Leseprobe Der Tod erholt sich nie

Prolog

Kurland St. Mary

Januar 1822

„Robert! Robert, kannst du mich hören?“

Sir Robert Kurland war sich nur vage bewusst, dass etwas nicht stimmte. Er versuchte, sich auf das verschwommene Gesicht seiner Frau zu konzentrieren. Irgendetwas leckte mit lautem Schmatzen an seiner Wange. Er war sich recht sicher, dass dies nicht seine Frau, sondern einer seiner Hunde sein musste. Er kniff fest die Augen zusammen und ein stechender Schmerz fuhr mit solcher Macht durch seine Glieder, dass er sich instinktiv krümmte.

„Robert.“

Eigentlich hätte er es bevorzugt, zurück in die Bewusstlosigkeit zu gleiten und all das unangenehm grelle Licht um die Gestalt seiner Frau herum nicht ertragen zu müssen. Doch sie schien ihn offensichtlich für irgendetwas zu brauchen und er konnte ihr keinen Wunsch abschlagen.

Wo war er? Seine letzte Erinnerung war, dass er die Haupttreppe von Kurland Hall heruntergeschritten war, um seine beiden jungen Hunde, Picton und Blucher, vor dem Frühstück zu einem kurzen Spaziergang auszuführen. Unter sich spürte er den kalten, harten Boden. Zwar war das immer noch besser, als bis zum Hals im Schlamm von Waterloo zu stecken, allerdings dennoch ausgesprochen unbequem.

„Vielen Dank, Foley.“ Lucy schien mit seinem Butler zu sprechen.

Robert stöhnte, als etwas Weiches unter seinem Kopf platziert und eine Decke über seinen Oberkörper drapiert wurde.

„Dr. Fletcher ist auf dem Weg, Mylady.“

„Nein.“ Robert schaffte es, die Augen zu öffnen. „Nicht er, verdammt!“

„Robert.“ Lucy beugte sich näher an ihn heran und eine Träne fiel von ihrer Wange auf die seine. „Mein armer Liebling …“

Er runzelte die Stirn. „Meine Liebste, es besteht kein Anlass für Tränen. Noch bin ich nicht tot.“

Sie versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, und wischte sich hastig über die Wangen. „Entschuldige bitte, aber der Anblick von dir auf dem Boden hat mich doch ein wenig mitgenommen.“ Sie wandte den Kopf in eine andere Richtung. Robert folgte ihrem Blick und sah ein Paar schlammverschmierte Stiefel auf sich zukommen.

„Wir können dich nicht hier draußen in der Kälte liegen lassen. Wenn du es aushältst, werden James und die anderen Bediensteten dich hochheben und ins Bett bringen“, sagte Lucy.

Obwohl er kaum in der Position war, zu widersprechen, verspürte Robert dennoch den Impuls dazu. Er spannte sich unwillkürlich an, als sich die Männer um ihn herum versammelten.

„Auf mein Zeichen.“ Foley hatte jetzt das Kommando übernommen. „Eins, zwei, drei …“

Schon bevor Robert hochgehoben wurde, verschlang der Schmerz ihn vollständig und warf ihn zurück in die Bewusstlosigkeit.

 

Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lag er in seinem eigenen Bett. Die Decke war zurückgeschlagen und Patrick Fletcher, sein Freund und lästigerweise ehemaliger Militärchirurg, blickte ungehalten auf ihn herab.

Jemand hatte Robert bis aufs Hemd entkleidet und dieses so weit hochgezogen, dass der Blick auf die linke Hüfte und den Oberschenkel frei war.

„Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?“, fragte Patrick mit anklagender Stimme. Seine starken Finger tasteten geübt über die starke Schwellung an Roberts Hüfte.

„Ihre Bettmanieren lassen zu wünschen übrig, Dr. Fletcher. Sie werden mit dem hiesigen Adel wohl kein Vermögen verdienen, wenn Sie Ihre Patienten derart anbrüllen“, grummelte Robert.

„Ich brülle Sie an, weil Sie ein wirklich besonders schwerer Fall sind.“ Patrick legte die Hand an Roberts Stirn. „Zu allem Überfluss haben Sie Fieber.“

Das wusste ich bereits.“

„Sie hatten mir Weihnachten versprochen, dass Sie mir eine gründliche Untersuchung gestatten würden.“

„Sie untersuchen mich doch gerade“, bemerkte Robert und erntete dafür einen weiteren zornigen Blick. „Wo ist meine Frau?“

„Sie ist hier, Sir.“

Patrick trat einen Schritt zur Seite und gab damit die Sicht auf Lucy frei, die in einem Sessel am Feuer saß. Ihre Hände hielten krampfhaft ein Taschentuch auf ihrem Schoß umklammert. Die Hunde schliefen seelenruhig zu ihren Füßen. Sie sah ausgesprochen blass aus, doch der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war umso entschlossener.

