Leseprobe Dicke Beute

Teil 1

Daisy

1

Es war ein beschissener Tag. Nicht nur für mich.

Ich konzentrierte mich wieder auf die Zahlen. Zumindest versuchte ich es. Aber sie wollten einfach nicht stillhalten und wuselten immer wieder davon. Das ließ ich mir natürlich nicht anmerken und tat das, was ich in diesen Fällen immer machte: Mit zusammengekniffenen Augen schüttelte ich den Kopf. Ganz langsam, damit es nach echtem Bedauern aussah.

Dennoch wäre es vorteilhaft gewesen, die Zahl unter dem Strich endlich erfassen zu können. Schließlich war genau das mein Job. Knallharte Fakten und messerscharfe Analysen.

Ich sah kurz auf und blickte der vor meinem Schreibtisch sitzenden Person direkt in die weit aufgerissenen Augen. Sie waren blau, groß und glänzend. Eindeutig witterte mein Gegenüber Gefahr. Und ich war der Grund dafür.

Wie gut ich diesen Blick mittlerweile kannte. Ganz besonders in solchen Momenten. Wenn der letzte Funken Hoffnung erlosch und die Erkenntnis eintrat, dass manchen Geschichten eben doch kein Happy End vorherbestimmt war.

„Das sieht nicht gut aus, Frau Hamberg“, setzte ich zum finalen Todesstoß an. Wieder versuchte ich mich auf die Bonitätsprüfung zu konzentrieren, deren Ergebniszeile noch immer einen wilden Jive vor meinen Augen aufführte.

Frau Hamberg antwortete mit einem lauten Schlucken. Wir betrachteten uns wortlos. Obwohl ich sie nicht näher kannte, sah ich ihr an, dass sie sich für diesen Termin zurechtgemacht hatte. Sie war vielleicht Anfang dreißig, schlank, mittelgroß und brünett. Sie trug ein faltenfreies, graues Business-Kostüm. Vermutlich neu. Ihr langes, braunes Haar sah nach einer aufwendigen Föhnorgie aus. Aber ihr Gesichtsausdruck traf mich am meisten. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit vornehmer Blässe und dezenten Sommersprossen auf der Nase. Die Sorgen jedoch hatten sich tief in die ebenmäßigen Züge hineingefressen.

Ich ertrug ihren Kummer nicht länger und blickte zur Seite. Kopfschüttelnd blätterte ich mich weiter durch den Ordner, der von seiner Besitzerin optimistisch Businessplan getauft worden war, und widmete jedem Ausdruck und Beleg eine kurze Sekunde des sinnfreien Anstarrens – denn noch immer kamen mir die Zeichen darauf wie Hieroglyphen vor.

„Tut mir leid, Frau Hamberg. Ich sehe da wirklich keine Sicherheiten für unsere Bank. Es fehlt ein schlüssiges Konzept mit Aussicht auf Rendite.“

Sie tat einen tiefen Atemzug, bei dem sich die Nasenlöcher zusammenzogen. „Aber ich werde all mein Herzblut reinstecken, sobald ich die Möglichkeit habe, die noch ausstehenden Gehälter und Forderungen zu begleichen.“ Sie schnappte noch einmal nach Luft. „Außerdem müssen am Fuhrpark dringende Reparaturen durchgeführt werden. Nur so können doch überhaupt neue Aufträge akquiriert werden …“

„Ich sage es Ihnen nur ungern“, unterbrach ich sie. Eigentlich war es nicht meine Art, Menschen mitten im Satz ins Wort zu fallen. Doch in meiner Position hatte ich schon so viele bittstellende, aussichtslose Kreditantragsgespräche geführt, dass ich es inzwischen vorzog, den Kunden und mir keine Zeit zu stehlen. „Ihr Vater hat Ihnen ein marodes Unternehmen hinterlassen, dessen Haltbarkeitsdatum schon seit Langem abgelaufen ist. Auch ein Liquidationszuschuss von …“

Verdammt, wie viel war es noch gleich? Hastig durchforstete ich den gelochten Blätterdschungel auf der Suche nach der richtigen Zahl.

„Einhunderttausend.“ Frau Hamberg seufzte ergeben.

„Ein-hun-dert-tau-send.“ Um ihr die Absurdität der Bitte bewusstzumachen, ließ ich mir jede einzelne Silbe auf der Zunge zergehen. „Wie ich Ihren Unterlagen entnehme“, ich hob den farblich aufmunternden Ordner an und ließ ihn eine Spur zu heftig auf den Schreibtisch fallen, woraufhin Frau Hamberg so arg zusammenzuckte, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst, „ist die Spedition Ihres Vaters am Ende.“

„Es ist nun meine Spedition“, erinnerte sie mich gereizt. „Wie gesagt, er hat sie mir hinterlassen.“

„Natürlich“, erwiderte ich. „Und nochmals, mein herzliches Beileid.“ Meine Bekundung bezog sich auf den verschiedenen Vater. Nicht auf die im Sterben liegende Spedition. Ich hoffte, sie verstand das nicht falsch.

Doch Frau Hamberg sagte nichts. Dafür standen in ihren Augen plötzlich die Tränen.

Ich schluckte die aufschwappenden Emotionen von der anderen Seite des Schreibtischs mit einem trockenen Räuspern hinunter. „Außerdem sind Sie noch nicht einmal aus der Branche. Verstehen Sie denn überhaupt etwas vom Speditionsgeschäft? Ich meine, was sind Sie noch gleich von Beruf?“

„Was spielt das denn für eine Rolle?“, erkundigte sie sich mit tränenerstickter Stimme.

„Es ist …“ Ich zögerte, dann setzte ich ein zweites Mal an. „Dass Sie nicht vom Fach sind, macht es nicht unbedingt leichter, Ihnen so viel Geld anzuvertrauen.“

Dabei hatte sie recht. Es spielte wirklich keine Rolle, ob sie Ahnung vom Geschäft hatte oder nicht. Selbst wenn sie amtierende Weltmeisterin im Speditionieren gewesen wäre: Das Einzige, was interessierte, war diese verdammte Zahl unter dem Strich.

„Unter diesen Umständen kann Ihnen die Magna Pecunia Bank unmöglich eine derart hohe Summe anvertrauen.“ „Also gewähren Sie mir keinen Kredit.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht in dieser Höhe.“

„In welcher Höhe denn dann?“ Ein Funken Hoffnung glomm in ihren feuchten Augen auf.

„Hm, vielleicht fünf…“

„Fünfzigtausend?“, unterbrach sie mich entsetzt.

Vor Schreck ließ ich mich in den Bürostuhl zurückfallen, der laut knarzte, als wollte er sich über die Zumutung beklagen, mein Gewicht tragen zu müssen. Aber er hielt stand. Genauso wie Frau Hambergs fassungsloser Blick.

