Leseprobe Die Frau am See

1

Der Tag, an dem alles begann, war ein kühler, sonniger Frühlingstag. Emily Hansen kam in ziemlich aufgewühlter Verfassung nach Hause und machte sich sofort über den Computer her. Dass sie dabei solche Eile hatte, war ungewöhnlich. Sie hatte das ganz besondere Gefühl, dass sich in der Sache, die sie seit Tagen beschäftigte, endlich etwas Entscheidendes getan hatte. Und ihre Gefühle täuschten sie nur selten.

Schon auf dem Heimweg war sie so ungeduldig gewesen wie nur selten. Jetzt endlich saß sie vor dem Monitor. Sie gab das Passwort ein, das Lena, ihre beste Freundin, und sie sich ausgedacht hatten: KAKTUSBLÜTE. Sie konnte es kaum erwarten, dass das Postfach sich endlich öffnete. Tatsächlich war eine Nachricht eingegangen.

Die Adresse hatten sie eigens für ihren Vater eingerichtet, wovon er allerdings nichts wissen durfte. Das Passwort hatten sie aus zwei Gründen gewählt. Erstens waren Kakteen seine Lieblingspflanzen und zweitens sollte das, was Emily für ihn suchte, so was wie die neue Blüte seines Lebens werden.  

Das Postfach bestand jetzt seit vier Tagen. Natürlich war dies nicht die erste eingegangene Nachricht, denn ihre Anzeige hatten sie in drei oder vier Kontaktseiten aufgegeben. Alle bisherigen Antworten hatten sie sofort gelöscht, da sie entweder banal waren oder anbiedernd.

Diese hier war dagegen schon auf den ersten Blick etwas Besonderes. Das fing mit der Länge an. Keine lieblos hingehauenen zwei Zeilen, aber auch nicht gleich ganze Romane, in denen die Verfasserinnen schamlos ihr Leben vor einem immerhin Unbekannten ausbreiteten. Ausgedruckt war dies hier ungefähr eine halbe Seite. Emily fand, das war eine gute Länge.

Auch der Tonfall des Briefes war okay. Die Worte klangen freundlich und interessiert, aber nicht aufdringlich. Selbst sie hätte Lust gehabt, diese Frau kennenzulernen. Und sie war ein Mädchen und gerade siebzehn Jahre alt. Wie musste es da erst einem sechsundvierzigjährigen Mann gehen, der seit Ewigkeiten ohne Frau lebte? 

Sie las den Brief sechs oder sieben Mal. Ungefähr nach dem dritten Mal mischte sich leichte Nervosität in ihre Begeisterung. Als sie schließlich den Brief beiseitelegte, war diese zur nackten Panik mutiert.

Bei der Bewerberin handelte es sich fraglos um eine ernstzunehmende Kandidatin. Und Emily hatte keinen Schimmer, wie es jetzt weitergehen sollte. Eigentlich hatte sie nie geglaubt, dass sie tatsächlich jemand finden würden das wurde ihr in diesem Augeblick bewusst.

Sie rief bei Lena an, schließlich war das alles ihre Idee gewesen. Und Lena hatte eine besondere Eigenschaft: sie wusste immer irgendwie weiter. Auch dieses Mal blieb sie, selbst nachdem Emily ihr alles gesagt hatte, ruhig und entschlossen.

„Ist doch super“, sagte sie unbeirrt.

„Aber …“ Emilys Stimme klang fast verzweifelt.

„Nichts aber. Komm bei mir vorbei. Dann überlegen wir, was wir als Nächstes tun.“

„Kannst du nicht lieber hierherkommen?“ Dann würde sie Zeit haben, den Brief noch weitere zehn bis zwölf Mal zu lesen.

„Unmöglich. Pupsi schläft. Ich kann nicht weg.“

Pupsi war ihr nicht ganz zweijähriger Bruder. Eigentlich hieß er Alex, aber Lena nannte ihn ausschließlich Pupsi. Erstens gefiel ihr Alex nicht, und zweitens hatte er fast immer Blähungen.

„Na gut“, sagte Emily. „Ich bin gleich da.“ Sie wollte auflegen.

