Leseprobe Der verbotene Kuss des Lords

1. Kapitel

Glücklich ist der Mann, der sich nur ein paar Morgen väterlichen Besitzes wünscht, um zufrieden heimische Luft auf eigener Scholle atmen zu können.

Alexander Pope

Shropshire, England

1826

Von kalter Rache getrieben, ritt er in das Dorf Lower Wolfestone. Auf seinem riesigen Rappen, auf dessen Fell sich Schweiß und Staub vermischten, zog er alle Blicke auf sich, weibliche und männliche gleichermaßen. Das Interesse der Menschen war ihm gleichgültig.

Er entdeckte das verblichene, in der drückenden Hitze ganz still hängende Schild des Wolfestone Arms und lenkte sein Pferd auf das Gasthaus zu. Eine erschöpfte, weiß-braun gefleckte Hündin trottete hechelnd hinter ihm her.

Drei alte Männer saßen auf der Bank vor dem Haus, vor der Nachmittagssonne geschützt durch Buchen, deren grünes Laub sich allmählich in ein Gelb und Rotbraun zu verfärben begann.

Ein zerlumptes, mageres Kind kam aus dem Gasthaus gerannt. „Kann ich Ihnen helfen, Sir? Soll ich Ihnen vielleicht ein Ale bringen? Oder Wasser für Ihr Pferd? Für Ihren Hund?“

„Welcher Weg führt nach Wolfestone Castle?“

„Zum Schloss, Sir? Aber Mr. Eades ist schon lange nicht mehr …“

„Ach, Billy Finn, langweile den Gentleman nicht mit Dorfgeschwätz.“ Ein großer Mann schob den Jungen zur Seite und verneigte sich mit einem unterwürfigen Lächeln. „Wünschen Sie etwas zu trinken? Ich habe gutes Ale, frisch und kalt aus dem Keller, das Ihnen bei dieser Hitze angenehm durch die Kehle rinnen wird. Und falls Sie Hunger haben – meine Frau macht eine Fleischpastete, die in drei Grafschaften gerühmt wird.“

Der Fremde ignorierte ihn. „Welcher Weg, Junge?“

Der Junge, der der Hündin gerade Wasser gab, warf dem Wirt einen Blick zu und zeigte dann auf die Abzweigung nach rechts. „Die Straße entlang, Sir. Sie können es nicht verfehlen.“

Der Wirt bedachte den Jungen mit einem warnenden Blick. „Es wird niemand dort sein …“

Der Fremde schnippte dem Jungen eine Silbermünze zu und ritt einfach weiter.

„Da soll mich doch …“, rief der Wirt aus. „Was will so einer oben im Schloss?“

Der älteste der drei Männer, ein runzliger, helläugiger Gnom, schnaubte. „Du hattest noch nie ein Auge für so etwas, Mort Fairclough. Hast du ihn denn nicht erkannt?“

„Wie sollte ich? Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.“

„Sind dir seine Augen nicht aufgefallen? Goldbraun und kalt wie Raureif. Mit solchen Augen und diesem pechschwarzen Haar kann er nur einer der Wolfes von Wolfestone sein.“

Ein Raunen ertönte unter den Anwesenden.

Eins der Mädchen seufzte. „Er ist äußerst attraktiv. Ich mag große, attraktive und streng aussehende Männer. Der könnte von mir alles haben.“

Der ehrwürdige Greis meldete sich wieder zu Wort. „Die entscheidende Frage ist nur, was für eine Sorte Wolfe ist er?“

„Wie meinen Sie das, was für eine Sorte?“, fragte der Junge.

„Auf Wolfestone haben seit gut sechshundert Jahren die Wolfes gelebt, Billy“, erklärte der Alte. „Von denen gibt es nur zwei Sorten – gute oder schlechte. Das Schicksal des Dorfs hängt von ihnen ab.“ An die anderen gewandt, fuhr er fort: „Wir hatten schlechte Wolfes, so lange die meisten von uns denken können. Aber als ich noch ein kleiner Junge war … ach ja.“ In Erinnerungen versunken, schüttelte er den Kopf. „Der alte Lord damals gehörte zu den Guten. Er war einer der Besten.“ Der Greis trank seinen letzten Schluck Ale und sah bedauernd in den leeren Humpen. „Also frage ich mich, wie dieser hier sein mag.“

„Er ist bestimmt ein Guter“, meinte der kleine Billy Finn zuversichtlich und schloss die Finger fest um seine Silbermünze.

Der Wirt wiegte den Kopf. „Großzügig heißt noch lange nicht gut, Junge. Der letzte Lord war ziemlich freigiebig, wenn ihm danach war, trotzdem war er ein ganz Schlechter.“ Er spuckte in den Staub.

„Wir müssen auf die Graue Dame hoffen“, erklärte eine gebückte alte Frau mit weißen Ringellöckchen und schwarzen Knopfaugen gewichtig.

Billy Finn holte ihr einen Stuhl. „Wer ist die Graue Dame, Granny?“

Granny Wigmore nickte dankbar und setzte sich schwerfällig. „Sie ist die Wächterin über dieses Tal, Billy, die Vorbotin guter Zeiten für uns arme Menschen. Wenn die Graue Dame reitet, gibt es einen guten Wolfe. Sie ist schon viele Jahre nicht mehr geritten.“

Großvater Tasker ergriff das Wort. „Meine Mutter hat als kleines Mädchen die Graue Dame einmal gesehen. Ganz in Grau gekleidet und auf einem silbergrauen Pferd; sie ritt im Morgengrauen und war wunderschön.“

„Wenn die Graue Dame reitet, wird der Wolf gezähmt, heißt es“, wiederholte Granny.

Der Wirt sah in die Richtung, in die der Fremde geritten war, und schüttelte den Kopf. „Ich wette, den zähmt keine Dame, weder eine graue noch sonst irgendeine. So kalte Augen habe ich bei einem Mann noch nie gesehen. Die Augen des Teufels, möchte man meinen.“

„Wolfsaugen“, verbesserte der alte Mann. „Der alte Hugh Lupus hatte die gleichen.“

„Hugh Lupus?“

„Weißt du eigentlich gar nichts, Junge? Hugh Lupus war der erste Herr von Wolfestone – er kam mit dem Eroberer, Wilhelm I., nach England. Ein wilder, grimmiger Bursche, der alte Hugh, mit harten goldbraunen Augen, die einem Mann das Blut in den Adern gefrieren lassen konnten.“ Er lehnte sich zurück an die Mauer. „Es wird Sturm aufkommen. Ich spüre es in den Knochen.“

 

Die Mietkutsche jagte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin. Staub stieg in Wolken von der schmalen Landstraße auf, wehte in die offenen Fenster und legte sich über die Reisenden. Der Tag war so drückend heiß, dass keiner auf die Idee kam, die Fenster zu schließen. Außerdem war der Staub noch das kleinere Übel.

Die Reisenden wurden kräftig durchgeschüttelt, als die Kutsche über Wurzeln und durch Schlaglöcher holperte. Nur mithilfe der Haltegriffe aus Leder, die an den Seitenwänden befestigt waren, konnten sie sich auf den Sitzen halten.

„Sobald wir in London sind, werde ich diesen unverschämten Kerl entlassen“, schimpfte Sir John Pettifer verdrossen. Er hatte den Kutscher schon zweimal wegen der rasanten Geschwindigkeit ermahnt, immer dann, wenn sie haltgemacht hatten, um die Pferde zu wechseln. Der Mann war jedoch eigens für diese Reise eingestellt worden und nicht gerade geneigt, auf einen älteren Gentleman in unmodischer Kleidung zu hören, der sich bereits als ziemlich knauserig erwiesen hatte, was die Trinkgelder betraf.

Grace Merridew klammerte sich an den Haltegriff und knirschte mit den Zähnen. Unverschämtheit war nicht allein das Problem. Der Kutscher hatte in regelmäßigen Abständen zu einer Lederflasche gegriffen, und je mehr er trank, desto schneller fuhr er.

Es ist nicht mehr weit, redete Grace sich ein. Und es stand ihr auch nicht zu, sich zu beschweren, denn eigentlich sollte sie auf dieser Reise eher unsichtbar sein. Sie war nur hier, weil ihre beste Freundin, Melly Pettifer, sie angefleht hatte, mitzukommen.

Zu dem Zeitpunkt musste sie selbst nicht ganz bei Trost gewesen sein.

Allerdings hatte sie Melly noch nie so verzweifelt und so zutiefst unglücklich erlebt. Dabei hatte sich ihre Neuigkeit im ersten Moment für Grace geradezu fantastisch angehört.

„Ich brauche nun doch nicht Gouvernante zu werden. Papa hat eine Ehe für mich arrangiert!“ Aber als Grace ihr hatte gratulieren wollen, war Melly plötzlich in bittere Tränen ausgebrochen – vor Kummer, nicht vor Glück.