Beschwichtigend hob ich die Hände. Dabei fiel mir auf, dass mein rechter Manschettenknopf fehlte. Das versetzte mir einen schmerzvollen Stich, da die Knöpfe ein Geschenk zum Valentinstag gewesen waren. Von Sandra. Jetzt hatte ich nur noch Chewbacca, der mich durch den Bankalltag begleitete.

Han Solo war verschollen.

„Ähm, nein. Ich meine fünftausend.“

Frau Hambergs Mund klappte auf, doch kein Ton drang heraus. Als sie sich wieder gefasst hatte, fragte sie: „Sie wollen mich mit fünftausend abspeisen? Nach all den Jahren, die mein Vater Ihrer Bank treu geblieben ist?“

„Genau genommen ist es ja nicht meine Bank. Ich bin zwar der Filialleiter, aber …“

„Gut.“ Ihre Hände umfassten die Lehnen ihres Stuhls, als wäre sie bereit zum Absprung. „Dann werde ich es eben bei einer anderen Bank versuchen.“ Dennoch blieb sie sitzen.

Mein abwertender Blick fiel auf den farbigen Aktenalbtraum vor mir, der in meinem Büro so deplatziert wirkte wie mein einsamer Manschettenknopf-Wookie. „Ich möchte Ihnen keinesfalls zu nahetreten, aber auch dort werden Sie kein Glück haben. Kein seriöses Kreditinstitut würde sich darauf einlassen.“ Ich lächelte sie mitfühlend an, hörte jedoch sofort auf damit, als mir bewusstwurde, wie höhnisch das auf sie wirken musste.

„Und jetzt?“, fragte sie.

„Tut mir leid“, sagte ich noch mal. Was sollte ich auch sonst sagen?

„Was mache ich denn jetzt?“

„Denken Sie über eine Insolvenz nach.“

„Ich habe Angestellte.“

„Die sollten Sie versuchen loszuwerden. Und gleich danach würde ich sehen, was sich an Wertgegenständen zu Geld machen lässt, um die dringlichsten Gläubiger zu bedienen.

Parallel dazu empfehle ich Ihnen einen Schuldenberater, der Sie durch das Privatinsolvenzverfahren begleitet.“

„Privatinsolvenz?“ Sie spuckte das Wort aus, als wäre es giftig.

„Leider handelt es sich bei der Spedition Ihres Vaters …“ Ich verbesserte mich. „Ich meine, leider handelt es sich bei Ihrer Spedition um eine OHG, was unglücklicherweise bedeutet, dass Sie mit Ihrem Privatvermögen haftbar gemacht werden können. Ich sage es Ihnen nicht gern, Frau Hamberg.

Aber mit dem Antritt des Erbes haben Sie sich keinen Gefallen getan.“

„Ich habe damit dem letzten Willen meines Vaters entsprochen“, erwiderte sie trotzig. „Wie hätte ich den denn ablehnen können?“ Nun brachen sich ihre Tränen wirklich Bahn. Unter jämmerlichen Schluchzern, die mir wirklich nahegingen, fiel sie in sich zusammen. Ich hatte Frauen noch nie gut weinen sehen können.

„Mir steht nicht zu, das zu beurteilen“, murmelte ich über die röchelnden Geräusche hinweg. „Meiner Einschätzung nach schlittern Sie jedoch ungebremst in die Privatinsolvenz.“

„Dann helfen Sie mir!“ Sie flehte mich förmlich an.

„So leid es mir tut, ich kann da nichts machen.“

„Natürlich können Sie! Sie sind doch der Filialleiter dieser beschissenen Bank! Geben Sie mir das Geld, und ich versichere Ihnen, alles wird wieder ins Lot kommen. Ich habe einen Plan. Ich bin klug und fleißig. Ich schaffe das!“

„Ich … Es tut mir leid.“ Mein Kopf bewegte sich langsam von links nach rechts. „Dieses Risiko kann ich der Magna Pecunia unmöglich …“

„Arschloch!“

Zum Glück war ich daran gewöhnt, beleidigt zu werden. Ich nahm das auch nicht persönlich. Im Laufe der Zeit hatte ich sogar eine gewisse Routine dabei entwickelt – eine kleine Inszenierung, die sich quasi wie von selbst abspielte. So auch nun. Ich schob meinen Schreibtischstuhl zurück und schnappte empört nach Luft, während ich den vor mir ausgebreiteten Aktenordner zuklappte. Zumindest in dieser Sicht hatte Frau Hamberg Kreativität bewiesen. Meist waren es triste, graue oder schwarze Leitz-Ordner. Ihrer war magentafarben und mit Blumenornamenten versehen.

Ich schob ihr den bunten Ordner über den Schreibtisch zu und meinte schnippisch: „Ich glaube, wir beenden das Gespräch dann hiermit.“

Ihre schlanken Hände griffen zögerlich zu.

Mit einem „Guten Tag, Frau Hamberg!“ drehte ich meinen Bürostuhl um neunzig Grad und starrte gegen die Wand. Dort hing der Abreißkalender. Die Zahlen auf dem heutigen Blatt stachen mir im Gegensatz zu denen in der ausgedruckten Tabelle von Frau Hamberg überdeutlich ins Auge. Heute war der 25. Mai.

Normalerweise verharrte ich so lange in dieser Position, bis ich das Schließgeräusch meiner Bürotür vernahm und endlich wieder allein war. Doch Frau Hamberg bewies Hartnäckigkeit und blieb einfach sitzen.

Hätte ich mir heute doch bloß freigenommen. Wie die Jahre zuvor an diesem Tag. Denn der 25. Mai war nicht irgendein Datum.

Es war Sandras Todestag.

Wie von selbst fasste meine Hand nach dem Ring an der Kette, die ich unter dem Hemd um meinen Hals trug. Es war beruhigend, ihn dort zu spüren.

Frau Hamberg ging erst, als sie begriff, dass sie verloren hatte. Aber sie verabschiedete sich nicht leise, sondern laut schluchzend, pfefferte den Stuhl gegen den Schreibtisch und knallte die Tür mit Vehemenz zu. Auch gut. Hauptsache, ich war allein, um mich endlich in Selbstmitleid zu suhlen. Hätte ich bloß nicht auf den Rat meiner Mutter gehört, die gemeint hatte, ich solle mich dem Tag wie ein Mann stellen und endlich wieder Routine in mein Leben einkehren lassen.

Ich löste die Chewbacca-Manschette vom Hemdsärmel und betrachtete sie nachdenklich. Ich hegte die leise, wenn auch unvernünftige Hoffnung, dass dieser Tag vielleicht doch noch halbwegs erträglich würde.

Und dann, tja … Dann kam der Anruf.

„Mutti.“

„Sohn.“

Die klassische Eröffnung. Seitdem ich telefonieren konnte.

„Du denkst doch an Sonntag?“

Bevor ich sie fragen konnte, woran ich konkret denken solle, lieferte sie mir die Antwort. „Mein Geburtstag.“

Mir wurde heiß.

