Leseprobe Der Tod kommt zum Tee

Kapitel 1

August 1899

Im Spätsommer sollte man London am besten meiden. Gesellschaftliche Veranstaltungen waren rar und die großen Ereignisse wie Ascot und das Derby schienen eine Ewigkeit her zu sein, sodass die wenigen, die wie wir in der Stadt geblieben waren, sich vergeblich nach etwas Unterhaltung sehnten. Wenn man gezwungen war, den Sommer in London zu verbringen, gab es keinen angenehmeren Ort für eine nachmittägliche Soiree als Park Lane. Dort lag zur einen Seite der Hyde Park und zur anderen Londons imposanteste Villen. Man fühlte sich fast wie auf dem Land. Zumindest wenn man eine lebhafte Fantasie besaß.

Der Garten war für Londoner Verhältnisse recht groß und etwa vierzig Gäste standen zwischen dem Wintergarten und den kleinen Tischen auf dem Rasen verteilt. Mit so vielen Menschen war es etwas eng und wäre geradezu unangenehm geworden, hätte die Sonne nicht ihr übliches Versteckspiel hinter den Wolken gespielt.

Dies war mein erster Sommer in der Stadt und offen gestanden gefiel er mir nicht sonderlich. Bisher hatte ich den Sommer – genau genommen fast jeden Sommer, seitdem ich vor neun Jahren nach England gezogen war, in Surrey auf dem Land verbracht. Dort hatte mein verstorbener Ehemann, der Earl of Harleigh, mich kurz nach unseren Flitterwochen abgesetzt und zurückgelassen.

Er war nach London zu seiner Schar von Geliebten zurückgekehrt.

Auf dem Land zu leben hatte mir nichts ausgemacht, im Gegensatz zu seinen Affären. Ich habe unsere Tochter Rose in Surrey aufgezogen. Und bis auf die jährlichen Ausflüge in die Stadt zur Ballsaison blieb ich auf dem Land die pflichtbewusste Ehefrau, zu der meine Mutter mich erzogen hatte. Ich sollte erwähnen, dass ich Frances Price hieß und eine amerikanische Erbin war, bevor ich Frances Wynn, Countess of Harleigh, wurde. In keiner der beiden Rollen hatte ich mich besonders wohlgefühlt, also verließ ich ein Jahr nach dem Tod meines Ehemannes mit unserer Tochter das Familienanwesen. Wir zogen in ein eigenes kleines Haus in der Chester Street im Londoner Stadtteil Belgravia. Endlich trug ich selbst die Verantwortung für mein Leben und genoss es ungemein, trotzdem wünschte ich, das Geld würde für Ausflüge aufs Land im Sommer reichen.

Ich ging die Stufen des Wintergartens hinunter und gesellte mich zu dem Grüppchen, das mit Champagnerflöten in der Hand um den ersten Tisch stand. Lady Argyle hatte eine Soiree im großen Stil organisiert. Bei ihr gab es keinen mit Wasser verdünnten Punsch. Auf einmal erhaschte ich einen Blick auf einen marineblauen Hut auf kastanienbraunen Locken. Fiona war eingetroffen! Als sie sich durch die Menge auf mich zu schlängelte, betrachtete ich ihr blaues Ensemble, das weiß und pfirsichfarben verziert war.

Leider trug ich wieder einmal Trauer. Wir trauerten um meine Schwägerin Delia. Sie war vor drei Monaten unter Umständen gestorben, die ich am liebsten vergessen würde. Zurückgeblieben waren ihre zwei Söhne und der jetzige Earl of Harleigh, der jüngere Bruder meines verstorbenen Gatten.

Eigentlich hätte ich die Feier gar nicht besuchen sollen, aber mein Schwager hatte überraschend entschieden, seinen Söhnen zuliebe die Regeln der Trauer etwas zu lockern, sodass es ihnen erspart bleiben würde, Trauerarmbinden zu tragen, die Uhren stummzuschalten und ein Jahr lang alle Aufmerksamkeit auf die Trauer zu richten. Freude sei für die Kindheit wichtig, entschied er und verfügte, dass die Familie Halbtrauer einzuhalten hatte, allerdings nur ein halbes Jahr lang. Zum Teufel mit den gesellschaftlichen Normen.

Das war kein Scherz. Graham, der stocksteife Earl of Harleigh, lehnte sich gegen eine gesellschaftlich etablierte Gepflogenheit auf.

Vielleicht war doch noch nicht alle Hoffnung verloren.

Für mich bedeutete Grahams Anordnung, dass ich mich in der Gesellschaft zeigen durfte und nicht gezwungen war, den ganzen Sommer über Schwarz zu tragen. Ich war zwar trotzdem auf Grau und Flieder beschränkt, doch Schwarz war zweifelsohne schlimmer. Zum heutigen Anlass hatte ich ein modisches fliederfarbenes Kleid an, das der Saison entsprechend aus leichtem Stoff war. Dazu trug ich einen kecken breitkrempigen Hut, der - wie auch sonst - ebenfalls fliederfarben war. Stand diese Farbe denn überhaupt irgendwem?

„Darling!“

Fiona hatte mich erblickt und winkte. An ihrem Handgelenk baumelte ein farblich auf ihr Kleid abgestimmter Sonnenschirm. Sie lief Sir Hugo Ridley über den Weg, der mir zuwinkte, als er sah, wohin sie wollte, und sich ihr anschloss. Fiona begrüßte mich mit zwei Küsschen auf die Wange und trat dann einen Schritt zurück, um unseren Bekannten zu begrüßen. „Guten Tag, Ridley. Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

Ich kannte Ridley bereits einige Jahre. Er war mit meinem verstorbenen Ehemann befreundet gewesen und einer der wenigen Freunde, die ich nicht mied. Genau wie Reggie verbrachte er zu viel Zeit damit, zu trinken, um Geld zu spielen und sein Leben förmlich zu verschwenden. Die Folgen seiner Gewohnheiten zeigten sich an seinem blassen Teint, dem deutlichen Bauchansatz und den dunklen Ringen unter seinen Augen. Im Gegensatz zu Reggie verehrte er seine Ehefrau jedoch und wenn er sich Mühe gab, war er recht unterhaltsam.

Er nickte uns zu. „Lady Harleigh. Lady Fiona. Ich bin überrascht, Sie beide so spät im Sommer noch in der Stadt anzutreffen. Bedeutet das etwa, Sie werden unsere kleine Soiree zu Ehren des Jagdbeginns am Glorious Twelfth beiwohnen?“

Der Glorios Twelfth bezeichnete den offiziellen Beginn der Jagdsaison am zwölften August. Der Großteil der feinen Gesellschaft vertrieb sich die Zeit auf dem Land damit, möglichst viele Arten von Federvieh zu jagen. Die Ridleys jedoch waren eingefleischte Londoner und verließen die Stadt nie. Stattdessen veranstalteten sie jedes Jahr am Zwölften eine Soiree für die Städter.

„Ich habe Lady Ridley bereits geschrieben, dass meine Familie und ich gerne kommen.“

Ridley lächelte und sah zu Fiona.

