Leseprobe Der Ursprung der Ewigkeit

Tote und Verletzte nach Feuer im Atelier – Brandstiftung?

Von Magnus Garcia

In der Nacht zum Donnerstag ereignete sich in der Bleecker Street in Soho, in dem Wohngebäude Ecke Sullivan Street, ein Großbrand. Das Feuer brach gegen neun Uhr am Abend auf der sechsten Etage des siebenstöckigen Hauses aus. 13 Personen kamen ums Leben, weitere wurden teils schwer verletzt und mussten in den umliegenden Krankenhäusern behandelt werden. Das FDNY war mit 70 Kräften vor Ort und konnte ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Gebäude verhindern. Das betroffene Stockwerk brannte in der Folge vollständig aus.

Zunächst war das Feuer aus bisher ungeklärten Gründen im Atelier einer New Yorker Künstlerin während einer Vernissage ausgebrochen. Unbestätigten Informationen zufolge kam es zwischen der Gastgeberin und einer Gruppe Gäste zum Streit. Zeugen berichten im Vorfeld des Brandes von einer angespannten Atmosphäre und Handgreiflichkeiten.

Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen, um dem Verdacht der Brandstiftung nachzugehen. Die Bergung der Leichen wurde am Mittag abgeschlossen. Die Identifizierung der Toten hält an. Ob sich die Künstlerin selbst unter den Opfern befindet, ist bis zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Von den Beteiligten des Streits fehlt bisher ebenfalls jede Spur. Die Polizei bittet weitere Zeugen des Vorfalls um Mithilfe.

– Artikelauszug »Daily News«, vom 25. März 1960

Kapitel 1

Owls Head, Maine

Gegenwart

Jemand war im Haus.

Von unten aus der Diele drangen sie hinauf: klopfende Schritte.

Eins, zwei, drei – stopp.

Ein Schuhsohlenpaar wendete schlitternd auf dem Parkettboden. Der Eindringling änderte seine Richtung. Weshalb? Um einen Blick in die großzügigen, aber leeren Räume zu werfen? Kahles Wohnzimmer links, verlassenes Esszimmer rechts, dahinter die Küche mit diesem besonderen Ausblick in den Garten.

Begannen gerade die letzten Minuten ihres Lebens?

Alice erstarrte mitten in der Bewegung. Mit dem Bilderrahmen in ihren Händen sendete sie ihre Sinne aus und prüfte die zerstörte Stille auf eine mögliche Bedrohung. Es ist zu früh, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch es half nichts, ihr Körper reagierte auf seine eigene, von ihrem Verstand abgekoppelte Weise. Das Zittern erschwerte den Griff ihrer Hände, in ihr tobte ihr Puls in der Lunge. Es war nicht vernünftig, anzunehmen, dass alles in Ordnung war. Niemand verirrte sich einfach so hier herauf. Es gab keine Nachbarn, nur halb befestigte Pisten, umwegiges Waldgebiet. Und natürlich die Steilküste, die das Grundstück im Osten – zum Meer hin - abrupt unterbrach, als wäre dieses Stück Erde irgendwann einmal vom Rest der Welt abgetrennt und wieder neu zusammengesetzt worden. Wenn es kein neugieriger Nachbar sein konnte, der sich dem neuen Eigentümer vorstellen wollte, wer war es dann?

Er ist es nicht, er kann es nicht sein! Sie ermahnte sich erneut zur Ruhe und setzte den Bilderrahmen in die Wandhalterung zurück. Ihre Hände berührten sich schweißnass, und das lag nicht nur an dem heißen Sommerwetter, da war sie sich sicher. Das Kreischen einer Möwe drang durch das halb geöffnete Fenster neben ihr. Sie ließ sich davon ablenken und sah den aufgewirbelten Staub, der von der Auffahrt an der Fassade aufstieg. Vorsichtig, damit keine knarrende Holzbohle ihre Position verraten konnte, trat sie an das Glas, um durch den Schmutzschleier der vergangenen Jahre ohne Pflege hindurchzusehen.

»Miss Watson?«

Sie zog den Kopf zurück, als müsste sie befürchten, dass der Eindringling direkt hinter ihr stand. Doch die Stimme - fremd und unerwartet jung - war ein ganzes Stockwerk von ihr getrennt. Sie hörte sich selbst aufatmen. Nein, das klang keinesfalls bedrohlich.

»Ma’am, sind Sie da? Ich bringe Ihre Lieferung.«

Einer Ahnung folgend richtete sie den Blick abermals hinaus zur Auffahrt. Und dort, im Schatten des Kirschbaumes, fand sie den Transporter mit der Aufschrift Hannaford Supermarkets. Wie oft hatte sie kontrolliert, dass der Fahrer erst zum Abend kommen würde? Während sie ihren Spaziergang im Wald absolvierte? Er sollte die bereits bezahlte Ware einfach vor die Tür stellen. Das hier war nicht der Plan!

Die Anspannung wich endgültig. Sie durchquerte das Zimmer, diesmal ohne Rücksicht auf das Knarren unter ihren Füßen, und lehnte sich im Verbindungsflur sachte über das Treppengeländer, warf einen Blick in den Eingangsbereich.

»Ja«, rief sie hinunter. »Stellen Sie die Tüten vor die Tür, danke.«

»Alice Watson?«

Das Gesicht unten am Treppenpfosten tauchte schneller auf, als sie sich zurückziehen konnte. Sie verdrehte die Augen: Das war dumm.

»Sind Sie sicher? Dann stehen sie aber direkt in der Sonne, wollen Sie das wirklich?«, sagte er und zeigte mit schwenkender Tüte durch die geöffnete Haustür. Ein grellweißer Lichtwinkel zeichnete sich auf dem Boden ab. Mit der nächsten Bewegung wurde die braune Tüte von ihm auf der untersten Treppenstufe abgestellt. »Wissen Sie was? – Ich bringe Ihnen den Rest noch schnell!«

»Das ist nicht nötig!«

Doch da war er bereits durch die Tür hinausgelaufen. Kurz überlegte sie, ob sie sich einfach zurückziehen sollte und darauf warten, dass er verschwand. Es sprach allerdings auch nichts dagegen, die Treppe hinunterzugehen, sich die Tüte zu schnappen und in die Küche zu gehen. Er hatte sie gesehen und nichts Seltsames daran gefunden. Ein kurzes Gespräch wäre sicher in Ordnung. Das Letzte war so lange her, dass sie sich kaum mehr erinnerte. Es könnten nicht mehr als ein paar Belanglosigkeiten sein, Small Talk, aber die Stille hier im Haus – mit all den Erinnerungen – drohte sie zu ersticken.

Sie folgte ihrem inneren Drang und setzte ihre Schritte über die Treppenstufen. Jede Einzelne hatte ihren eigenen, vertrauten Klang.

Kaum dass sie die Küche erreicht hatte und sich abermals von den leeren Regalen und Schränken überzeugen konnte, traf der Lieferbote wieder mit ihr zusammen. Er platzierte zwei weitere Tüten auf der Mittelkonsole, dann blickte er sich um. Sah, was auch sie sah: sauber geputzte marmorierte Arbeitsflächen. Dazu der sperrige Unterschrank, der zur Spüle gehörte und sich mit seinem rustikalen, dunklen Holz von den anderen Schränken in weißer Hochglanzoptik abhob, aber perfekt zur Vitrine an der gegenüberliegenden Wand passte. Eine Einrichtung, wie das Haus selbst: eigensinnig, detailreich, besonders.