„Ich weiß, du wolltest Dr. Fletcher nicht sehen. Aber wenn der eigene Ehemann bewusstlos in der Auffahrt gefunden wird, ist es legitim, sich über seine Wünsche hinwegzusetzen.“

„In der Tat“, sagte Robert. „Allerdings wäre es möglicherweise freundlich gewesen, eine Weile abzuwarten und den Patienten nach seiner Meinung zu fragen.“

„Lady Kurland hat richtig gehandelt“, warf Patrick ein. „Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen, Robert, aber diese Schwellung am Oberschenkel ist kochend heiß. Ich möchte buchstäblich keine alten Wunden aufreißen, aber ich habe schon von derartigen Fällen von anderen Chirurgen in der Armee gehört. Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, um den Abszess zu drainieren und nach der Ursache zu suchen.“

Robert schluckte schwer. Der Gedanke, erneut einen Chirurgen Hand an sich legen zu lassen, löste jeden feigen Impuls in ihm aus. Aus diesem Grund hatte er die Schwellung auch niemandem gegenüber erwähnt, nicht einmal seiner Frau.

„Wenn ich nichts unternehme, werden Sie das Bein wahrscheinlich verlieren und möglicherweise auch Ihr Leben, wenn sich die Entzündung ausbreitet“, fuhr Patrick fort.

Lucy trat an die Seite des Doktors und blickte auf Robert herab. „Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, wäre es mir lieber, wenn du dich zur Fortsetzung deines Lebens entscheiden würdest.“

Er griff nach ihrer Hand. „Dann kann ich nicht anders, als zuzustimmen und mich in die Hände des werten Doktors zu begeben. Wann wollen Sie das Schlachtfest veranstalten?“

Patrick wechselte einen Blick mit Lucy. „Wenn möglich, sofort.“

Robert nickte. „Dann geben Sie mir einen Moment mit meiner Frau und ich gehöre ganz Ihnen.“

„Ich muss noch die nötige Ausrüstung holen und Foley dazu überreden, mir den besten Brandy im Haus zu überlassen.“ Patrick packte Robert fest an der Schulter. „Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihr Bein zu retten.“

Die Stille, die nach dem Gehen des Doktors den Raum erfüllte, wurde nur durch das Knistern des Feuers und das leise Wimmern von einem der Hunde durchbrochen, der offenbar im Traum Kaninchen jagte. Lucy setzte sich auf die Bettkante und schlang die Arme um Roberts Schultern. Er zog sie fest an sich heran und küsste sie auf den Schopf.

„Es tut mir leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe.“

Sie legte die Hände an sein Gesicht. „Du bist immer eine meiner größten Sorgen gewesen, aber ich habe mich aus gutem Grund für dich entschieden.“ Sie studierte sein Gesicht. „Soll ich Dr. Fletcher zur Hand gehen oder wäre es dir lieber, wenn ich nicht im Raum bin?“

„Ich würde es bevorzugen, wenn du hier wärst.“ Er zögerte. „Nur für den Fall.“

„Dann werde ich bleiben.“ Sie küsste sanft seine Lippen. „An deiner Seite.“ Sie warf einen Blick zum Feuer. „Die Hunde werden allerdings zurück in die Küche müssen.“ Sie wollte aufstehen, doch er hielt sie zurück.

„Wenn das Undenkbare passiert, habe ich für dich vorgesorgt und den Familienbesitz so gut wie möglich gegen Paul abgesichert, aber …“

Sie legte einen Finger auf seine Lippen. „Das soll uns jetzt nicht kümmern. Ich habe vollstes Vertrauen, dass du für mich da bist, und ich habe keine Angst vor der Zukunft.“ Sie lächelte und er hielt an der Erinnerung dieses Moments fest wie an einem kostbaren Juwel. Ihre Stärke und Ruhe waren für ihn nie wichtiger gewesen als in diesem Augenblick.

Er küsste ihre Finger, dann ihren Mund und vertiefte den Kuss, bis sie fest an ihn geschmiegt war und sie beinahe miteinander verschmolzen. Schließlich löste sie sich vorsichtig von ihm. Mit ernstem Blick richtete sie ihr nun etwas zerzaustes Haar.