„Ich werde heute noch aufs Land fahren. Nash muss natürlich auf die Jagd“, sagte sie, wobei sie sich auf ihren Gatten bezog. „Zugegeben, ich hatte gehofft, Lady Harleigh würde mich begleiten.“ Sie zog einen Schmollmund, wodurch sie wie ein kleines Kind aussah. „Bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst, Frances? Nash und ich würden uns sehr freuen.“

Ich drückte ihre Hand. „Ich danke dir, Fi, aber leider missfällt die Idee meinen Hausgästen.“ Ich war betrübt, ihre Einladung auszuschlagen, doch ich konnte sie schlecht annehmen und dann mit drei Gästen, meiner Tochter und ihrem Kindermädchen anreisen. „Außerdem ist meine Schwester entschlossen, in der Stadt zu bleiben, um bei Mr. Kendrick zu sein.“

„Frisch Verliebte“, sagte Ridley. „Werden sie die Verlobung bald bekanntgeben?“

Ein Diener in schwarzer Livree trat mit einem Tablett Getränken zu uns. Dem armen Mann stand der Schweiß auf der Stirn. Ridley reichte uns zwei Champagnerflöten und scheuchte den Diener fort. Anschließend schlenderten wir über den Rasen.

„Sie haben noch kein Hochzeitsdatum festgelegt“, antwortete ich schließlich. „Ich glaube, sie werden bis zum Herbst warten, um mit der Planung zu beginnen.“ Meine jüngere Schwester Lily war vor drei Monaten mit der Absicht, einen Lord kennenzulernen und zu heiraten, nach London gekommen. Doch stattdessen hatte sie Leo Kendrick, den Sohn eines reichen Geschäftsmanns, getroffen und seitdem waren sie ein Paar. Leo hatte um ihre Hand angehalten und sie hatte seinen Antrag angenommen. Sie wollten ihre Verlobung gern bekanntgeben, doch ich hielt sie dazu an, zu warten. Sie war erst achtzehn. Genau wie ich, als ich überstürzt geheiratet hatte.

An Leo gab es nichts auszusetzen, aber ich hatte damals keine Vorbehalte gehabt, was meinen nichtsnutzigen, untreuen Ehemann anging, als ich ihn heiratete. Die Bedenken kamen später und nahmen erst ein Ende, als er im Bett seiner Geliebten starb. Ich wollte mich daher gar nicht gegen ihre Heirat versperren, ich wünschte mir bloß, dass sie einander vor der Ehe gut kennenlernten.

Fiona schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Sie wird den Mann irgendwann heiraten, Frances. Es hinauszuzögern macht da keinen Unterschied. Es wäre besser, du würdest dich um deinen kleinen Schützling kümmern. Sie sehnt sich bestimmt nach Unterhaltung.“

„Wenn sich jemand in London nach Unterhaltung sehnt, Lady Fiona, dann ist dieser Jemand wahrlich unersättlich.“ Sir Hugo hob sein Glas, um seine Worte zu unterstreichen. „Ich habe die liebenswürdige Miss Deaver kennengelernt, als Sie letzte Woche zusammen im Theater waren. Sie scheint sich gut zu amüsieren.“

Charlotte Deaver, mein ‚kleiner Schützling‘ wie Fiona sie nannte, war eine von Lilys Freundinnen aus New York. „Lottie ist von allem in London fasziniert“, sagte ich und nickte Ridley zustimmend zu. „Und sie ist gut darin, sich selbst zu beschäftigen. Sie ist über einen Ausflug in die Bibliothek oder ein Museum genauso erfreut, wie davon, sich unter die Leute zu mischen. Ich glaube, ersteres ist ihr sogar lieber.“ Ich senkte die Stimme und lehnte mich etwas zu meinen Freunden. „Sie ist bei gesellschaftlichen Ereignissen ein wenig ungeschickt.“

Fiona zog die Augenbrauen hoch. „Liebes, du untertreibst. Es wurden mehr Herren bei dem Versuch mit ihr zu tanzen verwundet, als im ersten Burenkrieg.“

Ich tat empört. „Das ist ungerecht, Fiona. Sie mag nicht die Anmutigste sein, aber sie hat keinen ihrer Tanzpartner verletzt.“

Mit einem Räuspern überspielte Ridley sein Lachen. „Anmutig hin oder her, ich finde, sie ist charmant, und ich bezweifle, dass mir auch nur ein Herr in London widersprechen würde. Evingdon stimmt mir gewiss zu.“ Er neigte den Kopf zur Seite in Richtung des Hauses, wo Lottie auf den drei Stufen, die vom Wintergarten zum Rasen hinunterführten, ins Stolpern geriet. Charles Evingdon, der die Stufen herunterging, griff rechtzeitig nach ihrem Arm, sodass sie nicht mit dem Gesicht voran in die Rosen stürzte. Nur ihr Hut mit den pinken Schleifen und weißen Federn landete im Gestrüpp.

„Oh, ich hatte nicht erwartet, Evingdon heute anzutreffen.“

„Ich habe nichts dagegen, ihm zu begegnen“, sagte Ridley. „Mich mit ihm zu unterhalten, strapaziert jedoch meine Nerven.“

Ich warf dem Mann einen strengen Blick zu. „Darf ich daran erinnern, Ridley, dass Charles Evingdon Teil meiner Familie ist?“

Seine Augen blitzten frech. „Ein Cousin Ihres verstorbenen Gatten, wenn ich nicht irre. Daher werde ich es Ihnen nicht übelnehmen, teure Lady Harleigh. Doch nun entschuldigen Sie mich bitte.“

Er grinste verschmitzt und schlenderte davon, während ich ihm finster nachstarrte. „Jedes Mal, wenn ich denke, der Mann hätte ein neues Kapitel aufgeschlagen, erinnert er mich von ganz allein daran, was für ein Halunke er doch ist.“

„Seit seiner Heirat ist er nicht gerade umgänglicher geworden“, sagte Fiona. „Doch ich fürchte, er war bloß ehrlich.“

„Charles ist anders, das gebe ich zu.“ Er war in so mancher Hinsicht anders als meine restliche angeheiratete Verwandtschaft. Am auffälligsten war, dass seine Seite der Familie dazu der Lage war, das Vermögen beisammenzuhalten. Außerdem hegte er keinen Groll gegen mich, weil ich Amerikanerin war. Und verglichen mit der unterkühlten Art meines Schwagers, war er so herzlich wie ein Golden Retriever.

Ich guckte wieder zum Haus hinüber und lächelte, als Charles mir zuwinkte. Er versicherte sich, dass Lottie fest auf beiden Beinen stand, dann platzierte er ihren Hut auf der zerzausten Frisur und kam auf uns zu.

„Ich wage zu behaupten, dass er mir gleich dafür danken wird, dass ich ihm Mary Archer vorgestellt habe.“ Stolz sah ich Fiona an. „Er scheint ganz entzückt von ihr. Ich glaube, ich kann die Partie als Erfolg verbuchen.“

„Das würde ich nicht zu laut sagen“, flüsterte sie mir zu. „Du willst doch nicht, dass die Leute glauben, du wärst als Ehestifterin tätig. Oder dass du sonst einer Tätigkeit nachgehst.“

„Natürlich nicht.“ Ich sah mich schnell um, um sicherzugehen, dass uns niemand hören konnte. „Ich habe nur diskret ein paar Personen einander vorgestellt. Kann ich etwas dafür, wenn eine der Personen ihren Dank in Form eines Geschenks ausdrückt?“

„Aber ich frage mich, ob Mrs. Archer dankbar ist. Glaubst du wirklich, dass sie Evingdon genauso zugetan ist wie er ihr?“ Sie rümpfte die Nase. „Er ist recht einfältig, findest du nicht?“

„Du bist genauso schlimm wie Ridley. Es ist fürchterlich lieblos, so etwas zu sagen. Mal abgesehen davon, dass er mein Verwandter ist, ist er ein sehr angenehmer und freundlicher Mann. Er ist außerdem ein guter Freund deines Bruders und George erträgt keine Dummköpfe.“

Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ich hatte Recht und das wusste sie. Es war Georges hohe Meinung von Charles, wegen derer ich glauben wollte, dass Charles doch zumindest einen Funken Verstand besaß. Leider ließ sein Handeln anderes vermuten.

