Leseprobe Der Tote von Wynden Manor

Wie eine Statue

Samstag, 20. Oktober

In der Senke eines der zahllosen, sanft geschwungenen Hügel Dartmoors, die Tors genannt wurden, hatte jemand eine sitzende Statue platziert. Sie thronte erst seit einem Tag in dem Wäldchen, noch fremd und ungewohnt, den Augen und Nasen umherstreifender Tiere ausgesetzt. Alte Eichen und Ahornbäume umgaben das Kunstwerk, das weiß durch das herbstlich bunt gefärbte Blattwerk des dichten Unterholzes schimmerte.

In der Nacht zuvor war Starkregen auf den Boden und das Standbild geprasselt, fast so als ob der Guss eine neue Sintflut einläuten wollte. Selbst jetzt, nachdem die Morgensonne durch die Wolken gebrochen war, dampfte der Boden noch.

Weitab von dem Hügel roch es nach feuchter Erde und klarer Luft. Doch je näher man der Idylle kam, umso stärker trat ein widerlich süßer Geruch hervor.

Insekten surrten und schwirrten um die einsame Statue herum, deren Material bereits abbröckelte. Eine Krähe hockte auf dem Kopf des Sitzenden und hämmerte mit ihrem Schnabel gegen den brüchigen Gips, in dem sie einen Spalt entdeckt hatte. Darunter schimmerte etwas und erregte das Interesse des Vogels.

Als Vorbild für den Sitzenden mochte der berühmte Denker Rodins gedient haben, vielleicht auch die Darstellung eines modernen Performancekünstlers oder eine griechische Götterstatue. Doch die Ausführung des Kunstwerks war grob. Es zeigte unbeholfene, wie von den Händen eines Kindergartenkindes geformte Gesichtszüge.

Die Macht des Regens hatte einen Teil der Hülle weggespült. Auf dem Boden um die Statue herum lagen hinuntergeschwemmte weiße Stücke und Bröckchen. Das Unkraut zu Füßen der Statue war von mit Gips gefärbtem Wasser getränkt, das in der Regennacht wie Spuren weißer Tränen im Grün den Hügel abwärts geflossen war.

Ein freigelegter menschlicher Zeh lugte aus dem beschädigten Material. Eine emsige Ameise krabbelte zielstrebig in die Öffnung, aus der er hervorschaute. Eine Fliege ließ sich auf dem pedikürten Zehennagel nieder und putzte ihre Beine. Die Krähe flatterte auf, als ihre Schnabelhiebe Erfolg zeitigten und ein Stück Gips wegbrach. Es stürzte zu Boden, plumpste weich auf und zerfiel. Unschlüssig kreiste der Vogel über dem Toten. Nachdem keine weiteren Brocken folgten, landete er auf der eingegipsten Schulter der Leiche.

Aufmerksam betrachtete die Krähe das zum Teil freigelegte Gesicht. Der Nasenansatz und ein Stück bleiche Haut kamen zum Vorschein. Dazu die Augenhöhle und eine durch eine kleine Narbe verunzierte dunkle Braue.

Die Krähe legte den Kopf schief, musterte den Toten und hackte entschlossen zu. Nur selten tauchten Menschen in dieser Gegend des Parks von Wynden Manor auf. Wer sollte sie also bei ihrem Mahl stören?

Sir Charleston

Sonntag, 21. Oktober

Lady Persephone Temper saß in ihrem Arbeitszimmer, das früher als Besenkammer des Herrenhauses gedient hatte: Staubwedel aus weichen Straußenfedern, Schrubber, Wischmopp und allerlei Putzzeug waren längst aus dem langen schmalen Raum verbannt worden, der nicht gerade als repräsentatives Büro gelten konnte. Aber dank eines Fensters wirkte es hell und licht. Als Kind hatte sie hier mit Staubwedeln bewaffnet Steckenpferd, Degenfechten oder Theater gespielt, inzwischen leitete sie eine Frühstückspension, erledigte Bestellungen, heftete Rechnungen ab oder telefonierte mit neuen Gästen.