Die Kutsche schleuderte gefährlich schwankend um eine Kurve, und Grace hielt sich erneut fest. Melly klammerte sich an den Fensterrahmen. Die arme Melly, sie war ganz grün im Gesicht. Während dieser Reise hatte sie sich schon dreimal übergeben. Sie hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass sie diese Fahrt genießen würde, aber das hier übertraf wohl ihre schlimmsten Erwartungen.

Mellys Reise als Braut, unterwegs zur Hochzeit mit einem Mann, dem sie noch nie begegnet war. Grace vermochte nicht, sich vorzustellen, wie sich das anfühlen musste. Sie konnte es kaum glauben, genauso wenig wie Melly. Wie sich herausgestellt hatte, war Melly im Alter von neun Jahren Dominic Wolfe versprochen worden, dem jetzigen Lord D’Acre of Wolfestone Castle. Und niemand hatte ihr bislang davon erzählt.

Offenbar war Dominic Wolfe nach zehn Jahren jetzt wieder nach England zurückgekehrt. Er war nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters erschienen. Doch nun hatte Sir John erfahren, dass er wieder da war, und ihn sofort wegen der Verlobung kontaktiert.

Alles war rechtmäßig und verbindlich. Laut Sir John hatte Melly in dieser Angelegenheit keine andere Wahl. Er und der alte Lord D’Acre hatten diese Verbindung schon vor Jahren arrangiert. Verträge waren unterzeichnet worden und eine große Summe Geld hatte den Besitzer gewechselt – Geld, das Sir John schon vor langer Zeit ausgegeben hatte und das er nie wieder würde zurückzahlen können.

Kein Wunder, dass Sir John sich als so geizig erwiesen hatte, als es um Mellys Debüt gegangen war. Die Geldsorgen der Pettifers waren allseits bekannt. Warum sollte er sich in Unkosten stürzen, um Melly auf den Heiratsmarkt zu bringen, wo alles doch schon mit Brief und Siegel beschlossene Sache war und die Braut zur Übergabe an ihren Ehemann bereitstand?

Sir Johns Sorge war nur gewesen, dass es zunächst den Anschein hatte, der neue Lord Wolfe würde niemals nach England zurückkehren. Oder dass er bereits im Ausland geheiratet hatte. Aber dann war er doch als Junggeselle wieder in England eingetroffen, und so sollte die Hochzeit stattfinden.

Die Neuigkeiten hatten Melly zutiefst schockiert, aber allmählich hatte sie sich damit abgefunden. Schließlich hatte sie sonst keine anderen Verehrer – die hatte man nun einmal nicht, wenn man arm, unauffällig, etwas mollig und äußerst schüchtern war. Und wenigstens war der neue Lord D’Acre noch jung.

Was für ein seltsames Nachhausekommen das gewesen sein muss, dachte Grace. Er war zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten – und hatte dabei feststellen müssen, dass dazu auch eine Braut gehörte. Er war erst sechzehn gewesen, als die Verträge unterzeichnet worden waren.

Genau das war das Problem – Dominic Wolfe wollte gar keine Braut. Melly war sich nicht sicher, was da vonstatten gegangen war. Ihr Vater und der Familienanwalt waren nach Bristol gefahren, wo der junge Wolfe sich zurzeit aufhielt, weil er sich für den Seehandel interessierte.

Sir John war jedoch fest entschlossen, dass Melly nicht ihrer Rechte beraubt wurde. Der Vertrag war rechtskräftig. Lord D’Acre konnte den Besitz Wolfestone nur dann erben, wenn er Melly heiratete. So stand es im Testament seines Vaters – er sollte erst erben, nachdem er Melly zur Frau genommen hatte. Sollte diese inzwischen verstorben oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sein, die Ehe einzugehen, konnte er nur erben, wenn er eine andere Person heiratete, die Sir Johns Zustimmung fand.

Lord D’Acres Rechtsanwälte hatten das Testament auf Gesetzeslücken hin untersucht – aber vergeblich, es schien wasserdicht zu sein. Und so hatte Dominic Wolfe schließlich eingewilligt, Melly zu heiraten. Doch dann, vor zwei Tagen, hatte er Sir John brieflich und in aller Kälte mitgeteilt, dass es nur eine Scheinehe sein würde. Gleich nach der Trauung würden er und seine Braut getrennte Wege gehen. Er besaß eine eigene Schiffsflotte und hatte nicht vor, in England zu bleiben.

Melly war todunglücklich. „Das heißt, ich werde ein Haus in London und sehr viel Geld haben, aber niemals Kinder, Grace! Und du weißt, wie sehr ich mir immer Kinder gewünscht habe. Ich liebe Kinder!“ Dabei war sie in Tränen ausgebrochen.

„Dein Vater liebt dich, er wird dich nicht zwingen, einen solchen Mann zu heiraten“, hatte Grace sie getröstet. „Weigere dich einfach, dich darauf einzulassen.“

„Doch, das wird er! Er wird mich zwingen. Mein Vater ist in dieser Angelegenheit unerbittlich, so habe ich ihn noch nie gesehen.“ Melly hatte ihre verweinten Augen mit einem zerknüllten Taschentuch abgetupft. „Hilf mir, Grace, ich flehe dich an!“

Und da sie Melly schon seit Schulzeiten immer beschützt hatte – auch weil geistige Umnachtung in ihrer Familie vorkam! –, hatte Grace ihr versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht stand.

Deshalb unternahm sie jetzt diese schreckliche Reise, grau gekleidet und mit hässlichen, „vernünftigen“ Lederstiefeletten an den Füßen, und spielte Mellys Gesellschaftsdame. Unfassbar. Unter anderen Umständen hätte sie sich zu diesem Zeitpunkt auf eine aufregende Reise nach Ägypten mit Mrs. Cheever vorbereitet, einer reichen Witwe und Cousine von Mr. Henry Salt, dem britischen Generalkonsul in Ägypten und Experten für ägyptische Altertümer. Wegen dieser traumhaften Beziehungen hatte Grace erwartet, eine wundervolle Zeit vor sich zu haben.

Doch das musste nun warten, Mellys Sorgen hatten Vorrang.

Durch die Kutsche ging ein Ruck, wodurch sie ins Schwanken geriet. Es gab einen dumpfen Aufprall, dann ertönte erschrockenes Gegacker und ein paar Federn segelten durch das offene Fenster. Dieser elende Kutscher war ungebremst in eine Schar Hühner gefahren, und dem Aufprall nach war dabei mindestens eins dieser armen Tiere zu Tode gekommen.

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Grace streckte den Kopf weit zum Fenster hinaus und schrie den Postillion wütend an, gefälligst langsamer zu fahren. Er zeigte zum Himmel und brüllte etwas zurück. Sie konnte ihn nicht verstehen, aber die dicken schwarzen Wolken vor ihnen sprachen für sich. Er versuchte noch rechtzeitig, Wolfestone Castle zu erreichen, ehe das Unwetter losbrach. Die Straße war so schon schlecht genug. Sobald es zu regnen anfing, würde sie sich in einen einzigen Morast verwandeln, in dem die Kutsche durchaus stecken bleiben konnte. Widerwillig zog Grace den Kopf wieder ein.

Sir John schüttelte selbigen. „Greystoke, Greystoke, Greystoke. Es steht Ihnen nicht zu, sich einzumischen“, teilte er ihr matt mit. „Lady Augusta erwartet, dass wir Ihnen anständiges Verhalten beibringen, und ich sage Ihnen – keine Dame würde jemals den Kopf zum Kutschenfenster hinausstrecken.“ Er bedachte sie mit einem tadelnden Blick. „Erst recht würde sie niemals derart schreien.“

„Ja, Sir John. Verzeihung, Sir John“, zwang Grace sich, kleinlaut zu antworten. Er sah sie streng an und nickte schließlich, als wäre er zufrieden, dass sie sich seine Worte zu Herzen genommen hatte. Danach schloss er wieder die Augen.

Es fiel ihr schwer, sich darauf zu besinnen, dass sie jetzt Greystoke war und die Rolle eines der Waisenmädchen ihrer Tante Gussie spielte, die zu Gesellschaftsdamen ausgebildet werden sollten.

Sir John hätte niemals Miss Grace Merridew von den Merridews aus Norfolk, den Liebling der feinen Londoner Gesellschaft, auf diese erbärmliche Reise mitgenommen. Doch als Mellys Zofe gekündigt hatte, weil sie eine besser bezahlte Stellung gefunden hatte, war für die beiden jungen Frauen der entscheidende Augenblick gekommen. Melly brauchte weibliche Gesellschaft auf dieser Reise, und weil Grace in der Rolle eines in der Ausbildung befindlichen Waisenmädchens auftrat, dessen Dienste noch unentgeltlich waren, hatte Sir John die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.

Grace warf Sir John einen Blick zu. Er saß immer noch zurückgelehnt mit geschlossenen Augen da, sein Gesicht war bleich. Ein feiner Schweißfilm bedeckte seine Stirn, und er sah fast so krank aus wie seine Tochter. Gut so, dachte Grace zornig. Es sollte ihm ruhig schlecht gehen nach allem, was er Melly angetan hatte.