„Ich möchte, dass du endlich mal wieder etwas mit mir unternimmst. Du und ich. Wie früher.“

Mir wurde noch heißer.

„Es wäre schön, wenn sich mein einziges Kind den ganzen Nachmittag für mich freihält.“

Diese Hitze!

„Sie haben tolles Wetter gemeldet. Deshalb möchte ich etwas mit dir unternehmen. Ich will in den Zoo!“

2

Es war warm und voll und laut. Aber am schlimmsten war der Geruch. Er machte mich aggressiv und löste in etwa das in mir aus, was ein rotes Tuch bei einem Stier heraufbeschwörte. Süßlich penetrant, wie er war, erinnerte er mich an diese fetten exotischen Monsterblumen, die mit ihrem Fäulnisgestank Fliegen anlockten.

Wen meine Mutter mit diesem unerträglichen Odeur zu ködern versuchte, hatte ich noch nicht herausgefunden. Wobei sie dieses aufdringliche Parfüm gar nicht nötig hatte, da sie, wie man so sagte, eine ansehnliche Erscheinung war, die selbst mit fünfundsechzig Jahren eine gute Figur machte.

Diese Gene hatte ich leider nicht geerbt. Dafür den Hang zu Schlupflidern.

„Ist es nicht traumhaft hier?“ Sie hatte sich bei mir eingehakt, was mir eindeutig zu viel Nähe war. Seit Sandra nicht mehr da war, war mir generell jeder Körperkontakt zu viel. Meine Mutter bildete da keine Ausnahme. Im Gegenteil.

„Ja, es ist …“ Überfüllt, überteuert, zu viel an Kindern, Lärm, Tieren, an allem! „Es ist schön.“

Die Sonne schien. Ich schwitzte. Und ich wollte nach Hause. Zu meinen Topfpflanzen. In meine Komfortzone. Ich war schon lange nicht mehr im Tierpark gewesen. Seit über fünf Jahren nicht mehr. Anfänglich hatte ich befürchtet, dass die Erinnerungen auf mich einprügeln würden. Doch so schlimm war es zum Glück nicht geworden; die ganz harten Schläge blieben aus.

Es hatte sich viel verändert seit meinem letzten Zoobesuch. Die Welt blieb eben nicht stehen, so sehr ich mir das bisweilen auch gewünscht hatte. Denn in meinem Leben war die Zeit zu einem rücksichtslosen Rowdy verkommen, der einen mit Lichthupe von der Straße drängte, den Stinkefinger zeigte und mit schallendem Gelächter auf der Überholspur an einem vorbeizog.

Als Erstes fiel mir auf, dass man die Gehege im ganzen Zoo anders angeordnet hatte. Dem Prospekt zufolge hatte man das getan, um den Tieren die natürliche Nachbarschaft zu ermöglichen, wie sie auch in freier Natur vorkam – der artgerechten Haltung zuliebe. Eine gute Idee, wie ich fand. Schließlich wollte niemand jemanden neben sich haben, der so gar nicht zu ihm passte.

Dieser Gedanke rief mir die Anwesenheit meiner Mutter wieder ins Gedächtnis. Dieser Arm an meiner Seite. Der unwillkommen an meinem klebte, und zwar nicht etwa, damit sie mir so nahe wie möglich sein konnte, sondern um die Richtung vorzugeben. Dünn und knochig und stetig ziehend. Nach links, nach rechts. Geradeaus. Oder zurück, wenn ich nicht an den richtigen Stellen innehielt und ein andächtiges Seufzen von mir gab. Bei den plantschenden Pinguinen zum Beispiel. So wurde ich von den Marabus zu den Giraffen manövriert, und als ich zu lange am Nashorngehege verweilte, war es ein nicht mehr ganz so diskreter Ruck, der mich aus der Lethargie riss und mich weiter neben ihr her humpeln ließ.

Ich war kein Riese. Doch meine Mutter war geradezu winzig. Ihr Kopf reichte mir bis zur Brust. Mit Hut ging sie mir immerhin bis unters Kinn, und der darauf drapierte Federschmuck stieß mir bei jedem Schritt in die Nasenlöcher.

Mutti hatte seit jeher ein Faible für extravagante Kopfbedeckungen. Vermutlich befanden sich mehr Damenhüte auf ihrem Dachboden als im Besitz der Königin von England. Mir graute bereits vor dem Ausmisten, wenn sie irgendwann mal nicht mehr sein sollte.

„Findest du, dass der Hut zu groß ist?“, wollte sie gerade wissen.

„Ach, woher denn? Bei dem Wetter kann man mit der Sonne gar nicht vorsichtig genug sein“, erwiderte ich ausweichend.

Sie sah zu mir auf. „Gefällt er dir denn?“

„Schon“, log ich. „Aber …“

„Was aber?“

„Ich befürchte, dass die Leute hinter uns überhaupt nichts sehen können.“

„Diesen Hut hat mir dein Vater zum fünfundfünfzigsten Geburtstag geschenkt. Da ist es nicht mehr als recht, wenn ich ihn ihm zu Ehren an meinem fünfundsechzigsten Geburtstag trage.“

„Hast ja recht, Mutti. Och, schau mal!“, rief ich und zerrte diesmal sie hinter mir her, zum Lemurenhaus. „Das ist doch wirklich unmöglich, wie die Dahlien die Köpfe hängen lassen.“ Vorsichtig nahm ich eine der gelbroten Blüten in die Hand und schnupperte daran. Sie roch besser als meine Mutter.

„Ja, wie du!“, schimpfte die prompt los. „Würdest du dir selbst endlich mal wieder so viel Aufmerksamkeit widmen wie deinen Blumen, würde es dir auch bessergehen.“

„Aber mir geht es gut.“

„Du solltest dich mal anschauen.“ Sie löste sich von meinem Arm und baute sich vor mir auf. Was wirklich ulkig aussah, bei einer Körpergröße von knapp eins fünfzig und diesem riesigen Hut, der ihre gesamte Erscheinung in einen gewaltigen Schatten hüllte. Eine winzige Sekunde lang musste ich an den Imperator aus Star Wars denken. Und dann wieder an die verlorengegangene Han-Solo-Manschette. Was mir wiederum einen Stich versetzte, da der nächste Gedanke unweigerlich zu Sandra führte.

„Wirklich, Simon. Wie lange willst du denn noch so weitermachen?“, bohrte Mutter weiter.

„Womit weitermachen?“

„Mit deiner deprimierenden Grundeinstellung zu allem. Wann fängst du wieder an zu leben?“

Nun klang sie wirklich wütend. Ich ließ mir nicht anmerken, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Aber sie war meine Mutter. Sie wusste sehr gut, an welchen Stellen sie Nadeln setzen musste, um zielsicher die Punkte zu finden, die den meisten Schmerz auslösten. Ich fühlte mich wie eine fleischgewordene Voodoo-Puppe.

„Sandra ist seit fünf Jahren tot“, sagte sie.

