Leseprobe Du, ich und ein Winterwunder

1

„Können Sie nicht lesen? Das ist die Herrentoilette“, schnauzte mich aus nächster Nähe eine donnernde Männerstimme auf körperlicher Augenhöhe an. Ich befand mich auf dem New Yorker Flughafen auf dem Weg zu meinen Eltern nach Paris. Dem ersten Besuch nach meiner emotionalen Flucht aus der Heimatstadt. Anders als in Frankreich war die Brailleschrift in Amerika verbreiteter. Schon bei meiner Ankunft vor einem knappen Jahr war ich von der Inklusivität begeistert. Hier, in der Nähe des Gates Richtung Paris, schaltete ich auf den angelernten Gehörmodus und war einer Kinderstimme gefolgt, die ihrer Mutter signalisiert hatte, vor dem Flug dringend auf die Toilette gehen zu müssen. Leider hatte ich mich sowohl im Alter und dazu im Geschlecht des Kindes getäuscht und war geradewegs auf dem Männerklo gelandet.

„Doch, ich kann lesen. Tut mir leid. Ich bin einer Stimme gefolgt, statt die Brailleschrift zu lesen“, antwortete ich so gelassen wie möglich. Es war nicht das erste Mal in meinem einundzwanzigsten Lebensjahr, dass ich auf dem Männerklo gelandet war und hatte sozusagen einen Übungsvorsprung in Sachen Fehltritt.

„Wenn es schon für sämtliche Handicaps Lösungen gibt, solltet ihr sie auch nutzen“, warf er mir vor und betonte das Wort ihr, als seien Blinde eine Kategorie. Wasser rauschte. Er wusch sich die Hände. Gott sei Dank. Solchen Unsympathen war auch zuzutrauen, nach dem Toilettengang ohne Handhygiene den Raum zu verlassen. Wenngleich er mit seinem Vorwurf recht hatte.

„Ich werde mit dem Flughafenservice sprechen. Vielleicht bringen sie auch eine Anleitung für Freundlichkeit an, damit Menschen wie Sie diese auch nutzen können“, konterte ich mit Betonung auf dem Wort Sie und fügte hinzu: „In dem Fall ist meine Erblindung ein Vorteil, weil ich nichts von Ihren Tätigkeiten sehen konnte.“ Ich hielt meinen Blindenstock Richtung Ausgang. „Ist die Damentoilette links oder rechts, wenn ich aus der Tür gehe?“ Die eintretende Millisekunde Stille deutete eine Einsicht an, die mit Sicherheit nicht bis in die Tiefen seines Herzens wandern würde.

„Links“, sagte er mit deutlich sanfterem Ton.

„Danke. Gute Reise“, wünschte ich ihm und wandte mich ab. Es gab zwei Arten von Menschen. Die einen nahmen ihre Fehler gelassen hin, die anderen waren wie Mister Motzbacke.

Der New Yorker Flughafen war in Sachen Lautstärke kaum zu überbieten, und je lauter es war, desto weniger konnte ich mich auf mein Gehör verlassen. Das waren die Momente, in denen ich meistens in Fettnäpfchen wie eben trat und gefordert war, meine Mitmenschen um Unterstützung zu bitten. Hier in Amerika gab es viele erleichternde Mittel, die mich in meiner Selbstständigkeit unterstützten. Ich versuchte alles, um dieses Ziel meiner Eltern zu erfüllen, und mittlerweile war es zu meiner persönlichen Passion geworden.

Der zweite Toilettengang verlief fettnäpfchenlos, weil ich mich am Eingang über die Brailleschrift vergewisserte. Am Waschbecken verharrte ich, kontrollierte mit den Händen, ob sich alle Haare an Ort und Stelle befanden und einen perfekten, hellblonden Pagenkopf mit kurzem Pony abgaben. Zufrieden setzte ich die schwarze Baskenmütze auf. Glücklicherweise wusch sich neben mir jemand die Hände, damit ich nach den Sitzplätzen fragen konnte.

„Könnten Sie mir kurz beschreiben, wo sich die Sitzplätze vor dem Gate befinden? Ich bin blind.“

„Ja, natürlich. Wenn Sie den Waschraum verlassen, sind es etwa zehn Schritte auf zwei Uhr“, hörte ich eine freundliche Stimme sagen.

„Das ist eine sehr präzise Antwort. Vielen Dank“, lobte ich die professionelle Unterstützung.

„Gerne. Ich kann Sie auch hinführen, aber ich vermute, Sie lieben die Selbstständigkeit.“

„Erraten“, gestand ich.

„Na, dann guten Flug“, wünschte sie mir und ich erwiderte den Wunsch.

Zufrieden verließ ich den Waschraum, folgte der Beschreibung und steuerte mit dem Blindenstock voran auf die Sitzplätze zu, die sich als dunkle Silhouette vom hellen Untergrund abzeichnete. Hier entschied ich, den erstbesten Passagier nach einer freien Sitzgelegenheit zu fragen. „Entschuldigung. Ist der Platz neben Ihnen frei?“

„Ja, der ist frei“, antwortete eine kindliche Stimme. Dieselbe, die mich in das verdammte Männerklo geführt hatte. Trotz des schreienden Bauchgefühls entschied ich mich, dem Jungen noch eine Chance zu geben. Jeder hatte eine zweite verdient. „Danke“, sagte ich deshalb, tastete und ließ mich nieder, nur, um direkt wieder aufzuspringen, weil ich schnell erkannte, dass es ein besetzter Platz war. „Tut mir leid. Ich hatte die Information, dass der Platz frei ist“, entschuldigte ich mich in die Richtung des Betroffenen. Ein Kichern ertönte. Dieser Frechdachs hatte seine zweite Chance genutzt. Für sich. Eine dritte gab es garantiert nicht.

„Das war jetzt aber nicht so nett von dir“, wandte ich mich an den Jungen. „Ich verstehe, dass es für dich lustig ist, Kontrolle über jemanden zu haben, aber ich muss dir im Gegenzug vertrauen. Das auszunutzen ist keine Glanzleistung.“

Stille herrschte. Wo waren nur die verdammten Eltern von dem verzogenen Bengel?

„Vielleicht meinte er den Platz auf seiner anderen Seite. Der ist frei“, sagte eine Stimme, die aus der Richtung kam, auf die ich mich gesetzt hatte. Sie war sanft und mitfühlend und von der Höhe her etwa einen Kopf über mir. Also ein Meter fünfundsechzig plus Kopf. Bevor ich etwas erwidern konnte, trat er näher an mich heran. Er roch wie ein frisches Mango-Sorbet. Mir lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen und ich träumte mich an einen Strand in der Karibik.

In Sachen Vertrauensperson mangelte es meistens in einer fremden Umgebung. Vom Taxi bis zur Sicherheitskontrolle war mir eine Begleitperson der Fluglinie zur Seite gestellt worden. Danach hatte ich mich noch bis zum Gate bringen lassen. Nur war es mir ein Anliegen, die letzte Stunde im Wartebereich ohne fremde Hilfe zu verbringen, was mir heute eher schlecht gelang. Ich hatte Hunger. Das spürte ich jetzt. Ein Mango-Sorbet käme mir gerade recht.

„Danke. Ist vielleicht der linke Platz neben Ihnen frei?“, bat ich um Auskunft, in der Hoffnung, in dem Mango-Sorbet auf zwei Beinen keinen Verbündeten des Bengels gefunden zu haben.

„Ja, links neben mir ist frei. Warten Sie, ich stelle meinen Rucksack beiseite, damit Sie nicht stolpern“, meinte er und schien sich zu bücken, denn das Mango-Sorbet nahm Fahrt auf und wirbelte durch die Lüfte. „So, jetzt können Sie sich setzen.“

Das tat ich, faltete meinen Blindenstock zusammen und bedankte mich.

„Ich bin Kit und wir können uns übrigens duzen. Ich denke, wir sind ungefähr gleich alt“, meinte er mit heiterer Stimme.