Grace konnte es einfach nicht verstehen. Mellys Erzählungen nach war er ihr immer wie ein liebevoller, fürsorglicher Vater vorgekommen. Als Waise hatte Grace besonders gern zugehört, wenn andere von ihren Eltern erzählt hatten. Sie und Melly hatten stets geglaubt, dass Melly nur wegen Geldmangels nicht debütiert hatte. Jetzt allerdings begann sie, daran zu zweifeln.

Was für ein Vater würde seiner einzigen Tochter so etwas antun?

Die arme Melly, die nie einen Verehrer gehabt hatte, war zu einer lieblosen, kinderlosen Ehe mit einem Mann verdammt, der sie gar nicht wollte – wenn Grace es nicht gelang, ihr zu helfen.

Sie dachte über die Ungerechtigkeit des Lebens nach, während sie sich am Haltegriff festhielt und in die draußen vorbeifliegende Landschaft starrte. Man konnte nicht behaupten, dass sie nie einen Verehrer gehabt hätte. Im Gegenteil: Viele hatten sich gewünscht, um ihre Hand anhalten zu dürfen. Die meisten wollten sie wegen ihrer Schönheit und ihres Vermögens, aber wohl nur wenige Männer um ihrer selbst willen. Das vermutete sie jedenfalls.

Das Problem war, dass sie keinen einzigen von ihnen gewollt hatte.

Sie hatte wirklich versucht, sich zu verlieben – ein paar der Männer, die um sie geworben hatten, waren tatsächlich nett gewesen. Aber immer hatte irgendetwas gefehlt, immer hatte sie irgendetwas zurückschrecken lassen. Und das war nicht nur das Fehlen einer gewissen … Magie gewesen.

Ein Großteil des Problems war, dass ihr die Zuversicht fehlte. Grace konnte einfach nicht den unerschütterlichen Glauben an die große Liebe aufbringen. Ihre älteren Schwestern waren da anders. Prudence, Charity, Hope und Faith konnten sich noch alle an die große Liebe zwischen ihren Eltern erinnern. Auch wenn sie damals noch klein waren, so hatten sie sie dennoch gespürt, hatten ihre Wärme und ihre Intensität fühlen können. Sie hatten sie nie infrage gestellt. Grace’ Geschwister wussten, dass Liebe etwas Wirkliches, Greifbares und Allmächtiges war. Sie alle glaubten an Mamas Versprechen auf dem Sterbebett, dass jede ihrer Töchter eines Tages Liebe, Lachen, Sonnenschein und Glück finden würde. Nur Grace glaubte nicht daran.

Sie konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Sie war in einem kalten, düsteren Herrenhaus in Norfolk aufgewachsen, nicht in einer sonnendurchfluteten italienischen Villa. Und im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie keine Garantie, kein Liebesversprechen von ihrer toten Mama, um sich daran festhalten zu können.

Sie hatte miterlebt, wie sich jede ihrer Schwestern verliebt hatte. Ihr Glück war echt und anhaltend. Immer wieder versicherten sie ihr, dass auch ihr das eines Tages widerfahren würde.

Eines Tages wird dich ein Mann küssen, und dann weißt du es …

Mamas Versprechen, riefen sie ihr immer wieder in Erinnerung. Mamas Versprechen.

Grace hatte es so sehr versucht, daran zu glauben, hatte sich so sehr bemüht, sich zu verlieben, aber … sie konnte es einfach nicht.

Also hatte sie geflirtet und die Annäherungsversuche der jungen Männer mit Humor pariert, sorgsam darauf bedacht, dass sich niemand dadurch verletzt fühlte. Zudem sollte niemand ahnen, was in ihr vorging.

Die Worte ihres Großvaters quälten sie stets von Neuem, wenn sie sich traurig und niedergeschlagen fühlte, wenn sie es wieder einmal nicht geschafft hatte, mehr für einen wirklich netten Mann zu empfinden. Sie konnte keinen Mann heiraten, nicht einmal einen netten. Denn auch dessen Küsse ließen sie kalt.

Das spielt keine Rolle, sagte sie sich zum sicher tausendsten Mal. Viele Menschen konnten ohne Liebe leben. Sie war bestimmt imstande, sich ein gutes Leben aufzubauen. Mehr als gut – sie war fest entschlossen, dass es herrlich werden würde!

Es würde nicht mehr lange dauern und sie war unabhängig. Sie war fast einundzwanzig und somit im Begriff, demnächst allein über ihr privates Vermögen zu bestimmen. Sobald sie im Besitz dieses Vermögens war, konnte sie leben, wie und wo sie wollte. Sie konnte all die Abenteuer verwirklich, von denen sie ihr Leben lang geträumt hatte – nach Ägypten, Venedig und Konstantinopel reisen, die Weltwunder bestaunen, auf einem Kamel reiten und die Alpen in einer Ballongondel überqueren, so wie ihre Eltern das getan hatten. Und niemanden brauchte sie dazu um Erlaubnis zu bitten.

Wenn sie heiratete, gehörte ihr Körper ihrem Ehemann, genau wie ihr Vermögen. Die Kutsche holperte und schwankte. Die Küsse eines Mannes konnten das doch unmöglich wert sein …

„Bring dein Haar in Ordnung, Mädchen! Du bist ganz zerzaust vom Wind.“

„Ja, Sir John.“ Grace hob die Hände, um glättend über ihr Haar zu streichen. Wieder erschrak sie, als sie die spröden und gefärbten Locken unter ihren Fingern spürte. Kein Mensch würde sie mehr als Grace Merridew erkennen.

Nach Grace’ Anweisungen hatte Consuela, Tante Gussies Zofe, ihr die Haare kürzer geschnitten und sie dunkelbraun gefärbt. Einer Eingebung folgend, hatte Consuela mit Henna Sommersprossen auf Grace’ Gesicht, Händen und Dekolleté getupft. Selbst mit Wasser ließen sich diese falschen Sommersprossen nicht abwaschen.

Natürlich würden sie mit der Zeit verblassen, hatte Consuela der entsetzten Tante Gussie versichert. Grace würde sie ab und zu erneuern müssen, aber bis dahin würde der kurzsichtige Sir John niemals auf die Idee kommen, dass die braunhaarige, sommersprossige Greystoke in Wirklichkeit Miss Grace Merridew war, die für ihr rotgoldenes Haar und ihren makellosen Pfirsichteint berühmt war. Er war Grace nur wenige Male begegnet, seit die Mädchen das Pensionat verlassen hatten. In der richtigen Umgebung hätte er die Freundin seiner Tochter wahrscheinlich wiedererkannt, aber nicht unter diesen Umständen. Darauf hatte sie gesetzt, und sie hatte recht behalten.

Flüchtig trauerte sie ihren langen, rotgoldenen Haaren nach. Mellys Babys, rief sie sich zum ungezählten Mal in Erinnerung.

Grace teilte Mellys Leidenschaft für Babys nicht. Sie mochte Kinder, aber erst, nachdem sie angefangen hatten zu laufen und zu sprechen und kleine Menschen geworden waren. Melly hingegen vergötterte Babys, selbst wenn sie volle Windeln hatten und schrien.

Mellys Träume waren ganz einfach. Sie wollte keinen Lord, kein vornehmes Londoner Stadthaus und auch kein großes Vermögen. Sie wünschte sich nur einen netten Mann, der sie liebte, heiratete und ihr Kinder schenkte. Grace glaubte, dass wohl jedes Mädchen von so etwas träumte.

Jedes Mädchen außer Grace.

Deshalb war sie auch so fest entschlossen, dass Melly ihre Träume nicht opfern sollte. Sich das Haar abzuschneiden, bedeutete gar nichts. Haare wuchsen wieder nach, die Träume der Menschen jedoch nicht. Träume zerbrachen und mit ihnen bisweilen auch die Menschen.

Lord D’Acre, Dominic Wolfe of Wolfestone Castle, konnte mit seinen Geldsäcken und seinen kaltherzigen Vorstellungen von einer Ehe zum Teufel gehen.

Grace würde ihre Freundin retten – wie der edle Ritter, der die Prinzessin vor dem Drachen rettete! Sie dachte kurz über den Begriff nach. Ritterin vielleicht?

 

Dominic Wolfe ritt die letzten Meilen ganz langsam, dabei senkte er den Kopf gegen den plötzlich aufkommenden Wind. Dunkle Wolken zogen bedrohlich am Himmel auf. Unwetter im Sommer waren immer heftig und laut, mit Donner und Blitz verbunden. Bevor es losgeht, bin ich in Wolfestone, dachte er.

Wie immer bei dem Gedanken an Wolfestone, presste er unwillkürlich die Zähne aufeinander. Diesen Ort hatte er eigentlich nie wieder sehen wollen. Zur Hölle mit den Pettifers und ihrem plötzlichen Entschluss, herzukommen! Er hätte Sir John viel deutlicher klarmachen sollen, was ihre Abmachung beinhaltete. Wahrscheinlich glaubte die Tochter, sie würde ihr zukünftiges Zuhause in Augenschein nehmen. Ein harter Zug trat um seinen Mund.