„Ich muss einen furchtbaren Anblick abgeben.“

„Für mich siehst du unglaublich schön aus“, erwiderte Robert.

Es klopfte an der Tür und sein Leibdiener Silas streckte den Kopf herein. „Dr. Fletcher hat darum gebeten, dass ich ihm zur Hand gehen soll, Sir. Ich hoffe doch, das ist in Ordnung.“

„Kommen Sie nur herein.“ Robert deutete auf die beiden Hunde. „Aber bringen Sie bitte diese beiden Prachtkerle zuerst nach unten in die Küche und sorgen Sie dafür, dass einer der Stallburschen ihnen zu ein bisschen Bewegung verhilft.“

„Sehr wohl, Sir Robert.“

Foley trat mit einer Flasche seines besten Brandys ein und stellte sie neben Roberts Bett ab.

„Viel Glück, Sir. Wir alle werden für Sie beten.“

 

Lucy presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab, als Dr. Fletcher seine rasiermesserscharfe Klinge in die leuchtend rote Schwellung an Roberts Hüfte führte. Wieso hatte ihr Ehemann ihr nicht gesagt, wie schlecht es um sein Bein bestellt war? Und wieso war es ihr nicht selbst aufgefallen? Wenn Robert den Eingriff des guten Doktors überlebte, würde Lucy ihrem Ehemann genau diese Fragen stellen.

„Halten Sie ihn still“, wies Dr. Fletcher den Leibdiener an, als sich der Patient trotz der volltrunkenen Besinnungslosigkeit deutlich regte. „Lady Kurland, platzieren Sie die Auffangschale bitte direkt unter der Einschnittstelle.“

Obwohl Robert kaum etwas spüren konnte, zuckte er zusammen, als der erste Strom der eitrigen, übelriechenden Flüssigkeit aus dem kleinen Schnitt herausquoll und schließlich in einem Tröpfeln versiegte. Dr. Fletcher drückte vorsichtig auf die Schwellung, bis Blut austrat.

„Ah, einen Augenblick.“ Er beugte sich näher an den Schnitt und zog mit der Spitze seiner Klinge ein undefinierbares Etwas aus der Wunde. „Schauen Sie sich das an! Das muss noch die ganze Zeit da drin gewesen sein.“

„Was genau ist das?“, fragte Lucy mit zusammengebissenen Zähnen.

„Sieht für mich aus wie ein Stück blauen Stoffs von Sir Roberts Husarenuniform.“ Dr. Fletcher lachte laut auf, was auf Lucy in ausgerechnet diesem Moment ausgesprochen unsensibel wirkte. Typisch Mann. „Das muss ich beim letzten Mal übersehen haben. Ich muss ertasten, ob sich noch irgendetwas anderes darin befindet. Sie können die Auffangschale wegnehmen und ich verbinde im Anschluss die Wunde.“

Lucy kämpfte gegen einen Anflug von Übelkeit, während sie das Schälchen abdeckte, vor die Tür brachte und dort auf einem Tablett abstellte. Sie hatte bereits eine Nachricht an Grace Turner, die Heilerin im Ort, schicken lassen, in der Lucy die andere Frau darum bat, möglichst bald zum Anwesen zu kommen, um Robert zu untersuchen. Lucy hatte großes Vertrauen in Dr. Fletcher, aber es konnte nicht schaden, auch eine Expertin für Kräutermedizin zu Rate zu ziehen. Die Tränke von Grace hatten Lucys Gesundheit über das letzte Jahr hinweg weit mehr genutzt als jede Tinktur von Dr. Fletcher.

Bevor sie zurück ins Schlafzimmer trat, schickte sie noch ein Stoßgebet gen Himmel. Wenn Robert das fast unvermeidliche Fieber nach Dr. Fletchers Eingriff überlebte, war sie guter Dinge, dass die sture Natur ihres Mannes sein Überleben gewährleisten würde.

