mit ihrem acht Monate alten Säugling wohl unter einer Brücke gelandet.

Ihre Ankunft war auch für das Heim eine Bereicherung gewesen. Sie wusste genug über Landwirtschaft – ihr Vater war oft zu betrunken gewesen, um sich um die eigenen Felder zu kümmern, deshalb waren ihr diese Pflichten zuteilgeworden. Im Heim hatte sie dann die Bewirtschaftung der Obstgärten sowie die Pflege der allzu verwahrlosten Hopfenfelder übernommen. Sie und Caro Anderson, eine weitere Heimbewohnerin, hatten die Idee entwickelt, sich des Bierbrauens anzunehmen. Jo hatte bereits unzählige Bemühungen unternommen, Geld zu verdienen und so mit dem Heim in dem Meer von Ausgaben nicht unterzugehen. Mit dem Bierbrauen hatten sie die Erwartungen mehr als übertroffen.

Sie waren noch nicht über den Berg; davon waren sie noch weit entfernt. Während der letzten zwei Sommer war das Wetter furchtbar gewesen, sodass fast nichts von ihrer Ernte übrig geblieben war. Doch auch diese Herausforderung hatten sie überstanden und dieses Jahr versprach deutlich besser zu werden. Die Hopfenpflanzen hingen voll mit Zapfen, die kurz vor der Ernte standen.

Konnte sie das wirklich alles aufgeben?

Ja. Ja, das konnte sie. Harriets Glück war ihr wichtiger als alles andere. Und es war schließlich nicht so, als würde sie zukünftig den ganzen Tag nur Däumchen drehen. Sie hätte eine neue Position einzunehmen – die der Pfarrersfrau. Sie würde gut damit zu tun haben, sich sowohl um Godfreys Wohl zu sorgen als auch die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder zu befriedigen.

Ihr Magen drehte sich um. Je weniger sie sich um Godfreys Wohl kümmern musste, desto besser.

Aua!“ Der Schrei war von Verity gekommen.

Pen richtete ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Mädchen. Die Krempe von Veritys Haube war verrutscht und sie hielt sich den Kopf.

Harriet streckte Verity mit erhobenen Händen ihr Gesangsbuch entgegen. „Wenn du mich noch einmal anfasst, schlage ich dich noch fester“, zischte Harriet in die plötzliche Stille hinein.

Entsetzt – oder vielmehr in der Erwartung eines schockierenden, skandalösen Streits – sog die Gemeinde kollektiv den Atem ein. Godfrey räusperte sich.

Flucht war die einzige Option. Pen griff nach Harriets Arm und stürzte – ihre Tochter im Schlepptau – aus der Kirchenbank und den Gang hinunter in Richtung Freiheit. „Entschuldigen Sie uns. Verzeihung. Harriet muss an die frische Luft.“

„Mama“, rief Harriet, nachdem sich die schwere Holztür der Kirche hinter ihnen geschlossen hatte.

„Nicht jetzt.“ Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass zumindest eines von Godfreys Schäfchen von einem plötzlichen Anfall von Neugier überfallen werden und ihnen folgen würde.

Harriet ließ zu, dass Pen sie die Kirchenstufen hinunter, an der Dorfwiese vorbei, über die Brücke und den halben Hügel hinauf zum Gutshaus mit sich zog, bevor sie sich ihr widersetzte. Sie stemmte ihre Stiefel fest in den Boden und befreite ihren Arm aus Pens Griff.

Pen blieb ebenfalls stehen, wandte ihrer Tochter das Gesicht zu – und fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Mit ihrem unerschrockenen Blick, ihren fest zusammengebissenen Zähnen und ihrer entschlossenen Ausstrahlung hatte Harriet in diesem Moment eine so große Ähnlichkeit mit Harry. Stolz, Liebe und Sorge tobten in Pens Bauch. Diese Selbstsicherheit und Unabhängigkeit waren für einen Mann hervorragend; insbesondere für einen Mann, der nun ein Earl war. Für ein junges, vaterloses Mädchen hatten sie jedoch nur wenig Nutzen.