Wenn sie jetzt die Augen schließen und sich ganz auf ihren Geruchssinn fokussieren würde, könnte sie eine fruchtige Bolognese riechen. Sie waren beide niemals begnadete Köche gewesen, aber dieses Gericht nach seinem Rezept war die lebhafteste Erinnerung an diesen Raum.

»Sagen Sie es nicht meinem Chef, okay?«

Sie ließ die Bolognese aus ihren Gedanken verschwinden. »Wie bitte?«

»Ich wollte nichts klauen, echt nicht«, sagte er und wich ihrem Blick zur Betonung seiner Unschuld aus. »Ich habe geklingelt, aber der Strom ist aus, glaub ich.«

»Schon in Ordnung.«

Allzu schnell erleichtert, als hätte er insgeheim mit einer solchen Reaktion gerechnet, widmete er sich erneut der Inspektion des Raumes.

»Ich wusste gar nicht, dass das Haus verkauft wurde. Sieht so aus, als würden Sie gerade erst einziehen.«

Sie antwortete nicht, was ihn nicht weiter zu stören schien. Er plauderte munter weiter.

»Es stand lange leer. Ich bin übrigens Brady.«

Sie blickte auf die dargebotene Hand. In den Sekunden, die vergingen, ehe Brady, der Botenjunge, begriff, dass seine Geste nicht erwidert wurde, entschied er sich, mit einem verlegenen Lachen zu reagieren.

»Jedenfalls ist es schön, dass es jetzt wieder aufgemöbelt wird. Obwohl ...«

Sie schob einen Karton mit dem Fuß zur Seite, um den Durchgang zum Flur freizuräumen. »Obwohl was?«

Er kniff das Gesicht zusammen, schien abzuwägen.

»Nein, das wäre nicht fair ...«

»Fair?«

»Ich will Ihnen keine Angst machen.«

Sie hob erneut die Augenbrauen. Er knickte ein.

»Ich weiß nicht, was Ihr Makler Ihnen erzählt hat, aber das Haus hat ... eine Geschichte

Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile in ihrem Rücken und verschränkte die Arme.

»Ach ja?«

»Hier bei uns passiert nicht viel Aufregendes. Aber daran erinnert sich jeder.«

»Sie machen es aber spannend ...«

»John Adams, der Kerl aus den Nachrichten, sagt Ihnen der Name etwas?«

Sie räusperte sich, ehe sie tonlos antwortete:

»Wer kennt den Namen nicht?«

»Der war hier. Kurz bevor sie ihn gefasst haben. In unserem kleinen Küstenkaff, in diesem Häuschen, stand vielleicht sogar genau hier, wo wir gerade stehen. Ist das nicht verrückt?«

Obwohl sie bis eben nicht den Wunsch verspürt hatte, diese Geschichte erzählt zu bekommen, war sie jetzt doch neugierig geworden – auf seinen Blickwinkel. Sie witterte, dass es ihm unter den Nägeln brannte, seine Erzählung fortzusetzen, und dass er nur auf ein Signal von ihr wartete. Also sagte sie: »Was hat er hier gewollt?«

»Da gehen die Meinungen auseinander.«

Sie verstand, was sie von ihm bekommen würde: den üblichen Kleinstadt-Tratsch. Sie verschränkte die Arme und wartete darauf, dass er weitersprach.

»Die einen sagen, dass er sich hier verstecken wollte. Hinter ihm war ja so ziemlich alles her, was eine Polizeimarke trug. Die anderen glauben, dass es etwas mit dem alten Hausbesitzer zu tun hatte. Einige glauben, dass der ein Aussteiger aus Adams Sekte war und dass es um Rache ging. Absolut krank! Wikipedia sagt, dass 600 Leute damals draufgegangen sind. Massenselbstmord.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Alle hier bekommen immer noch eine Gänsehaut, wenn man nur den Namen erwähnt.«

Sie wollte zu dem zurück, was er nur kurz angerissen hatte. Also sagte sie in unverfänglichem Ton:

»Und der Vorbesitzer dieses Hauses ...«

»Er ist hier gestorben.« Brady hob den Arm und deutete mit dem Zeigefinger durch die Fensterscheibe, hinaus in den Garten. Das Grundstück endete abrupt dort, wo sich die Wellen des Atlantiks weiter unten gemächlich an den Strand schoben. »Er soll gestürzt sein. 50 Meter in die Tiefe – das überlebt keiner. Sie sollten da wirklich einen Zaun bauen – ist lebensgefährlich.«

»Aber es war kein Unfall?«

»Das haben sie nie aufgeklärt. Gefunden haben sie ihn auch nicht. Aber es ist wohl kein Zufall, dass dieser Killer zur gleichen Zeit hier war.«

Sie senkte abermals den Blick. »Wohl kaum, ja.«

»Manche vermuten, dass es etwas mit der Frau zu tun hat.«

Sie räusperte sich, bevor sie fragte:

»Welche Frau?«

Sie erntete ein weiteres Lächeln. Er hatte wohl Spaß daran, ihr die Gruselgeschichten seines Heimatstädtchens zu erzählen.

»Also er hat hier nicht allein gewohnt, da gab es noch diese Frau, aber die hat nie jemand zu Gesicht bekommen. Ich meine, hier oben ist es echt abgeschieden.«

»Im Haus wurde also eine Frau versteckt?«

»Sehen Sie, das ist wieder eine dieser Geschichten. Einige sagen, dass sie psychisch nicht ganz in Ordnung war und dass sie hier oben am besten aufgehoben war. Andere behaupten, sie sei entstellt gewesen und dass sie sich deswegen ins Haus zurückgezogen hat.« Er zuckte mit der Schulter. »Was auch immer davon stimmt – sie soll auch ’ne recht gute Malerin gewesen sein. Aber keine Ahnung, ich hab nie ein Bild von ihr gesehen, ist nicht so mein Ding«, schloss er mit einem Lächeln. »Es gibt Leute in der Stadt, die behaupten, dass Adams ihretwegen hier war.«

Sie ließ ihn durch die Küche umherwandern und sagte nichts, als er seine Erkundungstour fortsetzte, indem er durch die offene Flügeltür ins Esszimmer trat. Sie folgte ihm und fand ihn, wie er gerade dabei war, den Wintergarten zu betreten.

»Klingt ein bisschen nach Alfred Hitchcock, was?«, sagte er und sondierte die breite Fensterfront vor ihm. »Meine Mom arbeitet im Souvenirshop. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie sie etwas vom ›Horrorhaus‹ oben am Kliff mit ins Sortiment aufnimmt.«

Sie betrachtete seine Rückenansicht: groß und dünn, an der Grenze zur Schmächtigkeit. Seine Schultern hingen arglos herab, seine ganze Körpersprache deutete vor allem auf eines hin: neugieriges Interesse.

Ja, sie wusste, worauf er hinauswollte.

»Als Touristenattraktion?«

Er lachte zur Bestätigung. »Klar, wieso nicht? Meine Schwester hasst mich dafür.«

»Wieso?«

Er drehte sich um und grinste sie keck an.