Ein Blitz zuckte auf, und in der Ferne grollte der Donner. Dominic sah hinunter auf die Hündin, die neben ihm trottete. Sie hatte die Ohren kläglich angelegt; Sheba hatte schreckliche Angst vor Donner. Er bückte sich, hob sie hoch und setzte sie vor sich in den Sattel. Pferd und Hund waren diese Art zu reiten gewohnt.

Es war eine lange Reise gewesen. Wäre ihm mehr Zeit geblieben, hätte er eine Kutsche benutzt. Er hatte versucht, die Pettifers von ihrer Reise abzuhalten, aber sein Bote war mit der Nachricht aus London zurückgekehrt, dass sie bereits aufgebrochen waren. Wenn er also noch vor ihnen eintreffen wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als von Bristol aus mit dem Pferd zu reiten.

Es war jetzt nicht mehr weit. Durch die Bäume entdeckte er eine Turmspitze. Ein seltsamer Schauer überlief ihn. Angst? Zorn? Eine düstere Vorahnung? Vielleicht sogar ein Funken Sehnsucht wie damals als Kind, in jenen längst vergangenen, unschuldigen Tagen, als er noch von Wolfestone geträumt hatte. Ein Funken, der sein Erwachsenwerden, sein Wissen überdauert hatte.

Er wandte den Blick ab und verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. Wolfestone. Der Ort, für den seine Mutter verkauft worden war.

Und er selbst jetzt auch.

Zehn Minuten später stand er vor einem riesigen eisernen Tor, dessen einer Flügel etwas schief herabhing. Auf jedem der beiden steinernen Torpfosten erhob sich ein zähnefletschender Wolf. Zur Linken entdeckte er ein Pförtnerhaus, teils aus Stein, teils Fachwerk. Es wirkte verlassen. Das Tor stand offen. Um ihn willkommen zu heißen? Er bezweifelte es.

Wieder grollte der Donner, näher diesmal, und die Hündin zitterte. Dominic trieb Hex, sein Pferd, die Auffahrt hinauf. Zuflucht vor dem Sturm – das war alles, was Wolfestone jetzt noch für ihn bedeutete.

Der Anblick des Schlosses verschlug ihm den Atem. Das graue Steingebäude kauerte feindselig auf dem Hügel, darunter das Tal, durch das er geritten war. Das Schloss wirkte kalt, uralt und abweisend, ein Gebäude, das Schlachten und Kriege gewohnt war. Und Hass.

Das Heim seiner Vorfahren. Ehrfurcht einflößend und hässlich. Nicht wert, dafür sein Glück zu opfern.

Seine Mutter hatte fast nie darüber gesprochen. Allein die Erwähnung brachte jenen tragischen Ausdruck in ihre Augen, den er seit seiner Kindheit zu verbannen versucht hatte und der ihn immer noch verfolgte. „Wenn du jemals dort hinkommst, wirst du verstehen, warum ich nicht darüber sprechen kann“, hatte sie ihm einmal gesagt. Er sah das Schloss an – und verstand.

Er würde es zerstören.

Auf der Kieszufahrt zum Vordereingang wucherte Unkraut. Vor dem Haus erstreckte sich ein Streifen mit hohem, ungepflegtem Gras – früher einmal wohl ein Rasen. Dominic runzelte die Stirn.

Unter einer Gruppe Eichen nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr: drei silbergraue Stuten, blass und fast ätherisch im fahlen Licht vor dem Unwetter. Es waren wundervolle Tiere mit anmutig geschwungenen Hälsen und großen dunklen Augen.

Araber. Wertvolle Geschöpfe. Warum liefen sie frei herum? Das Tor hatte offen gestanden, sie hätten fortlaufen können. Vielleicht waren sie aber auch hineingelaufen?

Eine der Stuten hielt sich etwas abseits von den anderen. Sie bewegte sich unruhig auf eine Art, die ihm etwas sagte. Ihr Bauch war prall und fast bis zum Bersten gewölbt.

Die Unmutsfalten auf seiner Stirn vertieften sich. Kein Pferd sollte so frei herumlaufen, schon gar nicht eine hochträchtige Stute. Erst recht nicht, wenn ein Unwetter bevorstand.

Er sah sich um, aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Seltsam. Eigentlich hätte es hier von Bediensteten wimmeln müssen.

Wieder richtete er den Blick auf die immer dunkler werdenden Wolken und machte sich auf die Suche nach den Stallungen. Irgendein Narr hatte diese Stuten freigelassen und musste dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die trächtige Stute gehörte in den Stall, nicht nach draußen.

Er ritt zum Vordereingang und riss ruckartig am Strang der bronzenen Türglocke. Sie ertönte laut im Inneren des Hauses, aber nichts regte sich. Den Büchern nach wurden die Gehälter ausgezahlt, wo steckten also die Bediensteten?

Zwar hatte er jetzt nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln, aber er würde der Sache später auf den Grund gehen.

Hinter dem Haus fand er die riesigen Stallungen, doch auch sie waren verlassen. Die Hufe seines Pferdes klapperten unheimlich auf den staubigen Pflastersteinen. So wie es hier aussah, waren in diesen Ställen schon seit Monaten keine Menschen und Tiere mehr gewesen.

Zum Glück waren die Boxen einigermaßen sauber. Vor dem Gebäude lagen ein paar grau wirkende Heuballen, die, nachdem er sie mit einer Heugabel auseinandergebrochen hatte, von innen dufteten und goldgelb aussahen.

Er sattelte Hex rasch ab, rieb seinen Hengst notdürftig trocken und gab ihm und der Hündin etwas zu trinken. Anschließend bereitete er mehrere Boxen vor, auch eine für die trächtige Stute, in der sie ihr Fohlen zur Welt bringen konnte. Nachdem er alles Notwendige erledigt hatte, schloss er die Hündin ein. Sie winselte und kratzte an der Tür, doch er beachtete sie nicht.

Seine Pechsträhne in letzter Zeit verfluchend, machte er sich an die Aufgabe, die trächtige Stute einzufangen, ehe das Unwetter einsetzte.

 

Grace klammerte sich immer noch verzweifelt an den Haltegriff. Ihr gegenüber befand sich Melly, und sie stemmte die Füße gegen den Sitz ihrer Freundin, um nicht von der Bank gerissen zu werden. Melly tat es ihr nach, auch sie suchte nach einer Möglichkeit, nicht auf den Boden der Kutsche geworfen zu werden. Nach einer kurzen Verschnaufpause wurden sie erneut kräftig durchgeschüttelt, und sie flogen von einer Seite des Gefährts auf die andere. Die Geschwindigkeit war wirklich aberwitzig.

Sie mussten jetzt bald in Wolfestone sein, ganz sicher.

Ein Blitz zuckte, kurz darauf war ein Donnergrollen zu hören. Die Kutsche geriet ein weiteres Mal ins Schlingern, wurde unwesentlich langsamer und machte auf einmal eine scharfe Kehre nach links. Dabei wäre sie beinahe umgekippt. Verhindert wurde das nur durch ein großes Etwas, an dem sie geräuschvoll vorbeischrammte und das dafür sorgte, dass sie nicht völlig aus dem Gleichgewicht geriet. Flüchtig konnte Grace hohe steinerne Torpfosten erkennen, auf denen irgendein Geschöpf kauerte. Ein Hund? Nein, ein Wolf.

Wolfestone. Endlich. Gott sei Dank. Vielleicht kommen wir ja sogar lebend an, dachte sie ironisch.

Grace spähte aus dem Fenster, während sie die gekieste Auffahrt hinauffuhren, und versuchte, einen Blick auf Wolfestone zu erhaschen. Als es ihr gelang, verschlug es ihr die Sprache. Vor dem Hintergrund der Berge und der Unheil verkündenden Wolken wirkte das Gebäude düster, grau, aber auch faszinierend. Es musste uralt sein, halb Herrenhaus, halb Schloss, und im Laufe der Generationen hatte man es immer weiter ausgebaut, auch einige Trakte hinzugefügt. Eine hässliche Mischung verschiedener Baustile, so hatte Sir John das Anwesen den Mädchen beschrieben, als sie die Reise angetreten hatten. Grace jedoch fand es beeindruckend – voller Ecken und Kanten, mit Türmchen, Zinnen, spitzen Dächern, Schießscharten und einer ganzen Reihe herrlicher gotischer Fenster. Sie hoffte, dass es dort auch die typischen gotischen Wasserspeier mit Fratzengesichtern gab. Zu einem solchen Gebäude gehörten sie einfach dazu.

An einem sonnigen Tag mussten die Zimmer an der Vorderseite des Schlosses voller Licht sein, denn Dutzende von Stabkreuzfenstern zeigten nach Süden. Während Grace sie noch betrachtete, teilten sich die schwarzen Wolken plötzlich und ein einzelner Sonnenstrahl fiel auf die Scheiben und tauchte sie einen Moment lang in leuchtendes Gold.