Kapitel 1

„Und was ist, wenn ich nicht nach Bath reisen möchte?“, fragte Robert, während er seiner Frau mit finsterem Blick beim Richten der Kissen zusah. Regen trommelte sanft gegen die Rautenfenster ihres gemeinsamen Schlafzimmers. Ein kalter Windzug pfiff durch den Kamin und ließ das Feuer kleine Wolken ins Innere spucken. „Was, wenn ich es bevorzugen würde, hier in meinem eigenen Bett, in meinen eigenen vier Wänden zu bleiben?“

„Du versauerst jetzt schon wochenlang in deinem Bett“, sagte Lucy und ließ kurz das Bettlaken, das sie gerade richtete, ruhen. „Dr. Fletcher ist der Meinung, dass dir die heißen Quellen in Bath guttun würden. Und in diesem Punkt bin ich ganz seiner Meinung. Ich habe ein Haus in der Nähe der Bäder und des Pump Rooms angemietet. Da kannst du das Heilwasser genießen und dich weiteren Anwendungen unterziehen, je nachdem, was Dr. Fletcher empfiehlt.“

„Du hast das alles schon in die Wege geleitet, ohne mich zu konsultieren?“

Lucy trotzte seinem empörten Blick. „Wenn ich dich konsultiert hätte, hättest du ohnehin Nein gesagt. Es erschien mir viel effizienter, einfach alles zu organisieren und dich vor vollendete Tatsachen zu stellen.“

Robert seufzte. „Was ist mit den Hunden?“

„James wird hierbleiben. Er hat mir versichert, dass er sich um sie kümmern wird, als wären es seine eigenen.“ Lucy bot Robert eine Tasse Tee an. „Foley und dein Leibdiener werden uns begleiten, ebenso wie Betty.“

Robert nippte am Tee und musterte die ruhige, aber bestimmte Miene seiner Frau. Er hatte das Gefühl, dass sie Antworten auf jeden möglichen Einwand finden würde, den er nur vorbringen könnte. Nach Patricks Eingriff an seiner Hüfte war Robert in ein Fieber gefallen, das ihn stark geschwächt hatte. Er hatte keinerlei Erinnerung mehr an die ersten paar Tage nach der Operation. Noch immer hatte er nicht die Kraft, sich zu widersetzen, wenn Lucy sich dazu entschied, ihn von einem der Bediensteten in Decken einpacken und in eine Reisekutsche zerren zu lassen.

„Bath ist nicht mehr wirklich in Mode“, merkte Robert an. „Brighton ist das neue Lieblingsziel der gehobenen Gesellschaft.“

„Daher dachte ich mir, dass du Bath bevorzugen würdest.“ Sie tätschelte seine Hand. „Außer natürlich, du möchtest gerne dem Prinzregenten bei einem Spaziergang an der Promenade begegnen.“

„Guter Gott, nein.“ Robert erschauderte. Auch wenn es der Prinzregent selbst gewesen war, der ihm den Titel des Baronets verliehen hatte, hatte Robert für den königlichen Dummkopf nur wenig übrig. „Das würde mir ganz und gar nicht gefallen.“

„Dann wäre das ja geklärt.“ Lucy nahm ihm die Tasse ab. „Wir reisen Ende der Woche ab.“

Robert ließ sich in die Kissen sinken und akzeptierte seine Niederlage. Wäre seine Frau ein General in der Armee gewesen, hätte sie Napoleon vermutlich innerhalb eines Monats besiegt. Sie platzierte beiläufig einen Kuss auf seiner Stirn, erhob sich und nahm das Teetablett.

„Ich werde zum Pfarrhaus gehen und meinen Vater über unsere Entscheidung unterrichten. Soll ich deiner Tante Rose etwas ausrichten?“

Robert fiel es immer noch schwer, zu akzeptieren, dass seine geliebte Tante Rose Lucys aufgeblasenen Vater geheiratet hatte. Aber die beiden schienen sich sehr gut zu verstehen.

„Richte ihr nur meine Grüße aus.“

Lucy nickte. „Möchtest du noch mit Dermot Fletcher über die Ländereien sprechen?“

„Das werde ich irgendwann im Laufe des Tages machen. Wie lang hast du vor, mich in Bath gefangen zu halten?“

Sie blieb an der Tür stehen. „Mindestens drei Monate.“

So lange?“

„So lautet die Empfehlung von Dr. Fletcher.“ Sie lächelte ihm zu. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass dies das erste Mal seit Tagen war, dass sie glücklich schien. Er war selbst in den besten Zeiten kein besonders umgänglicher Mann und als Invalide war er zehnmal so übellaunig.

„Vielen Dank“, sagte Robert widerwillig.

Lucy zog eine Augenbraue hoch. „Wofür?“

„Dafür, dass du alles organisiert hast.“

Sie besaß die Frechheit, laut zu lachen. „Jetzt weiß ich sicher, dass es dir immer noch nicht gut gehen kann. Normalerweise wäre es dir ein Bedürfnis, die Sache endlos mit mir auszudiskutieren.“ Sie öffnete die Tür und verließ das Zimmer, doch eine Spur ihrer Heiterkeit blieb bei Robert.