»Googeln Sie bei Gelegenheit mal ›Owls Head‹ und ›Schulbus‹.«

Ohne ihre Erlaubnis betrat er den Wintergarten. Sie folgte ihm zwei Schritte später. Fasziniert wanderte sein Blick über die Unordnung, die sie hinterlassen hatte: Im rechten Winkel des Raumes, in der die Sitzecke aus Korbmöbeln untergebracht war, stapelte sich ein Sammelsurium aus Schüsseln, Tellern und halb vollen Gläsern. Die Couch war ein ungemachtes Bett; ein Arrangement aus achtlos zusammengeworfenen Kissen und Decken. Auf einem der Sessel, die zur Korbgarnitur gehörten, stand ein Umzugskarton – genau wie in den restlichen Räumen.

»Hier ist also Ihre Kommandozentrale«, kommentierte er das Durcheinander und richtete seinen Blick hinaus in den Garten: satte Farben, die sich der Junisonne entgegenstreckten, weiter hinten das tiefe Blau des Ozeans. »Wow«, hörte sie ihn staunen, als sie sich hinter ihn stellte und ihre Schulter an den Türrahmen lehnte. »Das nenne ich mal ’ne Aussicht.«

Als er sich sattgesehen hatte, drehte er den Kopf, um in eine bisher noch nicht inspizierte Ecke zu schauen. Sie sah nicht viel von ihm, sein Erstaunen entging ihr aber nicht, als er ihren Arbeitsplatz erblickte.

»Oh, Sie malen ja auch!«, sagte er schneller, als seine Synapsen arbeiteten. Zwei zuvor unabhängige Gedanken verbanden sich zu einem gemeinsamen. Allerdings erst nach der Hälfte seines nächsten Satzes: »Das ist ja ... verrückt.«

Sie beobachtete, wie etwas an der Art, wie er sie anschaute, dabei war, sich zu verändern. Ihr waren die verstohlenen Blicke nicht entgangen, die er ihr zugeworfen hatte, wenn er glaubte, sie würde es nicht sehen. Sie hatte sein Sondieren als das entlarvt, was es war: die Frage, ob sie schon zu alt für ihn war. Wie viele Jahre sah er zwischen ihnen? Fünf, eher zehn? Junge Leute neigten dazu, andere Personen älter, als sie eigentlich waren, einzuschätzen. Er konnte freilich nicht ahnen, dass selbst eine weniger schmeichelhafte Deutung nicht der Wahrheit entsprach. Alles, was ihm blieb, war, sich auf das zu verlassen, was er sah: ihr Gesicht, das sie selbst wegen der zirkelrunden Augen, der kurzen Nase und der gleichmäßig fülligen Lippen schon immer als ein wenig puppenhaft empfunden hatte. Ein langer, schlanker Hals, der stets mit der gleichen Kette geschmückt war. Der zierliche Körper, an dem man ausladende Rundungen vergeblich suchte und doch eine harmonierende Symmetrie fand (seinen Augen nach vor allem in der oberen Hälfte). Ihre Arbeitsklamotten: ein ausgewaschenes Top mit weißen und schwarzen Farbklecksen, die sich an den nackten Armen weiter fortsetzten; dazu Jeans, moderne zwei Nummern zu groß. Ein Look ihrem Alter entsprechend. Eine Erscheinung, die zu dem passte, was fremde Augen sahen, die die Wahrheit nicht kannten. Aber jetzt war der Ausdruck der verborgenen Begierde auf seinem Antlitz weitestgehend verschwunden. Er wirkte beunruhigt und unangenehm nervös. Er versuchte, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, doch das misslang ihm, und ihre stumme Miene mit dem angedeuteten Lächeln half nicht, ihm seine Unruhe zu nehmen. Er drehte sich um und verschwendete keinen Gedanken mehr an die beeindruckende Aussicht oder an seine Neugier. Nein, so nahm sie sachte amüsiert zur Kenntnis, mit einem Mal schien er es sehr eilig zu haben.

»Also, tja ... Ich glaub, ich muss dann weiter ...«

»Danke fürs Reintragen.«

»Gern geschehen. Einen schönen Tag und viel ... nun ja ...«

»Nun ja.«

Sie ließ ihn passieren und folgte seinen eiligen Schritten in gemächlichem Tempo. Er war bereits an der Tür, als sie den Esstisch erreichte. Außerhalb ihres Sichtfeldes flog die Haustür ins Schloss.

Alice atmete tief durch. Sie zog den Zopf über ihre Schulter und ließ ihre Finger durch das Haar gleiten – ein kläglicher Versuch, ihre eigene Unruhe abzuleiten. Sie war wieder allein in diesem großen, leeren Haus.

Nachdem sie alle Einkäufe verstaut hatte, widmete sie sich dem herumstehenden Geschirr, das sich seit Tagen angesammelt hatte. Die Reste von Tee und Kaffee würden ihr einige Mühe bereiten, und es gab keinen Grund, die lästige Arbeit länger aufzuschieben. Als ihre Hände in das kalte Spülwasser tauchten und ihr Blick in den Garten fiel, überkam sie eine bleierne Schwere. Wieso war sie hierher zurückgekommen? Ausgerechnet hier? Es war nicht mehr dasselbe, ohne ihn. Alles in und um das Haus herum erinnerte sie an ihn und daran, wie es einmal gewesen war. Doch es fühlte sich nicht real an. Hier zu stehen, so zu tun, als hätte es die vergangenen 20 Jahre nicht gegeben, war falsch. Für wen zur Hölle spülte sie das Geschirr? Es würde nie wieder von ihr benutzt werden. Was für ein Unsinn! Stan ... Es ist alles meine Schuld. Der Porzellanteller rutschte ihr beim Herausheben aus der Hand und zerschellte mit lautem Klirren auf dem Küchenboden. Hunderte Scherben verteilten sich in der Küche. Sie nahm einen Besen und beseitigte das Missgeschick.

Den vierten Kaffee des Tages hatte sie, wie die drei davor, aufgrund des fehlenden Stromes kalt gepresst. Jetzt, am Nachmittag, stand die Sonne tief und die Hitze klebte unbarmherzig unter dem Dach. Sie hatte alle Fenster und auch die Verandatür geöffnet, trotzdem blieb es in den Räumen unerbittlich heiß und schwül. Die Wärme nahm ihr den letzten Funken Motivation, um an dem unvollständigen Bild zu arbeiten, also ließ sie die Leinwand unbeachtet. Sie stellte die Tasse auf den Fenstersims ab. Ohne Vorwarnung kam es über sie, die Erinnerung an die eine unabdingbare Aufgabe, die ihr noch bevorstand und von der Brady, der Botenjunge, sie abgehalten hatte: der Safe, das Testament. Noch einmal deine Schrift lesen, noch einmal deine Stimme dabei hören ... Der Gedanke daran raubte ihr für einen Moment die Luft. Sie verließ das Haus – wollte sich bewegen, um der Enge in ihrer Brust zu entkommen. Im Garten empfing sie der Duft von Lavendel und Wildblumen. Sie sog die Geräusche ihrer Umgebung auf, ließ sich vom Ruf eines Kuckucks und dem Konzert eines Froschorchesters vereinnahmen, um den Erinnerungen zu entfliehen, die sich in ihrem Kopf zu entfalten drohten. Daran, was war und was noch kommen würde. Bald ist es vorbei. Es ist eine Erlösung.

Alice öffnete die Augen, schwenkte den Blick durch den Garten, sah das nahe Meer, die verwilderte Wiese, den fremden Mann auf ihrer Einfahrt.