Beim Wort „tot“ zuckte ich innerlich zusammen. Es klang so endgültig. Was es ja nun auch war.

„Du musst wieder zurück ins Leben finden.“

„Aber ich lebe doch!“

„Arbeiten gehen und sich um Grünzeugs kümmern, ist kein Leben.“

„Ich mag es so.“

„Wann hast du dich zuletzt mit einer Frau getroffen?“

„Das geht dich überhaupt nichts an!“ Dennoch kam ich nicht umhin, in Gedanken nachzurechnen. Etwas über 1825 Tage dürfte es schon her gewesen sein. Aber das herauszubekommen, war nicht allzu schwer. Denn nach Sandra hatte es schlichtweg keine Frau mehr für mich gegeben.

Da wir dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten, war ich gewappnet und leitete den Gegenangriff ein. „Und sowieso. Schau dich doch mal an! Trägst den alten Krempel, den dir Vati vor zig Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.“

„Sprich nicht so abwertend über die Geschenke deines Vaters. Der Hut ist eben ein Erinnerungsstück.“ Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Mir wird immer wieder warm ums Herz, wenn ich mich an diesen Moment zurückerinnere, als Roland mir die Hutschachtel überreicht hat. Kurz vor unserem romantischen Abendessen im Silberbarsch, zu dessen Anlass ich das grüne Sommerkleid trug, das dein Vater so sehr geliebt hat. Und dann später, im Hotel, als ich bis auf den Hut schließlich gar nichts mehr anhatte …“

„Mein Gott, Mutter!“

„Es sind ausnahmslos schöne Erinnerungen, die ich mit diesem Hut verbinde.“

Ich griff nach der Halskette, an der Sandras Verlobungsring befestigt war. Ich bedauerte es jeden Tag, dass sie so kleine, zarte Gliedmaßen gehabt hatte. Zu gern hätte ich ihren Ring an meiner Hand getragen. Ich betrachtete meine Wurstfinger. Keine Chance.

Stillschweigend setzten wir unseren Gang fort, passierten lärmende Kinder und genervte Eltern. Ich korrigierte mich: Die Kinder lärmten nicht, sie lachten. Und auch die Eltern waren alles andere als genervt. Vermutlich projizierte ich meine eigenen Gefühlsregungen auf meine Umwelt. Genauso hatte es mir zumindest die Therapeutin erklärt, die ich vielleicht doch mal wieder anrufen sollte.

Um mich dafür zu entschuldigen, dass ich der letzten Sitzung einfach so ferngeblieben war. Damals, vor drei Jahren.

„Ich will zu den Nilpferden“, kam es unter der Hutkrempe hervor.

Trotz unseres kleinen Wortgefechts hatte sich meine Mutter wieder bei mir eingehakt. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich von ihr zum Hippodom, dem Nilpferd-Haus, führen zu lassen.

Eine sanfte Welle der Dankbarkeit umspülte mich beim Betreten des subtropischen Gebäudes, denn der animalische Gestank hier drin übertünchte zumindest Mutters Attacke auf meine Nasenschleimhäute. Rafflesien, fiel mir in diesem Moment ein. Daran erinnerte mich ihr Parfüm. Ich hatte es nachgeschlagen. Bis zu einem Meter breite, stinkende Blüten, die vor allem in Südostasien wuchsen und an einen entzündeten Pickel mit offenstehender Pore erinnerten.

Die Wärme draußen war nichts gegen die brütende Hitze im Inneren des riesigen Bauwerks, das seine Besucher in einen künstlichen Dschungel entführte. Die hohe Luftfeuchtigkeit sorgte umgehend dafür, dass ich asthmatisch zu röcheln begann, doch Mutter kannte keine Gnade und zog mich tiefer hinein in den Bauch des Hippodoms, das Nilpferden und Krokodilen gleichermaßen ein Zuhause bot. Natürlich in separaten Bereichen. Auf der linken Seite befanden sich die Krokodile, und auf der rechten tummelten sich die Nilpferde im Wasser. Dank der dicken Glasscheibe vor dem erhöhten Becken war es möglich, die Bewegungen der Tiere unter Wasser zu beobachten. Wie in einem überdimensionalen Aquarium zogen die trägen Leiber vor den Augen des Publikums vorbei, während man etwas weiter hinten von einer kleinen, höher gelegenen Plattform aus über Glasscheibe und Wasserbecken hinweg auf die Geschehnisse an Land blicken konnte.

Mit seinem imposanten Glasdach erinnerte mich der Bau an ein riesiges Gewächshaus. Über uns schwirrten lautstark krächzende Vögel. Papageien, wie ich auf den zweiten Blick erkannte. Vermutlich fühlten auch sie sich von Mutters Hut bedroht, denn sie stoben auf, als wir vorbeiliefen, und schrien wie von Sinnen.

So überfüllt es draußen gewesen war: Hier drin war die Hölle los. Der Hippodom zählte zweifellos zu den Publikumsmagneten des Zoos. Dutzende Kinder pressten die Nasen gegen die drei Meter hohe panzerdicke Glasscheibe des Nilpferdbeckens, in der Hoffnung, einem der Tiere Auge in Auge gegenüberzustehen oder es beim Tauchgang zu beobachten. Allerdings war das Wasser im Becken derart trüb und schmutzig, dass kaum die Füße der Enten auszumachen waren, die unbeirrt von all dem Dreck und dem Lärm ihre monotonen Kreise drehten.

Meine Mutter stieg die wenigen Stufen zur Aussichtsplattform hinauf, von der man die Nilpferde von weiter oben betrachten konnte. Ehe ich mich versah, stand auch ich lächelnd daneben und schaute mir zwei unförmige braune Dinger im Wasser an.

Mir wurde schwer ums Herz. Nilpferde waren Sandras Lieblingstiere gewesen. Sämtliche Tierparks in Deutschland hatten wir damals abgegrast, um uns die Dickhäuter anzuschauen.

„Ist es nicht toll?“, murmelte ich.

Ich meinte das Nilpferd, das sich gerade in der trüben Suppe wälzte. Es kehrte uns den Rücken zu und präsentierte dem Publikum sein imposantes Hinterteil. Die Haut war von den kleinen, runden Ohren bis zum Schwanz matschbraun marmoriert und wirkte, wo sie nicht mit Wasser bedeckt war, rissig. Beinahe wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Aus den winzigen Ohren ragten borstige Haarbüschel.

„Naja, es ist groß und dick.“ Während Mutter die Worte aussprach, sah sie mich an.

Beleidigt schob ich die Unterlippe nach vorn. „Ich weiß, dass ich ein bisschen zugenommen habe“, erwiderte ich pikiert.

Mutter lachte auf. „Fett geworden. Das bist du.“

„Mutti!“

„Aber es stimmt doch. Du lässt dich gehen. An deinen Genen kann es nicht liegen. In unserer Familie gibt es keinen Hang zur Adipositas. Denk nur an deinen Vater. Kein Gramm zu viel auf den Rippen.“

„Gestorben ist er trotzdem. An einem Herzinfarkt“, gab ich lakonisch zu bedenken.