Es war schön, sie wieder lachen zu sehen – auch wenn sie sich über ihn lustig machte. Im vergangenen Jahr hatte es Zeiten gegeben, in denen er fast gedacht hätte, dass er ihr Lächeln nie wieder zu Gesicht bekäme. Aber sie schien inzwischen wieder bei weit besserer Gesundheit und ganz ihr altes Ich zu sein. Auch wenn dieses Ich manchmal durchaus anstrengend sein konnte …

 

Nachdem sie sich mit Foley unterhalten hatte, ging Lucy die Auffahrt von Kurland Hall hinunter, bis sie die Rückseite der Kirche erreichte. Sie nahm die Abkürzung über den Kirchhof, bis sie direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Pfarrhauses herauskam. An diesem kalten und windigen Morgen war es geboten, nicht zu lange zu verweilen. Es hatte Lucy sehr überrascht, dass Robert ihr nicht sofort befohlen hatte, die Reise nach Bath abzusagen. Vielleicht war er nach drei Monaten der Untätigkeit seit den Weihnachtsfeierlichkeiten ebenso gelangweilt wie sie, auch wenn er immer wieder gerne dagegen argumentierte, das Haus zu verlassen.

Sie war davon überzeugt, dass ein Tapetenwechsel und die heißen Quellen in Bath seiner Genesung zuträglich sein würden. Dr. Fletcher und Grace Turner, die Heilerin im Ort, sprachen in hohen Tönen von der Idee und das reichte Lucy. Sie würde niemals vergessen, mit welchem Geschick Dr. Fletcher erneut Roberts Leben und sein Bein gerettet hatte. Sie würde für immer in seiner Schuld stehen.

Am Eingangstor zum Pfarrhaus blieb sie stehen und entschied sich dazu, den Haupteingang zu nehmen. Der goldbraune Stein des Hauses war inzwischen von rötlichem Efeu bewachsen, was die zehn Jahre alte, glatte Fassade etwas weniger schroff wirken ließ. Der neumodische Bau hatte Robert nie gefallen. Doch Lucy wusste insgeheim die Wärme und Symmetrie des Pfarrhauses zu schätzen, nachdem sie nun drei Jahre im elisabethanischen Kurland Hall gelebt hatte. Und doch war dies nicht länger ihr Zuhause und ihr Vater hatte eine neue Ehefrau, der jegliche Höflichkeit gebührte. Lucy wartete, nachdem die Türglocke durch das Haus hallte. Zu ihrer Überraschung öffnete schließlich ihr Vater selbst die Tür.

„Meine Güte, Lucy. Wie schön, dich zu sehen.“ Er kniff ihr in die kalte Wange. „Du siehst heute gut aus, meine Liebe. Ich wollte gerade ausreiten. Bist du hier, um mit mir zu sprechen?“

Lucy folgte ihm in die Eingangshalle und er schloss die Tür hinter ihnen. „Sir Robert und ich werden wie geplant Ende der Woche nach Bath aufbrechen.“

„Ausgezeichnete Neuigkeiten, meine Liebe.“ Der Pfarrer rieb die Hände zusammen. „Ich wünsche Sir Robert eine schnelle und umfängliche Genesung.“

„Danke. Ich habe ihm versprochen, dass du Mr Fletcher falls nötig bei Angelegenheiten, welche die Ländereien betreffen, behilflich sein würdest.“ Lucy nahm ihre Haube ab, zog die Handschuhe aus und legte alles auf dem Tisch in der Halle ab.

„Natürlich, natürlich.“ Der Pfarrer blickte diskret auf seine Taschenuhr, nahm seine Reitgerte und setzte einen Hut auf. „Dürfte ich dich in die Hinterstube führen? Rose und Anna werden sicher hoch erfreut sein, dich zu sehen.“

Lucy ließ sich den Gang hinunter führen und von ihrem Vater die Tür öffnen.

„Meine Damen, Lucy ist hier, um euch zu besuchen.“ Der Pfarrer schenkte seiner neuen Ehefrau ein Lächeln. „Sie wird mit Sir Robert Ende der Woche nach Bath reisen. Ich habe ihr versichert, dass ich Mr Fletcher jede Hilfe zukommen lassen werde, die er benötigt.“

Er verbeugte sich und wollte gerade umkehren, doch Lucy legte eine Hand auf seinen Ärmel.