Er kam mit dem heiteren Grinsen im Gesicht auf uns zu, das seine Lippen so oft umspielte und ihn jünger als sechsunddreißig wirken ließ, genau wie seine große, schlanke Statur und das dichte strohblonde Haar. Er trug es etwas länger als modern war, doch es stand ihm gut.

„Ladys“, begrüßte er uns und lüftete seinen Strohhut. „Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen. Nun, also eigentlich hatte ich nur auf dich gehofft, Cousine Frances.“

Er zögerte, aber als ich ansetzen wollte, sprach er weiter. „Nicht, dass ich Sie nicht treffen wollte, Lady Fiona, ich hatte Sie nur nicht direkt gesucht, verstehen Sie? Es ist trotzdem schön, Sie zu wiederzusehen. Etwa so, wie wenn man ein Buch sucht, das man verlegt hat, und dabei über ein anderes stolpert, das genauso unterhaltend ist.“

Er beendete seinen Monolog und als er mich anlächelte, traten seine Grübchen hervor.

„Es ist schön, dich wiederzusehen, Cousin Charles.“

Ich warf Fiona einen Blick zu. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, überlegte es sich aber anders.

Ich stupste gegen ihren Arm. „Ich bin sicher, Lady Nash ist ebenso erfreut.“

„Aber natürlich“, sagte sie. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich habe unsere Gastgeberin noch nicht begrüßt.“

Damit machte sie sich davon, so wie ein Tier, das gerade einer Falle entkommen war. Ich holte tief Luft und wendete mich wieder Charles zu. „Begleitet Mrs. Archer dich heute nicht?“

„Ah ja. Mrs. Archer. Nun, genau deshalb wollte ich mich mit dir unterhalten.“

„Wie entwickeln sich die Dinge zwischen euch?“

Er fuhr sich über die Ärmel, so als ob sie staubig wären, dann rückte er sich nervös die Krawatte zurecht. Er sah dabei in jede Richtung, bloß nicht zu mir. „Nun, also ...“ Schließlich sah er mir in die Augen. „Ehrlich gesagt, nicht gut. Gar nicht gut.“ Er guckte argwöhnisch zu zwei jungen Damen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und kicherten. Er bot mir seinen Arm an.

„Sollen wir ein paar Schritte gehen, Cousine Frances?“

Ich hakte mich bei ihm ein und wir liefen in gemächlichem Tempo eine Runde durch den Garten. „Gibt es etwas, wovon du mir erzählen möchtest?“

„Nein“, sagte er. „Nun, doch. Es scheint, dass wir, Mrs. Archer und ich, doch nicht zueinander passen. Ich dachte, das würden wir. Sie ist eine großartige Frau.“ Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken und seufzte. „Liebreizend, angenehm, intelligent. Ich hatte, um ehrlich zu sein, wirklich Gefallen an ihr gefunden. Aber wie sich herausgestellt hat, tun wir es nicht. Also, zueinander passen, meine ich.“

„Es tut mir sehr leid, das zu hören.“ Schrecklich leid. Mary Archer war eine der geduldigsten und freundlichen Frauen meiner Bekanntschaft. Ich würde Mühe haben, eine andere geeignete Dame zu finden, wenn sie ihm nicht recht war. Doch das konnte ich ihm kaum sagen.

„Es klingt, als hättest du Mrs. Archer wirklich lieb gewonnen. Bist du sicher, dass ihr nicht zueinander passt? Was dir jetzt schwierig erscheinen mag, könnte mit der Zeit vergehen.“

Er presste die Kiefer zusammen und schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht, wie das möglich sein soll. Vielleicht gibt es eine andere Bekannte, der du mich vorstellen würdest?“, fügte er hinzu und auf seinem Gesicht spielten sich Hoffnung und Sorge ab.

„Aber sicher, Charles. Aber um einen weiteren Fehler zu vermeiden, fürchte ich, müsstest du mir sagen, warum ihr nicht zueinander passt.“

„Das wäre, fürchte ich, nicht sehr gentlemanlike von mir, es zu erwähnen. Ich hatte nichts an Mrs. Archer auszusetzen und ich möchte auch gern heiraten, doch wir ...“

„Ihr habt nicht zusammengepasst?“ Ich zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Ganz richtig!“ Wieder traten seine Grübchen hervor. „Ich wusste, du würdest es verstehen.“

Ich verstand es nicht. Und mich weiter mit ihm zu unterhalten, würde mich nicht weiterbringen. Hoffentlich konnte George mir weiterhelfen. Oder Mary selbst.

Ja, Mary konnte mir das Zerwürfnis sicherlich erklären. Ich besuchte sie besser gleich morgen. „Gib mir ein paar Tage und ich melde mich bei dir, Charles.“

 

Die Gartenparty ging noch einige Stunden, bis sich Gewitterwolken über unseren Köpfen zusammenbrauten. Ich verabschiedete mich von Fiona, wobei ich die standhafte Britin zwang, meine Umarmung über sich ergehen zu lassen, denn ich würde sie vermutlich erst im Frühjahr wiedersehen. Es sei denn, ich gab nach und gewährte Lily ihren Wunsch, eine Winterhochzeit zu feiern. Zu dem Ereignis würde Fiona natürlich kommen. Ich zweifelte daran, dass ich sie und Leo noch länger vertrösten konnte. Gemessen an der Art und Weise, wie sie sich verabschiedeten, sollte man meinen, sie würden einander bis zum Frühjahr nicht mehr sehen. Dabei handelte es sich meist bloß um einen einzigen Tag.

Als sich alle voneinander verabschiedet hatten, stiegen wir vier – Lily, Lottie, Tante Hetty und ich – in George Hazeltons Kutsche. Mr. Hazelton war mein Nachbar, Fionas älterer Bruder und ein wunderbarer Freund, der unsere kleine Gruppe oft zu gesellschaftlichen Veranstaltungen begleitete oder uns seine Kutsche lieh, wenn er selbst keine Zeit hatte. Obwohl ich über genug Geld verfügte, um meinen eigenen Haushalt zu führen, reichte es nicht, um eine Kutsche und Pferde zu besitzen. Lily war mit Tante Hetty als Begleitdame nach England gereist. Hetty war die Schwester meines Vaters und genau wie er war sie ein Finanzgenie, doch ich wusste nicht, wie lange sie mir erhalten bleiben würde, und fürchtete mich davor, ohne ihren Rat über meine Verhältnisse zu leben.

Die beiden jungen Damen nahmen rücklings Platz, sodass Hetty und ich in Fahrtrichtung sitzen konnten. Sie stieg vor mir ein und zog die Zeitung heraus, die sie zuvor zwischen die Sitze gesteckt hatte. Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge, als ich mich neben sie setzte. „Bei so spärlichem Licht zu lesen, ist nicht gut für deine Augen, Hetty.“

Etwas murmelnd faltete sie die Zeitung, damit sie handlicher war. „Mach dir keine Sorgen um meine Augen. Das geht schon.“

Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich die Zeitung, hinter der sie ihr Gesicht versteckte. „Kannst du die nicht weglegen? Ich stehe vor einem Dilemma und hatte gehofft, deine Meinung dazu zu hören.“

„Wir haben auch Meinungen dazu.“ Lily deutete auf Lottie und sich.