Mochte Gott ihn selig haben, diesen armen Wicht. Schlagartig zu sterben und mit dem Aufsitzrasenmäher die preisgekrönten Petunien des verhassten Nachbarn umzumähen, war das Aufregendste gewesen, was mein Vater in fast dreißig Jahren Ehe zustande gebracht hatte.

„Du musst endlich wieder anfangen zu leben“, wiederholte meine Mutter ihr Mantra.

„Aber ich lebe doch!“, sagte ich zum vermutlich einhundertfünfundsiebzigsten Mal.

Mittlerweile konnte ich nicht mehr zählen, wie oft wir diesen Dialog bereits geführt hatten, seit Sandra nicht mehr da war. Ich verstand einfach nicht, was die Menschen, allen voran meine Mutter, von mir erwarteten. Dass ich einfach vergaß, dass die Liebe meines Lebens, mein wichtigster Bezugspunkt, der Fixstern in meinem Universum, nicht mehr da war? Der von jetzt auf gleich ohne Vorwarnung aus dem Leben gerissen worden war und mich zurückgelassen hatte? Allein, mit einer Hypothek auf ein Reihenhaus, das viel zu groß für mich allein war?

„Du musst dich endlich von deiner Last befreien.“

„Ja doch, ich werde eine Diät machen, hab sogar schon im Internet nach …“

„Ich meine nicht dein Körperfett“, unterbrach sie mich barsch. „Natürlich wäre das auch gut für dich und deine Gesundheit. Und für deine Chancen bei den Frauen. Aber ich spreche von der Last in dir drin.“

Sie legte ihre hagere Hand auf die Stelle, wo sie mein Herz vermutete. Es durchzuckte mich unangenehm.

„Du musst endlich nach vorn blicken und wieder am Leben teilnehmen. Du trägst immer noch ihren Ring, richtig?“

Wieder glitt meine Hand zur Halskette. „Er erinnert mich an sie.“

„Nein, er fesselt dich an sie. Du wirst von diesem Ring geknechtet. Wie in diesem Film mit den kleinen Menschen mit den Haaren an den Füßen. Ich habe dich beobachtet. All die Jahre. In allen möglichen Momenten greifst du nach dem Ring an deiner Kette. Vor allem, wenn du für einen Augenblick mal nicht an deine Sandra denkst. Als würdest du dich selbst maßregeln wollen, sobald du auch nur eine Spur von Freude in dir spürst. Hab ich recht?“

„Nein!“

Natürlich hatte sie recht. Ich kannte meine Mutter schon lange. Seit achtunddreißig Jahren. Aber sie schaffte es immer wieder, mich zu überraschen. Auch nun, als sie sich den Hut vom Kopf nahm, einen sanften Kuss auf die Krempe hauchte und das Ding anschließend im hohen Bogen ins Becken warf. Sie verfehlte das vor uns liegende Nilpferd nur knapp.

„Mutti!“, fuhr ich entgeistert auf.

Auch die um uns stehenden Kinder stießen ungläubige Ausrufe aus.

Der Hut zog die Aufmerksamkeit des Nilpferds auf sich.

Es öffnete sein riesiges Maul und nahm das furchteinflößende Ding zwischen die weit auseinanderstehenden Zähne. Es merkte aber schnell, dass es sich trotz der vielen Blüten darauf um nichts Essbares handelte, und verlor das Interesse. Langsam tauchte es ab und ließ nur noch die runden Öhrchen und die Augen aus dem Wasser ragen.

Mutter seufzte ergeben. „Es tut unendlich gut, sich von Altlasten zu befreien.“

Ich war außer mir. „Aber du kannst doch nicht einfach so deinen Hut in das Becken werfen. Das ist doch kein Wunschbrunnen!“

Sie antwortete mir mit der zweiten unerwarteten Geste des Tages. Wieder legte sie mir die Hand aufs Herz. Zumindest dachte ich das eine winzige Sekunde lang.

Tatsächlich aber wanderte ihre kleine Hand weiter nach oben.

Ich war überrascht, wie fest der Druck ihrer knochigen Finger war, als sie sich zur Faust zusammenzogen und ruckartig an meiner Halskette zogen. Der Kettenverschluss leistete nur kurz Widerstand, dann hörte ich es knacken und sah im selben Augenblick, wie meine Mutter mit triumphaler Zufriedenheit die Kette in der Hand hielt. Ich war so perplex, dass ich überhaupt nicht reagieren konnte. Auch dann nicht, als sie ausholte und die Kette in Richtung des tümpeligen Nilpferd-Beckens warf.

„Mutti!!! Hast du sie noch alle?!“, schrie ich endlich fassungslos.

Starr vor Entsetzen verfolgte ich die Flugbahn des Schmuckstücks und verspürte eine unfassbare Bestürzung, die vermutlich nur Sauron nachempfinden konnte, während er mitverfolgen musste, wie der Ring von einem ordinären Hobbit in das Feuer des Schicksalsbergs geworfen wurde. Doch meine Mutter stellte sich nicht gerade als Meisterwerferin heraus.

Der Flug der Kette endete am Blatt eines hochgewachsenen Palmengewächses direkt über uns. Bei näherer Betrachtung entpuppte es sich als eine Plastikpflanze, die ihr Blätterdach über die Aussichtsplattform spannte und deren Stamm mitten aus dem Nilpferd-Tümpel herauswuchs.

„Egal!“ Die schmalen Schultern meiner Mutter hoben sich.

„Die Geste zählt.“

„Geste?“, fuhr ich sie an. „Hast du vollends den Verstand verloren?“

Auch sie funkelte mich plötzlich wütend an. „Sag mal, hast du mir überhaupt zugehört? Dieser Ring ist nichts weiter als ein toter Gegenstand, an den du dich emotional klammerst. Davon musst du dich lösen. Ein für allemal!“ Ihr zornverzerrtes Gesicht entspannte sich ein wenig. „So glaub mir doch, ich will nur dein Bestes. Ich habe dir gerade einen großen Gefallen getan.“

„Einen Scheiß hast du!“ Ich war außer mir vor Wut, schob meine Mutter kurzerhand zur Seite und kletterte über die niedrige Absperrung, die die Aussichtsplattform von dem dünnen Grünstreifen trennte, auf dem der Stamm der Palme aus der Erde wuchs.

„Was hast du vor?“, fragte sie bestürzt.

„Was wohl? Ich hole mir den Ring zurück.“

Meinen Schatzzz!“, zischte eines der Kinder, die uns umringten, in einer wirklich gelungenen Gollum-Parodie, wofür es Lacher der anderen Winzlinge erntete. Mutters Wurfaktion hatte die Aufmerksamkeit sämtlicher Besucher des Nilpferd-Geheges auf uns gelenkt.