„Ich wollte dich noch eine weitere Sache fragen, Vater.“ Sie lächelte ihn an. „Würdest du mir gestatten, Anna mit nach Bath zu nehmen? Ich würde mich über ihre Gesellschaft ausgesprochen freuen.“

Der Pfarrer sah hinüber zu seiner neuen Frau. „Was hältst du von diesem Plan, meine Liebste? Kannst du Anna für ein paar Monate entbehren?“

Rose lächelte Lucy und Anna zu. Mit ihrem freundlichen Lächeln und den gleichen dunkelblauen Augen wie ihr Neffe Robert war Tante Rose eine ausgesprochen gutaussehende Dame. „Es wird langsam Zeit, dass ich mich nicht länger auf Anna verlasse, um jedes kleine und große Problem im Haushalt zu lösen. Ich muss der Verantwortung meiner neuen Position gerecht werden.“ Sie tätschelte Annas Hand. „Wenn du deine Schwester begleiten möchtest, werde ich dir gerne die Erlaubnis erteilen.“

Anna blickte unsicher von Lucy zu Rose. „Ich bin mir nicht sicher …“

Der Pfarrer räusperte sich. „Und ich muss mich auf den Weg machen. Anna, wenn du deine Schwester nach Bath begleiten möchtest, hast du dafür meinen Segen. Und ich hoffe, dass du diesmal einen jungen Mann finden wirst, der dir so sehr zusagt, dass du in Erwägung ziehst, ihn zu heiraten.“ Er verbeugte sich und verließ das Zimmer. Auf dem Weg zu den Ställen hinter dem Haus rief er die Hunde mit einem Pfeifen zu sich.

Rose klopfte auf den Platz neben sich. „Setz dich doch bitte, Lucy. Wie geht es Robert? Ich bin sehr froh, dass er sich dazu entschieden hat, zur Erholung nach Bath zu gehen.“

Anna kicherte. „Ich glaube kaum, dass Robert besonders viel mit der Entscheidung zu tun hatte, Rose. Lucy hatte schon alles organisiert und ihn so spät wie möglich darüber in Kenntnis gesetzt.“

„Es war nicht wirklich so spät wie möglich“, verteidigte sich Lucy. „Allerdings hatte ich für den Fall, dass er sich widersetzt, bereits in Erwägung gezogen, ihn einfach mit Schlafmitteln ruhig zu stellen und in die Kutsche verladen zu lassen.“

Rose lachte. „Mein Neffe lässt sich nur ungern Befehle geben, aber du scheinst ein Talent dafür zu haben.“

„Lucy ist den Umgang mit schwierigen Männern gewohnt“, sagte Anna. „Trotz der Bemühungen meines Vaters, Anthonys und der Zwillinge hat sie sich in der Regel durchgesetzt.“

Rose läutete die Glocke für die Bediensteten, bestellte frischen Tee und nahm dann wieder ihren Platz ein. Obwohl ihre überraschende Entscheidung, den Pfarrer zu heiraten, noch nicht besonders lange her war, schien sie sich im Pfarrhaus recht wohl zu fühlen. Noch bemerkenswerter war der Umstand, dass sie ehrlich glücklich darüber wirkte, erneut geheiratet zu haben. Die erwachsenen Kinder aus ihrer ersten Ehe hatten sich geweigert, der kleinen Hochzeitszeremonie beizuwohnen. Aber da sie sich mit ihnen zerstritten hatte, hatte ihr das überhaupt nichts ausgemacht.

Anna schenkte Tee ein und bot Lucy ein Stück Kuchen an. Die blonden Locken ihrer Schwester fielen zu einer mühelos eleganten Frisur, die bei Lucy nie im Leben auch nur annähernd so gut ausgesehen hätte. Dazu trug sie ein schlichtes blaues Kleid, das dennoch ihre wunderschöne Figur betonte. Es war wirklich schade, dass Anna noch keinen Ehemann gefunden hatte. Trotz Annas Bedenken, war Lucy entschlossen, ihrer Schwester eine weitere Gelegenheit zu bieten, den Mann ihrer Träume zu finden. Bath war zwar nicht London, aber wie Lucy in Erfahrung gebracht hatte, gab es dennoch ein paar gesellschaftliche Anlässe, bei denen sich einige geeignete Gentlemen auf der Suche nach einer Ehefrau finden lassen könnten …