„Selbstverständlich, aber ich wüsste auch gern, was Hetty dazu sagt.“ Ich stieß sie mit dem Ellenbogen an.

„Nur zu, ich höre“, sagte sie.

„Ich habe gerade mit Cousin Charles gesprochen.“ Ich seufzte. „Er sagt, dass er keine Heirat mit Mary Archer mehr anstrebt.“ Ich sah zu meinen Verwandten auf und hoffte auf ihre Anteilnahme.

„Und du dachtest, dass sie ein schönes Paar abgeben“, sagte Lily. „Hat er einen Grund genannt?“

„Nein, er sagte nur, dass sie nicht zueinander passen und dass er dafür offen wäre, dass ich ihm noch eine Dame vorstelle, wenn ich jemand Passendes kenne.“

„Er ist der freundliche Cousin, mit dem Hazelton befreundet ist, nicht wahr?“ Tante Hetty strich eine Haarsträhne zurück unter den Hut, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Sie war fast fünfzig und obwohl sich ihr Alter langsam auf ihrem Gesicht abzeichnete, war ihr Haar noch schwarz. Sie rümpfte die Nase. „Er ist etwas einfältig, findest du nicht?“

„Er ist Mr. Hazeltons Freund, aber sicher nicht einfältig. Zumindest finde ich das ziemlich harsch. Er ist gutherzig und stets eine angenehme Gesellschaft. Bloß manchmal etwas verwirrend. Oder vielleicht verwirrt.“

„Er sieht dafür gut aus“, warf Lily ein.

„Und er ist der Erbe seines Bruders“, sagte ich, „also wird er irgendwann Viscount Evingdon.“

„Dann ist er also gutherzig, gutaussehend und wird einmal einen Titel tragen. Ich nehme an, er ist nicht obendrein noch reich?“ Hetty sah von ihrer Zeitung auf und zog eine Augenbraue hoch.

„Sein Teil der Familie ist recht wohlhabend.“

„Warum braucht er dann deine Hilfe, eine Ehefrau zu finden? Ich würde erwarten, dass einem solchen Mann die Damen reihenweise Anträge machen.“ Sie starrte mich mit einem verwirrten Blick an, den ich nur zu gut verstand. Sie war neu in der Londoner Gesellschaft, die anders war als in New York, trotzdem erkannte sie einen guten Fang, wenn er ihr zu Ohren kam.

„Augenscheinlich hat er alle Mühe damit, sich die Damen vom Leib zu halten, doch er hofft, eine Dame zu finden, die sich zu ihm hingezogen fühlt und nicht seinem Titel oder Vermögen.“

„Und seinem hübschen Gesicht“, fügte Lily hinzu. „Vergiss das nicht.“

Ich sah zu meiner Schwester hinüber. Sie war erst achtzehn und glich mit ihrem blonden Haar und den blauen Augen einer entzückenden Porzellanpuppe. Sie war das Ebenbild meiner Mutter, während ich nach unseren beiden Eltern kam: dunkelbraunes Haar, blaue Augen und ein heller Teint. Und genau wie meine Tante Hetty überragte ich meine zierliche Schwester. Mit siebenundzwanzig Jahren war ich außerdem beinahe zehn Jahre älter als sie. Es überraschte mich, dass sie einen Mann attraktiv fand, der fast zwanzig Jahre älter war als sie.

„Lass Leo nicht hören, dass du an älteren Männern Gefallen findest“, sagte ich und lächelte, als sie rot wurde.

„Ich habe Augen im Kopf, Frances. Nur weil mir auffällt, dass er gutaussehend ist, finde ich noch lange keinen Gefallen an ihm. Du weißt, dass ich Leo verehre.“

Das wusste ich in der Tat. Das hier war eine von Lilys vielen Erinnerungen daran, dass ich ihre Hochzeit hinauszögerte, und das ihrer Meinung nach ohne einen triftigen Grund. Wir waren diese Woche bei Leos Familie zum Abendessen eingeladen und ich rechnete damit, dass sie mir Druck machen würden, einer baldigen Hochzeit zuzustimmen. Und so oder so würde Lily vor dem neuen Jahr eine verheiratete Frau sein. Ich hoffte, dass sie dafür bereit war.

Lily lehnte sich vor und berührte meinen Arm, wodurch sie mich aus dem Tagtraum riss. „Was ist mit Lottie? Würde sie zu Mr. Evingdon passen?“

Ich sah zu Lottie hinüber, die einen hochroten Kopf bekommen hatte. Damit hätte ich rechnen sollen. Lily hatte sie eingeladen, sie zur nächsten Ballsaison zu besuchen und mich sie in die Londoner Gesellschaft einführen zu lassen. Lotties Mutter hieß die Idee gut, zeitlich passte es ihr nur nicht. Sie hatte ihre Tochter vor drei Wochen wie ein einundzwanzig Jahre altes Findelkind vor unserer Tür abgesetzt und hatte sich nach Paris davongemacht, um sich dort eine neue Garderobe schneidern zu lassen.

Zumindest hatte sie das behauptet.

Da ihre Nachsendeadresse die eines gewissen Comte De Beaulieu war, kam mir ihre Verschleierungsgeschichte nicht sonderlich glaubwürdig vor. Der Comte war genau die Sorte notorischer Frauenheld, für die britische Ehemänner alle Franzosen hielten. Und obendrein war er mittellos. Wenn er irgendwelche Absichten hatte, so hatte er es auf Mrs. Deavers Nadelgeld abgesehen. Und wenn man bedachte, wie großzügig der Scheck gewesen war, den sie für die Ausgaben ihrer Tochter und die meinen ausgestellt hatte, vermutete ich, dass ihr Nadelgeld erheblich war. Hinzu kam, dass Mr. Deaver weder seine Frau noch das Geld vermissen würde. Wenn der Klatsch aus den Briefen meiner Mutter stimmte, dann hatte Mrs. Deaver die Damen der New Yorker Gesellschaft so erbost, dass keine von ihnen ihre Söhne in Lotties Nähe ließen.

Angesichts Mrs. Deavers Ruf jenseits des Großen Teichs war es das Beste, dass sie fortging, bevor sie sich hier einen Namen machte. Doch so sehr ich die zusätzlichen Mittel schätzte, musste ich nun mit dem Problem umgehen, was ich mit Lottie anstellen sollte. Die arme junge Dame suchte ausgerechnet jetzt einen adligen Ehemann, wo der Adel sich auf das Land zurückzog, um alles für die Moorschneehuhnjagd vorzubereiten, da der Jagdbeginn, der Glorious Twelfth, bevorstand.

So spät im Sommer gab es nur wenige gesellschaftliche Veranstaltungen, was bedeutete, dass wir Lottie die ersten Wochen, die sie bei uns war, ganz für uns gehabt hatten. Sie war ein hübsches Mädchen, durchschnittlich groß und so schlank, wie die Mode es diktierte. Ihr ovales Gesicht wurde von rostbraunem Haar umspielt. Sie schien an allem äußerst interessiert. Wie ich Sir Hugo erzählt hatte, war sie ein angenehmer Gast. Sie war darüber hinaus entschlossen, sich nützlich zu machen. Ich hatte allerdings schnell gelernt, dass ihre Hilfe anzunehmen sich als gefährlich entpuppen konnte.