„Aber du kannst doch nicht auf den Baum steigen!“, rief sie über das Gelächter hinweg.

Da hatte sie vermutlich recht, was aber nichts daran änderte, dass ich es wenigstens versuchen musste.

„Es ist eine Palme, Mutti. Kein Baum. Palmen verfügen über kein sekundäres Dickenwachstum. Deshalb zählt man sie nicht zu den Bäumen.“

„Papperlapapp. Das Ding ist doch eh aus Plastik. Und deswegen hält der Stamm auch nie im Leben dein Gewicht aus, Simon. Du bist zu schwer!“

Ohne zu zögern, hatten meine Hände den künstlichen dünnen Stamm umklammert. Wie man an Palmen hochkletterte, wusste ich. Zumindest theoretisch. Erst kürzlich hatte ich eine Dokumentation auf Arte gesehen, in der über die Kokosnusspflücker auf Costa Rica berichtet worden war. Sah supereinfach aus. Die hatten das sogar barfuß geschafft. Mit einer Machete zwischen den Zähnen. Genauso machte ich es auch. Nur ohne Machete, dafür mit Schuhen an.

Den ersten halben Meter schaffte ich problemlos. Ich hatte Glück, dass diese falsche Palme nicht kerzengerade zur sich weit ausbreitenden Hallendecke über uns ragte, sondern in einem Winkel von geschätzten fünfundvierzig Grad über das Nilpferd-Becken wuchs.

„Komm wieder runter!“, rief meine Mutter wütend. „Wenn du wüsstest, wie lächerlich das aussieht.“

„Nein! Ich will meinen Ring zurück.“

Seinen Schatzzzz!“, riefen nun mehrere Kinder.

Ich blickte nach unten. Es waren etwa andershalb Meter bis zur Erde, und trotzdem wurde mir schummrig. Ich sah sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet. Allem Anschein nach war ich mittlerweile die größte Attraktion im Hippodom.

Der Drang, meine Kette mit Sandras Verlobungsring daran zu erreichen und es meiner Mutter ein für alle Mal zu beweisen, setzte ungeahnte Kräfte in mir frei. Ich schob mich immer weiter den Stamm entlang, mein Ziel fest vor Augen: die Kette, die immer noch munter am Palmblatt baumelte. Dabei fühlte ich mich wie Baron Münchhausen, der auf einer Kanonenkugel ritt.

„Jetzt komm wieder runter! Ich glaub nicht, dass die das gern sehen, wenn Besucher auf Bäumen rumklettern.“

Ich hätte meiner Mutter gern geantwortet. Oder Gemeinheiten entgegengebrüllt. Vor allem Letzteres. Aber die Kletterei forderte sämtlichen Sauerstoffvorrat ein, den meine untrainierten Lungenlappen aufnehmen konnten. Ich spürte, wie mir der Schweiß aus den Poren lief und mein ohnehin schon stramm sitzendes Leinenhemd am Rücken durchnässte.

Auf der Aussichtsplattform drängte sich nun eine großgewachsene Gestalt in khakifarbener Kleidung durch die Menge, die derselben Meinung wie meine Mutter war. „Kommen Sie da runter, junger Mann!“

Ich ignorierte den Ranger und tastete mich mit zittrigen Händen am Stamm entlang vorwärts. Allzu weit war es nicht mehr, bis ich die Palmkrone erreichte. Allerdings wurde die Sache dadurch erschwert, dass der Stamm aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit enorm glitschig war und sich zwei graugefiederte Papageien durch mich gestört fühlten. Sie tanzten vor mir herum, plusterten ihr Gefieder auf und gaben alberne Schnalzgeräusche von sich. Als mir der eine zu aufdringlich wurde, scheuchte ich ihn mit der Hand weg. Lauthals meckernd flog er davon, und ich beinahe mit ihm, da ich kurz das Gleichgewicht verlor. Hastig klammerte ich mich wieder an den Stamm und rang nach Atem. Hier oben schien es noch heißer zu sein als auf dem Aussichtsplateau.

„Jetzt kommen Sie sofort da runter!“ Der Khaki-Mann stand direkt an der Abgrenzung zum Gehege und schaute zu mir hoch.

„Ja. Gleich. Ich muss nur schnell …“

„Machen Sie, dass Sie da runterkommen, verdammte Hacke!“

Seine drohende Stimme trieb mich an. Mit letzter Kraft setzte ich mich wieder in Bewegung. Schnell fand ich meinen Rhythmus wieder. Rechte Hand, linke Hand. Ineinander verschränken, mit den Füßen Halt suchen und den Hintern nach vorn schieben. Der Stamm der Palme ächzte bedrohlich unter meinem Gewicht. Gut, da mussten wir nun beide durch. Noch nie hatten sie sich so sehr bemerkbar gemacht wie in diesem Augenblick, die überflüssigen fünfzehn Kilo, wie ich schätzte. Vielleicht auch mehr. Ich war schon seit etwa einem Jahr nicht mehr auf der Waage gewesen. Aus Angst und Scham. In diesem Moment fasste ich einen Entschluss: Ich würde eine Diät machen. Sobald ich die Kette in den Händen hielt und wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Die Papageien flatterten noch immer um mich herum und stießen ihr hysterisches Kreischen aus. Die Palmkrone war noch eine Armlänge entfernt. Ich streckte den linken Arm aus und bekam eines der künstlichen Palmblätter zu fassen. Mit einem beherzten Ruck überprüfte ich die Stabilität und zog mich dann weiter nach vorn. Ich befand mich nun exakt über dem Blatt mit meiner Kette daran, die etwa anderthalb Meter unter mir baumelte. Mein Gewicht brachte den ganzen Palmenstamm zum Wackeln, sodass der Ring wie ein Pendel vor und zurück schwang.

Es war hoffnungslos. Trotzdem konnte ich nicht aufgeben. Langsam beugte ich mich nach unten, dem hängenden Blatt entgegen. Dann löste ich eine Hand von der glitschigen Kunstrinde, um näher an die Kette zu kommen.

Meine Oberschenkel umklammerten den Stamm der Palme. Wenn ich es schaffen würde, mich so lang wie möglich zu machen, hätte ich die Kette. Blöd nur, dass die Papageien mittlerweile nicht mehr ganz so zurückhaltend waren und ihre Kreise um mich herum immer enger zogen. Was hatten die nur? Abgesehen von wirklich bedrohlich großen Schnäbeln. Ich warf einen Blick nach unten und stellte fest, dass sich außer der trüben Plörre und dem wiegenden Blatt nichts mehr unter mir befand. Vermutlich hatte der Tumult die Nilpferde verschreckt.

Die Kette war keinen halben Meter mehr von mir entfernt.

Ich lehnte mich noch weiter vor und grapschte nach dem Blatt, an dem die Kette und der Ring hingen. Mein Schatz.

Mit der rechten Hand versuchte ich, am schmierigen Stamm Halt zu finden. Meine Oberschenkel zitterten unter der Anstrengung, mein Gewicht zu halten.