„Und bring ein Foto von deinem Vater mit. Natürlich ein supergutes.“

„Aber …“

„Jetzt sag nicht, du hast keins?“ 

„Doch, aber …“

„Dann bring es einfach mit.“

Mit diesen Worten legte sie auf. Emily wünschte sich, sie hätte nie bei ihr angerufen. Sie konnte doch nicht einfach … Dann fiel ihr ein Spruch ihres Vaters ein: Wer A sagt, muss auch B sagen. Was natürlich stimmte. Sie hatte mit dieser Sache angefangen, also durfte sie auch jetzt nicht kneifen. Der zweite Schritt war immer nur die notwendige und logische Folge eines ersten, den man gemacht hatte.

Widerstrebend holte sie das dicke, rote Fotoalbum aus dem Bücherregal im Arbeitszimmer ihres Vaters. Das Bild, nach dem sie suchte, war noch nicht mal eingeklebt, so neu war es. Sie steckte es zum Schutz in eine Mappe und machte sich auf den Weg zu Lena, die seit Neuestem einen Scanner hatte.

Seit neun Jahren wohnte Emily mit ihrem Vater alleine, denn ihre Mutter war gestorben, als sie acht war. Eine Lungenentzündung war bei ihr zu spät entdeckt worden. Das war nun mehr als ihr halbes Leben her, aber ihr Vater war noch immer nicht drüber hinweg. Emily verstand das sehr gut, denn auch sie selbst war es nicht. Gleichzeitig war sie der Meinung, dass das Leben weitergehen musste, auch für ihren Vater.  

Bis vor Kurzem hatte sie darüber allerdings kaum nachgedacht. Eines Tages aber hatte Lena sie gefragt, ob ihr Vater eigentlich nie eine Freundin hätte oder wenigstens etwas Ähnliches.

„Ich glaub nicht“, hatte Emily geantwortet. Allein die Frage war ihr fremd.

„Komisch“, hatte Lena gesagt. „Er ist doch … ich meine, er sieht doch noch ziemlich gut aus. Für sein Alter.“

Emily hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ihr Vater attraktiv war oder nicht. Er war schließlich ihr Vater, da war es egal, wie er aussah. Aber wahrscheinlich hatte Lena recht: er war nicht hässlich.

„Interessiert er sich nicht für Frauen?“, hatte Lena nachgehakt. Emily hatte keine Ahnung, woher sie das wissen sollte. Sie hatte noch nie darauf geachtet.

Das änderte sich von nun an und schnell stellte sie fest, dass seine Reaktion auf Frauen fast immer gleich war: Er war freundlich und höflich. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dabei schien es völlig egal, wie alt eine Frau war oder wie sie aussah. Wenn tatsächlich mal eine dabei war, die ihn näher interessierte, dann konnte er es jedenfalls ziemlich gut verbergen.

Als Nächstes hatte Emily unter die Lupe genommen, wie Frauen auf ihn reagierten. Und schnell war ihr klar geworden, dass fast jede einen zweiten Blick riskierte. Manche drehten sich sogar heimlich nach ihm um. Sie bemühten sich, ihn so anzulächeln, dass er es nicht übersehen konnte. Er übersah es trotzdem.

Lena fragte sie, ob er vielleicht schwul wäre.

„Quatsch. Gäbe es mich dann?“

„Ganz schön naiv.“ Lena grinste. „Tausende schwule Männer haben zur Tarnung Familien.“

„Er ist nicht schwul.“ Emily hatte nicht den leisesten Zweifel. „Es ist einfach, weil er meine Mutter noch liebt. Verstehst du?“

„Na klar versteh ich“, meinte Lena. „Aber gut ist das nicht.“

„Willst du ihn vielleicht verkuppeln?“, fragte Emily lapidar.

Sie begriff nur langsam, dass sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Je länger sie ihren Vater beobachtete, umso sicherer wurde sie, dass er nicht wirklich glücklich war. Er arbeitete als Lektor in einem wissenschaftlichen Verlag. Er liebte seine Arbeit. Er hatte nette Kollegen. Er hatte Freunde. Und er hatte sie, seine Tochter. Trotzdem glaubte Emily immer mehr, dass er im Grunde seines Herzens einsam war.

Sie glaubte, es an seinen Augen zu sehen, die selbst dann ein bisschen traurig schienen, wenn er lachte. Sie hörte es an seiner Stimme, die fast immer etwas müde klang. Und sie erkannte es in seinem Gesicht, wenn er dachte, sie schaue anderswohin.