Ein leises Schnauben ließ Persephone aufhorchen. Sir Everard Charleston lag auf einer Wolldecke vor dem Schreibtisch, ihr mehr oder weniger zu Füßen. Sie reckte den Kopf, um ihn anzusehen. Er runzelte die Stirn, ließ einen knatternden Furz fahren und öffnete unschuldig die großen dunklen Augen.

„Das stinkt! Pfui, Charlie, schämst du dich nicht?“ Weit davon entfernt, die Stinkattacke damenhaft zu übergehen, rümpfte Persephone die Nase.

Ein freudiges Waff genügte dem beigen Retro-Mopsrüden als Antwort. Fragend ruhte der Blick seiner dunklen Kulleraugen auf ihr. Er war ein außerordentlich guter Zuhörer und wusste vermutlich genau, dass sein Frauchen nur Spaß machte. Und je länger er sie musterte, umso schwerer fiel es ihr, das Lachen zu verkneifen.

„Du bist mir ein Schlimmer!“, tadelte Persephone ihn liebevoll.

Genau wie sie entstammte er einem altadeligen Geschlecht. Eine hohe Ehre, sollte man meinen. Obwohl er an der Last, ein Edler von Charleston zu sein, herzlich wenig trug.

„Ja, du hast das richtig verstanden. Deine Manieren lassen wieder einmal zu wünschen übrig, werter Sir.“

„Waff!“ Fröhlich wedelte sein Ringelschwänzchen hin und her.

Persephone beobachtete, wie er seinen gedrungenen Körper dehnte, herzhaft gähnte und schnurstracks um den Schreibtisch herum zu ihr trabte.

Sie tätschelte ihm den Kopf.

„Du bist ein kluger Hund, ich weiß. So wie du aussiehst, willst du am liebsten mit mir rausgehen, und es wäre ja auch gut für mich. Aber ich habe noch zu arbeiten.“ Im Gegensatz zu dem, was viele dachten, war Charlie alles andere als ein bequemer Schoßhund, der ständig döste.

Ihr Vater hatte bei seiner Anschaffung großen Wert darauf gelegt, einen Mopswelpen aus einer Zucht zu kaufen, die bei den Rassestandards Vernunft walten ließ. Sir Everard Charlestons Schnauze war nicht so platt, als dass er dem Ideal entsprochen hätte. Dafür blieb er von Augenentzündungen verschont und er brauchte auch nicht asthmatisch nach Luft zu ringen. Seine Beine kamen Persephone etwas länger vor als bei den Hunden, denen die Preisrichter Auszeichnungen verliehen. Aber sie war nicht mit derart vielen Möpsen bekannt, dass sie diese Beobachtung mit Fakten untermauern konnte. Wie auch immer, Charlie fegte gerne wie ein Wilder durch Wynden Manor, den Landsitz von Persephones Vorfahren. Allerdings nicht an der Seite ihres Vaters. Nicht mehr …

„Na, los, wenn du rauswillst, lauf in die Küche. Emma lässt dich in den Garten.“

Charlie kannte den Weg zu Mrs Carson, Persephones Köchin und Haushälterin. Außerdem wusste er natürlich, wie er Einlass erhielt zu diesem Reich voller verlockender Düfte und seinem Stück umzäunten Garten. Doch höflich wie er war, blieb er kurz stehen, um sein Frauchen aus dunklen Augen fragend zu mustern. So als ob er ihr die Chance geben wollte, ihre Meinung noch einmal von Grund auf zu überdenken.

Erst als sie ihn nochmals aufforderte, ohne sie zu ihrer Haushälterin zu gehen, drängte er seinen Kopf durch den Türspalt. Der Rest samt Ringelschwanz folgte. Persephone lauschte dem leisen Klacken seiner Krallen auf dem Marmor in der großen Halle und einem fröhlichen Beller. Offensichtlich hatte er etwas entdeckt.