Noch vierzig Zentimeter. Ich rutschte noch ein Stück weiter nach vorn.

Dreißig Zentimeter. Der Ring glänzte im Licht der künstlichen Sonne. Ich holte tief Luft und streckte meinen Arm weiter aus. Irgendwo in meinem Rücken knackte es unangenehm.

Zwanzig Zentimeter. Mit den Fingerspitzen meinte ich bereits, das kühle Metall zu berühren. Ich lehnte mich weiter vor, auch wenn ich nun wirklich achtgeben musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber von der Palme zu fallen.

Zehn Zentimeter. Gleich hatte ich die Kette.

Fünf Zentimeter …

Anscheinend hatte einer der hinterlistigen Papageien nur auf diesen Moment gewartet. Denn kaum berührten meine Finger die Kette mit dem Ring daran, stürzte sich der am lautesten kreischende Vogel im Sturzflug auf mich und landete mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Ast, mit dem ich mich verzweifelt am Palmenstamm festhielt. Mein „Kschh!“ schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Mit seinen Krallenfüßen pirschte er sich im seitlichen Gang langsam an meine Hand heran. Diejenige, die sich so fest am Stamm festklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Kschh!“, machte ich wieder.

Dann erkannte ich, was der Vogel vorhatte, und in diesem Moment hätte ich Stein und Bein geschworen, dass Papageien grinsen konnten. Bösartig und gemein.

Nur eine Sekunde später pickte das Mistvieh mit seinem fies nach unten gebogenen Schnabel auf den kleinen Finger meiner rechten Hand ein. Es tat so unerträglich weh, dass ich gar nicht anders konnte, als aufzuschreien und reflexartig loszulassen.

Ich fiel. Mitten hinein ins Nilpferdbecken.

3

Ich wusste nicht, was die Härchen in meinem Gehörgang mehr kitzeln ließ: das schrille Kreischen meiner Mutter oder mein eigenes. Eigentlich war es auch völlig gleichgültig, sich darüber Gedanken zu machen, denn keinen Wimpernschlag später drang brackiges Tümpelwasser, das nicht nur überraschend kalt war, sondern auch noch sehr mineralhaltig schmeckte, in meine Ohren und meinen Mund. Als ich im brusthohen Wasser wiederaufgetaucht war und mir das Schmutzwasser aus den Lungen gehustet hatte, war es eigenartig still um mich herum. Zwar war ich noch immer die Hauptattraktion im Hippodom, aber niemand schrie mich mehr an.

Ich warf einen Blick nach oben und sah, dass die Kette nicht mehr am Palmblatt hing. Aber dann musste sie ja mit mir hier in den Tümpel …

Das Wasser starrte mich an. Es hatte schwarze Augen. Und zwei äußerst haarige Ohren.

Unmittelbar vor mir tauchte plötzlich eine undefinierbare braune Wand aus dem Tümpel. Unglaublich, wie voluminös diese Tiere waren. Das Nilpferd, mit dem ich mir das Badewasser teilte, wackelte mit den Ohren und kam ganz nah an mich heran. Es beschnupperte mich neugierig. Plötzlich sauste der Papagei von der Palme herab und landete genau zwischen den Ohren des Hippos. Seelenruhig putzte er sein Gefieder, während mich der Dickhäuter weiter musterte.

„Ganz ruhig bleiben!“, rief der Mann in Khaki von der Aussichtplattform. „Keine ruckartigen Bewegungen. Und schauen Sie Daisy bloß nicht in die Augen!“

„Wem?“, fragte ich irritiert nach.

Ein Fehler. Das Nilpferd zuckte erschrocken zusammen und schnaubte mich an, dass das Wasser nur so spritzte. Der Papagei flatterte aufgeschreckt davon. Heißer und alles andere als gutriechender Nilpferd-Atem umnebelte mich und raubte mir selbst die Luft. Die Kinder kreischten. Meine Mutter schrie. Der Tierpfleger brüllte. Nur ich blieb stumm.

Stumm im Angesicht des Todes.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die Eltern ihren Kindern die Augen zuhielten. Meine Mutter stand neben dem Tierpfleger. Sie hatte sich bei ihm untergehakt.

Dann tauchte das Nilpferd ohne Vorwarnung ab. Sekunden vergingen. Ich blieb noch immer regungslos im Wasser stehen und wartete auf den unvermeidlichen Biss, der mich ins Jenseits befördern würde. Zu Sandra. Meiner Sandra.

Doch der kam nicht.

Das Tier tauchte einfach wieder auf und schaute mich an.

Mit diesen für den Körper viel zu kleinen, beinahe schwarzen Knopfaugen. Es war nun so nahe an meinem Gesicht, dass mich seine langen Barthaare kitzelten. Es schnüffelte wieder an mir, dann zog es sich zurück, gab ein bedrohlich klingendes Schnauben von sich und grunzte.

Keiner gab einen Ton von sich. Es war mucksmäuschenstill im Hippodom. Selbst die Papageien waren vor Ehrfurcht verstummt.

„Was soll ich tun?“, zischte ich dem Pfleger zu.

„Machen Sie nichts. Bleiben Sie stehen! Solange es nicht das Maul aufreißt und sich brüllend auf Sie wirft, tun Sie nichts.“

„Wie beruhigend.“

In diesem Moment kam Bewegung in das Nilpferd. Es schwamm erneut auf mich zu und riss das Maul auf. Auch mir klappte der Unterkiefer auf die Brust. Vor Staunen. Vor Schreck. Vor was auch immer.

Das Tier war nun so nahe, dass ich tief in seinen Rachen blicken konnte. Ganz hinten wackelte das Zäpfchen, so groß wie mein Unterarm. Das Schicksal hatte es so bestimmt: Die letzte Farbe meines Lebens sollte also rosa sein. Ich versuchte es noch einmal mit hysterischem Kreischen und hielt mir die Hände vors Gesicht.

„Raus aus dem Becken!“, schrie mich der Pfleger an.

„Mein Gott, machen Sie schon!“

Doch ich konnte nicht. Alles in mir war gelähmt. Ich fühlte mich wie in einem dieser Albträume, in denen man glaubt, durch zähflüssigen Sirup zu waten.

Ich verachtete mich selbst. Wirklich, ich war entsetzt, was mein Körper mir antat. Anstatt die Flucht anzutreten, hatten sich meine Nerven dazu entschlossen, einfach darauf zu warten, dass sich die nikotingelben, stumpfen Zähne in mich hineinbohrten. Ob er wohl sehr wehtut, so ein Nilpferd Biss?, fragte ich mich. Gleich würde ich es wissen. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Meine Überlebenschancen tendierten gegen null. Falls ich die Attacke überleben sollte, würden mich vermutlich die Krankheitserreger des Beckens binnen Minuten dahinraffen, bevor auch nur irgendein Medikament seine Wirkung in meinem Blutkreislauf entfalten könnte.