Als ich sie Blumen hatte arrangieren lassen, zerbrach sie die Vase und verschüttete das Wasser. Einmal bat ich sie darum, in einem nahegelegenen Geschäft ein Buch zu kaufen. Sie dachte nicht daran, ein Dienstmädchen mitzunehmen, und schlenderte so gedankenverloren durch die Nachbarschaft, dass wir sie zu dritt suchen mussten. Die Suche kostete mich Stunden und zweifelsfrei einige Lebensjahre, da ich mir vorstellte, wie man sie entführte und versklavte. Wie hätte ich das nur je ihrer Familie erklären sollen?

Sie schien stets einen Fleck auf dem Kleid zu haben, Tinte an den Fingern und hinterließ einen Pfad der Verwüstung, wohin sie auch ging, doch sie tat eindeutig alles mit den besten Absichten. Zugegebenermaßen war sie reizend und ich hatte sie gern, ich wünschte nur, ich könnte sie dazu bringen, nichts anzurühren.

Doch Charles‘ Ehefrau? Ich war nicht sicher, wer für Lottie einen geeigneten Partner darstellte, aber an ihn hätte ich niemals gedacht. Zunächst einmal gab es in seinem Haus zu viele Antiquitäten, die zu Bruch gehen konnten. Obgleich ich Hetty widersprochen hatte, war er - um es einmal so zu sagen - ein Schwachkopf. Lottie brauchte jemanden, der ihr half, die Eigenheiten der Gesellschaft zu meistern. Und das war gewiss nicht Charles.

Einen meiner Einwände konnte ich jedoch aussprechen. „Es wäre wohl gut zu erfahren, warum Mr. Evingdon von der Heirat mit Mrs. Archer absieht, bevor ich ihm andere Damen vorstelle.“

„Wieso dachtest du denn, sie würde zu Mr. Evingdon passen?“, fragte Lily.

Hmm. Das war eine gute Frage. „Einerseits, weil sie eine Witwe ist und die Familie ihres verstorbenen Ehemanns in der Gesellschaft recht bekannt ist. Sie empfingen häufig Gäste und Mary ist allseits beliebt. Wenn Cousin Charles erbt, wird er seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen müssen und auch im britischen Oberhaus, wobei Mary ihm eine gute Gefährtin wäre.“

„Das wäre sicherlich vorteilhaft.“ Lily klang so gelangweilt, als sprächen wir über altes Brot – es war essbar, sorgte aber nicht für Begeisterungsstürme. Ich schmunzelte, als sie die Nase krauszog.

„Das ist natürlich nur ein Aspekt. Sie hatten viele gemeinsame Interessen und Mr. Evingdon erzählte mir, dass er eine Frau von gewisser Reife und Klugheit sucht. Beides traf auf Mary zu. Sie ist fast dreißig und intelligent. Ihr Verstand ist messerscharf, aber sie ist eine freundliche und fürsorgliche Dame. Schade, dass Charles und sie nicht zueinandergefunden haben. Sie zeigt sich derzeit wenig in der Gesellschaft und ich war besorgt, dass sie nach dem Tod ihres Ehemanns in Not geraten war. Sie konnte das Haus am Rande von Mayfair halten, also unterstützt die Familie ihres verstorbenen Gatten sie vielleicht. Sie hat nur noch eine Schwester, die in der Nähe von Oxford lebt. Mary war also ziemlich einsam.“

Lily runzelte die Stirn. „Nun, jetzt wünschte ich auch, sie hätten zueinandergefunden.“

„Ich schätze, ich könnte es noch einmal versuchen. In zwei Monaten ist die Trauerzeit um und ich kann mich wieder mehr in der Gesellschaft bewegen. Vielleicht finde ich eine andere passende Dame. Laut Mr. Evingdon ist eine Verbindung zwischen ihnen ausgeschlossen.“

„Was sagtest du, wie sie heißt?“

Ich guckte zu Hetty, die mich über die Zeitung ansah.

„Mary Archer. Wieso?“

Hettys verzog das Gesicht. „Es scheint, dass Mr. Evingdon in dieser Hinsicht recht behält. Was immer sie voneinander getrennt hat, er wird keine Gelegenheit haben, sich mit ihr zu versöhnen.“

Verwirrt sah ich meine Tante an. „Was willst du damit sagen?“

„Es tut mir leid, Frances. Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen. Es scheint, deine Freundin wurde ermordet.“

Kapitel 2

Ermordet? Ich riss Hetty die Zeitung aus der Hand und schlug die Seite auf. „Zeig mir, wo du das gelesen hast.“

Hetty lehnte sich zu mir und fuhr mit dem Finger über eine der Spalten, bis sie Marys Namen fand. Es war ein kurzer Absatz. „Tot im Haus gefunden“, las ich. Dann folgten Marys Name, Alter und Angaben zu ihrer Familie. „Die Polizei hat keine Angaben gemacht, aber Fremdeinwirkung wird vermutet.“

„Wenn der Reporter keine Details kennt, warum vermutet er dann Fremdeinwirkung?“, fragte Lily.

„Ich glaube, es bedeutet, dass die Polizei angedeutet hat, dass sie es vermuten.“ Ich knüllte die Zeitung zusammen und sah die drei an. „Warum sollte jemand Mary umbringen?“

Lottie rückte auf ihrem Platz vor und drückte meinen Arm. „Das tut mir ja so leid, Lady Harleigh. Waren Sie mit Mrs. Archer eng befreundet?“

Genau das war ja so merkwürdig daran. Ich kannte Mary seit Jahren und hätte gesagt, dass wir nicht sonderlich vertraut waren. Trotzdem schmerzte der Verlust und ich bereute, dass wir uns nicht näher gestanden hatten. „Sie war wohl eher eine gute Bekannte, aber ich mochte sie gern und habe sie sehr geachtet.“

Ich hatte nicht bemerkt, dass wir in der Chester Street angekommen waren und vor meinem Haus hielten, bis der Kutscher die Tür öffnete. Ich stieg zuerst aus und wartete auf dem Gehweg. Während er den anderen heraushalf, sah ich zum Haus. Wieder einmal erfüllte es mich mit Stolz, dass dies mein Haus war. Es mochte das kleinste Wohnhaus der Reihe sein, aber es war meins.

Mary musste genauso über ihr Zuhause gedacht haben, denn sie war nach dem Tod ihres Ehemanns nicht zu ihrer Familie zurückgekehrt. Bei der Vorstellung, dass ein Krimineller eingebrochen war und sie umgebracht hatte, bekam ich eine Gänsehaut. Sie hatte allein gelebt, rief ich mir ins Gedächtnis. Ich hingegen hatte meine Familie und Bedienstete um mich.

Der Kutscher bog am Ende der Straße zu den Stallungen ab und wir vier gingen ins Haus hinauf. Mrs. Thompson, meine Hausdame, wartete im Foyer schon auf uns. Dank ihrer kerzengeraden Haltung und dem schlichten schwarzen Kleid, das bis zum Hals zugeknöpft war, wirkte sie wie eine Wache.

„Inspektor Delaney ist hier und wünscht Sie zu sprechen, Mylady“, sagte sie und schüttelte den Kopf, dass ihr graumeliertes Haar wippte.

Ich trat einen Schritt zurück. „Delaney? Warum das?“

„Das wollte er nicht sagen, Ma’am. Er bestand darauf, hier auf Sie zu warten. Er ist schon seit einer knappen Viertelstunde im Salon.“ Ihre Hand zitterte, als sie den Hut und meine Handtasche entgegennahm.