„Wie wunderschön“, rief sie aus, doch ihre Worte gingen unter, als ein Blitz fast unmittelbar vor der Kutsche in den Boden einschlug. Die Pferde wieherten schrill und bäumten sich auf, ein ohrenbetäubender Donner war zu hören. Die Kutsche neigte sich bedenklich und kippte krachend auf die Seite. Holz splitterte, die Passagiere flogen hilflos durcheinander.

Dann wurde alles still, bis auf das Heulen des Sturms.

2. Kapitel

Der erste Eindruck täuscht.

Ovid

Grace bewegte sich als erste, wenn auch nur ganz langsam. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Ihr Arm und ihr Kopf schmerzten, doch als sie allmählich wieder klarer denken konnte, wurde ihr bewusst, dass sie noch ganz war. Zwar fühlte sie sich durcheinander und nahm an, am ganzen Körper zerschrammt zu sein, aber sonst schien sie weitgehend unverletzt zu sein.

Sie wandte sich ihrer Freundin zu. „Melly, ist alles in Ordnung?“

Melly stöhnte leise, und Grace betrachtete sie prüfend. Ihre Freundin ächzte erneut, danach schlug sie die Augen auf. „Was ist passiert?“

„Die Kutsche ist umgekippt. Tut dir etwas weh? Kannst du dich bewegen?“

Melly versuchte es vorsichtig. „Ich denke schon. Es schmerzt an einigen Stellen, aber ich glaube, sonst ist mir nichts Schlimmeres geschehen.“ Sie streckte sich. „Au! Ich muss überall blaue Flecken haben! Aber was ist mit Papa?“

Sir John war bei Bewusstsein, aber er sah alles andere als gut aus. Seine Augenlider flatterten. „Holt mich hier heraus“, stammelte er matt. Sein Atem ging keuchend und angestrengt.

„Bleib bei ihm, Melly. Ich hole Hilfe.“

„Aber was ist, wenn …“

Doch Grace kletterte bereits aus dem Fenster, da sich die Tür nicht öffnen ließ. Wieder zuckte ein Blitz, dann öffneten sich alle Schleusen des Himmels und es fing an, in Strömen zu regnen.

Die Pferde bewegten sich unruhig, sie zitterten vor Erschöpfung und Furcht. Noch ein Blitz. Sie scheuten ängstlich, Grace konnte das Weiß ihrer Augen sehen. Eins der Tiere hatte sich im Geschirr verfangen. Wenn die Pferde erneut erschraken, zogen sie womöglich auf der Flucht die umgekippte Kutsche hinter sich her.

Sie schirmte ihr Gesicht mit der Hand vor dem prasselnden Regen ab und sah sich um. Bestimmt hatte jemand den Krach gehört und kam ihnen gleich zu Hilfe. Auf dem Kies entdeckte sie eine reglose, dunkle Gestalt. Der Postillion. Sie eilte zu ihm und beugte sich zögernd über ihn. „Sind Sie in Ordnung?“

Er bewegte sich stöhnend und stieß einen trunkenen Fluch aus, ehe er sich aufsetzte und sie ansah. „Was ’s passiert?“, lallte er. Er lächelte seltsam, dann fluchte er erneut und übergab sich, wobei er nur um Haaresbreite ihre Stiefel verfehlte.

„Stehen Sie auf, Sie elender Trunkenbold!“, schnauzte Grace ihn an. „Sie haben die Kutsche zu Bruch gefahren, und die Pferde haben sich hoffnungslos im Geschirr verfangen! Sie können die Kutsche jeden Moment mit sich fortzerren!“

„Zu Bruch?“, wiederholte er begriffsstutzig.

„Ja! Also stehen Sie auf und helfen mir, Sir John und Melly aus der Kutsche zu ziehen!“

Der Mann rappelte sich mühsam auf, warf einen entsetzten Blick auf die umgekippte Kutsche und rannte fluchend davon.

Grace schrie ihm nach, er solle sofort zurückkommen, aber er lief einfach weiter. Sie wusste, warum. Wegen dieser Fahrlässigkeit konnte man ihn einsperren, vielleicht sogar deportieren.

Die Pferde scheuten erneut und verfingen sich immer hoffnungsloser im Geschirr. Da half jetzt nur eins. Grace bückte sich und zog ein Messer aus ihrer robusten Stiefelette. Alle Merridew-Mädchen reisten stets bewaffnet, doch sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sich die Pistole ihrer Schwestern auszuleihen.

Sie verbarg das Messer im Ärmel und näherte sich den Pferden langsam und ruhig. Währenddessen sprach sie leise und beschwichtigend auf sie ein. Die Tiere warfen nervös die Köpfe zurück, ließen es aber zu, dass Grace nach ihren Halftern griff und die Riemen des Geschirrs durchtrennte, um sie zu befreien. Sofort galoppierten sie auf eine Baumgruppe zu.

Jetzt hieß es, endlich Hilfe holen. Sie senkte den Kopf gegen den strömenden Regen und rannte auf das große graue Gebäude zu. Nirgends brannte ein Licht. Es war immer noch Nachmittag, doch durch das Unwetter war es dunkel geworden, und so wirkte das Schloss nicht im Geringsten einladend – und damit auch nicht gerade vielversprechend, wenn sie daran dachte, hier Unterstützung zu finden.

Sie eilte dennoch die Stufen zum Haupteingang hinauf. Grace fand einen Türklopfer, bestehend aus einem Wolfskopf, und einen Glockenstrang aus Bronze. Sie betätigte beides, anschließend presste sie ihr Ohr an die Tür. Sie hörte die Glocke im Haus läuten. Sie wartete. Versuchte es noch einmal. Doch niemand öffnete die Tür.

Es sah so aus, als wäre keine Menschenseele da. Aber wie konnte das sein? Das war schließlich Mellys Brautbesuch.

Grace hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Sie lief um das Gebäude herum und entdeckte ein paar fast identisch aussehende Hintereingänge. Sie klopfte an jede einzelne Tür, aber ohne Erfolg. Sie waren alle abgeschlossen.

Hatte der betrunkene Postillion sie überhaupt zum richtigen Haus gebracht? Dieser Ort hier war gottverlassen.

An einer Seite des kopfsteingepflasterten Innenhofs konnte sie einen verwahrlosten Küchengarten ausmachen, auf der anderen ein großes Steingebäude mit einem Rundbogentor. Stallungen! Schwer atmend eilte sie weiter.

Als sie diese erreicht hatte, blieb sie stehen, um ihre Augen an das dämmerige Licht zu gewöhnen. Das Gebäude war riesig und mit einem hohen Deckengewölbe versehen. Der Regen prasselte auf das Dach. Am Tor war frisches Heu gestapelt, Sattel- und Zaumzeug hingen ordentlich an Haken. Alles war mit einer Staubschicht bedeckt, bis auf einen fremdartig aussehenden Sattel und ein gut gepflegtes, blinkendes Zaumzeug.

Von dem langen geraden Mittelgang gingen mehrere Boxen ab. Die meisten waren verschlossen, vier davon nur zur Hälfte, der obere Teil stand offen. Ein weißes Pferd mit großen, dunklen und klugen Augen streckte den Kopf aus einer der Boxen.

Gott sei Dank. Sie konnte nun zu Pferd Hilfe holen.

Einen Augenblick lang flaute der Wind etwas ab, sodass Grace ein Wiehern und die tiefe, ruhige Stimme eines Mannes hören konnte. Sie eilte darauf zu, und vor einer der oben offen stehenden Boxentüren vernahm sie die Stimme erneut. Sie klang zu gedämpft, um einzelne Worte heraushören zu können, doch Grace hatte das Gefühl, dass es kein Englisch war.

„Hilfe!“, rief Grace laut. „Helfen Sie mir bitte! Es hat einen Unfall gegeben, und ich brauche Hilfe!“

Ein Mann streckte den Kopf heraus. „Wo zum Teufel kommen Sie denn her?“ Er sprach mit einem Akzent, den sie nicht einordnen konnte.

Bei seinem Anblick geriet ihr Herzschlag ins Stocken. Nein, nicht deswegen, sagte sie sich hastig. Das kam nur vom schnellen Laufen. Der Mann sah unmöglich aus. Er war groß, hatte ein schmutziges, unrasiertes Gesicht und dickes, zerzaustes schwarzes Haar, das dringend geschnitten werden musste. Seine Gesichtszüge wirkten streng, kantig und irgendwie … hungrig.

Er erwiderte ihren Blick mit seltsam kalten Augen. „Ich nehme an, Sie sind wegen der Stuten hier.“ Er musterte sie beinahe dreist, besonders dort, wo sich ihre nasse Kleidung an ihren Körper schmiegte. Dabei leuchteten die merkwürdigen goldbraunen Augen auf.

