Leseprobe Der Therapeut

Prolog

„D’Artagnan muss sterben!“

Athos lehnte sich zurück und beobachtete, welche Wirkung seine Worte auf die beiden Männer in den ledergepolsterten Ohrensesseln hatten. Porthos drehte eine Zigarre mit den Fingern hin und her und fixierte dabei ohne eine sichtbare Gemütsregung die rotglühende Spitze. Aramis dagegen war eine Spur bleicher geworden. Er blinzelte nervös und sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab. Sein Handy piepste. Er warf einen Blick darauf, schob es mit zitternden Fingern zurück in die Jackentasche und sagte:

„Nein, das dürfen wir nicht tun. Er ist einer von uns“, stieß er heiser hervor. „Habt ihr es vergessen: Einer für alle, alle für einen?“

„Er war einer von uns“, sagte Porthos, den Blick noch immer auf die Zigarrenspitze gerichtet. „Athos hat recht. Es ist zu riskant. Unser Vorhaben ist in die entscheidende Phase getreten. D’Artagnan könnte alles zum Scheitern bringen. Nun heißt es: Einer gegen alle, alle gegen einen!“

Aramis hob die Hände in einer flehenden Geste. „Ich habe euch doch gesagt, dass ich ihn unter Kontrolle habe!“

„Ich weiß nicht, was du unter Kontrolle verstehst“, knurrte Porthos. „Denn das hier sieht mir viel eher nach einem veritablen Amoklauf aus.“ Er deutete auf den Brief, der vor ihnen auf dem Couchtischchen lag.

„Gebt mir noch eine Chance! Ich rücke ihm den Kopf wieder gerade. Er hatte doch schon häufiger seine Aussetzer. Und trotzdem hat er immer geschwiegen“, bat Aramis.

Athos schüttelte den Kopf. „Ich hatte von Anbeginn an Zweifel an deinem Plan. Um unserer Freundschaft mit D’Artagnan willen habe ich dich gewähren lassen. Doch nun zeigt sich, dass meine Skepsis berechtigt war. Er könnte uns alle ins Verderben stürzen. So kurz vor dem Ziel dürfen wir dieses Risiko nicht eingehen. Wir standen schon einmal vor einer Entscheidung wie dieser. Damals war es der richtige Weg. So wird es auch dieses Mal sein: D’Artagnan muss sterben.“

Aramis senkte den Blick. Er atmete schwer. Seine rechte Hand zuckte.

„Wer soll es tun?“, fragte Porthos.

„Den Urteilsspruch verkünden wir D’Artagnan gemeinsam. Die Strafe kann Grimaud ihm zuteilwerden lassen“, sagte Athos.

Porthos nickte. „Dann bliebe noch der Mitwisser. Um den kümmere ich mich persönlich. Mousqueton ist gerade mit anderen Dingen beschäftigt“, sagte er.

Aramis sah wieder auf. „Wir können doch nicht …“

Porthos hob die Hand und sein Gefährte verstummte. „Keine Sorge, ich werde dem Mann nicht ein Haar krümmen. Lass mich nur machen. Wenn es darum geht, jemanden zum Schweigen zu bringen, gibt es effektivere Methoden als den Tod.“

1. Kapitel: John

„Da liegt dieses Messer auf dem Tisch. Meine Mutter kehrt mir den Rücken zu. Ich bin wütend. So unendlich wütend. Und dann … dann stelle ich mir vor, wie ich das Messer ergreife und es ihr tief in den Hals stoße. Nein, ich stelle es mir nicht nur vor. Ich spüre den Drang, nach dem Messer zu greifen, es zu tun. Es ist so furchtbar!“

Dr. John Burgess musterte seinen Klienten. Sir Edmund Hathaway war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem eiförmigen, kahlen Schädel. Er musste nach jedem zweiten Satz die randlose Brille nach oben schieben, da diese auf dem verschwitzten Nasenrücken unweigerlich der Schwerkraft folgte. Seine zitternden Hände steckten in blütenweißen Glacéhandschuhen.

„Jede Nacht träume ich davon, wie ich sie töte. Auf jede nur erdenklich Weise“, fuhr Sir Edmund fort.

Die dicken Tropfen auf seiner Stirn glitzerten und funkelten im Licht der Deckenstrahler. In regelmäßigen Abständen wischte er sich den Schweiß ab. Dazu nahm er jeweils ein frisches Tuch aus einer Plastiktüte auf seinem Schoß, das er nach Gebrauch in den Papierkorb neben dem Stuhl warf.

John notierte etwas auf dem karierten Block, der auf seinen Knien lag. Er spürte, wie sich seine Kiefermuskulatur auf ein Gähnen vorbereitete, und steuerte mit aller Macht dagegen an.

„Und dann wache ich schreiend auf und mein Pyjama ist derart durchgeschwitzt, dass ich die Wäsche wechseln muss. Das geschieht bisweilen drei- oder viermal pro Nacht.“

John nickte. Er beschloss, an dieser Stelle einzuhaken, um seinem Klienten die Möglichkeit zu geben, aus dem Sog der schwarzen Gedanken auszusteigen und sich stattdessen auf die Gegenwart zu fokussieren. Zudem hoffte er darauf, durch eine aktivere Rolle die bleierne Müdigkeit zu vertreiben, die ihn zu überwältigen drohte.

„Wir haben ja schon die letzten Male darüber gesprochen, dass es sich bei den Fantasien, die Sie Ihrer Mutter gegenüber hegen, um Zwangsgedanken handelt. Erinnern Sie sich noch daran?“, fragte er.