„Es tut mir nicht leid, dass ich Verity geschlagen habe, Mama. Sie ist gemein.“

„Harriet …“ Sie sollte Gewalt nicht unterstützen, auch wenn sie noch so sehr Harriets Meinung war. „Verity ist neu im Heim. Du weißt, dass es für neue Mädchen am Anfang immer schwer ist.“

Harriets Augen verengten sich und ihr Kiefer wurde vor Anspannung steinhart. „Das weiß ich. Ich habe versucht, nett zu ihr zu sein, aber sie hört einfach nicht auf, mich zu ärgern.“

Pen spürte, wie erneut Wut in ihr aufstieg. Ihr fiel es schwer, mit ruhiger Stimme weiterzusprechen. „Ich werde mich mit Miss Jo unterhalten …“

„Verity hat mich Bastard genannt, Mama!“

Mit offenem Mund erstarrte Pen. Ihr Herz begann so schnell zu schlagen, dass sie Angst hatte, es würde ihr gleich aus der Brust springen.

Beruhige dich. Verity kann es nicht wissen. Little Puddledon ist ein kleines, unbekanntes Dorf in Kent. Niemand geht jemals nach London, und niemand aus London – oder Darrow – kommt jemals hierher. Wir sind in Sicherheit.

Verity und ihre Mutter kamen aus London.

Pens Herz klopfte noch schneller. Das Atmen fiel ihr schwer.

„Ich habe ihr erzählt, dass Sie eine Witwe sind, Mama. Dass Papa gestorben ist, als er gegen N-Napoleon gekämpft hat.“ Harriet schluckte. „Sie hat mich ausgelacht. Und dann hat sie auf mein Haar gezeigt und gesagt, das sei der Beweis dafür, dass ich ein Bastard bin.“

Oh Gott. Oh Gott.

Atme. Du kannst das immer noch in Ordnung bringen.

„Wenn du deine Strähne meinst: Ich habe dir doch gesagt, dass sie sich aufgrund eines Fiebers entwickelt hat.“

In dem Moment, in dem sie ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, war Pen klar gewesen, dass sie Darrow verlassen musste und nie wieder zurückkehren konnte. Selbst wenn sie eingewilligt hätte, den Mann, den ihr Vater und der Earl für sie bestimmt hatten, zu heiraten, hätte sie den richtigen Vater des Kindes nie verstecken können, sobald die silberne Strähne zum Vorschein gekommen wäre.

Oder sogar noch schlimmer: Jeder hätte vermutet, dass sie mit Walter verkehrt hätte und dass Harriet nur ein weiterer von Walters Welpen war. Das Anwesen war übersät mit ihnen.

Aber dann war die Strähne doch nicht gewachsen. Jahr um Jahr war Harriets Haar schwarz wie die Nacht geblieben. Pen hatte gehofft, es würde für immer so bleiben.

Es hatte sie erleichtert und, nun ja, auch ein wenig traurig gemacht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie im Tiefsten ihres Herzens auf ein sichtbares Andenken an Harry gehofft.

Ich habe ihn häufig damit aufgezogen, dass er einen Strahl Mondlicht in seinem Haar gefangen hat.

Ihm hatte diese Vorstellung nie gefallen.

Und dann, kurz nachdem Godfrey nach Little Puddledon gekommen war, war Harriet krank geworden. Nach ihrer Genesung waren wenige silbrig glänzende Haare an ihrer Schläfe aufgeblitzt. Die Strähne war nicht besonders deutlich zu sehen. Wenn Harriet eine Haube trug oder ihr Haar wie üblich nach hinten kämmte, konnte niemand sie erkennen. Bis jetzt hatten Harriet und alle anderen Pens Erklärung, die Strähne stamme von dem Fieber, akzeptiert.

„Verity hat etwas anderes gesagt. Sie und ihre Mutter haben sie die ‚Graham-Strähne‘ genannt und gesagt, dass nur der Earl of Darrow und seine Familie eine solche Strähne haben.“

Für einen kurzen Moment blieb Pens Herz stehen. Es musste noch andere Personen mit diesem charakteristischen Merkmal geben. Konnte sie behaupten, Harriets Vater sei ein Nachfahre der weiblichen Linie der Familie gewesen? Hatte Harrys Vater überhaupt eine Schwester gehabt? Sie konnte sich nicht erinnern.

Und das würde die Lügen, die Pen bereits erzählt hatte, auch nur um eine weitere ergänzen. Sie sollte besser bei ihrer ursprünglichen Geschichte bleiben.

Sie hatte sich zu viel Zeit gelassen. Harriet hatte den scharfen Verstand und den unerschütterlichen Mut ihres Vaters geerbt.

„Es stimmt, oder?“

„Ah.“ Mit einem Mal konnte sie nicht länger lügen. Der Moment, vor dem sie sich seit Jahren gefürchtet hatte, war schließlich gekommen. „Ähm …“

Es fiel ihr so schwer, die richtigen Worte zu finden.