Im Reflex zuckte ihr Arm in die Höhe, ihre Finger griffen nach der Kette an ihrem Hals. Sie war versucht zu blinzeln, in der Hoffnung auf eine optische Täuschung, aber insgeheim wusste sie längst, dass sie sich ihn nicht eingebildet hatte. Während sich ihr Puls langsam abreagierte, arbeiten ihre Augen daran, den ungebetenen Gast zu mustern: Alter und Kleidungsstil sagten ihr, dass sie keinen Kampf zu befürchten hatte. Trotzdem versteiften sich ihre Muskeln, als würde gleich die Hölle losbrechen. Aber er stand weiterhin einfach nur da, die Hände in den Taschen seines beigefarbenen Sakkos vergraben, den Blick auf sie gerichtet, jedoch ohne Hinweis darauf, was in ihm vorging. Ein leichter Wind brachte das zurückgekämmte Grau hinter seiner hohen Stirn strähnchenweise in Unordnung. Ansonsten bewegte sich nichts. Das galt sowohl für ihn als auch für sie.

Rückzug!

Sie hörte auf ihre innere Stimme, machte auf dem Absatz kehrt und lief ins Haus zurück. Die Verandatür schlug wuchtig in ihre Fassung. Das laute Echo ließ sie zusammenzucken. Am Türblatt sank sie ein und kämpfte gegen das unangenehme Prickeln unter ihrer Haut an, als sich die kleinen Härchen darauf aufstellten und sie mit winzigen Nadelstichen traktierten, um auf eine kommende Bedrohung aufmerksam zu machen. Sie dachte über Flucht nach. Aber wohin? Und ihn überwältigen? Nein. Keine Kämpfe mehr!

Wenn Adams ihn geschickt hatte, war jedes Flehen um Gnade oder der Versuch, Zeit zu verhandeln, umsonst. Als ob dieser Teufel sich mit Menschen umgab, die in der Lage waren, so etwas wie Mitgefühl zu empfinden. Alles, was sie tun konnte, war, erhobenen Hauptes ihrem Schicksal entgegenzugehen. Dieses finale Wiedersehen würde sie nicht winselnd absolvieren.

Sie erreichte die Pforte, straffte sich und öffnete die Tür. Was sie dahinter fand, überraschte sie dann doch: Die Auffahrt war leer, und von ihrem Besucher war keine Spur auszumachen. Am Treppenende wartete ein Paket darauf, von ihr entdeckt zu werden.

Sie starrte es an, als sei es ein fremdes Artefakt; etwas, von dem sie nicht wusste, was damit anzufangen war. Zaghaft, wie ein Sprengmeister sich einer Bombe näherte, setzte sie ihre Schritte auf die unterste Stufe hinab. Es handelte sich um einen zugeschnürten, unversehrten Karton, in dem ein Paar Sneakers ausreichend Platz gefunden hätte. Ein nagelneues Paket, keine Marke, kein Adressaufkleber. Sie hob es an und drehte den Quader in ihrer Hand. Auf der Frontseite war mit schwarzem Filzstift eine Ein-Wort-Notiz vermerkt: »INGA«. Sie las noch einmal, prüfte, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Aber es gab keinen Zweifel: Irgendwie war es dem Fremden gelungen, sie ausfindig zu machen. Und als wäre das allein nicht schon beunruhigend genug, hatte er Informationen über gewisse Vorgänge in ihrem Leben, von denen niemand etwas wissen sollte.

Ihre Selbstbeherrschung hielt bis zur Schwelle zum Esszimmer. Dort riss sie den Deckel vom Karton und prüfte den Inhalt.

Fotos?

Ihre Finger wühlten sich durch das Sammelsurium aus Fotografien, akkurat in Schutzhüllen verpackt und ohne erkennbare Ordnung. Das Oberste nahm sie heraus und schaute auf die Szene, die es abbildete: ein Flughafen, eine Gruppe Leute, und am unteren Rand verkündete eine eingravierte Bildunterschrift: INGA, Honduras. Das Foto flog zurück in den Karton. Am Esstisch angekommen ließ sie das Paket auf die polierte Oberfläche fallen, sodass der Inhalt in eine neue Unordnung gestürzt wurde. Sie stemmte beide Hände gegen die Tischkante und ließ den Kopf zwischen die Schultern sinken. Es erübrigte sich, die anderen Bilder anzusehen: Sie kannte sie bereits; sie wusste um die Zeiten und die Anlässe, zu denen die Fotos entstanden waren. Nicht zuletzt, weil sie selbst abgebildet war – auf jedem Einzelnen.

Alice zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Hatte sie wirklich so naiv sein können? Hatte sie sich niemals gefragt, ob ihr unredliches Dasein tatsächlich unentdeckt blieb? Und war nicht genau das immer ihre Angst gewesen?Entdeckt zu werden? Aufzufliegen? Sie rätselte über die Botschaft. Warum diese Fotos, ausgerechnet jetzt? Ein unangenehmes Kribbeln setzte sich in ihrem Nacken fest. Werde ich verfolgt? Sie rieb die Stelle, die weiterhin Signale des Unwohlseins aussendete. Zum dritten Mal am heutigen Tag hatten sich die kleinen Härchen auf ihrer Haut aufgestellt, erinnerten sie erneut daran, dass es einen wirklichen Schutz vor der Welt da draußen nicht gab.

Es waren fünfundzwanzig Bilder, die als fotografisches Mosaik vor ihr ausgebreitet lagen. Ein Zeitstrahl ihrer eigenen Geschichte. Es war nicht zu leugnen, dass der Mann im beigen Sakko wusste, wo sie zu finden war. INGA, natürlich: die einzige Gelegenheit, bei der sie in die Bredouille geraten war, sich in eine offizielle Liste eintragen zu müssen. Ein Bild in der Mitte zog ihre Aufmerksamkeit an: Ein munter dreinschauendes Trio blinzelte in die Kamera. Ihr letzter gemeinsamer Einsatz – ein Abschied, dem ein Neuanfang gefolgt war. Alter Freund, hätte es doch nur einen Weg gegeben, dir zu erklären, was so unbegreiflich blieb, sinnierte sie, als sie das Konterfei ihres einstigen Weggefährten betrachtete. Sie hatte ihn immer bewundert, für seine Courage und die Selbstlosigkeit, mit der er sich seiner selbst gestellten Aufgabe gewidmet hatte. Sie dachte an die Auszeichnungen und Würdigungen, die ihm in den späteren Jahren zuteilgeworden waren. Etwas, das er nie erwartet, aber sich mehr als verdient hatte. Und an der anderen Seite: Stan. Alice fuhr mit der Fingerspitze über seine Abbildung und gestattete der Traurigkeit, sich zu dem Gefühl der tiefen Dankbarkeit dazuzugesellen. Wie nah doch Freud und Leid beieinanderlagen: dieser ganz besondere Mensch und gleichzeitig der wundeste Punkt in ihrem Herzen. Wie jung er auf dem Foto war, wie hoffnungsvoll er seinen Blick gen Zukunft gerichtet hatte. Wie schrecklich ungerecht sein Ende war ...

Sie zupfte das Bild als ein Teil vom Puzzle ihres Lebens vom Tisch, bemerkte erst jetzt, dass auf seinem Rücken ein Stück Papier klebte. Sie wendete das Foto und fand den blauen Klebezettel, der mit einer handschriftlichen Notiz versehen war:

 

»Einst halfen Sie unzähligen Menschen, jetzt möchte ich Ihnen helfen. Ich kenne Ihre Geschichte und auch die von Stanley Houseman. Sie müssen sie erfahren! Ich werde ab zehn Uhr am Abend am Leuchtturm auf Sie warten.