Grace kümmerte sich nicht darum. „Ich weiß nichts von irgendwelchen Stuten. Ich brauche Hilfe. Es hat einen Unfall gegeben.“

Er hob ruckartig den Kopf. „Was für einen Unfall?“

„Unsere Kutsche ist umgekippt. Unten, auf der Auffahrt.“

Er brummte etwas vor sich hin, aber nicht auf Englisch. „Ist jemand verletzt?“

„Nein, nicht ernsthaft. Aber die Passagiere sitzen in der Kutsche fest, und der Postillion ist weggelaufen. Er war betrunken. Sie müssen kommen, bitte!“

Er schien nachzudenken. „Also keine Toten? Und niemand blutet?“

„Nein“, erwiderte sie ungeduldig. „Aber die Tür klemmt, und niemand kann sich befreien. Sie müssen sofort etwas tun!“

„Sind die Pferde verletzt?“ Er trat aus der Box.

Er könnte Zigeuner sein, dachte sie. Dunkel genug sah er ja aus. Er hatte keinen Mantel an und trug hohe, lehmbespritzte Stiefel und eine fleckige Reithose aus Hirschleder. Sein Hemd war ebenfalls schmutzig, und die hochgekrempelten Ärmel entblößten sehnige braune Unterarme. Dieser Mann sah stark und zupackend aus, und das war alles, was im Moment zählte.

„Nein, es geht ihnen gut. Bitte, beeilen Sie sich!“

„Und Ihr Name war noch mal …?“ Er schloss die Boxentür betont umsichtig.

Sie hätte am liebsten geweint vor Ungeduld, stattdessen stampfte sie mit dem Fuß auf. „Mein Name ist Greystoke, aber das geht Sie gar nichts an!“

„Nun, das würde ich so nicht sagen. Jetzt beruhigen Sie sich, Greystoke. Niemand ist verletzt. Ich komme mit. Alles wird gut.“ Seine Stimme klang tief, ruhig und zuversichtlich.

Sie versuchte, ihn weiter von der Dringlichkeit der Sache zu überzeugen. „Miss Pettifer – dort, in der Kutsche –“, sie zeigte in Richtung Auffahrt, „ist Lord D’Acres Verlobte und damit Ihre zukünftige Herrin. Also informieren Sie bitte Ihren Herrn, und zwar sofort!“

„Kein Mann ist mein Herr“, gab er mit aufreizender Ruhe zurück. Er sah Grace durchdringend an, in seinen Augen funkelte es. Schien er sich über sie lustig zu machen? War dieser Mann so boshaft? „Aber gegen eine Herrin hätte ich nichts einzuwenden. Werden Sie auch bald meine Gebieterin, Greystoke?“ Er zog seine Reithose hoch. „Ich könnte gut eine gebrauchen. Es ist schon eine Weile her.“

Grace war schockiert, aber sie hatte nicht vor, sich auf einen verbalen Schlagabtausch mit diesem goldäugigen ungehobelten Teufel einzulassen. „Sie haben keinerlei Manieren! Dringend müsste Ihnen einmal gründlich der Kopf gewaschen werden, und nicht nur der! Jetzt beeilen Sie sich doch!“

Er lächelte feinsinnig, eigentlich eher äußerst durchtrieben, während er sich in Bewegung setzte. Na endlich!, dachte sie. Doch dann kam er geradewegs auf sie zu und stand plötzlich ganz nah vor ihr. Zu nah, und ehe sie noch reagieren konnte, umrahmte er ihr Gesicht mit den Händen. Sie konnte nur noch seine Augen sehen. Ihre Farbe war seltsam, wie heller, goldener Bernstein mit einem schmalen dunklen Ring um die Iris. Sie funkelten unter geschwungenen schwarzen Augenbrauen.

Grace saß in der Falle. Sie fühlte sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange und war zu schockiert, um sich bewegen zu können.

Der Blick, den er über ihr Gesicht schweifen ließ, war wie eine Liebkosung. „Sind diese Sommersprossen echt?“, fragte er sanft. Seine Stimme vibrierte durch ihren ganzen Körper. Zu Grace’ Überraschung roch er gar nicht schmutzig, nur ein klein wenig nach Pferd, was nicht weiter überraschend war. Und er roch sehr männlich.

Sie versuchte, ihn wegzustoßen. „Hören Sie sofort auf damit! Es hat einen Kutschenunfall gegeben!“, erinnerte sie ihn mit der strengsten Stimme, die sie aufbringen konnte.

„Aber es ist niemand verletzt worden“, erwiderte er und küsste sie. Es war nur ein schneller und auch ein ziemlich fester Kuss, aber er ging Grace durch Mark und Bein.

Schließlich ließ er sie los und sah sie mit ausdrucksloser Miene an. „Das hätte ich jetzt nicht erwartet“, murmelte er. „Oder war das vielleicht nur ein Zufall?“

Grace versuchte, zurückzuweichen, geriet dabei aber ins Taumeln. Irgendetwas stimmte mit ihren Beinen nicht. Sie hielt sich an seinen Armen fest, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Er fühlte sich hart, warm und sehr stark an.

Donner grollte.

Das brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie nahm sich zusammen, trat einen Schritt zurück und wischte sich über den Mund, wobei sie ihn aufgebracht anstarrte. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Hand noch immer auf seinem Arm lag, und sie nutzte die Gelegenheit, um ihn zum Stalltor zu ziehen. „Eine Kutsche ist umgekippt, es gab einen Unfall.“

„Ja, das sagten Sie bereits. Niemand ist ernsthaft verwundet worden, und alle befinden sich noch in der Kutsche, geschützt vor dem Regen. Bevor ich Ihnen folge, muss ich aber erst noch etwas überprüfen.“ Wieder küsste er sie rasch, und wie beim ersten Mal verdrängte dieser Kuss jeden zusammenhängenden Gedanken aus ihrem Kopf. Ihr war schwindelig, als er sie freigab.

„Aha“, meinte er nachdenklich. „Also doch kein Zufall. Wer hätte das gedacht?“ Er lächelte zufrieden.

Sie trat ihm fest gegen das Schienbein.

Sein Lächeln vertiefte sich. „Au“, meinte er leichthin, fast im Plauderton.

Sie trat noch härter zu.

„Es hätte vielleicht mehr Wirkung, wenn ich nicht diese hohen Stiefel tragen würde“, bemerkte er in beinahe entschuldigendem Tonfall.

Sie versetzte ihm einen Hieb auf den Arm. „Hören Sie, Sie unmöglicher Mensch! Es hat einen Kutschenunfall gegeben und …“

Er zuckte in gespieltem Erschrecken zusammen. „Einen Kutschenunfall? Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“ Ehe Grace sichs versah, packte er ihre Hand und fing an zu rennen. Sie flog förmlich hinter ihm her und rang nach Luft, zwei Schritte machend, wo er nur einen brauchte. „Und wenn das alles erledigt ist, verabreichen Sie mir dann die gründliche Wäsche, die Sie mir vorhin versprochen haben?“, fragte er im Laufen. Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, brachte sie vorübergehend vollkommen durcheinander.

„Nein!“, protestierte sie atemlos. Während sie weiter die Auffahrt hinuntereilte, schienen ihre Füße den Boden kaum zu berühren.

„Nein? Nun denn.“ Ein bedächtiges Grinsen erhellte seine dunklen Züge. „Lassen Sie mich wissen, wann es Ihnen recht ist. Übrigens“, fügte er nach einer Weile hinzu, „ich sehe, dass Ihre Sommersprossen dem Regen standhalten, also müssen sie wohl echt sein.“ Er verringerte seine Geschwindigkeit nicht, er war noch nicht einmal außer Atem.

Grace war völlig entgeistert. „Ja … natürlich … sind … sie … echt“, log sie nach Luft schnappend. Schließlich waren sie ein wesentlicher Bestandteil ihrer Verkleidung.

„Faszinierend. Solche Sommersprossen habe ich noch nie zuvor gesehen – sie sind alle von genau der gleichen Form und Farbe. Ich freue mich schon darauf, herauszufinden, ob Sie sie überall am Körper haben oder nur an … bestimmten Stellen.“

Er war abscheulich und hatte keinerlei Anstand. Wie konnte er es wagen, sich über ihre Sommersprossen auszulassen – ob nun echt oder nicht –, während sie sich in einer solchen Notsituation befanden!

Sie war jedoch so atemlos, dass sie ihn nur wütend ansehen und weiterlaufen konnte. Noch vor wenigen Minuten war sie vollkommen durchnässt, verängstigt und erschöpft gewesen. Ihr ganzer Körper schmerzte von dem Unfall.

Doch jetzt war sie wütend!

Und fühlte sich dabei lebendiger als je zuvor.

Das lag nur an dem Schock durch den Unfall.

Sie rannten weiter in halsbrecherischem Tempo, trotzdem hatte Grace keine Angst zu stürzen. Er war sehr stark und hielt sie mit seiner großen, warmen Hand ganz fest. Trotzdem hörte er nicht auf, sie immer wieder anzusehen. Auf ziemlich unverschämte Weise.

Was sie so restlos wütend machte, war die Tatsache, dass es diesem Teufel gelang, sie trotz der großen Sorge um ihre Freundin und deren Vater immer wieder abzulenken.