„Ich bin Elsa. Du fliegst auch nach Paris?“ Irgendwie wollte ich mehr von diesem erfrischenden Duft, der jedes Mal intensiver wurde, wenn er ein Wort sprach. Andererseits läuteten augenblicklich die Herzsirenen, Unverbindlichkeit hieß die Devise. Mehr Schmerz verkraftete ich nicht und war dankbar, während meiner Gesangsausbildung in New York zur Ruhe gekommen zu sein.

Oui“, meinte er und wechselte in die französische Sprache, auf die ich sofort einging, und die er wie ich perfekt beherrschte.

„Wohnst du in Paris oder machst du einen Weihnachtsurlaub mit der Hoffnung, den Eiffelturm an Weihnachten im Schnee glitzern zu sehen?“ In meinen Gedanken tauchte der Geschmack von Eisen und Geruch von Schnee auf. Ein Tag, an dem ich mit meiner Schwester Emma und meinen Eltern am Eiffelturm war, flackerte in meiner Erinnerung auf. Schnee vom Stahl lecken, Eisen und Kälte waren die Bausteine, die ich mit dem Turm verband. In meiner Welt gab es keine romantische visuelle Eiffelturmszene.

„Nein, ich wohne nicht in Paris, sondern auf Haiti. Aber der Eiffelturm im Schnee wäre das Beste, was mir passieren könnte“, schwärmte er augenblicklich. „Solche Fotos sind absolute Lottogewinne. Normalerweise wäre ich erst nach Weihnachten geflogen, aber der Wetterbericht hat tatsächlich Schnee zu den Feiertagen vorhergesagt. Also habe ich umgebucht und hoffe auf meinen persönlichen Jackpot.“

Derartige Begeisterungsfähigkeit war beim männlichen Geschlecht selten. Er klang wie ein kleiner Junge, der das beste Spielzeug der Welt geschenkt bekam. Erfrischend und positiv.

„Ich drücke meine persönlichen Glücksdaumen für dich. Wozu brauchst du die Fotos?“ Ich wusste natürlich, dass sich Sehende durch Fotos ein inneres Bild entwickelten und auf diese Weise einen persönlichen Eindruck des fotografischen Ortes oder der Person bekamen. Trotzdem hielt ich sie für überbewertet. Außerdem vergaßen die meisten Menschen mit Sehkraft, dass Bilder das Ergebnis aller fünf Sinne sein konnten und erst durch ihr eindrucksvolles Zusammenspiel ein Bild im Gehirn zauberten. Ergo Foto gleich Farbzusammenstellung. Es gab andere Wege etwas kennenzulernen und nicht selten täuschte das Auge. Meine anderen Sinne funktionierten famos und zauberten mir ebenfalls Eindrücke. Nur waren diese nicht multispektral, sondern ein Fünf-Sinne-minus-Sehen-Cocktail.

„Ein Pariser Hotel hat mich gebucht, um neue Fotos für deren Website zu schießen. Ich führe einen Blog im Internet und nehme auch Aufträge an“, erklärte er mir.

„Cool. Den muss ich mir zu Hause mal ansehen“, sagte ich.

„Was kannst du denn noch sehen, oder ist dir die Frage unangenehm?“

„Nein, das ist in Ordnung. Ich sehe nur dunkel und hell, aber das Wort Sehen gehört dennoch in meinen Wortschatz. Sehen bedeutet für mich viel mehr als das, was das Auge vermag. Sehen kann man auch mit dem Herzen. Für eine Vorstellungskraft benötigt man keine Augen.“

Für einen kurzen Moment spürte ich seinen Blick auf mir haften, oder war es sein Herz, das einen Satz in meine Richtung machte? Im Hintergrund verschwand das Gemurmel des Flughafens, bis er sich räusperte und der Lärm zurückkehrte.

„Du benutzt sicher eines dieser elektronischen Geräte, die den Computerinhalt auslesen. Sind die zuverlässig?“ Ehrliche Neugier lag in seiner Stimme. Die Leichtigkeit, mit der er über meine Erblindung sprach, schenkte mir eine angenehme Form der Gelassenheit, die ich selten gegenüber Sehenden fühlte.

„Die nennen sich Braillezeilen. Nach dem Erfinder Louis Braille benannt“, erklärte ich kurz und fügte hinzu: „Für Sehende liest der Reader vielleicht etwas schnell. Ich kann ja nicht vergleichen, aber das, was ich lese oder von meinem Sprachprogramm übersetzt bekomme, kann ich mir gut vorstellen. Und wenn ich nicht weiterkomme, bitte ich jemanden, mir die Bilder zu beschreiben. Von Menschen, die ich kenne, oder mit einer App, die Be my eyes heißt. Mittlerweile gibt es über fünf Millionen Mitglieder, die per Zufall angerufen werden. Es bleibt demnach recht anonym, ist aber oft eine ideale Hilfe.“

„Super Erfindung. Die werde ich mir gleich runterladen und mich anmelden. Stell dir vor, du gerätst eines Tages an mich. Wäre das nicht verrückt?“

Ein Moment der Stille trat ein, weil ich darauf nicht antwortete, mir die Situation aber vorstellte. Den Mangoduft würde ich in einem solchen Fall vermissen.

„Hast du Lust, dass ich dir meine Fotos beschreibe? Ich wäre an deiner Meinung interessiert. So ganz ohne App.“

Sollte das sein Ernst sein? Mir war noch nie in den Sinn gekommen, Bilder als Blinde bewerten zu können. Aber gut. Meine Neugier war geweckt. Mehr an Kit, als an seinen fotografischen Talenten. Mein Mut, Nähe zuzulassen, erwachte.

„Okay“, antwortete ich nur knapp und hörte, wie Kit mit seinen Händen in einer Tasche wühlte und dann auf einem Gerät, ich vermutete einem iPad, tippte. Wenn ich auf meinem iPhone herumdrückte, sprach es mit mir und nannte die einzelnen Apps. Aber sein elektronisches Gerät hinterließ nur einen leisen Tippton. Die eintretende Ruhe zwischen uns weckte in mir den Wunsch, ihn mit der Spitze meines kleinen Fingers zu berühren. Ob er warme, weiche Haut hatte? Elsa, schalt ich mich, was ist nur mit einem Mal mit dir los? Obwohl die meisten Sehenden vermuteten, wir würden alles mit den Händen erkunden, fassten wir beim Kennenlernen von Menschen nicht gleich an deren Nase, um herauszufinden, ob sie wie ich ein Septum trugen. Bei Kit zwang ich meine Hände, sie nicht an ihm entlanggleiten zu lassen. Und zwar von Kopf bis Fuß. Und ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob ihm Frauen mit einem Septum abschreckten. Blindheit schien für ihn keine Hemmschwelle zu sein. Ein ungewohntes Gefühl, ihm gefallen zu wollen, machte sich in meiner Brust breit, und ich spürte Röte in mein Gesicht steigen.

„Mal sehen. Welches Bild könnte ich dir beschreiben?“ Erneutes Klicken und Drücken ertönte.

„Fang oben an. Dann kann ich dir meinen Eindruck von deinem Blog sagen“, ermutigte ich ihn.

Die nächsten Minuten entführte mich Kit in eine neue Welt. Hitze und Kälte rauschten durch meinen Körper, als er mir die Bilder beschrieb. Die Überschriften tanzten wie Balletttänzer vor dem inneren Auge, Gerüche katapultierten mich aus meinem Plastiksitz vom New Yorker Flughafen geradewegs auf eine Hängematte zwischen raschelnde Palmen auf die Seychellen. Mir wurde ein Cocktail aus Kokosnuss und Mango serviert und eine Riesenschildkröte trottete zum Guten-Tag-Sagen vorbei. In meiner Vorstellung lag Kit natürlich neben mir und strich mir meine vom Meersalz zerzausten, blonden Haare aus dem Gesicht. Innerhalb weniger Minuten war ich zu einer Süchtigen mit Fernweh mutiert, die Brief und Siegel auf die Authentizität der Reiseberichte samt Fotos gab. Gerade, als Kit mir Bilder einer Südafrikareise beschreiben wollte, wurden wir unterbrochen. Das Boarding begann.