„Ich denke, du solltest deine Schwester begleiten, Anna.“ Rose nahm eine Tasse Tee entgegen. „Du hast die letzten drei Monate ausschließlich damit verbracht, mich zu unterstützen.“ Ihr warmes Lächeln zeigte deutlich die herzliche Zuneigung zu ihrer neuen Stieftochter. „Ich weiß nicht, was ich ohne deine Hilfe getan hätte. Du verdienst ein paar Wochen der Freiheit.“ Anna biss sich auf die Lippe. „Aber ich bin hier sehr glücklich …“

„Komm doch bitte mit.“ Lucy lehnte sich nach vorn und ergriff die Hand ihrer Schwester. „Robert wird sich jeden Tag Behandlungen unterziehen, sodass ich die Zeit fast völlig allein verbringen muss. Wir können die Läden und die Büchereien erkunden und zusammen ins Theater gehen.“

„Das klingt wirklich sehr verlockend“, gestand Anna. Sie wandte sich Rose zu. „Bist du wirklich sicher, dass du auch ohne mich zurechtkommst?“

„Nein, aber ich werde mein Bestes geben“, erwiderte Rose. „Ich muss irgendwann lernen, was es heißt, dem Pfarrer eine gute Ehefrau zu sein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich noch einmal so spät in meinem Leben heiraten würde, aber ich habe die Herausforderung schon immer geliebt.“

„Dann nehme ich deine Einladung an“, sagte Anna mit einem Lächeln auf den Lippen. „Und damit muss ich jetzt meine Garderobe in Augenschein nehmen. Ich glaube, ich habe gar nichts Vernünftiges, das ich tragen könnte!“

„Wir können in Bath ein paar neue Kleider kaufen“, ermutigte Lucy ihre Schwester. „Ich habe das jedenfalls vor.“

Als sie den Tee ausgetrunken hatten, begleitete Anna Lucy zuerst in die Küche, wo Lucy sich mit den Bediensteten unterhielt, bevor die beiden hinaus in den Garten gingen.

Am hinteren Tor blieb Lucy stehen und musterte ihre Schwester.

„Willst du wirklich so ungern mit nach Bath kommen? Ich habe mich in letzter Zeit manchmal gefragt, ob das Leben im Pfarrhaus für dich … schwierig geworden sein könnte.“

„Glaube bitte nicht, dass Rose mir gegenüber nicht gütig war“, sagte Anna eilig, um die Sorgen ihrer Schwester zu zerstreuen. „Sie ist genau so freundlich, wie sie nach außen scheint und wirkt Wunder auf das schwierige Naturell von Vater.“ Sie seufzte. „Ich fühle mich nur manchmal so überflüssig. Sie sind so glücklich zusammen. Und nachdem ich so lange allein den Haushalt geführt habe, hasse ich den Gedanken, wieder die Rolle der unverheirateten Tochter, die noch zu Hause wohnt, spielen zu müssen.“

„Das kann ich gut nachvollziehen.“ Lucy nickte. „Ich war früher ebenso frustriert.“ Sie küsste Anna auf die Wange. „Vielleicht wirst du weitab von Kurland St. Mary die Gelegenheit erhalten, dir Gedanken über deine Zukunft zu machen.“

„Vielleicht werde ich das.“ Anna zitterte und zog ihr wollenes Halstuch enger um die Schultern. „Jetzt muss ich aber wirklich wieder ins Haus und entscheiden, welche Kleider ich mitnehmen könnte, damit ich nicht allzu furchtbar aussehe.“

„Ich bezweifle, dass du jemals furchtbar aussehen würdest“, sagte Lucy, während Anna schon wieder auf dem Rückweg zum Haus war.

Lucy hatte zu ihrer Zufriedenheit alles erreicht, was sie sich für diesen Morgen vorgenommen hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen und federnden Schrittes machte sie sich auf den Weg zurück nach Kurland Hall. Manche Leute würden vielleicht sagen, sie mischte sich gern überall ein. Sie sah sich allerdings lieber als eine Frau, die das Unmögliche vollbrachte. Robert würde wieder zu Kräften kommen und Anna vielleicht endlich den passenden Ehemann finden. Wahrscheinlich wären die beiden ihr irgendwann einmal dafür dankbar.

Als sie auf die Auffahrt nach Kurland Hall bog, näherte sich ein Reiter und kam vor ihr zum Stehen.