„Ich bin sicher, es gibt keinen Grund zur Sorge, Mrs. Thompson.“

Die Hausdame kniff die Lippen zusammen, sprach ihre Zweifel jedoch nicht aus. Sie glaubte mir kein Wort. Delaney kam nie ohne Grund. Unser letztes Treffen lag einige Monate zurück. Ich hatte ihn seit dem grauenvollen Mord in meinem Garten nicht mehr gesehen. Sein jetziger Besuch löste ein flaues Kribbeln in meinem Bauch aus.

 

Hetty legte mir eine Hand auf den Arm. „Vielleicht ist er wegen Mrs. Archer hier.“

„Ich wüsste nicht, warum er in dieser Angelegenheit zu mir kommen sollte.“

Ich ging in Richtung Salon und hielt inne, als meine drei Begleiterinnen sich hinter mich scharten. „Inspektor Delaney hat darum gebeten, mich zu sprechen, und ich bin durchaus dazu in der Lage, selbst mit ihm zu sprechen.“ Ich wandte das Wort an Mrs. Thompson. „Bitte schicken Sie Jenny mit dem Tee.“

Hetty schien schon etwas entgegnen zu wollen, blieb aber still, als ich die Augenbrauen hochzog. „Also gut. Wir warten solange in der Bibliothek.“

Ich öffnete die Salontür und trat hinein. Ich brannte ebenso wenig wie Mrs. Thompson darauf, mit dem Inspektor zu reden. Genau wie Hetty fragte ich mich, ob sein Besuch etwas mit Marys Tod zu tun hatte.

Er saß auf einem der Ohrensessel am Fenster und stand auf, als ich auf ihn zu ging und ihm die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Meine Güte, da überkam mich doch glatt eine Woge der Zuneigung. Zu sagen, dass er bei unseren vorherigen Treffen freundlich gewesen sei, wäre eine grobe Übertreibung. Er war ruppig und herrisch gewesen, aber er hatte mir auf eine Weise eine fast väterliche Sicherheit geboten, obwohl er bloß etwas mehr als zehn Jahre älter war als ich.

Mir fiel auf, dass er einen neuen, unförmigen Anzug trug. Dieser war in einem dunkleren Grauton. Delaney war ein großer Mann und der Anzug ließ ihn noch schlaksiger wirken. Sein Gesicht war gebräunter als ich es erinnerte, so als wäre er im Urlaub gewesen, und seine braun-graumelierten Haare und Augenbrauen führten mal wieder ein Eigenleben.

Er begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln, das darauf schließen ließ, dass er mich auch ins Herz geschlossen hatte.

„Inspektor Delaney“, sagte ich und führte ihn zur Sitzgruppe um den Teetisch. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Über eine Tasse Tee würde ich mich freuen, Mylady.“ Er wartete, dass ich mir einen Platz aussuchte, und setzte sich dann gegenüber hin.

„Hervorragend. Der Tee sollte gleich kommen. Warum erzählen Sie mir nicht solange, wie es Ihnen geht? Ist der jüngste Delaney schon eingetroffen?“

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und Lachfältchen traten um seine Augen hervor. „Sie ist vor einem Monat eingetroffen“, antwortete er. „Nach zwei Jungen hat meine Frau auf ein Mädchen gehofft und ich habe sie noch nie glücklicher gesehen.“

Ganz offensichtlich ging es nicht nur seiner Ehefrau so. „Ich gratuliere, Inspektor. Meine eigene Tochter hat mir solche Freude geschenkt. Ich hoffe, es geht Ihnen genauso.“

Mit einem Klopfen signalisierte Jenny, mein Hausmädchen, mir, dass sie nun den Tee bringen würde. Ich hatte Jenny bestochen, mit mir zusammen vom Landsitz meines Schwagers nach Belgravia zu ziehen. Sie war ein molliges, gutmütiges Mädchen vom Land, doch sie war schlauer und neugieriger als ich ihr anfangs zugetraut hatte. Nachdem sie das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, griff sie nach der Teekanne, als wolle sie uns den Tee einschenken. Ich erkannte, dass sie hoffte, so etwas Klatsch aufzuschnappen.

„Vielen Dank, Jenny“, sagte ich bestimmt. „Ich übernehme das.“

Sie nickte und huschte aus dem Salon, während ich Delaney eine Tasse einschenkte und darauf wartete, dass er mir den Grund für seinen Besuch verriet.

Es dauerte nicht lange. „Sind Sie mit Mrs. Mary Archer bekannt, Ma’am?“, fragte Delaney und stellte seine Teetasse auf dem Tisch ab.

Meine Tasse zitterte auf der Untertasse, sodass ein wenig Tee über den Rand schwappte. Ich stellte den Tee schnell ab. „Dann sind Sie also wirklich wegen Mary hier. Ja, ich bin mit ihr bekannt und ich muss gestehen, dass wir eben gerade von ihrem Tod erfahren haben. Ist es wahr, dass sie ermordet wurde?“

„Ja, das wurde sie leider, Ma’am.“ Delaney warf mir einen warnenden Blick zu. Ich war nicht sicher, ob ich die Details erfahren wollte. Delaney zeigte deutlich, dass ich ihm keine weiteren Fragen dazu zu stellen hatte. Ich wartete, in der Annahme, dass er gleich zur Sache kommen würde.

„Wie gut kannten Sie sie?“

„Wir waren befreundet, doch nur in gesellschaftlicher Hinsicht“, sagte ich und war überrascht, wie intensiv er mich musterte. „Wir besuchten dieselben Veranstaltungen. Gelegentlich traf man sich bei gemeinsamen Freunden, wenn diese zum Nachmittagstee einluden.“

„Verzeihen Sie mir, Lady Harleigh, aber Sie sind ganz offensichtlich von der Nachricht mitgenommen. Sind Sie sicher, dass Sie Mrs. Archer nicht mehr als bloß flüchtig kannten?“

„Himmel, natürlich bin ich davon mitgenommen, Inspektor. Ich habe ja gerade erst von ihrem Tod erfahren und habe es wohl noch nicht ganz verstanden. Der Mord an einer Freundin, ob eng oder nicht, ist für mich erschreckend. Ja, wir waren bloß flüchtige Bekannte, doch über die sieben Jahre unserer Bekanntschaft habe ich eine sehr hohe Meinung von ihr entwickelt, auch wenn ich uns nicht als gute Freundinnen bezeichnen würde.“

Er lehnte sich vor und rückte auf seinem Sessel nach vorn. „Wenn Sie sich also jemandem anvertrauen würden, um über Ihre Sorgen zu reden, dann würden Sie sich nicht an Mrs. Archer wenden?“

Ich blinzelte irritiert. „Nein, so nahe standen wir uns nicht.“

Delaney griff in seine Tasche und zog das kleine Notizbuch heraus, das er immer bei sich zu tragen schien. Aus dem Notizbuch zog er ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Er reichte es mir herüber. „Können Sie sich vorstellen, wie sie an diese Information gelangt sein könnte?“