„Kit, das tut mir jetzt leid. Ich werde meist zuerst aufgerufen. Wir werden also gleich voneinander getrennt. Vielleicht kannst du nachher kurz an meinen Platz kommen. Ich würde mir gerne deine Internetadresse aufschreiben.“ Etwas in mir sträubte sich, mich von seiner Stimme und dem Karibikduft zu lösen. Keine Sekunde später legte ich meine Hand dorthin, wo ich seinen Arm vermutete. War ich von allen guten Geistern verlassen? Ich wusste doch genau, wohin zu viel Nähe führen konnte. Zudem fasste ich niemals einen Fremden an, es sei denn, ich war verletzt und benötigte Hilfe. „Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Kit.“ Abschied lag in meiner Stimme. So war es besser für uns und mein Herz bereitete sich ebenfalls darauf vor.

„Wir sehen uns später. Du wirst gerade abgeholt“, erwiderte er. Gewissheit lag in seiner Stimme.

 

Abgesehen davon, dass Google bei der Eingabe des Begriffs Handicap eine Kennzahl beim Golfen auswirft, die das Spielpotential eines Spielers ausdrückt, erscheinen zahlreiche Synonyme für diesen Begriff. Irgendwie treffen sie wahrscheinlich alle auf Blinde, wie ich eine bin, zu, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt. Bin ich beeinträchtigt? Ja, ich kann die Welt nicht mit meinen Augen sehen. Bin ich behindert? Ja, ich habe eine Inklusionskarte, die mir die Notwendigkeit einer Blindenbegleitung bescheinigt. Zudem beziehe ich nach meinem Behinderungsgrad anteiliges Blindengeld. Wird mir das Leben erschwert? In allen Ländern gibt es Arschlöcher, die Blinde mit Müll vergleichen. Ist Blindsein ein Hemmschuh? Da bin ich mir nicht sicher. Ich bin von der äußeren Erscheinung nicht geblendet. Kenne die Welt ohne visuelle Bilder durch meine Augen. Aber tatsächlich bin ich des Öfteren gehemmt, um Hilfe zu bitten. Habe ich Nachteile? Ja. Alles dauert viiiiel länger. Ist Blindsein ein Stolperstein? Mir werden einige in den Weg gelegt. Nicht zuletzt reale in Form von Gegenständen wie diese verdammten E-Scooter, die mich stolpern lassen. Ist Blindsein eine Bürde? Auf keinen Fall. Mein Leben ist ein Geschenk und meine Erblindung ermöglicht es mir, die Dinge so zu erleben, wie ich sie erfahre. Mit dem Herzen. Ich rieche Verbranntes, bevor es andere bemerken. Ich spüre Wut, bevor ein Ton gesagt wird. Regen, Schnee oder die Frühlingsknospen wittere ich Tage zuvor. Und wenn es jemand wagt, in meiner Nähe zu lügen, kann er sich direkt verpissen. Ich bin mein eigener Herr und nur ich entscheide, ob mich mein Handicap vom Leben abhält. Meiner Meinung nach haben ganz andere Menschen Schwierigkeiten. Und die meisten davon haben gut funktionierende Augen im Kopf. Deshalb würde ich sagen, ich bin ein normaler Mensch, der nur ein wenig abhängig von der Freundlichkeit seiner Mitmenschen ist und mutiger sein muss. Muss. Darin liegt eine große Portion persönliche Freiheit, denn ich muss mich, wenn ich nicht ständig im Dreck oder Krankenhaus liegen möchte, auf das Urteil und die Augen der anderen verlassen. Das heißt nicht bindend, die freundlichste Frau im Universum sein zu müssen. Ich bin wütend, wenn mich jemand auf den falschen Weg führt, bin traurig, wenn ich jemandem zur Last falle, und glücklich, wenn ich Tätigkeiten selbstständig erledige. Aber am wohlsten fühle ich mich, wenn mich Menschen normal behandeln. Ohne Mitleid, nur unterstützend.

 

Der Gedanke, jenen Menschen entgegenzufliegen, erfüllte mein Herz, als ich auf die von Kit angekündigte Stimme wartete.

„Mademoiselle Elsa Moreau?“ Ich nickte. „Ich bringe Sie an Bord, in Ordnung?“ Ich nickte erneut und griff nach meinem Rucksack und dem Stock. Nachdem sie sich an der Passkontrolle mein Ticket und den Pass zeigen ließ, steuerte sie mich achtsam in den Flieger. In der Regel bevorzugte ich die erste Reihe und den Gangplatz. Nachdem ich einige Male mit voller Breitseite den Vordersitz gegen meinen Kopf bekommen hatte, weil es sich mein Vordermann bequem gemacht hatte, bevorzugte ich einen Sitz ohne Frontmann. Der Weg zum Klo und zum Bordpersonal war nah und ich konnte mich ein wenig ausbreiten. Wenn Kinder neben mir saßen, war der Flug meist lustiger. Kinder verhielten sich natürlicher im Umgang mit Handicaps und fragten drauf los. Ich konnte gut mit Kindern und sie mit mir. 

Nachdem ich mich auf dem Sitzplatz bequem eingerichtet hatte und meine Tasche verstaut worden war, füllte sich das Flugzeug mit den übrigen Passagieren. Geräusche von Taschen, Jacken, hohen Schuhen, Zigarettenduft, Parfum und Mister Motzbacke, der Gott sei Dank nicht neben mir saß, zogen an mir vorüber. Sehnsüchtig wartete ich auf den Duft von Mango-Sorbet, aber er ließ gefährlich lange auf sich warten. Nervosität befiel mich. Warum eigentlich? Nur wenige Minuten hatten wir geteilt und trotzdem überkam mich die Sehnsucht. War ich am Ende wieder bereit für Nähe? Der Platz neben mir wurde von einer schrillen Frauenstimme besetzt, die eine halbe Ewigkeit benötigte, bis sie ihr Ei legte. Sie schnaufte tief und mein Sitz ruckte unter ihrer Last, als sie sich fallen ließ. Der Lärm lenkte mich fast vom vorüberziehenden Mango-Sorbet ab.

„Hey Elsa. Du sitzt hier vorne. Ich ganz hinten. Ich komme dann später, wenn wir über dem Großen Teich sind, in Ordnung?“, flüsterte er mir zu und kam ziemlich nah an mich heran. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als wäre er allen Ernstes ein Fruchteis.

„Hallo, Sie da“, rief meine Sitznachbarin. „Nein, nicht Sie, sondern der Mann mit dem dunklen Teint vor Ihnen. Würden Sie mit mir den Platz tauschen? Bei meiner Buchung war hinten alles belegt. Es ist viel ruhiger dort.“ Offenbar hatte die Frau keinen Anstand. Wie konnte man einen Menschen rufen, in dem man die Hautfarbe thematisierte? Was für Menschen gab es auf diesem Planeten? Sofort fantasierte ich Definitionen, die ich in ihrem Wortschatz einnehmen würde, wenn sie nach mir rufen würde. Die ohne Augen im Kopf? Die mit dem Blindenstock? Sie mit der Erblindung?

Mich schüttelte es, den ganzen Flug neben dieser Person sitzen zu müssen, und wartete auf Kits Antwort. Kit hatte einen dunklen Hautton. Mir war, als ob er inmitten meiner persönlichen Dunkelheit eine Silhouette bekam und näher rückte. Augenblicklich krampfte sich mein Herz zusammen. Wow. Wenn er jetzt Ja sagte, würde ich meine Hände wie eine Verurteilte festbinden und mich ernsthaft mit den Ketten, die ich mir um mein Herz gelegt hatte, unterhalten müssen.