Bitte trauen Sie sich.«

 

Hilfe? Jemand wollte ihr helfen? Helfen wobei?

Was für ein großzügiges Angebot, dachte sie und gab einen zischenden Laut von sich. Sie zog die Haftnotiz vom Foto und hämmerte es mit der flachen Hand auf den Mahagonitisch.

Ich habe Frieden gefunden, verdammt!

Doch eine andere Stimme in ihr kannte die Wahrheit: Du hast Angst.

Sie wusste selbst, wer sie war. Vor allem wusste sie, was sie war. Alice funkelte die Haftnotiz an, als könnte sie ihr eine weitere, noch verborgene Nachricht entlocken. Das, was es erforderte, dieser Einladung nachzukommen, war für sie in ihrem desolaten Zustand nicht aufzufinden. Mut? Wie mutig konnte schon jemand sein, der nur darauf wartete, dass sein Mörder über die Türschwelle trat, um den letzten Streich zu vollführen? Hoffnung? – Sie verschwand gemeinsam mit dem Mann, den sie liebte. Was also blieb noch übrig?

Ihr Fingernagel zeichnete bleibende Kerben in das blaue Papier, sie unterstrich die Handschrift darauf, kreuzte sie durch, kreiste sie ein. Unter dem Druck ihrer zupackenden Faust verschwanden die geschriebenen Worte in einem Papierknoten, avancierten zum Wurfgeschoss und flogen als Ausdruck ihrer Entschlossenheit gegen die Esszimmervitrine.

Ich bin fertig mit Geschichten!

Kapitel 2

Im Gebiet des Nigerdeltas, Nigeria/Afrika

49 Jahre zuvor

Zwei Tage war sie durch den Dschungel gelaufen. Sie hatte geschwitzt, bis ihr der Schweiß in die Stiefel gelaufen war. Hatte sich von den messerscharfen Blättern des Urwaldgrüns traktieren lassen und ein ums andere Mal anhängliche, tierische Urwaldbewohner abwehren müssen, um ihrem Ziel näher zu kommen: John Adams. Schritt für Schritt, den Blick starr auf die Kompassnadel und mit den Gedanken bei dem Dolch in ihrem Rucksack, kam sie ihrem Ziel näher. Doch ehe sie sich genügend an die fremde Flora und Fauna gewöhnt hatte, war sie bereits auf die erste Hürde getroffen. Ein Trupp Söldner hatte ihr den Weg versperrt. Ein kurzer Kampf, ein geschicktes Ablenkungsmanöver ihrer Gegner und einen unbedachten Schritt nach hinten später, war die Erkenntnis bitter: Alles umsonst.

Sie erwachte im Inneren einer Blechtrommel. Ein Geräusch wie herunterfallende Kisten begleitete ihr Aufwachen, während sie fühlte, dass sie ohne eigene Anstrengung bewegt wurde. Ein grobes Schaukeln setzte ein. Wie ein Kieselstein war ihr Körper den Fliehkräften ausgesetzt, die sie durch die fensterlose Zentrifuge schleuderten. Sie versuchte Halt zu finden, doch es gab nichts, in das sich ihre Finger hätten krallen können. Die Abwesenheit von Helligkeit erschwerte ihr zudem die Orientierung. Sie war umzingelt von Metallwänden – das sagten ihr ihre Hände, die sie ausstreckte, um die Begrenzung auszuloten. Unter ihr brummte ein Motor, der sie immer weiter in eine unbekannte Richtung trug.

Ich fahre?

Der Gedanke erschloss sich ihr gerade, als das Fahrzeug – dessen blinder Passagier sie war – mit einem letzten Ruck zum Stehen kam. Sofort gab sie Spannung in ihre durchgeschüttelten Gliedmaßen und kam in einen halbwegs abwehrbereiten Hockstand. An den Linien der Vorderwand gab eindringendes Licht ihr die Ahnung, dass sich dort der Ausgang aus ihrem Gefängnis befand. Alice hob die Hände schützend vor ihr Gesicht, machte sich auf einen Kampf gefasst. Die Türen der Ladefläche öffneten sich und Tageslicht blendete sie.

»Was zum …?!«

Eine von Irritation gekennzeichnete Bariton-Stimme, die die gleiche Sprachfarbe wie sie verwendete, drang ins Innere hinein. Wie ein eingesperrtes Tier, das sich seinem Jäger stellen musste, zwang sie sich dazu, zur Öffnung zu schauen. Da war ein Schatten, der den Großteil des Tageslichts abschirmte. Die Arme hielt er von sich gestreckt, wohl um ein Zufallen der Türen zu verhindern. Die Sonne stand ihm im Rücken, verbarg sein Gesicht und gab nicht mehr als Umrisse einer eindrucksvollen Statur preis.

Einem Angriff, das verstand sie sofort, hätte sie nicht allzu viel entgegenzusetzen. Trotzdem ballte sie ihre Hände zu Fäusten und hob sie ihm entgegen.

Die Art, wie er seine Arme vorsichtig vom Rahmen löste und sie vor sich streckte, erinnerte Alice an einen erfahrenen Dompteur, der einen Neuzugang begrüßte.

»Du kannst die Hände runternehmen«, hörte sie ihn beschwichtigend sagen. »Dir passiert nichts, versprochen.«

Was galt das Versprechen eines Fremden? Erst recht hier, im Feindesgebiet?

Sie entließ etwas Spannung aus ihren Fäusten, um Gelegenheit für eine Frage zu schaffen.

»Wo bin ich?«

Er hatte sich keinen Zentimeter gerührt. Es gefiel ihr nicht, dass er alles von ihr sah, während ihr nur eine erstarrte Silhouette blieb.

»Im Lager von INGA.«

»Wer ist INGA?«

Er drehte sich etwas herum, ergänzte seine Erscheinung mit dem Profil eines Gesichtes. Stirn, Nase, Lippen, Kinn: klar definierte Konturen, die der Wechsel von hell und dunkel, in dem er stand, besonders betonte.

»Wenn du aussteigst, zeig ich es dir.«

Sein Angebot kam ohne Unterton daher, sie beschloss, es anzunehmen. Im Kriechgang bewegte sie sich auf die Tür zu – zögernd, weil sie abwarten wollte, ob er ihr Platz machte. Er trat einen Schritt zur Seite und gab die Öffnung für sie frei. Seine Hand, die wohl ihren Ausstieg erleichtern sollte, ignorierte sie. Sie sprang, und ihre Stiefel landeten auf getrockneter Erde, deren erste Schicht staubig aufwirbelte. Hinter dem Nebel baute sich eine geschäftige Kulisse auf, die von ihren Augen erfasst werden wollte: Steril wirkende Zelte mit weißem Bespann, die in einer geraden Linie zueinander aufgestellt waren. Im Gegensatz dazu schien alles Lebende in Bewegung zu sein: Männer, Frauen, Kinder vermischten sich zu einem einheitlichen Kaleidoskop, das von den bunten Gewändern, die sie trugen, bestimmt wurde.

Leute. Sehr viele davon. Sie musste sich zwingen, sie nicht zu zählen. Ein einziger Blick genügte, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht hier sein sollte.