Als die Kutsche in Sicht kam, verlangsamte er überrascht seine Schritte. „Wo sind die Pferde?“

„Ich habe die Geschirrleinen durchtrennt, weil ich befürchtete, dass sie die Kutsche mit sich zerren könnten.“

Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu. „Gut mitgedacht. Was haben Sie dazu benutzt?“

„Ein Messer natürlich.“

Er runzelte die Stirn, aber da sie die Unfallstelle erreicht hatten, stellte er keine weiteren Fragen.

Melly steckte den Kopf zum Fenster heraus. „Gott sei Dank, dass ihr da seid“, keuchte sie. „Papa geht es sehr schlecht.“

Sie konnten durch das Fenster Sir John sehen, der in sich zusammengesackt schien. Seine Gesichtsfarbe war gelblich und fahl. Mühsam schlug er die Augen auf und richtete den Blick geradewegs auf Grace’ Zigeuner. „D’Acre“, stieß er hervor.

„Sir John“, erwiderte der Zigeuner.

„D’Acre?“, rief Grace aus. „Sie sind Lord D’Acre?“

„Wer sonst?“ Er zwinkerte ihr zu und zuckte auf der Stelle theatralisch zusammen, als sie ihm auf den Arm schlug. „Au! Wofür war das denn?“

„Das wissen Sie ganz genau.“ Lord D’Acre! Dieser ganze Unsinn über Gebieterinnen! Und dann besaß er auch noch die Dreistigkeit, sie zu küssen, obwohl er wusste, dass seine Verlobte – seine Verlobte! – in der Kutsche festsaß! Dieser Schurke!

Er grinste flüchtig und bestätigte damit, dass er es in der Tat wusste. Dann streckte er den Kopf durch das Kutschenfenster und sagte mit kühler, ruhiger Stimme: „Miss Pettifer, ich komme jetzt durch dieses Fenster. Rücken Sie ein Stück nach hinten.“

Zu Grace’ Erstaunen schwang er sich mit den Füßen zuerst durch das Fenster. Er hatte ein wenig Mühe, seine wirklich sehr breiten Schultern durch die Öffnung hindurchzuzwängen, trotzdem staunte Grace über seine Geschmeidigkeit.

Nach kurzer Zeit tauchte sein Kopf wieder im Fenster auf. „Sir John scheint nicht verletzt zu sein“, teilte er Grace mit. „Aber seine Gesichtsfarbe gefällt mir ganz und gar nicht. Gehen Sie zur Seite, ich trete jetzt die Seitenwand der Kutsche ein.“

Ein dumpfer Schlag ertönte, dann noch einer. Holz splitterte, und nach weiteren kraftvollen Tritten tat sich ein Loch in der Seitenwand auf, bis diese schließlich ganz herausbrach.

„Hinaus mit Ihnen.“ Er schob von innen, während Grace von draußen zog, und so gelang es Melly, aus der Kutsche zu klettern.

„So, Blauauge, und Sie kommen jetzt herein. Ich brauche Ihre Hilfe, um den alten Mann herausholen zu können.“

Blauauge? Das soll wohl ich sein, vermutete Grace. Sie kletterte in die Kutsche.

„Sie halten seine Beine, und ich ziehe ihn von draußen heraus.“ Er sprang ins Freie, und zusammen bugsierten sie Sir John durch das Loch. Lord D’Acre hob ihn auf die Arme wie ein Kind und trug ihn zum Schloss.

Grace nahm Mellys Hand, und sie liefen ihm nach. Der Regen wurde immer stärker; er beeinträchtigte die Sicht und ließ die Pflastersteine schlüpfrig werden. „Hier macht niemand auf“, sagte sie, als sie alle vor dem Haupteingang standen. „Wie sollen wir hineingelangen?“

„Der Schlüssel ist in meiner Tasche“, erklärte er. „In der rechten.“

Er trug keinen Mantel, daher fasste Grace in die Tasche seiner Reithose. Sie war schon vorher ziemlich eng gewesen, jetzt war das Hirschleder nass und klebte an ihm wie eine zweite Haut. Etwas widerstrebend schob Grace die Hand hinein, noch nie hatte sie einen Mann so intim berührt.

Seine Hosentasche war nicht leer, und so musste Grace erst nach dem Schlüssel tasten, an einem Taschentuch vorbei, ein paar Geldmünzen und anderem Krimskrams. Zwar war größte Eile geboten, dennoch war Grace sich auf prickelnde Weise seiner straffen, warmen Haut unter dem Hirschleder und seines männlichen Duftes bewusst. Es war alles andere als unangenehm.

Wieder dachte sie an die beiden flüchtigen, schockierenden Küsse. Ihre Wangen begannen trotz des kalten Regens zu glühen.

Schließlich fand sie den Schlüssel, einen großen, altmodischen aus Messing, und schob ihn ins Schloss. Es war eingerostet, und sie brauchte ziemlich viel Kraft, um den Schlüssel umzudrehen. Aber nach einer Weile gab das Schloss mit einem Klicken nach, und sie taumelten in die weitläufige Eingangshalle von Wolfestone Castle. Sie war düster, kalt und staubig, aber wenigstens waren sie im Trockenen.

Einen Moment lang blieben sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Und als sie sich umsah, entdeckte Grace den Wasserspeier, auf den sie so gehofft hatte. Er thronte hoch oben über der Halle, nicht aus Stein, sondern aus Holz geschnitzt, und hatte ein starkes, überraschend gütiges Gesicht mit weisen Augen. Er schien Grace geradewegs anzusehen. Der arme Kerl musste dringend abgestaubt werden.

„Wo sollen wir Papa hinbringen?“, fragte Melly.

Lord D’Acre schnaubte. „Keine Ahnung. Suchen Sie ein Zimmer mit einem Sofa oder so etwas Ähnlichem.“

Grace warf ihm einen verwunderten Blick zu, aber jetzt war nicht die Zeit, Fragen zu stellen. Sie eilte los. Gleich die erste Tür, die sie öffnete, führte in einen Salon mit einer Chaiselongue, die mit einem Laken gegen den Staub abgedeckt war. Sie zog das Laken weg – und er legte Sir John auf die Liege.

Immer wieder wurde der Raum durch Blitze erhellt. Dominic runzelte die Stirn. Der alte Mann sah schrecklich aus. Seine Haut war gelblich-grau und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. Er hielt die Augen geschlossen, und sein Atem ging rasselnd. Verdammt, wenn der alte Mann jetzt starb, hatte er die Tochter am Hals!

Miss Pettifer sagte irgendetwas, aber ihre Worte gingen im Heulen des Sturms unter. Regen und Wind rüttelten an den Fenstern. Sie versuchte es noch einmal, packte ihre kleine Freundin an der Schulter und rief ihr etwas ins Ohr. Flüchtig erinnerte er sich an den Geschmack dieser kleinen Freundin, was ihn vorübergehend etwas ablenkte.

„Ich hole sie“, rief Blauauge zurück. „Wo ist sie?“

Seine Verlobte erwiderte etwas, die andere nickte, umarmte sie kurz und lief davon.

Dominic beugte sich wieder über die Chaiselongue und sah zu, wie Miss Pettifer Sir Johns Halsbinde lockerte. Trotz ihrer offensichtlichen Sorge um ihn, kümmerte sie sich mit ruhigen, geschickten Handgriffen um ihren Vater. Das beeindruckte ihn.

Der alte Mann sah aus, als befände er sich an der Schwelle des Todes. Dominic bückte sich und rief der Tochter ins Ohr: „Ich hole einen Arzt.“

Sie nickte. „So schnell wie möglich.“

Dominic lief in die Stallungen, wo er die Araberstute sattelte. Er hatte nur zwei der Tiere einfangen können, das dritte war im Regen verschwunden. Zum Glück konnte er jetzt auf dieses Pferd zurückgreifen, sein eigenes, Hex, war zu erschöpft nach dem langen Ritt.

Er sah nach der trächtigen Stute. Sie hatte immer noch nicht gefohlt. Wahrscheinlich passiert das mitten in der Nacht, dachte er, das war die übliche Zeit bei Pferden.

Nach kurzem Suchen fand er einen alten schwarzen Regenumhang, legte ihn sich um und stieg in den Sattel. Einen Augenblick zögerte er, weil er nicht wusste, in welche Richtung er reiten sollte. Ich frage im Dorf nach, dachte er und ritt hinaus in den Regen.

Die Stute war eine freundliche kleine Schönheit, das Unwetter schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Dominic ritt die Ausfahrt hinunter und wollte, ohne nachzudenken, an der umgestürzten Kutsche vorbeireiten, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er hielt an, wischte sich den Regen aus den Augen und sah zu seiner Bestürzung eine zierliche Gestalt, die versuchte, eine schwere Reisetasche durch den Schlamm zu ziehen. Greystoke.

Dazu hatte Miss Pettifer sie also losgeschickt. Sie war eine Art Bedienstete, aber das war von Anfang an offensichtlich gewesen. Niemand sonst würde sich freiwillig so eintönig kleiden.