Ich nahm das Blatt Papier. Zuerst fiel mir die hübsche Handschrift auf, doch dann las ich den Inhalt. Wie aus eigenen Stücken fuhr meine Hand zum Mund, als wolle sie die Flüche, die mir auf der Zunge lagen, zurückhalten. Ich ließ den Brief auf meinen Schoß sinken. Auf dem Blatt stand eine vollständige Zusammenfassung dessen, was ich den Streit um mein Bankkonto nannte. Es war ein erbitterter Streit mit meinem Schwager Graham, dem Earl of Harleigh, gewesen. Wir hatten uns letztlich auf eine Art Waffenstillstand geeinigt und Graham hatte seine Klage zurückgezogen. Doch die Angelegenheit war eine so persönliche, dass nur die engste Familie und zwei gute Freunde davon wussten, und Inspektor Delaney. Ich blickte von dem Blatt auf und sah, dass er mich genau musterte. „Dies war in Marys Besitz? Wie kann sie davon erfahren haben?“

„Sie haben ihr nicht von dem Streit erzählt?“

„Selbstverständlich nicht.“

„Wäre es möglich, dass der Earl oder vielleicht seine verstorbene Frau es getan haben könnten?“

Ich hätte die Idee abgetan, hätte Delaney mich nicht so durchdringend angestarrt, dass ich ernsthaft darüber nachdachte. „Natürlich kann ich es nicht mit Gewissheit sagen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen solch eine Angelegenheit mit ihr oder irgendjemandem sonst beredet hat. Es wirft ein schlechtes Licht auf sie. Ich würde meinen, dass sie sogar noch vorsichtiger als ich waren, sicherzugehen, dass niemand davon erfuhr.“

„Das dachte ich mir auch.“ Er atmete seufzend aus. „Könnte der Earl vorsichtig genug gewesen sein, um Mrs. Archer für ihr Stillschweigen zu bezahlen?“

Ich lehnte mich zurück, als könnte ich mich so von solch einer geschmacklosen Anschuldigung distanzieren. „Wollen Sie eine Erpressung andeuten? Ich kann nicht glauben, dass Mary so etwas getan hat.“ Von Zweifeln geplagt sah ich wieder auf das Blatt Papier in meinen Händen. Wie war sie an diese Informationen gekommen? Warum sollte sie sie niederschreiben? Vielleicht lag der Inspektor mit seinen Mutmaßungen richtig.

Delaney trommelte mit seinem Stift leicht auf das Notizbuch und wartete auf eine Antwort. Hatte Mary jemanden erpresst und war aufgrund ihres Erpressungsversuchs umgebracht worden? Himmel! Er war nicht hier, um mir von dem Mord zu berichten, er ermittelte. Ich zog die Luft scharf ein und atmete zitternd aus. „Sie hat mir nie gedroht, diese Details zu enthüllen. Graham ist ein trauernder Witwer.“ Ich hob hilflos die Hände. „Niemand mit Anstand würde jemanden in diesem Zustand bedrohen.“

Delaney streckte die Hand nach dem Papier aus. So gern ich es anzünden wollte, reichte ich es ihm zurück. Vermutlich war es ein Beweismittel. „Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen“, sagte er. „Aber ich werde mit dem Earl sprechen müssen, bevor ich ihn als Verdächtigen ausschließen kann.“

„Als Verdächtiger Mary ermordet zu haben? Das kann nicht Ihr Ernst sein.“

Die zusammengekniffenen Augenbrauen des Inspektors sagten mir, dass es sein voller Ernst war. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich einen Moment lang zweifelte. Graham und ich hatten uns das letzte Jahr in einem Rechtsstreit gegenübergestanden. Er war nicht leicht abzufertigen, wenn man seine Pläne durchkreuzte. Aber Mord? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Angefangen damit, dass es ihm zu viel abverlangen würde.

Ich presste einen Finger an die Schläfe, während ich ihm zusah, wie er das Blatt mit all meinen Geheimnissen zusammenfaltete und wieder in sein Buch legte. „Nun, ich muss sagen, ich hatte genug Aufregung für einen Tag. Ich habe gerade erfahren, dass eine Freundin ermordet wurde. Sie eröffnen mir, dass sie möglicherweise eine Erpresserin war. Und obendrein erfahre ich, dass mein Schwager ein Verdächtiger sein könnte. Ich sollte mich wohl glücklich schätzen, dass Sie mich nicht verdächtigen.“

Er lächelte gequält. „Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie Sie diese Straftat begehen sollten, daher nein. Sie sollten sich nicht zu sehr darum sorgen, dass der Earl ein Verdächtiger ist. Er ist bloß einer von etwa hundert Verdächtigen.“

Es dauerte einen Moment, bis ich seine Worte verstand. „Hundert Verdächtige?“ Ich schüttelte den Kopf, als könne ich so meine Gedanken sortieren. „Sie wollen sagen, Sie haben noch hundert weitere solcher Erpressungsschreiben gefunden?“

Er stand zum Gehen auf und warf mir einen eisigen Blick zu. „Ich habe nichts dergleichen gesagt und auch wenn ich daran zweifle, dass ich Sie davon abhalten kann, diese Informationen nicht ihrem Schwager zukommen zu lassen, würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie diese Unterhaltung ansonsten für sich behalten würden.“ Sein Seufzen zeugte von mentaler Erschöpfung. „Es mag einige Wochen dauern, alle Verdächtigen zu befragen, und ich hätte es lieber, wenn sie keiner vorwarnt.“

Gütiger Himmel, es gab also weitere Schreiben. „Wie kann ich ihren Charakter nur so falsch eingeschätzt haben? Wenn ich nur daran denke, dass ich sie mit meinem Cousin zusammenbringen wollte.“ Meine Schultern sackten herunter. „Nun, kein Wunder, dass sie nicht zueinander passen.“

Delaney, der im Begriff zu gehen gewesen war, blieb stehen, drehte sich um und sah mich lange an. Oh, je. Damit hatte ich ihm zum hundertundersten Verdächtigen verholfen. Er schleppte sich zu dem Sessel, von dem er aufgestanden war, zurück und setzte sich. „Lady Harleigh, als ich Sie fragte, wie gut Sie Mrs. Archer kennen, wäre das die Art von Detail gewesen, das Sie mir hätten erzählen sollen.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und wägte ab, wie wütend er war. Der Inspektor war sehr geduldig und ich neigte dazu, seine Geduld gelegentlich auf die Probe zu stellen. Aber Cousin Charles schien ein noch viel unwahrscheinlicherer Verdächtiger als Graham. „Ich vermute, damit haben Sie recht, Inspektor, aber ich habe nicht absichtlich Hinweise unterschlagen. Sie haben zuvor von Erpressung gesprochen und das hatte nichts mit Mr. Evingdon zu tun.“ Ich kniff die Augen zusammen. „Außer natürlich, Sie haben auch über ihn eine solche Notiz gefunden.“

„Ich habe sie noch nicht alle gelesen, daher wäre es möglich, dass wir eine haben, aber lassen wir von der Erpressung einmal ab. Vielleicht wäre es am besten, Sie erzählen mir alles, was Sie über diesen Mr. Evingdon und seine Beziehung zu Mrs. Archer wissen, damit ich selbst entscheiden kann, ob ich ihn als Verdächtigen in Erwägung ziehen sollte.“ Er legte den Kopf schief. „Ich nehme an, dass er eine Beziehung zu Mrs. Archer hatte?“

Es war wohl besser so, doch ich wollte ihm am liebsten nichts erzählen. Ich atmete mit einem verärgerten Schnauben aus, um meiner Empörung Ausdruck zu verleihen, doch Delaney zog nur eine Augenbraue hoch. Also gut. „Charles Evingdon ist ein Cousin meines verstorbenen Ehemanns und selbstverständlich des derzeitigen Earls. Er ist außerdem ein Freund von Mr. Hazelton.“ Delaney kannte und achtete George, sodass ich hoffte, dass das für Charles sprach.