„Was ist denn das?“, rief da eine kindliche Stimme erstaunt. „Was hat es in seinem Maul?“

Neugierig öffnete ich ein Auge und nahm eine Hand vom Gesicht. Die Schnauze des Nilpferdes stand noch immer weit offen. Und nun erkannte ich auch, was die Aufmerksamkeit des Kindes erregt hatte: Um einen der langen unteren Eckzähne baumelte ein glänzender Gegenstand mit einem Ring daran.

Meine Kette!

Das Nilpferd hob und senkte den Kopf, als wollte es mir zunicken.

„Mein Schatz“, sagte ich laut und ertappte mich dabei, wie ich trotz der Ausweglosigkeit der Situation meine Hand ausstreckte, um sie ins aufgerissene Nilpferd-Maul zu schieben.

„Nicht! Das könnte eine Falle sein“, warnte mich ein anderer Junge von der Plattform aus.

Todesmutig ignorierte ich den Einwand und griff nach der Kette. Mir war klar, dass ich nie wieder Beifall würde klatschen können, wenn das Nilpferd nun zubiss.

Doch das tat es nicht. Geduldig ließ es mich das Schmuckstück von seinem riesigen Zahn ziehen. Mit meinem Schatz in der Hand zog ich den Arm zurück, woraufhin das Nilpferd das Maul langsam zuklappte.

Doch anscheinend war es noch nicht fertig mit mir. Es kam wieder ganz nah an mich ran, und erneut piksten mich die langen, borstigen Haare an der Wange. Es schaute mich an und schnüffelte an mir. Ängstlich schloss ich die Augen und erschrak mich in der nächsten Sekunde so sehr, dass mein Herz beinahe stehenblieb.

Eine klatschnasse, warme, äußerst raue und übergroße Zunge legte sich quer über mein Gesicht. Alles ging so schnell, dass ich meinen Mund nicht rechtzeitig schließen konnte und warmen, glibberigen Hipposabber zu schmecken bekam. Ein kurzer Stupser gegen meine Brust, der mich beinahe umwarf, dann schwamm das Nilpferd an mir vorbei, hievte sich aus dem Wasser und stapfte in aller Seelenruhe an Land.

Fassungslos schaute ich dem Tier nach, das sich gemächlich in Richtung Außengehege begab. Einer der Papageien flatterte vor mir auf Augenhöhe herum und krächzte mich wütend an.

„Jetzt kommen Sie endlich raus da!“, rief der Tierpfleger mir zu. Seine Stimme klang immer noch aufgeregt. Er war mittlerweile ebenfalls ins Gehege geklettert, hielt sich am Stamm der Kunstpalme fest und reichte mir die Hand, doch er hatte Mühe, mich aus dem Wasser zu ziehen. Meine klatschnassen Klamotten machten das Unterfangen noch schwerer. Als ich mich endlich auf die Plattform wuchtete, brandete tosender Beifall in der Menge auf.

„Mann, was haben Sie sich denn dabei gedacht? Sie hätten draufgehen können.“ Seine Stimme klang nicht mehr ganz so wütend. Der Beifall schien ihn etwas beschwichtigt zu haben.

„Danke“, sagte ich und meinte es aufrichtig. Ich umfasste seine große Hand und schüttelte sie wie verrückt.

„Keine Ursache, ist mein Job. Aber …“

„Simon!“ Meine Mutter war außer sich. „Das war mit Abstand das Dümmste, was du je getan hast.“

Vermutlich hatte sie auch damit recht.

„Du kannst deinen Schutzengeln dankbar sein. Das Nilpferd hätte sonst was mit dir anstellen können. Dich beißen. Auffressen …“

„Schänden“, schlug jemand hinter mir lautstark vor, woraufhin nervös gekichert wurde

„Na, fressen wohl nicht.“ Der Tierpfleger strich seinen rötlichen Bart glatt. „Flusspferde sind Vegetarier. Aber mit ihnen ist dennoch nicht zu scherzen. Wenn eineinhalb Tonnen geballte Wut auf Sie zugelaufen kommen, machen Sie nichts mehr.“

„Aber es wirkte nicht wütend“, erwiderte ich schüchtern.

„Im Gegenteil. Es schien richtig … lieb.“

Nun, da mein Adrenalinspiegel wieder auf ein erträgliches Maß gesunken war, begann ich zu frieren. Ich musste unbedingt raus aus den nassen und stinkenden Klamotten.

„Das stimmt“, sagte der Khaki-Mann. „Das ist wirklich äußerst seltsam. Gerade mit Daisy haben wir die meisten Probleme, weil sie äußerst aggressiv ist.“

„Das ist aber ein merkwürdiger Name für ein derartiges … Tier“, bemerkte meine Mutter.

Der Mann zuckte mit den breiten Schultern. „Daisy heißt im Englischen …“

„Gänseblümchen“, kam ich ihm zuvor. „Bellis perennis, um genau zu sein.“

Der Pfleger nickte anerkennend. „Die frisst sie besonders gern. Wegen Daisy mussten wir die Elektrozäune verstärken, da sie sich nicht aufhalten lässt, wenn sie irgendwo eine dieser Blumen sieht. Sie kennen sich aus mit Botanik?“

„Er liebt Topfpflanzen“, antwortete meine Mutter an meiner Stelle, und es klang nicht wie ein Kompliment.

„Auf jeden Fall ist Daisy so eigenwillig, dass selbst der Bulle sich zurückgezogen hat und sie nun der Boss im Nilpferd-Becken ist. Sie hatte vor drei Tagen übrigens Geburtstag.“ Der Tierpfleger ließ die Schulter kreisen.

Vermutlich hatte er sich etwas ausgerenkt, als er mich aus dem Becken gezogen hatte. „Deshalb liegt da noch ihre Geburtstagstorte herum. Oder das, was davon übriggeblieben ist.“ Er zeigte auf den Haufen mit Obstresten auf der anderen Seite des Beckens. Allem Anschein nach gehörten Ananas nicht zu den Leibspeisen von Nilpferden. „Glauben Sie ja nicht, dass Daisy ihre Torte mit den anderen geteilt hätte. Teenager eben.“ Er lachte kurz auf. „Fünf ist sie übrigens geworden.“

Mutter zupfte an meinem nassen Hemd herum. „Hast du das gehört, Simon? Sie hat exakt an dem Tag Geburtstag, als Sandra …“

„Bin nicht taub“, unterbrach ich sie frostig und wrang die vorderen Spitzen meines Leinenhemds aus.

Der Tierpfleger sah uns abwechselnd an. „Wer ist Sandra?“

„Die verstorbene Verlobte meines Sohnes. Ihr gehörte der Ring.“ Sie zeigte auf meine Hand, in der sich die zurückeroberte Kette befand.

„Oh.“ Der Mann kratzte sich am Bart und sah mich verwundert an. „Na, wenn das kein Karma ist …“