„Guten Morgen, Lady Kurland.“ Dr. Fletcher lüftete zur Begrüßung den Hut. „Wie ich höre, haben sie meinen schwierigsten Patienten davon überzeugt, meinem Rat zu folgen und sich zur Genesung nach Bath zurückzuziehen?“

„Ich bin zuversichtlich, dass er das tun wird, Dr. Fletcher.“ Lucy blickte zum Doktor hinauf und erntete von ihm ein breites Lächeln.

„Ausgezeichnete Neuigkeiten. Ich werde mich Ihnen in der ersten Woche anschließen, bis ich einen guten Arzt in Bath gefunden habe, der meinen Behandlungsplan für Sir Robert auch angemessen umsetzen kann.“

„Sie können gerne bei uns wohnen, Sir. Ich habe ein ganzes Haus angemietet und wir haben mehr als genug Platz.“

„Vielen Dank, Mylady.“ Dr. Fletcher berührte die Krempe seines Huts. „Das würde mir das Leben deutlich erleichtern. Mein neuer Lehrling hier in Kurland St. Mary sollte in der Lage sein, sich um alle medizinischen Anliegen zu kümmern, während ich fort bin.“

„Das ist gut zu wissen“, gestand Lucy. „Ich würde es nur ungern sehen, wenn das gesamte Dorf wegen uns ohne ihre Dienste auskommen müsste.“

Dr. Fletcher zuckte mit den Schultern. „Ohne Sir Robert hätte ich nicht einmal ein Dorf, dem ich meine Dienste anbieten könnte. Nur wenige Landbesitzer würden einem katholischen Iren ein Haus zur Verfügung stellen – selbst wenn dieser ein Veteran des letzten Krieges ist.“

„Wie geht es Penelope, Dr. Fletcher?“, fragte Lucy.

Der Doktor grinste. „Sie kennen meine Frau, Lady Kurland. Sie leidet nicht gerade leise und die ‚unwürdigen Umstände der Schwangerschaft‘ stoßen ihr sauer auf.“ Er seufzte. „Wo wir gerade davon sprechen, ich sollte mich wohl besser auf den Heimweg machen, bevor sie mich suchen kommt.“

„In der Tat.“

Lucy trat einen Schritt zurück, um ihm genug Platz zum Wenden des Pferds zu geben. Er ritt in Richtung des Dorfs davon, wo er und seine Frau in einem bescheidenen Haus zwischen der Schule und dem Ententeich wohnten. Sie überlegte kurz, Penelope zum Nachmittagstee auf dem Anwesen mit der Kutsche abholen zu lassen, aber es gab noch einige organisatorische Dinge zu erledigen. Und Penelope war nicht dafür bekannt, besonders bereitwillig ihre Hilfe anzubieten.

Lucy betrat Kurland Hall durch einen der Seiteneingänge und ließ ihre matschverschmierten Halbstiefel in der Waschküche zurück, bevor sie die Treppe hoch in den Hauptteil des Hauses ging. In der mittelalterlichen Residenz stieg ihr sofort der angenehme Duft von Bienenwachs und Potpourri in die Nase. Auf der Treppe kam ihr Dermot Fletcher, der jüngere Bruder des Doktors und Verwalter der Ländereien von Kurland, entgegen.

„Guten Morgen, Mylady“, begrüßte er sie und verneigte sich vor ihr. „Wie ich höre, werden Sie nach Bath reisen.“

„Ja, wir reisen Freitag ab“, sagte Lucy.

Dermot nickte. „Ich bin gerade auf dem Weg zu Sir Robert, um mit ihm die Pläne für die Monate seiner Abwesenheit zu besprechen.“ Er zögerte. „Es sei denn, Sie wünschen, dass ich später wiederkomme?“

„Machen Sie das ruhig“, erwiderte Lucy. Sie hatte noch einiges zu erledigen, bevor sie Robert wieder aufsuchen würde. „Und richten Sie ihm aus, dass ich mich später zum Nachmittagstee zu ihm gesellen werde.“

„Wie Sie wünschen, Mylady.“ Dermot verbeugte sich erneut und setzte seinen Weg fort. Lucy ging weiter in ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch und widmete sich der beängstigend umfangreichen Aufgabe, einen halben Haushalt für drei Monate an einen völlig neuen Ort ziehen zu lassen. Doch davon ließ sie sich nicht entmutigen, denn sie rief sich in Erinnerung, dass die größten Hindernisse bereits überwunden waren: Robert hatte der Reise zugestimmt und Anna würde sie begleiten. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf nahm sie sich ein frisches Blatt Papier und setzte die Feder an. Es gab noch einen letzten Brief, den sie an einen Bekannten aus der Marine in Bath schreiben musste …