„Seit kurzem gedenkt er zu heiraten und bat mich, ihm eine geeignete Dame vorzustellen. Angesichts seines Charakters, seiner Persönlichkeit und seinen Bedürfnissen, schien Mary gut zu ihm zu passen. Ich stellte sie einander vor einigen Wochen vor und soweit ich weiß, lernten sie einander gerade erst kennen. Ich hörte, dass er sie zu einigen Veranstaltungen begleitet hat, aber ob er ihr tatsächlich den Hof gemacht hat, weiß ich nicht.“

Delaney zog wieder sein Notizbuch heraus und schrieb etwas auf. Wundervoll. Charles war ein Verdächtiger.

„Ich kann Ihnen außerdem sagen, dass ich ihn heute gesprochen habe. Er erzählte mir, dass er sich von ihr distanzieren wolle.“

„Hat er das? Lieferte er einen Grund für seinen Sinneswandel?“

Wie sollte ich das nur erklären? „Auf seine nervös brabbelnde Art teilte er mir mit, dass es nicht gentlemanlike wäre, zu erklären, inwiefern sie nicht zueinander passen. Er sagte nur, dass sie nicht zueinander passen.“

Delaney musste gar nichts sagen. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Bergarbeiters, der auf einen Klumpen Gold gestoßen war. In seinen Augen war Charles ein idealer Verdächtiger in Marys Mordfall. Ich hob eine Hand, um ihn in seinen Schlussfolgerungen zu bremsen. „Sie können nicht glauben, dass er sie einfach umgebracht hat, weil sie nicht zueinander passen, Inspektor.“

„Hätten Sie sich vorstellen können, dass Mrs. Archer Leute erpresst, Mylady?“

„Nein, ich fürchte nicht“, gab ich zu. „Ich nehme an, Sie haben vor, ihn zu verhören?“

„Außer Sie haben Mrs. Archer einen noch wahrscheinlicheren Verdächtigen vorgestellt. Andernfalls rutscht er an die erste Stelle meiner Liste.“ Delaney tippte mit dem stummeligen Stift auf das Notizbuch und steckte beides zurück in die Tasche.

„Das habe ich befürchtet.“

Nachdem ich Delaney zur Tür begleitet hatte, ging ich zurück in den leeren Salon und zum Kartentisch am vorderen Fenster. Ich sah auf das Marketeriemuster auf der Tischplatte hinunter und wünschte, meine Gedanken wären genauso geordnet. Oder besser noch, sie wären es gewesen, bevor ich mit Delaney gesprochen hatte.

„Ist er fort?“

Ich fuhr herum und sah Hetty, Lily und Lottie hereintreten. Sie blickten sich um, als verstecke Delaney sich hinter einem Sofa.

„Gerade gegangen“, antwortete ich. Wir bewegten uns alle zum Teetisch und setzten uns auf die mit Chintz bezogenen Sessel. Hetty lehnte sich interessiert vor.

„Also?“, fragte sie. „War er wegen des Mordfalls hier?“

„Ja. Und leider habe ich Cousin Charles darin verwickelt.“

Lottie keuchte. „Mr. Evingdon?“

„Himmel, Frances! Er ist dein Cousin“, rief Lily.

Die zwei Mädchen glotzten mich an, als hätte ich eine von ihnen des Verbrechens beschuldigt.

„Das war nicht meine Absicht, das versichere ich dir. Ich habe einfach nur seine Fragen beantwortet.“

Hetty, die praktisch veranlagt war, tätschelte mir das Knie und stand auf. „Du brauchst einen Drink, Liebes. Und dann musst du uns mehr von dieser Unterhaltung erzählen.“

Während sie zum Barschrank an der Wand hinüber ging, beäugten Lily und Lottie mich argwöhnisch, als warteten sie auf eine Erklärung. Lieber Gott, von welchem Teil hatte Delaney gewollt, dass ich ihn für mich behielt? Die Erpressung, nicht wahr? Ja, das und die Notizen.

„Es gibt nicht wirklich viel zu erzählen“, sagte ich. Hetty reichte mir ein Gläschen mit Brandy. Mir entging nicht, dass sie sich auch eines eingeschenkt hatte. Ich nahm einen kleinen Schluck und während die Flüssigkeit mich wärmte, gab ich meine Unterhaltung mit Delaney wieder, zumindest das, was Charles betraf.

„Du hast nichts falsch gemacht, Liebes“, sagte Hetty, als ich alles erzählt hatte. „Inspektor Delaney hätte von ihrer Beziehung früher oder später erfahren.“

Ich holte tief Luft. „Glaubst du das wirklich? Er schien ziemlich begeistert von der Idee, Charles als Verdächtigen aufzulisten. Ich hatte den Eindruck, dass er vorhatte, ihn sogleich zu verhören.“

Lily lehnte sich über den Tisch und legte eine Hand auf meinen Arm. „Ich bin sicher, Tante Hetty hat recht, Franny. Inspektor Delaney wird Mr. Evingdon verhören und ihn für unschuldig erklären. Je schneller er das tut, desto eher kann er den echten Mörder suchen.“

Ich stellte mir vor, wie Charles sich durch Delaneys Fragen stammelte, und war nicht so zuversichtlich wie Lily. „Ich hoffe, dass du richtigliegst.“

Hetty wandte sich zu mir um und fixierte mich. „Du glaubst doch nicht, dass er es getan haben könnte?“

Ich stimmte in den Chor der Mädchen ein und lehnte die Idee klar ab, fragte mich jedoch insgeheim, wie gut ich Cousin Charles tatsächlich kannte. Er war Teil der Familie Wynn mütterlicherseits. Aber während die Wynns ein Haufen nutzloser Snobs waren, die nicht mit Geld umgehen konnten, und dann gab es unter ihnen einige Schürzenjäger, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Familie einen Mörder hervorzubringen vermochte.

Hetty bemerkte meinen unschlüssigen Gesichtsausdruck. „Frances?“

Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich kann es mir nicht vorstellen.“ Aber konnte ich mir Mary als Erpresserin vorstellen? „Es scheint unmöglich.“ Wie gut kannte ich ihn? „Er ist immer so freundlich.“ Aber war er jähzornig?

„Solange du dir sicher bist, Liebes.“

Die drei beobachteten mich gebannt. Dann hellte sich Hettys Miene auf. „Vielleicht solltest du dich mit Hazelton beratschlagen.“

Aber natürlich! Ich sollte dringend mit George reden. „Tante Hetty, das ist eine hervorragende Idee.“

„Mr. Hazelton?“ Lottie kniff verwirrt die Brauen zusammen. „Übt er den Anwaltsberuf aus?“

„Das tut er“, antwortete ich. Das war nicht genau, wie ich George Hazeltons Arbeit bezeichnen würde, aber das musste reichen. George „kümmerte“ sich um Angelegenheiten für die Krone und andere hochrangige Mitglieder der Regierung, doch manche seiner Taten konnte man kaum als legal bezeichnen. Trotzdem pflegte er eine gute Beziehung zur Polizei und der Regierung, und wichtiger noch, kannte er das Gesetz und würde wissen, was Charles bevorstehen mochte.

Vielleicht konnte George mir helfen, meine wirren Gedanken zu sortieren. Und wenn sonst nichts, konnte er meinem Cousin juristischen Rat geben. Schließlich waren sie Freunde. Ja, ich sollte unbedingt mit ihm sprechen.