Sie hatte die Schultern gegen den Wind und den prasselnden Regen hochgezogen. Die nasse Kleidung klebte an ihrem schlanken Körper. Dominics Zorn regte sich. Jemanden bei diesem Wetter loszuschicken, um das Gepäck zu holen!

Er schwang sich vom Pferd und packte das Mädchen bei den Schultern. „Um Gottes willen, lassen Sie das Gepäck hier, bis sich der Sturm gelegt hat! Ein bisschen Wasser schadet ihm nicht, und bei dem Wetter stiehlt es ohnehin niemand.“ Ihr Körper fühlte sich so klein, nass und kalt unter seinen Händen an. Wie konnte man ihr zumuten, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen und bei dem Wetter etwas heranzutragen, was noch nicht einmal ihr gehörte!

Er versuchte, sie unter seinen Umhang zu ziehen und ins Gebäude zurückzubringen, doch zu seinem Erstaunen widersetzte sie sich. Sie bückte sich, um wieder an der schweren Ledertasche zu zerren.

„Es geht um Sir Johns Medizin“, rief sie gegen den Sturm an. „Sie ist in irgendeiner dieser Taschen und Kisten, ich weiß nur nicht genau, in welcher. Und sie sind viel zu schwer, ich kann sie nicht tragen.“

Dominic drückte ihr die Zügel in die Hand. „Dann halten Sie das Pferd. Ich trage das Gepäck ins Haus, danach bin ich gleich wieder da.“

„Wollten Sie einen Arzt holen? Ist es weit bis dorthin?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ich werde im Dorf nachfragen.“

Sie sah aus wie eine gebadete Katze. Er nahm seinen Umhang ab, legte ihn ihr um und zog ihr die Kapuze über die nassen Haare. Ihr Gesicht wirkte ganz klein und spitz vor Kälte und Sorge. Beruhigend drückte er ihre Schultern. „Es geht nicht anders. Wahrscheinlich ist diese Medizin genau das, was er braucht.“ Er nahm mit jeder Hand eine Tasche. „Sie können die kleineren Stücke ins Haus bringen, wenn ich wiederkehre. Und sobald Sie drinnen sind, ziehen Sie diese nassen Sachen aus, haben Sie mich verstanden? Ich will nicht, dass Sie sich erkälten.“

Er trug die Taschen die Auffahrt hinauf, stellte sie in die Eingangshalle und machte sich eilig auf den Rückweg. Doch als er an der Kutsche ankam, war von Greystoke und der Stute nichts zu sehen. Wo zum Teufel steckte sie? Sie konnte doch unmöglich selbst losgeritten sein, um den Arzt zu holen?

Nein. Sie war eine Bedienstete, und Bedienstete ritten nicht. Wahrscheinlich hatte sie die Zügel losgelassen und die Stute war anschließend weggelaufen. Ohne Zweifel war die arme kleine Seele irgendwo da draußen im Sturm und versuchte, das verdammte Tier wieder einzufangen! Er fluchte. Glaubte sie etwa, er würde sie deportieren lassen, weil sie das Pferd verloren hatte?

Es war ja noch nicht einmal sein Pferd!

Vor sich hin schimpfend, holte er das restliche Gepäck und stapfte danach zu den Stallungen. Er legte Hex einen der alten, staubigen Sättel auf, zog seinen weiten polnischen Langmantel an und ritt grimmig wieder hinaus in den Sturm.

Zuerst wollte er den Arzt suchen, dann das Mädchen.

Seine Pechsträhne hielt wahrlich an.

 

Dominic brauchte über eine Stunde, um das Haus des Arztes zu finden, und als er es endlich gefunden hatte, war seine Laune an einem Tiefpunkt angelangt. Dieses Dorf war voller Schwachköpfe! Jeder, den er gefragt hatte, hatte ihn in eine andere Richtung geschickt. Schließlich hatte er es durch reinen Zufall gefunden. Er war vor dem großen, sauber aussehenden Haus nur stehen geblieben, weil er hoffte, dass die Bewohner etwas intelligenter waren als die Einheimischen, die er zuvor befragt hatte, und ihm die richtige Auskunft geben würden.

„Wo der Doktor wohnt? Na, hier natürlich“, hatte die Frau an der Tür erklärt und Dominic angesehen, als wäre er der Dorftrottel.

Dominic fluchte halblaut vor sich hin. Das Haus lag ganz am Rande der Ortschaft, gar nicht weit weg von Wolfestone Castle. Warum hatte das keiner gewusst?

„Aber ich weiß nicht, wo er gerade ist“, hatte ihm die Arztfrau auf seine Schimpfkanonade hin schroff mitgeteilt. „Und ehe Sie das fragen – nein, ich weiß auch nicht, wann er zurückkommt. Es könnte sich um eine Geburt handeln oder so etwas, er hat es mir nicht gesagt. Er sagt mir nie etwas.“ Sie sah ihn verächtlich an, und nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: „Und schmutzige Zigeuner behandelt er ohnehin nicht.“ Damit hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Fluchend betätigte Dominic erneut den Türklopfer.

Die Arztfrau öffnete und überschüttete ihn mit einem üblen Wortschwall über aufdringliche Bettler und schmutzige Zigeuner.

Dominic setzte einen Fuß in den Türspalt und teilte ihr mit kalter Stimme mit, dass Lord D’Acre die Dienste ihres Mannes so schnell wie möglich benötigte, da Sir John Pettifer einen Unfall erlitten hätte.

Bei der Nennung der Adelstitel traten der Frau fast die Augen aus dem Kopf. „Lord D’Acre?“, hauchte sie in vollkommen verändertem Tonfall. „Ach, ich hatte ja keine Ahnung, dass er schon in Wolfestone ist. Und Sir John Pettifer geht es schlecht, sagen Sie? Wie schrecklich für den armen Mann! Ich sage dem Jungen, dass er meinen Mann suchen und sofort zum Schloss schicken soll. Sagen Sie Lord D’Acre, dass Mrs. Ferguson sich um alles kümmert. Und bitte richten Sie Seiner Lordschaft aus, wenn ich irgendetwas für ihn tun kann …“

„Ich bin Lord D’Acre“, unterbrach Dominic sie sanft und zog seinen Fuß weg. „Aus dem Zigeunerzweig der Familie.“ Ehe die Frau ihren Mund wieder zuklappen konnte, schloss er die Tür vor ihrer Nase.

 

„Die Leute sagen, der Teufel reitet heute Nacht mit dem Sturm!“ Großvater Tasker ließ sich auf der Bank direkt neben dem Feuer nieder. Trotz des Regens füllte sich das Dorfgasthaus zusehends.

„Ja, ich hab ihn gesehen, aber nur durchs Fenster. Meine Frau hat mit ihm gesprochen.“

„Nie im Leben!“

„Doch. Augen wie Fenster zur Hölle, hat sie gesagt. Hat ihn nach Osten geschickt, Richtung Moor.“

Die Zuhörer lachten leise. „Wirklich? Ganz schön raffiniert, deine Frau.“

„Groß war er und ganz dunkel“, meldete sich ein anderer zu Wort. „Auf einem Pferd so schwarz wie die Sünde. Er sagte etwas, das klang, als wollte er uns verhexen.“ Sein Freund bestätigte das, und die Zuhörer erschauerten. „Wir haben ihn in südliche Richtung zur Kirche geschickt.“

„Ich hab ihn auch beobachtet“, meinte ein buckliger alter Mann. „Er hat nach dem Arzt gefragt. Beelzebub höchstpersönlich, aber mich konnte er nicht täuschen.“ Er schnaubte verächtlich. „Ich hab ihn nach Westen zum Weiher geschickt.“

Alle Männer lachten herzhaft darüber, wie das Dorf den Teufel hinters Licht geführt hatte.

Großvater Tasker beugte sich vor. „Wisst ihr, wer heute Nacht auch unterwegs war? Keine Geringere als unsere Graue Dame!“ Er ließ das erst einmal auf die anderen einwirken, die erstaunt und ungläubig durcheinanderriefen. „Jawohl, Granny Wigmore hat die Graue Dame mitten im Sturm gesehen. Sie hat sogar mit ihr gesprochen, unsere Granny.“

„Nie im Leben!“

„Doch. Zum ersten Mal seit fast siebzig Jahren hat sie sich wieder gezeigt. Und wisst ihr, wen die Graue Dame gesucht hat?“

Alle spitzten gespannt die Ohren.

„Den Doktor!“ Die Zuhörer waren wie vom Donner gerührt. Großvater Tasker nickte. „Jawohl. Ich wette, sie hat ihn in Sicherheit gebracht, unsere gute Graue Dame.“

„Ich hab sie ebenfalls genau gesehen“, warf Mort Fairclough ein. „Sie ritt schnell wie der Wind, auf einem Pferd aus Nebelschwaden und mit einem Umhang aus seidenen Spinnweben.“

„Seidene Spinnweben?“ Ein Raunen erhob sich im Gasthaus.

„Genau, ein Umhang aus schimmernden seidenen Spinnweben“, bekräftigte der Wirt energisch. „So, wer will noch ein Glas?“