„Nur wenn es Ihrer Sitznachbarin recht ist“, antwortete Kit gelassen und wohl unbeeindruckt der Kränkung. Eine Sekunde wurde es still. Die beiden warteten auf meine Antwort. Aber es war nicht der Inhalt, der mir Sorgen bereitete, sondern eine stille Ahnung, wo das hinführen könnte. Und dass der Ton in meiner Stimme kein mieser Verräter war.

„Ist in Ordnung“, antwortete ich, bemüht nüchtern. Innerlich focht mein Herzmuskel einen Kampf gegen seine beiden Kammern. Außerdem wusste ich jetzt schon, wohin ich meine Arme verbannen würde. Festgeschnallt am Sicherheitsgurt.

Erneut ruckelte mein Sitz vom Aufstehen meiner rassistischen Nachbarin. Manch ein Zeitgenosse vermag mit nur einem Satz seine Überzeugungen zu verkünden und damit gleichzeitig eine Barriere zwischen mir und ihm zu schaffen. Ein leichter Geruch von Schweiß und frisch entronnenem Pups lag in der Luft, als sie mit ihrem Hinterteil gegen meine Armlehne stieß. Erleichtert, ihr und allen weiteren körperlichen und wörtlichen Entgleisungen entkommen zu sein, wünschte ich ihr einen guten Flug und bedankte mich bei ihr. Miss Glück war auf dem Flug wohl an meiner Seite. Chakka.

Kit fuchtelte an der Gepäckablage und ließ sich sanft auf den Sitz nieder. Sofort hüllte mich sein Mangoduft ein und katapultierte mich in seine ganz persönliche Welt voller honigsüßer Früchte und salziger Luft, warmer Sonnenstrahlen und buddelwarmen Wasser, das mich trug. Ein kleines Paradies, gleich neben mir für die ganze Strecke zwischen New York und Paris.

„Mister Happy ist auf unserer Seite“, meinte Kit und ich schmunzelte über den gleichen Gedanken.

„Bis nach Paris wäre ich von der Rassistin vergast worden“, kommentierte ich meine vorherigen Aussichten.

„Wie meinst du das?“

„Ach nichts. Ich denke, ich habe mal wieder laut gedacht. Eine meiner suboptimalen Angewohnheiten“, gab ich zu und drückte meine Hände fest um den Gurt.

„Besser als seinem Gegenüber alles aus der Nase ziehen zu müssen. Die Direkten sind mir lieber.“

„Hört, hört. Dann ist heute wirklich unser Glückstag.“ Kit hätte auch den Grund in meiner Erblindung sehen und ansprechen können. Nach dem Motto, Kann ich mir vorstellen, ihr könnt ja nicht sehen, wie jemand reagiert, deshalb müsst ihr alles erklären. Stattdessen behandelte er mich wie einen Normalo mit gängigen Hindernissen.

„Warst du schon mal in Paris?“

Das war mein Stichwort. Während die Passagiere im Hintergrund ihre Platzsuche kommentierten und das Bordpersonal seiner Arbeit nachging, gewährte ich Kit einen Einblick in mein junges, bewegtes Leben als Blinde.

„Meine Zwillingsschwester und ich hatten gute Vorbilder. Unsere Eltern entschieden schon früh, ihr eigenes Leben durch unsere angeborene Blindheit nicht einschränken zu lassen. Bei Frühchen, wie wir es waren, können Elemente des Sehapparates fehlen, und dann ist die rasche Akzeptanz dieses Umstands die klügste Entscheidung. Unsere Eltern übernahmen Verantwortung für die Herausforderung und schickten uns in unsere“, plapperte ich wie in einem Vortrag los.

„Aber war das bisweilen nicht gefährlich für euch?“ Kits Frage hatte ich erwartet und die passende Antwort parat.

„Anstatt uns in Watte zu packen, kommunizierten unsere Eltern die Gefahren und Regeln glasklar und versorgten uns neben allen Hilfsmitteln vor allem mit einer wichtigen Essenz: Zuversicht.“

„Hm. Wirkt logisch. Ihr habt gelernt, euren Fähigkeiten und Eltern zu vertrauen“, schloss er.

„Mit jeder Menge Blessuren als Wegweiser.“

„Kann ich mir vorstellen“, meinte Kit. Konnte er nicht.

„Meinst du? Bist du schon mal blind eine Wendeltreppe hinabgerutscht und hast dich in der Kurve auf eine Matratze fallen lassen?“ Ich konnte mir bei dem Gedanken an unsere Rutschpartien das Lachen nicht verkneifen.

„Nicht dein Ernst?“

„Wohl. Unsere Eltern erklärten uns, dass wir von unserer Maisonette-Wohnung auf den Eiffelturm spucken könnten, und sie nicht bereit wären, die Wohnung aufzugeben, nur weil wir weniger als ein Prozent Sehkraft hätten.“

„Hört sich ein wenig schroff an.“

„War es auch, aber es war und ist eben exakt diese Balance zwischen Vertrauen und Verantwortung, die aus uns das gemacht hat, was wir sind.“

„Du meinst, es ist eine Sache, blinden Kindern das Rutschen über ein Geländer zu erlauben, und die andere, ihnen eine Matratze in die Kurve zu legen?“, fragte Kit.

„Ja. Ich würde sagen, du bist blindentauglich“, ulkte ich, um die Dramastimmung einzudämmen.

„Das höre ich gern.“

„Wir haben gelernt, uns nicht auf diesen einen Mangel, nicht sehen zu können, zu konzentrieren. Stattdessen trainierten wir alle anderen Fähigkeiten. Meine Schwester Emma war sogar die Erste, die uns eine neue Form der Abstandsmessung beibrachte, nachdem sie Fledermäuse imitierte und Klicklaute aussandte.“

„Kein Scheiß?“

„Ehrlich. Den Trick hatte sie von einer blinden Profisportlerin gehört und mir voller Stolz präsentiert. Sie meinte, wir würden weniger fallen, weil wir uns besser orientieren könnten.“

„Und? Hat’s funktioniert?“

Ich lachte in Gedanken an das wochenlange Klicken in der Pariser Wohnung, das unseren Eltern gehörig auf die Nerven gegangen war, auf. Aber natürlich hatten sie auch diese Art der Selbstständigkeit unterstützt. „Ja, hat es. Aber glaube mir, du willst keine zwei blinden Töchter klickenderweise durch die Wohnung laufen haben.“

„Ich finde, das habt ihr prima gelöst. Für mich zählt Herz und nicht die Funktion der Sehkraft.“

Stille trat ein. Kit hatte sich als einfühlsamer und taktvoller Mensch bewiesen, dennoch war ich mir sicher, eine kleine Rundumerzählung half ihm, adäquater auf mich einzugehen. Allerdings entfachte dies in mir ein Verlangen, ihm mein ganzes Leben erzählen zu wollen. Inklusive meiner tiefsten Sehnsüchte und Geheimnisse. Seltsam. Als hätte er mit einem Schlüssel ein Tor geöffnet, das meine Zunge zum Reden ankurbelte.

„Deine Eltern würde ich gerne kennenlernen. Sie scheinen grandios zu sein.“ Kein Wort des Mitleids oder eine der typischen Floskeln. Was für eine Erleichterung. Fragen nach meiner Erblindung waren für mich die Basis einer sich entwickelnden Kommunikation, dennoch wünschte ich mir von meinem Gegenüber ein Gefühl von Augenhöhe. Leider fielen jedoch die meisten Menschen, an die ich geriet, in einen Ich-will-es-ihr-rechtmachen-Modus. Eine unangenehme Situation, aus der meist kein Entkommen war.

„Vielleicht lässt sich das einrichten“, antwortete ich spontan und war damit ein indirektes Versprechen meine Eltern kennenzulernen eingegangen. Ups.