Kurzentschlossen schob sie den Stuhl zurück, ließ den Computer mit einer Stornierungsmail ruhen und betrat die große Halle. Ihr Mops hatte tatsächlich etwas hinter einem der Sessel entdeckt, das er ausgiebig beschnüffelte.

„Na, hast du wieder etwas aufgestöbert?“ Persephone erlebte den Fluchtversuch einer verängstigten Spinne mit. Schon als Welpe jagte Charlie diese Krabbeltiere mit Leidenschaft. Dass sie den Weg in seinen Magen fanden, hatte Persephone bislang noch nicht beobachtet. Wobei seine Zurückhaltung vermutlich weniger darauf beruhte, dass er als Mops von Adel Gnade walten ließ. Sondern eher auf dem Umstand, dass Mrs Carson ihn von klein auf mit Leckerbissen verwöhnt hatte. Er speiste von hübschem Geschirr wie ein Feinschmecker und war entsprechend heikel beim Fressen. Persephone konnte beim besten Willen nicht glauben, dass Spinnen seinem verwöhnten Gaumen mundeten – oder überhaupt irgendjemandem mit verfeinerten Geschmacksnerven.

Leider schaffte das Krabbeltier es diesmal nicht schnell genug, ein sicheres Versteck zu erreichen. Charlie verstellte ihm den Weg und beobachtete fasziniert das Phänomen, das dieses schlaue Biest vor seinen Augen vollführte. Das Tier sah mit einem Schlag vertrocknet aus, wie tot. Nur ungern dachte Persephone an die erste Wiederauferstehung einer Spinne, die sie miterlebt hatte. Mit Besen und Schaufel bewaffnet hatte sie Sir Charlestons Opfer aufkehren wollen. Im nächsten Moment kreischte sie erschrocken auf, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass das Tier loskrabbelte.

Für den vorwitzigen Sir Everard Charleston bedeutete diese Totenstarre seither ein spannendes Spiel. Auflauern, anstupsen und zuschauen. Ob er außerdem auf eine ordentliche Schreiattacke von ihrer Seite wartete, konnte sie schlecht abschätzen.

„Du lässt die Spinne brav in Ruhe!“ Persephone lief in ihr Zimmer und eilte mit Wasserglas und Papier bewaffnet in die Halle zurück, um einmal mehr ihr Karma durch eine Rettungsaktion zu verbessern.

Das Tier lag noch in Totenstarre, als Persephone zurückkam. Hoffentlich blieb es bei der Rettungsaktion brav hocken. Mit zitternden Fingern ging sie in die Knie und stülpte das Glas rasch, aber vorsichtig über die schwarze Spinne mit den behaarten langen Beinen und dem dicken Körper. Ein Riesenexemplar. Behutsam schob Persephone das Blatt Papier unter das Glas.

„Oh, Lady Persephone, bitte, lassen Sie mich das machen.“ Mrs Carson, die auffallend blass aussah, eilte ihr aus der Küche entgegen und nahm ihr Glas, Papier und Spinne ab.

Bevor Persephone ihre Haushälterin fragen konnte, ob etwas nicht in Ordnung war, machte Mrs Carson kehrt und entschwand mit Spinne und Charlie, der aufgeregt an ihr hochsprang, in die Küche.

Das leidige Geld

In der großen Halle duftete es zart nach Lavendel und Rosen. Potpourris standen auf kleinen Beistelltischen neben den Sesseln, die Besucher zum Verweilen einluden. Für die großzügigen Treppenaufgänge mit den kostbaren Schnitzereien und Drechslerarbeiten war Wynden Manor sogar über die Grenzen Dartmoors hinaus bekannt. Perserteppiche und Seidenläufer auf Marmor und Parkett sorgten für ein wenig Gemütlichkeit in dem riesigen Raum. Ebenso der offene Kamin, um den die Sitzgruppe arrangiert war. Persephone lehnte die Tür zu ihrem Arbeitszimmer nur an, falls Sir Charleston Lust verspüren sollte, sie zu besuchen.