Schließlich brauchte Lena sie nicht mehr zu überreden. Sie war jetzt auch so ihrer Meinung, dass es keinen Sinn machte, wenn ihr Vater bis an sein Lebensende ihrer Mutter nachtrauerte. Er musste wieder lernen, nach vorne zu schauen. Und dafür war es gut, wenn er eine nette Frau kennenlernte. Eine, zu der er nicht einfach nur höflich und freundlich war.

„Wie wäre es mit Kris?“, schlug Emily eines Tages vor. Kris war Lenas Mutter. Ihr richtiger Name war Kristina, aber alle nannten sie nur Kris, denn sie war ein ziemlich lockerer Typ und wäre vielleicht lieber Lenas Schwester gewesen als ihre Mutter.

Insgeheim hatte Emily damit gerechnet, dass auch Lena in diese Richtung dachte, hatte sich aber offenbar getäuscht. Lena bekam einen Lachkrampf.

Sie saßen gerade in Emilys Zimmer. Lena warf sich aufs Bett, um sich dort minutenlang hin- und herzuwälzen und sich nicht mehr einzukriegen. Emily hatte keine Ahnung, was sie an ihrem Vorschlag dermaßen lustig fand. Ihr selbst erschien er nicht mal ansatzweise komisch.

Immerhin war Kris ebenfalls alleinstehend, auch wenn ihr Mann nicht gestorben war, sondern ab durch die Mitte, wie Lena es ausdrückte. Dieser Mann war Lenas Vater, der inzwischen eine neue Familie mit drei weiteren Kindern gegründet hatte. Pupsi war das viel spätere Produkt eines One-Night-Stands. Zu Pupsis Erzeuger gab es keinerlei Verbindung, Lena kannte nicht mal seinen Namen.

„Was gibt’s denn da zu lachen?“, fragte Emily schließlich.

„Eigentlich nichts.“ Fast schlagartig war Lena wieder ernst. „Aber dein Vater und Kris, das passt einfach nicht. Sie sind so verschieden wie Sonne und Mond.“

„Die geben als Paar aber auch was her“, meinte Emily. Ihre Worte erschienen ihr fast poetisch.

„Aber nur wegen der riesigen Entfernung dazwischen“, meinte Lena trocken. „Sonst könnte das auf keinen Fall klappen.“

„Immerhin kennen sich die beiden schon“, warf Emily ein. „Wenigstens ein bisschen.“

Vor ein paar Jahren hatte Kris Fotos für ein oder zwei Bücher in seinem Verlag gemacht. Sie war Fotografin.

„Eben“, gab Lena zurück. „Oder hältst du die beiden für blöd?“

Wahrscheinlich hatte sie recht. Garantiert hätten sie selbst gemerkt, wenn es zwischen ihnen gepasst hätte.

„Uns bleibt nur eine Kontaktanzeige.“ Voller Entschlusskraft schaltete Lena ihren PC ein. „Übers Netz ist das kein Problem.“

Das klang nicht gerade, als sei sie Neuling auf diesem Gebiet. Aber genau genommen klang bei ihr selten etwas, als sei sie Neuling. Egal um was es ging.

2

Keine halbe Stunde später hatten sie ein Foto der Unbekannten. Es kam als prompte Reaktion auf das Bild ihres Vaters. Sie lebte in Oldenburg, das passte schon mal, Oldenburg war keine fünfzig Kilometer entfernt. Auch sonst waren die Mädchen begeistert, fanden die Dame sehr hübsch. Sie hatte dunkle, ziemlich lange Haare und zuerst dachten die beiden, dass sie vielleicht Asiatin wäre. Als sie aber genauer hinschauten, erkannten sie, dass das wohl eher nicht stimmte. Dafür war sie auch viel zu groß, eins achtundsiebzig, wie sie geschrieben hatte. Schon die Größe passte sehr gut, denn Emilys Vater war über eins neunzig.

Ihr Lächeln beeindruckte die beiden. Es war ein bisschen geheimnisvoll und wirkte trotzdem offen. Sie hieß Vera und war siebenunddreißig Jahre alt.

Als sich Emilys erste Begeisterung gelegt hatte, meldete sich die Panik zurück. Wie sollte es jetzt weitergehen? Vera schrieb in ihrer zweiten Mail, dass sie dafür wäre, ein erstes Treffen nicht auf die lange Bank zu schieben. Dass sie nicht in der gleichen Stadt wohnte, sah sie nicht als Hindernis an, denn sie hatte öfter hier zu tun.

Plötzlich spürte Emily auch bei Lena eine gewisse Unsicherheit. Das irritierte sie, denn unsicher war Lena nur selten.