Neben uns gab ein Steward die Sicherheitshinweise, denen ich aufmerksam lauschte und wahrscheinlich eine Haltung einnahm, die einer Salzsäule ähnelte. „Ich bilde mir ein, dass nichts passiert, wenn ich gut zuhöre“, erklärte ich meine Starre, obwohl Kit nicht gefragt hatte.

„Und ich spreche währenddessen ein stilles Gebet. Wir haben alle unsere Macken“, gab er nüchtern zu.

„Jetzt enttäuscht du mich aber kolossal. Ich dachte, du praktizierst Voodoo und könntest mir das Augenlicht am Ende der Reise anknipsen“, ulkte ich.

„Mist. Jetzt hast du meine Absichten erkannt. Aber noch nicht ganz. Es fehlt der Teil, bei dem ich die Schlange aus der Tasche hole, mich bis auf meinen Lendenschurz ausziehe und einen Tanz im Mittelgang vorführe. Das Augenlicht will sicher eine spektakuläre Einladung, oder?“

Kit war herrlich unkonventionell und saukomisch. Wir lachten beide laut auf.

„Entschuldigung, Mademoiselle Moreau. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass wir Sicherheitsmaßnahmen ergreifen müssen, können Sie auf meine Hilfe zählen“, erklärte die Stimme des Stewards in meine Richtung.

„Danke, sehr freundlich.“

„Darf ich nun auch Ihr Gepäck verstauen?“, wollte er wissen.

„Ich mach das. Versprochen“, wandte Kit ein.

„In Ordnung. Wenn Sie zusätzliche Hilfe benötigen, geben Sie mir bitte Bescheid.“

„Ja, mach ich“, versprach ich in seine Richtung und flüsterte dann in Kits: „Man darf die Sehenden nicht gänzlich in ihrer Hilfsbereitschaft ignorieren. Die Balance macht’s“, erklärte ich meinem Sitznachbarn.

„Oh, merci.“

Grinsend öffnete ich meinen Rucksack und ertaste meine Kopfhörer. Sie waren in einem wattierten Seidentäschchen verstaut, das sich von den anderen unterschied.

„Das war Rekordzeit. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die derart schnell das Gewünschte in ihrer Handtasche findet. Respekt, Madame. Sind Sie sicher, dass Sie nicht selbst Voodoo praktizieren?“

Wieder lachte ich aus vollem Hals. „Ertappt. Die anderen Beutel bestehen aus Knochen, Zähnen und Haaren. So ertaste ich die Unterschiede“, erläuterte ich heiter den wohlsortierten Inhalt. „Vorsicht beim Entgegennehmen. Da sind jede Menge Geheimverstecke mit Giftpfeilen versehen“, ergänzte ich und hielt den Rucksack dorthin, wo ich seine Beine vermutete.

„Dagegen bin ich mittlerweile immun. Außerdem habe ich immer ein wenig Gegengift parat“, konterte Kit, stand auf und verstaute den Rucksack im Gepäckfach. Herrlich.

 

Das Flugzeug hatte sich seit einigen Minuten in Bewegung gesetzt und ich fieberte dem Start entgegen.

„Was machst du in New York?“, wollte Kit wissen.

„Ich bin auf der Manhattan School of Music.“

„Du bist Musikerin?“

„Nein, ich werde in Gesangskunst ausgebildet.“

„Eher klassisch oder rockig?“

„Mir liegt die Jazzkunst sehr am Herzen. Mein Lehrer meint zwar, ich gäbe eine gute Stimme im Operntheater ab, aber ich folge meinem Herzen.“

„Ist nicht dein Ernst. Ich steh auf Jazz, mehr als alles andere auf der Welt“, schwärmte Kit.

„Wirklich?“

„Wirklich. Wann bist du fertig?“

„In etwas mehr als einem Jahr, und dann werde ich sehen, wo die Reise hingeht.“

„Jetzt geht die Reise in den Himmel. Wir starten jeden Augenblick.“

Das Gefühl der Schwerkraft war atemberaubend und hatte mich bereits auf meinem ersten Flug in die Staaten süchtig werden lassen. Wenn Passagiere neben mir vor Flugangst schwitzten oder zitterten, genoss ich die Kraft der Maschine und mich in die Hände des Piloten zu geben.

„Ich liebe den Start“, schwärmte Kit. Das Flugzeug war stehen geblieben und mein Sitznachbar outete sich.

„Ich auch“, äußerte ich ebenfalls begeistert. Jetzt mussten wir jeden Moment losrollen. Zu gerne hätte ich seine Hand gehalten und meine Emotionen geteilt.

„Darf ich deine Hand halten?“, fragte Kit. Ernsthaft?

„Ja gerne“, gab ich zögerlich zu. Mit hüpfendem Herzen.

„Ist meine sentimentale Ader.“ Er griff nach meiner Hand. Seine Finger setzten mit der Außenseite in meiner Handfläche an, öffneten sich streichend bis zu den vier Zwischenräumen und schoben sich sanft bis zum Anschlag. Dann drückte Kit zu. Kräftig, als wolle er etwas besiegeln. Im gleichen Moment wurde es unter unseren Sitzen mörderisch laut. Die Motoren brüllten und die Schubkraft presste uns in das Polster. Glücksgefühle feierten in meiner Brust. Wenn dies der letzte Moment meines Lebens wäre, dann war ich einverstanden. Wenige Sekunden später hörte das Donnern der Räder auf der Startbahn auf und das Fahrstuhlgefühl setzte ein. Unsere Hände waren immer noch miteinander verflochten, bis sie sich langsam lösten.

„Tut mir leid. Das war wahrscheinlich übergriffig von mir. Aber seit dem Erdbeben in meiner Heimat weiß ich, wie schnell alles vorbei sein kann. Deshalb mache ich manchmal komische Sachen“, entschuldigte er sich.

„So wie halbnackt mit Schlangen im Flugzeug zu tanzen. Verstehe. Wirklich bedauerlich, dass ich mir das nicht angucken kann“, heiterte ich die Situation auf.

„Exakt. Sehr beklagenswert.“

Kit war köstlich. Ein Mann, der nach Mango-Sorbet roch, sentimental beim Flugzeugstart wurde und Humor auf eigene Kosten betrieb. Verdammt, wo war der Haken bei diesem Mann? Das Flugzeug war nach wie vor im Steigflug, aber das Bordpersonal hantierte bereits in seinem Arbeitsbereich.

„Erzähl mir etwas aus deiner Heimat. Lebst du dort oder in New York? Hast du Bilder von New York auf deiner Internetseite? Wie lange bleibst du in Paris?“

„Wowowow. Langsam. Eins nach dem anderen. Händchenhalten ist eine Sache, private Fragen beantworten eine andere.“

Fuck, Fettnäpfchen. Da hatte ich mich weit aus dem Fenster gelehnt. „Sorry. Ich denke, ich habe einen anderen Rhythmus, was Informationen und Kennenlernen angeht. Du brauchst nicht zu antworten. Vergiss meine Fragen“, sagte ich beschämt und wandte mein Gesicht dem Fenster zu. Hatte ich mich doch in seiner Offenheit geirrt?

Eine Berührung am Arm ließ mich erschaudern. „Das war ’n Scherz. Gerne beantworte ich dir alle deine Fragen und bin voller Erwartung auf jene, die noch folgen. Ich habe nur schrecklichen Hunger. Du nicht? Im Flugzeug ist das wie eine Krankheit. Kaum sitze ich auf meinem Platz, knurrt mein Magen“, jammerte er voller Inbrunst.