»International Network for Global Aid: INGA«, fuhr er schließlich fort.

Bis eben war sie noch damit beschäftigt gewesen, sich auszumalen, was alles passieren könnte, wenn sie nicht auf der Stelle zusah, dass sie von hier wegkam. Aber der Stimme neben ihr gelang es, sie von ihren Gedanken abzulenken. Sie sah auf: Was der Schatten bisher verborgen hatte, war ihr nun, im Licht, in aller Direktheit zugewandt: ein waches Paar Augen, deren tiefblaues Zentrum mit suchendem Blick auf ihr Gesicht gerichtet war. Vielleicht eine Antwort auf seine erste, unvollendete Frage, mit der er ihr Momente zuvor begegnet war. Abgesehen davon fügte sich sein sehender Mittelpunkt harmonisch in den Rest von ihm ein: kurzes Haar, das selbst in der Sonne tiefschwarz blieb, aber an den Übergängen eine leichte Wellenneigung verriet. Es war offenbar kürzlich geschnitten worden – darauf deutete der weiße Rand am Haaransatz hin. Ansonsten wies seine Haut einen goldigen Schimmer auf, ein Anzeichen dafür, dass sie daran gewöhnt war, der Sonne ausgesetzt zu sein.

»Vertriebene aus ihren Dörfern«, setzte er erneut an und schirmte mit seiner Hand die gleißende Helligkeit ab. »Hier erhalten sie Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Hilfe. Das Allernötigste also.« Dann zwinkerte er. »Hast du dich im Dschungel verlaufen? Bist du deshalb vom Hang gestürzt?«

Sie erinnerte sich wieder: an das Gefühl zu fallen, die scharfen Felskanten, die Hilflosigkeit. Vor allem aber an das Gefühl, wie von Messern in tausend Teile geschnitten zu werden, während sie in die todbringende Tiefe fiel.

»Ich habe etwas gesucht.«

Er nickte und hob die Mundwinkel.

»Dir ist klar, dass du mit diesen Verletzungen nicht hättest überleben können?«

Alice parierte seinen Blick ohne Regung.

»Ja.«

Entgegen ihrer Erwartung zuckte er nur kurz die Schultern.

»Komm, ich bringe dich zu unserer Einsatzzentrale.«

»Nein.« Ihr Ton musste ihn zweifelsfrei überrascht haben. Etwas sanfter fügte sie hinzu: »Ich kann nicht. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«

Sie erntete ein Stirnrunzeln.

»Hast du mal ... an dir herabgesehen?«

Hatte sie nicht. Sie hatte nicht einen Moment damit vergeudet, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie aussah. Womöglich hätte sie das tun sollen. Immerhin war sie gute hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Und tatsächlich: Als sie ihren Blick senkte, verstand sie. Sie hatte sich informiert, ehe sie einen Fuß in den Dschungel gesetzt hatte. Hochgeschlossene Kleidung und festes Schuhwerk – trotz der Witterung. Für ihr Vorhaben hatte sie ein Hemd gewählt, das ihr genügend Bewegungsfreiheit bot, und eine passende, elastische Hose, dazu Stiefel, die sie wie eine zweite Haut geschnürt hatte. Viel, so erkannte sie, war davon nicht übrig geblieben. Die Ärmel des Leinenhemdes waren wie durch die Hand eines Samurais bis auf die Höhe ihrer Ellenbogen aufgeschlitzt, nur zwei einsame Knöpfe hielten das Nötigste ihres Oberkörpers verdeckt. Ihre Hose war an den Knien aufgerissen, als wäre sie in das Mahlwerk einer Mühle geraten. Getrocknetes Blut und Erdkruste waren als eine Art bizarres Blumenmuster in den Stoff gepresst. Ihre Erscheinung als miserabel zu bezeichnen wäre noch geschmeichelt gewesen.

»Lass uns dir mal was zum Anziehen besorgen«, sagte er, dann schraubte er sein schattenspendendes Kreuz vor sie. »Wir stehen hier nur im Weg«, ergänzte er.

Einem alten Muster folgend, provozierte sein diktierter Kurs Widerstand in ihr. Doch wie er so vor ihr stand, darauf wartend, dass sie seinem vernünftigen Vorschlag folgte, bot er ihr keinerlei Angriffsflächen. Ihr war bewusst, dass sie für die meisten auf den ersten Blick wie ein schutzbedürftiges Rehkitz wirkte. Die Art, wie er sie ansah, war aber anders. Sondierend irgendwie, als ahnte er schon längst, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Gut, sie war ihm allerdings auch nur in Fetzen bekleidet und ohne Vorwarnung vor die Füße gefallen. Unter diesen Umständen konnte sie kaum erwarten, dass er ihr vorbehaltlos begegnete. Da sie für ihn eine lebende Tote war, war ein gewisses Maß an Skepsis wohl angebracht.

Sie schloss zu ihm auf. Eine direkte Reaktion darauf konnte sie bei ihm nicht feststellen.

»Zu welchen Streitkräften gehört ihr?«, fragte sie.

»Zu gar keinen. INGA ist eine rein private Organisation.«

»So? Jemand sponsort euch also?«

Er schlug einen Pfad ein, der ruhiger gelegen war und etwas von der Lautstärke der Gespräche und den Geräuschen der Geschäftigkeit nahm.

»Sozusagen«, erklärte er und deutete ihr, dass der Weg sie auf eine Anhöhe führen würde. Auf deren Spitze erkannte Alice ein einzelnes Zelt, das dort oben thronte und in seiner Funktion an einen Wachturm erinnerte. »Neutralität ist der Türöffner: Nur deshalb erlaubt man uns, hier zu sein. Politischer Wille ist angesichts der Lage fehl am Platz: Hier geht’s ums nackte Überleben.«

Es hatte nur weniger Schritte bedurft, um die Menge aus Jung und Alt hinter sich zu lassen. Der einfache Trampelpfad gehörte ihnen ganz allein. Sie reckte den Hals, war neugierig darauf, welcher Stimmung er war. Er wirkte ernst.

»Was hier passiert, ist das Ergebnis davon, wenn man einem Einzelnen zu viel Macht gibt. Die Separatisten scharren sich um einen Anführer, der ihnen Unabhängigkeit und einen eigenen Staat verspricht. Dafür löschen sie ganze Dörfer aus. Aber letztlich geht es nur um die Vorherrschaft über das Öl am Delta. Und darum, verfeindete Clans loszuwerden.«

»Und was genau macht ihr hier?«

»Das politische Patt führt dazu, dass sich niemand um die Zivilisten kümmert. Das Gebiet hier ist ein Pulverfass: Jede staatliche Einmischung droht an der Lunte zu zündeln. Es bewegt sich nichts, aber die Leute hier können nicht weg oder noch länger warten: Sie sterben. Durch den Krieg, Hunger, Durst oder durch die Minen. Wir sind eine Gruppe von Ärzten, Ingenieuren und Experten vom Katastrophenschutz. Ein Mann namens Bastien Koltès hat diese Initiative ins Leben gerufen und Freiwillige für diesen Einsatz gesucht.«

»Was davon bist du?«

»Von Medizin habe ich keine Ahnung, von Katastrophen schon mehr«, sagte er und warf ihr mit einem Lächeln im Mundwinkel einen kurzen Blick zu. »Ich kümmere mich um die Minen, liefere Päckchen aus und passe ein bisschen auf Bastien auf.« Ohne Vorwarnung blieb er stehen und baute sich vor ihr auf, seine Hand schnellte hervor. »Ich hab mich noch nicht vorgestellt: Ich bin Stan.«

Sie betrachtete den Schmutz an der Innenfläche seiner Hand. Ohne sie berührt zu haben wusste sie, dass sie sich rau und fest zugleich anfühlen würde.