Alex saß auf dem Boden, zerriss hingebungsvoll ein Zeitungsprospekt und ließ einen fahren. Bis auf das kleine Problem mit den Blähungen und ein paar Nervereien war er ein ziemlich angenehmes Kind. Meistens war er ruhig und beschäftigte sich mit sich selbst. Einen Bruder wie ihn hätte Emily sich auch gut vorstellen können.

„Wir sollten nach draußen gehen“, schlug Lena vor. „Frische Luft vertreibt diverse Düfte und durchblutet das Gehirn.“

Sie zog Alex Jacke und Schuhe an, und sie machten sich auf den Weg zum Spielplatz im Park. Unterwegs trafen sie Hendrik Marxfeld. Das heißt, eigentlich trafen sie ihn nicht, aber sie sahen ihn und er sah sie. Und als Emily ihn grüßte, grüßte er zurück. Er lächelte. Emily versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es kam ihr vor, als gelänge es ihr nicht wirklich, und er verschwand so schnell, wie er gekommen war.

„Wow“, sagte Lena, während sie Alex an der Hand hinter sich herschleifte.

„Was soll das denn schon wieder heißen?“, fragte Emily genervt. Natürlich war ihr klar, auf was ihre Freundin wieder mal hinaus wollte.

„Der steht total auf dich“, meinte sie. „Das sieht doch ein Blinder.“

„Quatsch.“

„Mich hat der jedenfalls noch nie so angelächelt“, sagte Lena.

Alex riss sich von ihrer Hand los. Er hatte irgendwas entdeckt. Etwas, das auf der Erde lag und ihn mächtig interessierte, sie mussten warten. Trotz des Sonnenscheins war es kühl und sie steckten die Hände tief in ihre Jackentaschen.

„Du redest Schwachsinn“, sagte Emily.

Dabei hatte sie gar nichts gegen Hendrik Marxfeld. Er ging auf die gleiche Schule wie sie und er war ganz nett. Emily nervte, dass Lena falsch lag, Hendrik konnte fast jede haben. Warum sollte er sich ausgerechnet für sie interessieren? Lena zum Beispiel erschien ihr viel hübscher als sie es war. Sie fand sich dürr wie einen Hering, außerdem hatte sie noch immer ein paar Restpickel aus der Pubertät. Auch sonst konnte sie nichts an sich entdecken, das irgendwen vom Hocker hätte reißen können.

Das Objekt von Alex’ Neugier war ein winziger toter Vogel. Lena versuchte, ihn davon wegzuzerren, aber Alex wollte nicht. Er wehrte sich mit Händen und Füßen. Schließlich schrie er, was für ihn ganz ungewöhnlich war. Emily schlug vor, den Vogel feierlich zu beerdigen.

„Von mir aus.“ Zähneknirschend ließ Lena sich darauf ein. Alex wusste nicht genau, was Emily meinte, fand die Idee aber offenbar spannend.

Lena fing mit einer Scherbe an, ein Loch in die harte, trockene Erde zu kratzen. Alex und Emily halfen ihr mit kleinen Steinen.

Plötzlich sagte Lena, sie habe die Idee und ihr Gesicht hellte sich auf. Emily war sofort klar, dass sie nicht von der Vogelbeerdigung sprach und auch nicht mehr von Hendrik Marxfeld. Sie war mit ihren Gedanken schon lange wieder bei der Verkupplungsgeschichte.

„Und?“ Emily war sich nicht sicher, ob sie es wirklich hören wollte.

„Ehrlichkeit.“ Lena unterbrach ihre Arbeit, um die Reaktion ihrer Freundin besser einschätzen zu können. „Du erzählst Paul einfach alles. Dann zeigst du ihm das Bild und die Briefe.“ Lena redete Emilys Vater mit Vornamen an, was sie immer wieder etwas irritierte. Aber Lena ließ sich nicht davon abbringen.

„Und dann?“

„Buddeln“, forderte Alex.

Mechanisch kratzten sie weiter die Erde auf.

„Er wird begeistert sein!“

Alex ließ einen fahren.

„Da kennst du meinen Vater aber schlecht. Normalerweise trifft der seine Entscheidungen selbst.“ Genau das war der Punkt, die Mitte ihres Unbehagens. Niemals würde ihr Vater zulassen, dass jemand anders eine Frau für ihn aussuchte. Egal wer.