Harriet verzog leicht das Gesicht, fing sich aber schnell wieder. Sie straffte den Rücken, als würde ein imaginärer Stab sie aufrichten. „Sie waren die Hu… die Geliebte des Earls, so wie Verity und ihre Mutter es gesagt haben, nicht wahr?“

„Nein, das war ich nicht.“

„Und all die Geschichten, die Sie mir über meinen Vater erzählt haben, waren gelogen.“

Pen fühlte sich, als hätte ihr jemand in den Magen getreten. „Nein!“

Oh, verdammt. Sie hatte sich in so viele Lügen verstrickt. Die Lüge, sie habe ihren Mann im Krieg verloren, war jedoch Tante Margarets Idee gewesen. Als Pen bei ihrer Tante auf der Fußmatte gestanden hatte, war sie zu durcheinander, verängstigt und traurig gewesen, um ihr zu widersprechen. Und die Geschichte war gar nicht so weit entfernt von der Wahrheit – zumindest nicht von der Wahrheit ihres Herzens. Für Pen hatte es sich wie eine Ehe angefühlt.

Von Anfang an war ihr bewusst gewesen, dass Harry sie nicht wirklich hatte heiraten können. Der Sohn eines Earls heiratete schließlich keine Bauerntochter. Aber das hatte keine Rolle gespielt. Sie hatte ihn so geliebt, wie es nur ein naives siebzehnjähriges Mädchen tun konnte – blind, leidenschaftlich, aus tiefstem Herzen. Ungehorsam. Und sie hatte wirklich geglaubt, dass auch er sie liebte – so wie ein lüsterner achtzehnjähriger Junge, der kurz davor war, in den Krieg zu ziehen, ein Mädchen lieben konnte.

Keine Ehefrau konnte sich mehr um ihren Mann sorgen, als sie sich um Harry gesorgt hatte während seiner Zeit auf dem Kontinent. Sie hatte alle Zeitungsberichte durchkämmt, immer in der Angst, seinen Namen unter den Opfern zu finden.

„Harriet …“ Pen trat näher. Wenn sie ihre Tochter berühren würde, wenn sie ihr den Arm um die Schultern legen würde, konnte sie es ihr vielleicht begreiflich machen.

Aber Harriet wich ihr aus. Sie bewegte sich in Richtung der Steinstufen, die ihr den Weg über den niedrigen Steinwall und hinaus auf die Felder eröffneten.

Ungelenk ließ Pen die Arme sinken. „Ich … Es war einfacher … Es fühlte sich nie wichtig an.“ Sie vergrub ihre Finger in ihrem Rock. „Ich wollte dir davon erzählen, wenn du älter bist.“

Hätte sie das wirklich getan? Vielleicht hatte sie gehofft, sie und ihre Tochter könnten für immer in dieser glücklichen Traumwelt leben. Und was machte das schon wirklich aus? Es war nicht so, als hätten Harriet bei einer ehelichen Geburt Reichtum und Sicherheit erwartet. Mädchen konnten den Titel oder das Land ihrer Väter sowieso nicht erben.

Harriets Gesicht war gerötet und sie presste ihre Worte zwischen kurzen, japsenden Atemzügen hervor. „Veritys Mutter hat gesagt, dass … mein richtiger Vater … letztes Jahr ge-gestorben ist.“

Was?! Das war lächerlich. Pen hatte in der Zeitung von Harrys gesellschaftlichen Bemühungen während der Saison gelesen. Es wurde vermutet, dass er der Tochter des Earls of Langley jeden Moment einen Antrag machen wür…

Oh. Natürlich. Rosamund und Verity hielten Walter für Harriets Vater. Jeder würde das denken.

Puh. Pens Magen drehte sich um.

Harriet schniefte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. „Ich hätte ihn kennenlernen können und jetzt kann ich das nicht mehr.“

„Harriet …“ Vielleicht ist es einfacher, wenn ich sie in dem Glauben lasse …

Nein, Pen hatte genug von den Lügen. Und sie wollte Harriet nicht glauben lassen, dass der verdorbene, untreue Walter ihr Vater war. Erneut drehte sich Pens Magen um. Oder dass Pen mit einem verheirateten Mann geschlafen hatte. Noch schlimmer. Als sie mit Harriet schwanger gewesen war, war Walter nicht nur bereits verheiratet gewesen, er hatte sogar eine Tochter gehabt und eine weitere erwartet.