„Klar kenne ich das. Geht mir genauso“, stimmte ich ihm zu, war jedoch leicht verunsichert. „Nur zur Erklärung. Scherze erkenne ich manchmal nicht sofort. Nur wenn die Tonlage eindeutig ist oder ich die Person sehr gut kenne und weiß, wann sie wie reagiert“, versuchte ich einen Bruchstein meiner komplexen Welt zu beschreiben. „Das Einzige, was ich heraushöre, egal, wie der Tonfall ist, sind Lügen. Keine Ahnung, wie, aber mir kommt es vor, als könne ich sie riechen.“

„Okay Elsa, dann steht fest, dass wir niemals Freunde werden können, denn ich bin ein notorischer Lügner mit Voodoo-Potential. Soll ich Miss Rassistin nach vorne holen?“ Seine Tonlage war sarkastisch, provokant und humorvoll zugleich. Kit hatte meine Lektion verinnerlicht und bravourös umgesetzt.

„Wenn du so weiter scherzt, dann schaffe ich es nicht bis Paris und bin vor Lachen explodiert“, sagte ich halb prustend und hielt mir die Hand vor den Mund. Im nächsten Moment spürte ich seine Finger, die sich um mein Handgelenk schlossen.

„Zeig deinen schönen Mund beim Lachen. Es gibt nicht viele Menschen, die derart bezaubernde Lippen besitzen“, hauchte er mir entgegen, führte meine Hand und legte sie sanft auf meinem Oberschenkel ab. Etwas Sinnliches lag in seiner Stimme. Wow, die sieben Stunden Flug würden den Himmel an Bord bringen.

Für etwa eine Minute herrschte Stille zwischen uns. Sah er mich an? Oder aus dem Fenster? Wie sah Kit aus? Farbig, okay, aber wie dunkel war er? Hatte er krauses Haar? Kurz, lang, einen Afro? Was trug er? Jeans und Sweatshirt? War er kräftig oder sportlich? Würde er zu mir passen? Verlegen aufgrund des Schweigens, griff ich nach meinen Kopfhörern und wollte sie gerade in die Ohren stecken, als ich seinen Atem neben meinem Gesicht spürte.

„Schon genug Informationen bekommen? Ich dachte, du wolltest etwas von meiner Heimat erfahren?“

„Stimmt, das wollte ich“, sagte ich und verstaute die Kopfhörer wieder in dem Seidentäschchen. Von meinem Gefühl, mich anderen nicht aufdrängen zu wollen, sagte ich nichts. „Erzähle mir bitte von deiner Heimat. Wie ist das Leben auf Haiti? Gibt es dort Mangos?“

„Yepp. Sogar im Hotelgarten meiner Eltern.“

Aha. So viel zum Mango-Sorbet. Vielleicht gab es dort jede Menge Hygieneprodukte, die nach Mango dufteten, und die er täglich benutzte. „Deine Eltern haben ein Hotel?“

„Ja, nein, also“, druckste er, fing sich aber wieder. „Meine Eltern hatten ein idyllisches Hotel direkt am Strand, aber das Erdbeben von 2010 hat Haiti schwer getroffen. Das Hotel wurde ebenfalls erheblich beschädigt. Allerdings wurde der Teil, in dem sich unser Zuhause befand, verschont. Glück im Unglück. Mein Vater hat den Tag bis heute nicht verwunden. Er dachte, uns alle verloren zu haben.“

Gänsehaut lief über meinen gesamten Körper. Was für ein Schicksal. Das Leben war voller Tiefschläge und hielt vor keinem Haus inne. Es war eine Illusion. Aber das Leben hielt auch Wunder bereit, wie den Wohntrakt der Familie zu verschonen, oder mir meine Eltern als Begleitung an die Hand zu geben. Was hatte Kit in all den Jahren durchgemacht?

„Ihr hattet Glück im Unglück.“ Im Zuge eines solchen Schicksals gab es keine Patentantworten.

„Es hat Jahre gedauert, alles wieder aufzubauen. Ich war damals zehn Jahre alt und half mit. Unsere Eltern haben uns ihren wahren Kummer nie gezeigt, aber viele Jahre später gab mir mein Vater ein Notizbuch.“ Kit unterbrach seine Geschichte.

„Was hatte es damit auf sich?“

„An einem Tag in der Woche half mein Vater seinem langjährigen Freund auf der Arbeit. Statt diesem mit Bargeld unter die Arme zu greifen, half er ihm unentgeltlich in seinem Betrieb. Das Erdbeben fand an einem jener Tage statt und mein Vater war daher nicht bei uns.“

„Das muss die reinste Folter für jeden von euch gewesen sein“, fühlte ich mit.

„Uns saß der Schrecken noch lange in den Gliedern, aber unsere gemeinsame Anwesenheit gab uns Halt. Eines Tages sah ich meinen Vater vor diesem Notizbuch sitzen und schreiben. Die Schreie in der Nacht wurden seltener. Bis sie schließlich verstummten. Auch das Schreiben hörte auf, nicht aber das Sinnieren über dem Buch. Immer wieder holte es mein Vater hervor und las darin. Anschließend verstaute er es in seiner Schublade.“

„Hast du nicht mal reingesehen?“ Neugier lag in meiner Stimme.

„Nein, erst als er es mir vor meiner ersten Reise überließ. Aus Respekt vor meinen Eltern hätte ich niemals in ihrem Privateigentum geschnüffelt.“

Dass ich mit meiner Schwester Emma den gesamten Privathaushalt meiner Eltern durchforstet hatte, verschwieg ich in diesem Augenblick.

„Mein Vater hat den Tag des Erdbebens in dem Notizbuch festgehalten. Was er getan und erlebt hat. Seine Ängste und Handgriffe. Die Angst um seine Familie muss furchtbar gewesen sein.“

„Bestimmt.“

„Wenn ich gelegentlich melancholisch bin, dann lese ich mir seine Zeilen durch. Danach geht es mir meist besser. Ich bin froh, dass er es mir überlassen hat“, erklärte er. Seine Tonlage veränderte sich zum Positiven.

„Schaurig schön. Hast du es tatsächlich dabei?“, fragte ich. Meine Neugier hatte gesiegt.

„Yepp. Es ist mein stummer Begleiter.“

„Kompliment.“

„Eines Tages werde ich es als Kurzgeschichte auf meine Homepage stellen. Mir fehlt noch der Mut.“

„Du willst mir jetzt nicht sagen, dass ich einen Feigling neben mir sitzen habe. Jemand, der einer Blinden beim Flugzeugstart die Hand hält, ist das glatte Gegenteil.“

Mein Kommentar brachte ihn zum Lachen und seine Regung hinterließ augenblickliches Wohlbehagen. Dass Lachen ansteckend war, hatte ich schon oft erlebt, aber seine Freude war anders. Sexy und anziehend. Je öfter er amüsiert war, desto größer wurde mein Verlangen, ihn mit meinen Händen abzutasten. Würde ich den zarten Kit, den ich in meiner Dunkelheit vermutete, auch erfühlen?

2

Der Flug war ein einziger Rausch. Kit erzählte von seinen Reisen und dem Grund, warum er Blogger geworden war. Ein edler, der mich berührte. Das Geld war für seine Eltern, die immer noch finanziell unter den Folgen des Erdbebens litten. Zuerst galten seine Berichte nur dem Werbezweck, Touristen wieder nach Haiti zu locken. Aber dann bekam er immer lukrativere Angebote, weil seine Bilder eine Mischung aus Romantik und Authentizität widerspiegelten. Reisende vertrauten seiner Meinung und empfahlen seine Website, was für ihn die beste Werbung darstellte.

„Hast du deine Bilder auch offline? Dann könntest du mir noch ein paar mehr beschreiben.“ Meine Neugier war schon seit Stunden geweckt und ich wollte sie unbedingt befriedigen.

„Ja, natürlich. Hast du einen konkreten Wunsch?“

Ich überlegte kurz, dann entschied ich. „Zeig mir das mit den wenigsten Likes.“

„Das ist leicht. Selbst ohne Internet.“ Er wurschtelte neben mir, dann spürte ich seine Nähe deutlicher.