Ihr Blick glitt über die vollgefüllten Regale. Seit sie die Arbeit ihres Vaters übernommen hatte, standen alle Geschäftsbücher der letzten zehn Jahre in Griffhöhe eingeordnet. Sie zog einen mit Rechnungen des laufenden Jahres heraus. Ältere Bücher, Berichte und Personallisten längst vergangener, glanzvoller Zeiten erreichte sie nur mit einer verschiebbaren Bibliotheksleiter, die ein Schreiner eigens an die Regale angebracht hatte. Persephone haderte oft damit, dass sie nicht nur klein, sondern winzig war. Sie brauchte schon einen Tritt, wo andere nicht einmal die Zehenspitzen benutzten.

Nachdem ihr die Mahnung eines Klempners ins Haus geflattert war, musste sie prüfen, ob die Summe aus Versehen offenstand. Dabei hätte sie jeden Eid geschworen, den eingeforderten Betrag schon vor Monaten bezahlt zu haben. Was durchaus sein konnte: Manchmal gingen unberechtigte Forderungen ein, weil sie ihre Schulden vielleicht zu prompt überwies.

Eine Angewohnheit, die sie aus gutem Grund nach dem Tod ihres Vaters übernommen hatte, der ein säumiger Zahler gewesen war. Seufzend legte sie den Ordner auf den Schreibtisch. Das elegante Möbelstück aus Kirschholz war das letzte Geschenk ihres krebskranken Vaters. Trotz seiner quälenden Therapien hatte er es nicht versäumt, eine ‚Kleinigkeit‘ für ihr Arbeitszimmer auszusuchen. Wehmut durchflutete sie. Vor zwei Jahren war er gestorben.

Draußen zwitscherte eine Amsel. Persephones Blick fiel auf das Fenster, dessen Originalverglasung einem rebellischen Knecht zum Opfer gefallen war. Oder einem eifersüchtigen Ehemann? Die Familienaufzeichnungen waren in der Hinsicht nicht sehr ergiebig. Persephone konnte diese und jede Menge anderer historischer Details für Touristen auswendig und vermutlich auch im Schlaf herbeten, obwohl sie das nie überprüft hatte.

Schwierig wenn es keinen gab, mit dem man sein Bett teilte. Sie presste ihre Kiefer fest zusammen. Nicht mehr gab … Dabei war es nicht einmal so, dass sie die gelöste Verlobung bedauerte. Sie nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz. Die Dielen knarrten während des Hinsetzens.

Trotz des Laptops auf dem Schreibtisch erinnerte vieles in ihrem Lieblingsraum an ein Museum. Kein Wunder, die Anfänge Wynden Manors reichten fünfhundert Jahre zu einem nahegelegenen Steinbruch zurück. Tja, und sie selbst verkam mit ihren siebenundzwanzig Jahren langsam aber sicher auch zum altertümlichen Inventar. Vielleicht war es doch nicht die schlechteste Idee, alles in Bausch und Bogen zu verkaufen? Wie herrlich musste es sein, ohne Schulden und unbeschwert von Rechnungen, Mahnungen und Hypotheken zu leben.

Aber von was? Als was? Persephone hatte englische Literatur studiert und über Jane Austens Persuasion promoviert. Beides erfolgreich, aber nicht herausragend. Mit den Verdiensten aus diesen Meriten konnte sie nicht einmal die Kosten einer ausgewogenen Sonntagsmahlzeit ihres Feinschmecker-Mopses decken. Geschweige denn die Ansprüche ihrer Mutter. Außerdem lebten sie nicht alleine hier: Sie konnte und wollte das Ehepaar Carson nicht entlassen. Schon bei dem Gedanken, ihre beiden treuesten Helfer auf die Straße zu setzen, blutete ihr Herz. Vor allem wenn sie an das Leid dachte, das die beiden um ihre Tochter trugen. Persephone faltete die Hände untätig auf der Schreibtischplatte, starrte auf die Kirschholzvertäfelung und die zart grüne Seidentapete. Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.