„Harriet, hör auf. Dein Vater ist der derzeitige Earl.“

Ein ungewöhnlicher Ausdruck – eine Mischung aus Verwirrung und Schock – huschte über Harriets Gesicht.

Pen streckte die Hand erneut nach ihrer Tochter aus. Und Harriet wich erneut zurück. Sie stand nun mit einem Fuß auf den Steinstufen.

„Also … also i-interessiert er sich nicht für mich?“ Harriets Stimme bebte vor Schmerz und Unsicherheit.

Gott, Pen hasste es, ihre starke, furchtlose Tochter so zerbrechlich zu sehen.

Sie würde die Dinge wieder in Ordnung bringen. Sie würde Godfrey heiraten. Dann bekäme Harriet einen Vater und ein eigenes Zimmer. So musste sie sich nicht mehr dauerhaft mit der gemeinen Verity herumschlagen. Eine Heirat mit Godfrey würde all ihre Probleme lösen.

„Er weiß nichts von dir.“

Harriets Augen weiteten sich und ihr Mund stand offen – und die Wut verdunkelte ihre Miene. „Sie haben ihm nichts von mir erzählt?“ Harriets vorwurfsvolle Worte trafen Pen schwer.

Sie schüttelte den Kopf. Eine Welle lähmender Hilflosigkeit überkam sie. Gleichzeitig stieg in ihr die Erinnerung daran auf, wie hilflos sie sich gefühlt hatte, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. „Ich konnte nicht. Er hatte England bereits in Richtung Kontinent verlassen, als ich erfuhr, dass ich mit dir schwanger war. Er war in der Armee. Ich wusste nicht, wie ich ihn erreichen konnte.“

Harriet gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. „Aber er ist schon vor Monaten nach Hause zurückgekehrt, oder nicht? Sie hätten ihm dann von mir erzählen können.“

Ja, vermutlich hätte sie das tun können. „Das hatte doch keinen Sinn.“

„Wie meinen Sie das? Er hätte Sie vielleicht geheiratet. Wir hätten eine Familie sein können!“

Harriet war in Little Puddledon aufgewachsen. Sie hatte bis jetzt so gut wie keine Berührungspunkte mit dem Adel und der vornehmen Gesellschaft gehabt. Es fiel ihr also schwer, zu verstehen, wie diese Dinge funktionierten.

„Nein, das hätten wir nicht. Er hätte mich nicht geheiratet, Harriet. Ich bin eine Bauerntochter. Ein Earl heiratet nicht so weit unter seinem Stand.“

Aber ich bin seine Tochter.

Pens Herz brach bei dem Schmerz in Harriets Stimme. Vielleicht war das der eigentliche Grund gewesen, dass sie Harry nicht geschrieben hatte. Ohne die Gewissheit zu haben, war ihr immer noch die leise Hoffnung geblieben, er würde sich tatsächlich um seine Tochter sorgen.

Ein dummer Gedanke. Es war viel wahrscheinlicher, dass Harry in Walters Fußstapfen getreten war – nun, Fußstapfen war in diesem Fall wohl nicht der richtige Ausdruck – und eine Vielzahl unehelicher Nachkommen gezeugt hatte.

„Das spielt keine Rolle, Harriet. Du bist meine Tochter. Ich habe mich in all den Jahren um dich gekümmert. Ich werde mich immer um dich kümmern.“ Vielleicht würde es Harriet besser gehen, wenn Pen sie in ihre Pläne einweihte. „Wenn ich Mr Wright heirate …“

Mr Wright heiraten?!“ Harriet klang entsetzt, und das spiegelte sich auch in ihrem Gesicht wider. „Den Pfarrer?“

„Nun ja, natürlich den Pfarrer.“ Pen versuchte, sich ihren Verdruss nicht in ihrer Stimme anmerken zu lassen, jedoch mit wenig Erfolg. „Das ist der einzige Mr Wright im Dorf.“

„Er hat Sie gefragt, ob Sie ihn heiraten?“ Harriets Stimmfarbe nach zu urteilen, hätte der Mann Pen genauso gut dazu auffordern können, nackt durch den Kirchengang zu tanzen.

„Noch nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er das tun wird.“ Pen setzte ein, wie sie hoffte, beruhigendes Lächeln auf. „Und dann werden wir ein richtiges Zuhause haben. Du musst dich nicht mehr andauernd mit Verity und den anderen Mädchen herumärgern.“

Harriet schüttelte den Kopf und sah dabei so aus, als wäre ihr übel. „Mr Wright heiraten?“, wiederholte sie mit dumpfer Stimme.