„Dein Sommertag war anstrengend und heiß. Das Kleid auf deiner Haut klebt und dein Gesicht fühlt sich erhitzt an. Du atmest schwer und sehnst dich nach Erfrischung, die dich abkühlt und aufatmen lässt. Im Hintergrund rauscht Wasser. Du schließt die Augen und lässt dich vom Salzgeruch leiten. Unter dir wird es weich. Du entblößt deine Füße, lässt die warmen Sandkörner zwischen den Zehen rieseln. Schritt um Schritt rauscht es lauter und zarter Wind streichelt deine heißen Wangen. Von der Sonne aufgewärmte Früchte versprühen ihren Duft zu dir herüber. Du bleibst stehen und breitest deine Arme aus, während sich der Wind durch dein Kleid schlängelt. Berührungen einer Liebesaffäre gleich. Deine Hände wandern entlang der Stirn, streifen durch die Haare und sinken neben deine Hüften. Eine Welle bricht laut vor dir und spült warmes Wasser zwischen die Zehen. Über dir ficht die Kühle der Nacht ihren Kampf mit dem Tageslicht und gewinnt. Wieder berührt dich das Nass des Ozeans, lädt dich ein, näher zu kommen, und du setzt einen Schritt vor den anderen, bis deine Füße umspült werden. Endlich löst sich dein hauchdünnes Kleid vom nackten Körper. Wieder breitest du deine Arme aus und atmest tief ein. So fühlt sich Freiheit an. So fühlt sich Liebe an. So fühlt sich Glück an. So fühlt sich Leben an.“

 

In den seltensten Augenblicken meines Lebens habe ich etwas anderes als dunkel und hell vor meinen Augen wahrgenommen. Je mehr Kit sein Bild beschrieb, desto bunter wurde das, was sich vor meinem Gesichtsfeld abspielte. Flackernde Erscheinungen waberten vor meinem fehlenden Augenlicht, hinterließen Sehnsucht und Frieden gleichzeitig. Feuer und Wasser, Himmel und Erde. Kit vermochte, ein Bild aus Gefühlen zu zeichnen, das sich tief in mein Herz brannte. Und zwischen meine Beine. Seine Stimme hauchend an meinem Ohr war dermaßen sexy, ich verlor mich gänzlich in der Illusion seiner Erzählungen.

Als er fertig war, wurde es für einen Moment still zwischen uns, bis ich mich fing. Ich schluckte hart. „Wenn das die wenigsten Likes hat, was erzählst du mir von den anderen Fotos?“ Ich räusperte mich.

„Du zitterst“, raunte Kit.

Verlegen nahm ich rasch einen Schluck Wasser, das mir vor lauter Hektik teilweise aus den Mundwinkeln lief.

„Warte“, meinte Kit, als ich mich verteufelte und den Handrücken zum Mund führen wollte. „Ich mach das“, entschied er ungefragt und schon spürte ich seinen Finger über meine Lippen wischen. In meiner Fantasie war es sein Mund, den ich verlangte. Mit sanftem Druck strich er an der Unterlippe und dann Richtung Kinn entlang, bis die Haut trocken war. „Ich steh auf dein Septum“, sagte er mit einer verfluchten Anmacherstimme. Entweder lief das hier auf die besten Pariser Tage, die ich jemals erleben würde, hinaus, oder er war ein berechnender Schauspieler, der sich ein dreistes Spiel mit einer Blinden erlaubte. Für ein solches Theaterstück würde ich auf jeden Fall alle Eintrittskarten aufkaufen.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“, unterbrach uns die Stimme des Stewards. Drei, zwei, eins, tot. Idiot.

„Nein, danke“, erklärten wir gleichzeitig und hatten beide eine gereizte Stimme.

„Wir landen bald. In etwa fünfzig Minuten“, nervte der Steward erneut.

„Lässt du mich mal durch“, bat ich Kit, weil ich auch Wasser auf meiner Hose spürte und ohnehin vor der Landung die Toilette aufsuchen wollte. Außerdem war die Situation sowieso zerstört.

„Klar, kein Ding.“

Der Anschnallgurt klackte und Kit schälte sich aus dem Sitz. Ich tastete mich langsam zum Gang und drehte mich Richtung Cockpit. Von den vorherigen Flügen wusste ich in etwa, wo sich der Waschraum befand, doch mit einer unglücklichen Bewegung stieß ich etwas in meine Richtung um. Millisekunden später ergoss sich eine warme Flüssigkeit über meinen Pullover inklusive Hose. Und einen Augenaufschlag darauf durchdrang die warme Kaffeebrühe den Stoff bis auf meine Haut. Bingo.

An der wackligen Stimme einer Frau nahm ich wahr, wie sehr sie versuchte, sich zu beherrschen mein Malheur runterzuspielen. Kit tauchte hinter mir auf und beruhigte mich, weil ich am ganzen Leib schlagartig zitterte.

„Elsa, keine Panik. Ich habe immer einen Jogginganzug im Rucksack. Du kannst ihn anziehen. Warte einen Moment.“

Ich nickte nur und blieb wie angewurzelt im Vorraum des Cockpits stehen. Aber dann wurde mir schwindlig und jemand hielt meinen Arm.

„Mademoiselle Moreau, wir werden das schon hinkriegen. Ich mache die Vorhänge zu und stütze Sie beim Umziehen, einverstanden?“ Die Stimme, die gerade noch gereizt geklungen hatte, hatte ihre Tonlage geändert. Tiefes Mitgefühl schwang nun in ihr. Das hatte ich auch verdient, verfluchter Mist. Wie konnte ich nur die scheiß Kaffeekanne umwerfen? „Bitte setzen Sie sich hierhin“, bat sie und führte mich am Arm zu einem der Klappsitze für die Besatzung. Ich gehorchte, weil ich den panischen Umziehakt nicht alleine auf der Toilette hätte bewältigen können. „Hier ist der Anzug“, hörte ich Kit sagen.

„Danke“, antwortete die Stewardess.

„Ich halte Neugierige ab“, versprach mein Held und jemand zog die Vorhänge zu.

„Dürfte ich Ihnen die nassen Sachen geben? Vielleicht haben Sie eine Tüte?“, bat ich die Stewardess, die mich seitlich stützte.

„Bekommen Sie von mir. Ich möchte nur sichergehen, dass Sie nicht umfallen“, versicherte sie mir und sie sagte die Wahrheit.

Immer noch zitternd zog ich ein nasses Kleidungsstück nach dem anderen aus und legte sie auf einen Haufen vor mich. Auch die Unterhose und den BH, den ich eigentlich wegen meiner flachen Oberweite nicht benötigte. Ich schämte mich, wegen eines Kaffee-Fauxpas derart die Fassung verloren zu haben. Sich in der Flugzeugtoilette umzuziehen, war nun wahrlich kein Hexenwerk. War mein Unterbewusstsein alarmiert, weil es den Kaffeefleck als Vorboten zu einem größeren Unheil einstufte? Eines wie damals in Paris?

„Hier ist die Hose“, unterbrach mich die Stewardess und legte mir etwas Weiches auf den Schoss. Mango-Sorbet. Kaum streifte ich das in dem herrlichen Duft getränkte Stück Stoff über meine Hüften, fühlte ich mich ein wenig besser. Dass mir meine Verbündete erst die Hose gegeben hatte, rechnete ich ihr hoch an. Frauen untereinander eben. Der Pullover folgte und ich glitt in die Schuhe, die, halleluja, keinen einzigen Tropfen abbekommen hatten.

„Ich müsste jetzt trotzdem noch auf die Toilette“, bettelte ich, obwohl ich wusste, dass der Sinkflug bereits begonnen hatte.