»Äh..liz. Alice.«

Sein Lachen erbebte im Stakkato.

»Ist es dir gerade erst wieder eingefallen?«, fragte er und grinste breit. »Na ja, nach so einem Sturz kann schon mal was durcheinandergeraten, was, Äh-liz?«

Wann hatte sie zuletzt jemandem ihren Namen genannt? Ihren wirklichen Namen? Und hätte sie das besser nicht tun sollen?

Zu spät.

»Also: Was treibt dich hierher? Keine gute Gegend für eine einsame Seele«, sagte er und setzte wieder in einen gemächlichen Gang ein. »CIA, MI6 ... KGB?« Er hob eine Braue.

»Ich bin gelernte Einzelgängerin.«

»Okay«, er zog das Wort unnötig in die Länge. »Also kein geheimes CIA-Experiment.«

»Bitte?«

»Deine Verletzungen.« Er führte sie an einer Einbiegung vorbei, sie sah den geschlossenen Zelteingang am Ende des Weges. »Kein Mensch überlebt einen solchen Sturz«, setzte er noch nach.

»Was hast du gesehen?«

Wieder dieser sondierende Blick.

»Ich war gerade auf dem Weg zu unserem zweiten Lager, da hab ich die aufgeschreckten Vögel am Hang bemerkt. Dort hab ich dich dann gefunden. Du sahst so aus, als hättest du ein paar Felsstücke abbekommen. Zuerst glaubte ich, du wärst tot, aber du hast geatmet.« Er sah zu Boden. »Ich hab trotzdem nicht daran geglaubt, dich lebend ins Lager zu bringen.«

»Das war nicht nötig.«

»Ja, weißt du, eigentlich lasse ich schwerverletzte Frauen immer hilflos im Dschungel herumliegen. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, ich muss wohl zu viel Sonne abbekommen haben.«

Sie funkelte ihn düster an. »Ich habe keine Hilfe benötigt.«

»Ja, ganz offensichtlich«, antwortete er und hielt ihrem Blick stand.

Sie war sich nicht sicher, ob seine Bemerkung ernst gemeint war, doch sie spürte sein zunehmendes Misstrauen, das mindestens genauso stark war wie seine Neugier.

Sie entschied, das Beste aus der misslichen Lage zu machen. »Dieser Anführer, von dem du gesprochen hast ...«

»Die Einheimischen nennen ihn ›Eze‹«, unterbrach er sie. »Er hält sich irgendwo im Süden versteckt und lässt sich von seinen Bluthunden bewachen. Kaum jemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Das Gerücht geht um, dass es sich um einen Weißen handelt.« Er drehte sich erneut zu ihr. »Aber das weißt du sicherlich.«

Vorsicht!, warnte ihr innerer General sie und befahl eine neue Strategie: Ignorieren.

»Geht es etwas genauer, also das mit dem Standort?«

Seine Augen – sie suchten weiter nach dem, was sie so beharrlich verbergen wollte.

»Ich bin mir sicher, dass dahinter eine interessante Geschichte steckt«, sagte er und klang fast schon verträumt dabei.

Vor dem Zelteingang blieben sie beide in stummer Absprache stehen.

»Sagen wir, du und ich arbeiten im selben Geschäft: Tyrannenjagd«, sagte sie, überzeugt davon, das letzte Wort errungen zu haben.

Dann zog sein Arm den Vorhang zur Seite und gab den Blick ins Innere des Zeltes frei. Auf das, was sie sah, war sie nicht vorbereitet: Sie versuchte sie zu zählen, doch jedes Mal, wenn sie damit beginnen wollte, lenkte sie das Leiden und Entsetzen in den Gesichtern derer ab, die sie erblickte. Die Betten waren voll belegt: Mit Männern auf der linken Seite und Frauen – durch ein langes weißes Laken getrennt – auf der rechten Seite. Sie war weder auf fehlende Gliedmaßen noch auf den Geruch von Schweiß, Blut und Erbrochenem vorbereitet. Auch nicht auf den leeren Blick in den Augen der Verletzten und auf ihre offenen Münder - ahnend, dass ihre Körper schlicht zu schwach waren, um ihren Schmerzen Ausdruck zu verleihen. Auf nichts davon, was dieser groteske Anblick ihr darbot: erbarmungsloses, ungefiltertes Leiden.

Neben ihr trat Stan ins Zelt hinein. Sein scharfes Aftershave war mit einem Mal eine Wohltat für ihre Nase.

»Nein«, hörte sie ihn ernst, aber beherrscht sagen. »Unser Business ist, glaube ich, ein anderes.«

 

Der Abend brach ohne Abkühlung über das Camp herein. Sie hatte sich eine abgelegene Stelle am Dorfrand gesucht und brütete unruhig über die Ereignisse des zurückliegenden Tages. Sie war nicht dumm und wusste genau, was es bedeutete, hier, mitten im Kriegsgebiet, zu sein. Doch sie hatte gehofft, dass ihr Aufenthalt sich auf das Wesentliche beschränken würde und dass sie allenfalls ein oder zwei Tage bleiben müsste. Bestenfalls im Schutze des Dschungels. Auf direktem Wege zu ihrem Zielobjekt. Der außerplanmäßige Halt im Dorf - irgendwo tief im Nigeriadelta – ließ ihr Zeit, über ihre Planung nachzudenken.

Zu viel Zeit, zu viele Gedanken.

Ihre zuvor wilde Entschlossenheit bekam beim Anblick der Verletzten zarte Risse. Grausam waren sie zugerichtet - manche halb aufgeschlitzt, andere so verstümmelt, dass sie kaum mehr als Menschen zu erkennen waren. Doch das wirklich Entsetzliche an diesem Konflikt offenbarte sich ihr erst, nachdem sie ihren Streifzug zurück ins Dorf fortgesetzt hatten. Erst da wurde ihr bewusst, welch unerträgliches Leid selbst die Unversehrten erdulden mussten. Die Blockade, die die Separatisten provozierten, führte dazu, dass keine Güter in die Dörfer des Deltas geliefert werden konnten. Keine Nahrungsmittel, kein sauberes Wasser, keine Medikamente. Und das Wenige, das zur Verfügung stand, wurde während der ständigen Angriffe von den verschiedenen Söldnergruppen geraubt. Die Lebensgrundlage Tausender Menschen war zerstört. In Strömen trafen sie hier ein: ausgemergelt, traumatisiert und völlig erschöpft. Sie alle hatten Mütter und Väter verloren, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter. Am schlimmsten war das Leid der Kinder. In ihren Augen war das hoffnungsvolle und unschuldige Strahlen verschwunden. Jetzt waren ihre Blicke so leer wie ihre Mägen, in denen sich Gase bildeten, die ihre hungernden Leiber ballonartig anschwellen ließen.

Wie konnte sie nicht darüber nachdenken?

Ein Schatten erhob sich vor ihr, er bedeckte das Notizbuch in ihrer Hand.

»Du malst?«

Alice hob den Blick von ihrer Bleistiftskizze und schaute in ein Paar wachsamer blauer Augen.