„J-ja.“ Das war sicher nicht die Reaktion, mit der Pen gerechnet hatte.

„Er ist … er ist grauenvoll.“

„Nein, das ist er nicht.“ Godfrey mochte ein wenig aufgeblasen und scheinheilig und, na ja, langweilig sein, aber er war nicht grauenvoll.

„Doch, ist er. Er sieht genauso aus wie eine hässliche, hinterlistige Kröte …“

„Das tut er nicht.“

„… und jedes Mal, wenn er mich sieht, rümpft er seine große Nase. Fast so, als würde ich stinken.“ Harriets Augen verengten sich. Mit diesem Gesichtsausdruck sah sie genauso aus wie Harry, wenn er wütend war. „Ich hasse ihn.“

„Harriet!“ Wo war ihre ruhige, kontrollierte Tochter geblieben?

„Und er wird Sie nicht heiraten, wenn er herausfindet, dass Sie eine Hu-Hure sind.“

Harriet!

„So hat Verity Sie genannt.“ Harriet schrie nun, aber Pen konnte auch das Zittern in ihrer Stimme hören. „Sie haben ein Kind bekommen und waren nicht verheiratet.“ Wütend schniefte sie und wischte sich ein paar verräterische Tränen aus den Augen. „Und wenn er mich jetzt sieht, wird er seine lange, hässliche Nase nur noch mehr rümpfen, weil ich ein Bastard bin und weil meine Zeugung eine Sünde war.“

„Nein, das bist du nicht.“ Nun fühlte sich Pen richtiggehend krank. „Und das wird er auch nicht tun.“ Godfrey war ein Pfarrer. Mit Sicherheit würde er Barmherzigkeit walten lassen.

Aber Harriet war bereits verschwunden. Sie war über den Steinwall geklettert, rannte nun über das Feld und hatte Pens Herz mitgenommen.

Soll ich ihr folgen?

Nein. Auch in diesem Punkt war Harriet ihrem Vater sehr ähnlich. Sie brauchte Zeit für sich, um sich über ihre Gefühle klar zu werden – sie musste sich auf einmal mit vielen unangenehmen Dingen auseinandersetzen. Sie würde nach Hause kommen, wenn sie dazu bereit war.

Pen machte sich auf den Rückweg zum Gutshaus. Ihre Schritte fielen ihr dabei jedoch so schwer, dass sie förmlich das Gefühl hatte, durch Sirup zu waten.

Godfrey wird Harriet ihre uneheliche Geburt nicht wirklich nachtragen, oder?

Niedergeschlagen blickte sie hinunter in den Dreck. Ich werde das nicht zulassen. In dem Moment, in dem sie irgendetwas in dieser Richtung beobachtete – oder auch nur vermutete –, würde sie den Mann in unmissverständlichem Ton wissen lassen, dass sie ein solches Verhalten nicht tolerierte. Für Harriet würde sie alles tun. Sogar lügen.

Wenn er von den Gerüchten erfährt, werde ich sie abstreiten.

Dieses Mal war sie überrumpelt worden, aber da sie nun wusste, was Rosamund und Verity über sie erzählten, konnte sie sich eine überzeugendere Geschichte ausdenken. Eine, die der Wahrheit so nah wie möglich kam. Sie war keine geübte Lügnerin. Sie musste das Märchen simpel halten …

Ah, ihr kam eine Idee. Sie würde behaupten, ihr lieber verstorbener Gatte Mr Barnes sei ein Nachfahre eines Graham-Bastards, einer außerehelich geborenen Tochter, gewesen. Das würde bestimmt funktionieren. Godfrey hatte gute Gründe, Pens Aussagen Glauben zu schenken. Er wollte mit ihr ins Bett steigen.

Sie unterdrückte einen Schauder und beschleunigte ihre Schritte. Dabei lenkte sie ihre Gedanken auf ein unverfänglicheres Thema – auf ihren Hopfengarten. Wenn sie nach Hause kam, würde sie nach den Pflanzen sehen und die lästigen Schädlinge, die auf den Blättern lauerten, entfernen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Zapfen reif für die Ernte waren, und sie könnte endlich aufhören, sich Sorgen zu machen – zumindest um den Hopfen.

Wenn sie doch nur die gemeinen Worte und die schmerzhaften Blicke auch so leicht aus Harriets Herzen entfernen könnte.