„Kein Problem, Mademoiselle Moreau. Wenn Sie wieder stehen können …“

„Kann ich.“ Mit wenigen Handgriffen öffnete ich die Toilettentür und schloss hinter mir ab. Das Zittern hatte nachgelassen, aber die Anspannung lag mir immer noch in den Gliedern. Als ich meine Hände wusch, spürte ich Tränen aufsteigen, die ich versuchte, runterzuschlucken. Normalerweise war ich meinen Fauxpas gegenüber beherrschter, aber die Situation war anders, als gegen ein Laternenpfahl zu laufen. Eine innere Unruhe wühlte mich auf.

Rasch fuhr ich mit einem Tuch über die Augen und öffnete wieder die Tür.

„Wären Sie so lieb und würden mal schauen, ob ich so gehen kann?“, fragte ich ins Leere. Anders als sonst, fühlte ich mich verwirrt und bat um Hilfe.

„Warten Sie, ich wische Ihnen noch die Schminke ab. Sie ist verlaufen.“ Sicher sah sie mir meine Heulerei an, aber sie schluckte einen Kommentar taktvoll hinunter. Vorsichtig tupfte sie meine Wangen ab. „Darf ich Ihnen kurz noch die Haare glatt streichen? Sie sind ein wenig in Wallung geraten“, sagte sie mit einem freundlichen Unterton. Wahrscheinlich sah ich aus, als sei ich eben aus dem Bett und nicht aus dem Klo gekommen.

„Gerne.“

Gefragt, getan. „Wie neu“, lobte die Stewardess. „Und der Anzug steht Ihnen wie angegossen.“

„Danke. Für alles“, sagte ich.

„Hier ist die Tüte. Man kann nicht hineinsehen und sie ist kaffeedicht“, versprach sie.

„Ja, warum sollte ich Wasser verschütten, wenn Kaffee bereitsteht?“, ulkte ich.

„Von dem Koffeinschock werden Sie sicher die ganze Nacht wach sein.“

Wir lachten, was verdammt guttat. Die Stewardess öffnete den Vorhang und ein Pfeifen ertönte.

„Cooler gings nicht?“, fragte Kit. „Den schenke ich dir als Erinnerung an unseren Flug und den wahrscheinlich peinlichsten Moment deines Lebens.“

„Hm, da habe ich zwar schon einige erlebt, aber ich denke, du hast recht. Es war auf jeden Fall der peinlichste über den Wolken“, gab ich lachend zu und ertastete meinen Sitz. „Danke. Also dafür“, sagte ich und zupfte an dem Hoodie, kaum war der Gurt geschlossen. „Aber ich würde dir wirklich gerne den Anzug zurückgeben.“

„Keine Chance. Aber du könntest mir ein Frühstück in einem Pariser Café schenken. Wir kommen schließlich pünktlich an“, sagte er mit heiterem Unterton. „Und danach können wir shoppen gehen. In Louis Vuitton siehst du sicher bezaubernd aus.“

Ein erstaunter Ton verließ meine Lippen. „Ganz sicher kann ich mir keine Designerklamotten leisten. Bist du so ein Markenfetischist? Von welcher ist dieser Jogginganzug?“, höhnte ich.

„Das wirst du wohl erst erfahren, wenn wir gefrühstückt haben.“

Die letzte halbe Stunde verwirrte mich und ich fühlte mich überfallen. Einerseits war ich Kit für den Jogginganzug dankbar, andererseits hasste ich es, wenn man von mir Wiedergutmachung forderte. „Kit, ich bin dir wirklich sehr dankbar, aber ich denke nicht, dass ich dir eine gute Begleitung in Paris wäre. Ich sehe nichts und habe wirklich keine Ahnung, was du für deinen Blog brauchst. Aber mit Sicherheit keine Blinde in Joggingklamotten. Lass sie mich dir bitte zurückgeben.“

Meine Sätze klangen nach Ausreden und Abschied, der durch das Quietschen der Flugzeugreifen auf der Landebahn untermauert wurde. Ich verstand mich selbst nicht. Eben war ich noch in seinen Mangoduft, seine Stimme und die Art, mit mir zu sprechen, vernarrt gewesen und jetzt schob ich ihn von mir wie eine lästige Mücke. Da war sie wieder. Die Elsa, die Angst vor zu viel Nähe hatte, weil sie glaubte, durch ihre Erblindung anderen zu schaden. Wie Pierre damals. New York hatte mich vergessen lassen. Vielmehr verdrängen. Ich musste mich jetzt verabschieden. Nur zu gern hätte ich nach der Landung Francine angeschrieben und ihr von meinem heißen Sitznachbarn berichtet. Von meiner Feigheit, ihn in mein Leben zu lassen. Aber auch sie hatte ich seit Pierre nicht mehr gesprochen, obwohl sie sich zahlreiche Male bei mir erkundigt hatte. Francine. Meine Freundin fehlte mir. Aber sie war nicht das Einzige, was ich seit damals vermisste.

 

Kit und ich schwiegen, während sich die übrigen Passagiere rege unterhielten. Die Ansage bedankte sich für das Vertrauen in die Air France, wünschte einen romantischen Aufenthalt in Paris und nannte noch die üblichen Sicherheitshinweise. Neben mir war es totenstill. Ein Moment, in dem ich meine Blindheit verfluchte, weil ich seine Reaktion nicht sehen, nur fühlen konnte. Enttäuschung schwang in der Luft. Tiefe Enttäuschung.

„In Ordnung. Du kannst mir den Jogginganzug ins Hotel La Lanterne schicken. Ich fliege am 27. Dezember zurück.“

Wow, kühl gekontert. Ich hatte ihn verletzt und die schroffe Antwort verdient.

„In Ordnung“, gab ich kleinlaut von mir. Hatte ich es versaut oder gerettet? Spitze, Elsa!

„Mademoiselle Moreau, wir können das Flugzeug jetzt verlassen. War außer dem Rucksack sonst noch etwas von Ihnen an Bord?“

Perfektes Timing. Die Stewardess meines nackten Vertrauens unterbrach die frostige Stimmung und erwartete von mir, dass ich aufstand, was ich auch tat. Meinen zusammengeklappten Blindenstock fest an mich gedrückt. Als würde er meine Hände festtackern oder zum Beweis meiner ewigen Nullnummer bei Männern. Jedes Mal, wenn es intimer wurde, ergriff ich die Flucht. Kit war nicht der erste und würde auch nicht der letzte Mann seit Pierre sein, dem ich einen Korb gab. Über Küssen war es nie hinausgegangen. Mich auf jemanden als mich selbst zu verlassen, kostete mich mehr, als ich bereit war zu geben. Ob ich eine Allee enttäuschter potentieller Liebhaber hinterließ, wusste ich nicht. Denn in meiner tiefsten Überzeugung blieb ich der Klotz am Bein, der sich nach außen hin vergoldete. Die zahlreichen Stürze von unserer Treppe auf die Matratze hatten mich zwar zu einer mutigen Blinden gemacht, aber nicht zu einer, die glaubte, ein bisschen Glück genießen zu dürfen. Meine Schwester Emma war der Beweis. Sie stürzte sich ständig in neue Abenteuer und nicht nur einmal wurde sie vor die Tür gesetzt, weil Mann scharf auf eine Nacht mit einer Blinden gewesen war.

„Mach’s gut, Elsa Moreau. Der Flug wird mir immer in Erinnerung bleiben“, hörte ich Kit sagen, als ich mich vom Gang aus zu ihm wandte.

„Mir auch, Kit. Glaub mir. Mehr, als du denkst.“ Die letzten Worte erstickten beinahe in meinem Hals. Im Gang herrschte Unruhe. Man wollte aufstehen und in die Stadt der Liebe eintauchen. Für mich endete die Illusion, meine Heimat jemals genauso zu empfinden, in dem Moment, in dem ich mich dem Ausgang zuwandte und mich bei der Stewardess unterhakte. Der Klotz am Bein bröckelte. Irgendwann würde ich zu Staub zerfallen, ohne jemals geliebt zu haben. Und das war ganz allein meine verfickte Schuld. Oder, weil ich nicht bereit war, die Schatten der Vergangenheit loszulassen.