„Du machst ihm doch nur einen Vorschlag“, beharrte Lena.

„Bis jetzt“, sagte Emily, „weiß er noch nicht mal, dass er überhaupt eine Frau sucht.“

Mittlerweile war das Grab tief genug.

„So“, sagte Emily zu Alex. „Jetzt müssen wir den Piepmatz in das Loch legen.“

Mit großen Augen schaute Alex zuerst den Vogel an, dann seine große Schwester und schließlich wieder den Vogel. Vorsichtig nahm Emily den winzigen Körper hoch und legte ihn in sein Grab. Plötzlich musste sie an die Beerdigung ihrer Mutter denken. Daran, wie die Erde ihren Sarg geschluckt hatte. Ein Bild, das sie bis heute nicht losgeworden war.

„Wir müssen ein Gebet sprechen“, schlug sie vor.

„Kennst du eins?“, fragte Lena leise.

Emily nickte, faltete die Hände und senkte den Kopf. Alex folgte ihrem Beispiel, Lena nicht. Sie glaubte nicht an solche Sachen.

„Lieber Gott“, sagte Emily. „Bitte nimm diesen kleinen Piepmatz zu dir, damit er im Himmel ein tolles Leben hat. Amen.“

„Amen“, sagte auch Alex. Er war ganz ernst bei der Sache. Emily war sicher, das er genau begriff, was sie hier machten.

Plötzlich verschwamm alles vor Emilys Augen, sie konnte nichts mehr erkennen. Ganz schnell wischte sie ihre Tränen ab.

„Jetzt müssen wir sein Grab zumachen“, sagte sie. Abwechselnd nahmen sie die Scherbe und schütteten damit etwas Erde auf den winzigen Körper. Als man ihn nicht mehr sehen konnte, drückte Emily vorsichtig die Erde fest. Es fehlte ein Grabstein. Sie nahm einen kleinen Ast, knickte ihn in der Mitte und steckte ihn so in die Mitte des kleinen Grabes, dass er wie ein Pfeil nach oben zeigte.

„Damit er die Richtung kennt“, sagte sie leise. „Zum Himmel.“

Alex sah jetzt weniger traurig aus. Er wirkte sogar ganz zufrieden. Langsam gingen sie weiter.

„Siehst du“, sagte Lena, „jetzt hast du es uns vorgemacht.“

„Was denn?“, fragte Emily erstaunt.

„Dass es gut ist, ein Zeichen zu setzen, um etwas zu beenden. Erst dann kann das Neue beginnen.“

Emily wusste, dass sie noch immer von ihrem Vater Paul sprach. Sie fand nicht immer, dass Lena übermäßig klug war. Aber manchmal fand sie es eben doch.

Mittlerweile waren sie am Spielplatz angekommen. Alex sah die Rutsche und riss sich von Lenas Hand los, kletterte mit Feuereifer die Leiter hoch.

„Er hat den Vogel schon vergessen“, sagte Emily.

„Ganz sicher nicht“, meinte Lena. „Aber das Leben geht weiter.“

Alex rutschte jauchzend die Bahn hinunter. Lena empfing ihn mit offenen Armen.

„Und deinem Daddy helfen wir ein bisschen auf die Sprünge“, sagte sie. „Das ist erlaubt. Ich weiß sogar schon, wie wir es machen.“

Emilys mulmiges Gefühl war nicht mehr ganz so mulmig. Aber verschwunden war es auch nicht.

„Wie denn?“, fragte sie.

Sie half Alex auf ein Klettergerüst. Er machte ein konzentriertes Gesicht und kam gut voran.

„Die Überrumpelungstaktik“, erklärte Lena triumphierend.

„Was soll das denn sein?“

Die Vorstellung, ihren Vater zu überrumpeln, gefiel Emily nicht.

„Ganz einfach.“ Lena blieb unbeirrt. „Wir geben ihm keine Chance, sich zu fragen, ob er will oder nicht. Und du wirst sehen: Er will!“

„Ich weiß nicht.“

„Glaub mir, so funktioniert es. Ich erklär es dir.“

Emilys Gefühl riet ihr ab, Lenas Vorschlag auch nur anzuhören, aber sie machte es trotzdem. Es sollte noch eine Weile dauern, bis sie bereute, in diesem Moment nicht auf ihr Gefühl gehört zu haben. Aber, wie ihr Vater immer sagte, die Uhr kann keiner zurückdrehen.