»Nein. Schon länger nicht mehr«, erklärte sie und klappte das Buch zu, um es neben sich auf den Stein zu legen.

Stans Gesicht, in dem sich Ruhe und Geduld spiegelten, war mit Schweiß bedeckt. In der Hand trug er eine Schüssel, die mit einer Art Haferbrei gefüllt war. In seinem ungepflegten Bart befand sich der Staub von getaner Arbeit. Sie versuchte sein Alter zu schätzen und fand in seiner Miene beides gleichermaßen: Jugend und Erfahrung. Irgendwie glaubte sie Verzicht und Entbehrungen zu erkennen. Womöglich war er jünger, und das Leben hatte sein Jungsein überschrieben. Mitte dreißig, legte sie sich fest.

»Was verschlägt einen Typen wie dich hierher?«

Er grinste verkniffen, ließ sich lange Zeit für seine Antwort.

»Korea, denke ich.«

»Das Land oder der Krieg?«

»Beides. Ich war in der Armee – Air Force.« Er lächelte, doch es wirkte unfrei. »Ich bin in New York aufgewachsen, Hell's Kitchen – keine einfache Gegend. Die Gesetze dort sind ziemlich simpel: Entweder du hast nichts und wirst auch nie etwas haben oder du schaust dir von ein paar Jungs ab, wie du an Geld kommen kannst, verstehst du?«

Tatsächlich, New York.

»Was ist passiert? Bist du in die falschen Kreise geraten?«

Stan verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte sein Gewicht auf die Seite. »Dazu kam es nicht. Ich wurde rechtzeitig volljährig und bin direkt zur Army gegangen.«

Er stand nahe genug, dass sie mehr von ihm wahrnehmen konnte als das, was ihre Augen aus der Distanz sahen: Das kakifarbene Hemd hatte er über die Ellenbogen geschlagen, in den Härchen seiner Arme hingen Staub und getrocknete Erdpartikel, seine Fingernägel aber waren sauber. Dann war da sein Geruch nach Rasierwasser und Motoröl. Seine ganze Aura versprühte eine gewisse Autorität. Es war nicht unangenehm. Ganz und gar nicht.

»Und, hat Korea alles besser gemacht?«

Wenn er so lächelte wie jetzt gerade, wirkte er glaubhaft weise.

»Nicht ein bisschen«, erwiderte er im Plauderton.

»Du hast die Army verlassen?«

Er nickte.

»Aber das Schlachtfeld bleibt«, er tippte gegen seine Stirn. »Hier drin.«

»Aha, und was soll dann das hier für dich sein? Irgendeine verdrehte Art von Traumabewältigung?«

Ihre harsche Art rüttelte nicht an seiner Geduld.

»Als Soldat bist du die ausführende Hand irgendwelcher politischer Entscheidungen. Du nimmst dein Gewehr oder deine Granate oder was auch immer und beginnst fremde Leute umzubringen. Und dann kommst du nach Hause, dein Präsident hängt dir ein paar Orden an die Uniform, klopft dir auf die Schulter und schickt dich im gleichen Atemzug in das nächste Kriegsgebiet. Dort tötest du dann wieder irgendwelche Männer, die vielleicht auch schon ein paar Orden an der Brust hängen haben. Und so geht das immer weiter.«

»Oh, ich verstehe«, sagte sie kühl. »Du hast die Jobbeschreibung nicht richtig gelesen.«

Gnädig blickte er zu ihr herüber.

»Das Problem daran ist, dass der Job nie beendet ist. Es kommen immer wieder neue Böse aus irgendwelchen Erdlöchern gekrochen, und ehe du dichs versiehst, hast du mehr Leuten den Garaus gemacht als anderen die Hand geschüttelt.«

»Ist das nicht der Preis, den du dafür zahlst, dass du die Hilflosen beschützt?«

»Ja, aber vielleicht ist er zu hoch.«

»Irgendjemand muss ihn bezahlen, wenn es so etwas wie Sicherheit geben soll ...«

»Also bist du die Gute?«, fragte er herausfordernd, aber besonnen.

»Das ist eine dumme Frage.«

»Wieso?«

»Weil es keine Rolle spielt.«

»Nicht?«

»Leute wie Eze sind das Böse, und sie müssen aus dem Spiel genommen werden.«

»Aus dem Spiel, was für ein Spiel?« Offenbar war Stan doch dazu fähig, Überraschung zu zeigen. »Was macht aus dir die Gute, wenn du doch genauso bereit bist zu töten wie er?«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen vor Wut.

»Du glaubst also, ich bin wie er?«

»Ich kenne dich nicht«, gab er unerwartet unnahbar zurück. »Ich kenne deine Absichten nicht, und ich weiß nicht, welche Dämonen dich dazu antreiben, durch den afrikanischen Dschungel zu streifen, um einen einzelnen Mann zu töten.«

»Ein Mann, der für den Tod von Tausenden verantwortlich ist.«

»Ja, und was dann? Glaubst du, danach erledigt sich das? Ich sag dir was: Ja, Eze ist ein Mörder. Aber sein Tod wird nichts an der Situation hier ändern: Da kommt einfach nur ein neuer Warlord, und das Sterben geht weiter.«

Ein zynisches Kichern entfuhr ihrer Kehle.

»Wenn das alles so sinnlos ist, was machst du dann hier?«

»Ich bin hier, weil ich erkannt habe, dass das Einzige, was man diesem Unrecht entgegensetzen kann, das ist: Die Leben zu schützen, die mittendrin sind. Dort zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Und ich meine echte Hilfe für die Menschen, die für die anderen nur Kollateralschäden sind. Weißt du, was mit dir passiert, wenn du lang genug auf dem Schlachtfeld warst? - Es macht dich und den Rest Seele in deinem Leib kaputt, du verrohst und wirst zu einem zynischen Kotzbrocken.« Als er fertig war, sah er sie mit fester Miene an, sein Blick drohte sie zu durchbohren. »Und irgendwann ist man nicht besser als das Böse, das man eigentlich besiegen wollte.«

Sie schwiegen lange, schließlich setzte er sich sogar neben sie. Doch sie hingen beide ihren eigenen Gedanken nach. Er unterbrach sie nicht, sondern wartete geduldig darauf, bis sie sich wieder regte.

»Manche von uns haben keine Alternative.«

Er stieß einen gedehnten Atemzug aus, ehe er antwortete: »Einer aus meiner alten Truppe konnte am Ende nur noch mit eingeschaltetem Radio einschlafen. Es war so laut, dass seine Nachbarn sich beschwerten. Er hat sich letztes Jahr erschossen«, schloss er mit niedergeschlagener Stimme. Dann sprang er auf, so plötzlich, dass Alice zusammenzuckte. »Hilft dir deine Ausrede beim Einschlafen?«, fragte er und sah auf sie hinab. »Oder brauchst du auch Nebengeräusche, um deine Gedanken nicht hören zu müssen?«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Daher beließ sie es dabei, ihn finster anzustarren. Er deutete auf die Schüssel, die er neben ihr auf dem Felsen abgelegt hatte.

»Du solltest was essen, du hast einen weiten Weg vor dir.«

»Was soll das heißen?«

»Ich hab mir die Koordinaten von Ezes vermutetem Verschlag besorgt.« Er reichte ihr die Notizen. »Wenn du also keine Alternative hast, ist das dein Weg.«