Sir Edmunds Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. „Ob ich mich daran erinnere? Natürlich. Ich bin ja schließlich nicht dement.“

„Gut“, sagte John, erfreut darüber, dass es seinem Klienten so rasch gelungen war, von der Angst und dem Ekel, den die Erinnerung an seine Zwangsgedanken hervorgerufen hatte, in eine erdige Gereiztheit zu wechseln. „Wir haben darüber gesprochen, dass die Vorstellung Sie ängstigt, Sie könnten Ihrer Mutter so etwas antun.“

„Sie ängstigt mich nicht nur, sie widert mich an!“, rief Sir Edmund.

„Sie empfinden Angst und Ekel. Diese Gefühle entstehen, weil Sie Ihre Fantasien als eine reale Gefahr bewerten.“

„Aber Sie sind real! Ich habe nicht nur irgendwelche verrückten Gedanken. Ich spüre, wie meine Hand in Richtung der Schublade mit dem Küchenmesser zuckt, wenn ich meiner Mutter gegenüberstehe. Und nicht einmal im Schlaf habe ich Ruhe. Ich träume davon. Jede Nacht. Da muss doch etwas tief in mir sein, das mich dazu drängt, meine Mutter zu töten. Ich kann mir nicht mehr trauen!“

Er schlug die erstaunlich kleinen Hände vor das Gesicht und schluchzte.

„Genau das ist die große Schwierigkeit an Zwangsgedanken“, sagte John. „Sie fühlen sich real an. So real, dass wir zu glauben versucht sind, sie hätten tatsächlich eine tiefere Bedeutung und könnten uns etwas über unsere furchtbarsten und abgründigsten Wünsche erzählen. Aber sie sind nicht real. Sie haben keinen verborgenen Sinn. Sie sind Gedanken. Nicht mehr und nicht weniger.“

John lehnte sich vor.

„Sir Edmund, seit fünfundzwanzig Jahren leiden Sie unter Zwangsgedanken. Sie haben Ihrer Mutter bisher nichts angetan und Sie werden ihr auch zukünftig nichts antun. Genauso wenig, wie Menschen in einer vollbesetzten Kirche plötzlich dem Drang nachgeben, aufzustehen und Obszönitäten von sich zu geben. Zwangsgedanken sind menschlich. Jeder von uns hat sie. Doch niemand führt sie aus.“

„Das können Sie mir nicht garantieren“, sagte Sir Edmund. Er ließ die behandschuhten Hände sinken und schniefte. John reichte ihm ein Kleenex aus dem auf dem Tisch bereitstehenden Spender, da sein Klient die mitgebrachten Tücher in der Plastiktüte ausschließlich für den Schweiß auf seiner Stirn reserviert hatte.

„Natürlich kann ich Ihnen nichts garantieren“, sagte John. „Das ist eine der Schwierigkeiten der menschlichen Existenz. Nichts ist zu hundert Prozent sicher. Sie könnten Ihre Träume und Fantasien in die Tat umsetzen. Genauso wie Sie beim Verlassen meiner Praxis von einem Meteoritenschauer getroffen und getötet werden könnten. Beides ist nicht unmöglich. Aber unwahrscheinlich. Extrem unwahrscheinlich.“

„Und was, wenn ich es doch tue? Obwohl es unwahrscheinlich ist. Ich bin ja nicht irgendwer. In jeder Statistik gibt es Ausreißer. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die die gleichen Gedanken hegen wie ich.“

„Viele Menschen leiden unter Zwangsgedanken und Albträumen“, erwiderte John. „Die Statistiken zeigen, dass bis zu zwei Prozent der Bevölkerung regelmäßig ähnlich belastende Fantasien haben wie Sie. Bei acht Millionen Londonern wären das …“

„160.000. Das habe ich auch schon gelesen. In diesem Selbsthilfebuch, das Sie mir empfohlen hatten. Aber ich glaube Ihnen das nicht.“

John lehnte sich zurück und musterte Edmund. Sie waren an einem kritischen Punkt der Therapie angekommen. Nun würde sich zeigen, ob die Arbeitsbeziehung, die sie in den letzten beiden Stunden aufgebaut hatten, tragfähig genug war, um Hathaway ein realistischeres Therapieziel schmackhaft zu machen.

„Was erwarten Sie von mir?“, fragte John.

„Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir dabei helfen, diese Fantasien loszuwerden. Ich will sie nicht haben. Ich bin kein grausamer Mensch. Ich liebe meine Mutter. Ich …“

Er brach erneut in Tränen aus und John reichte ihm ein weiteres Taschentuch. Sir Edmund schnäuzte sich geräuschvoll.

„Ich kann Ihnen nicht dabei helfen, diese Fantasien loszuwerden“, sagte John.

Hathaways Augen weiteten sich. „Was soll ich dann bei Ihnen?“, fragte er. „Ich bezahle doch nicht 150 £ pro Sitzung, wenn Sie mir nicht helfen können.“

Er erhob sich.

Johns Nackenmuskulatur krampfte sich schmerzhaft zusammen.

„Warten Sie“, sagte er, eine Spur zu laut.

„Warum, wenn das hier nur eine Zeitverschwendung ist?“

John schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie bitte wieder Platz!“

Sir Edmund zögerte. John schluckte schwer. Hinter seiner rechten Schläfe erwachte ein unangenehmes Pochen, das er nur zu gut kannte. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Klienten schon aus dem Raum eilen. Das wäre nicht nur das Ende ihrer therapeutischen Beziehung. Es wäre eine Katastrophe. Für beide Seiten.

Sir Edmund stand auf halbem Weg zwischen dem Sessel und der Tür. John konnte inzwischen auch auf den Handschuhen Schweißflecke erkennen. Hathaway zeigte eine deutliche Stressreaktion. Es wäre nur zu verständlich gewesen, wenn er geradewegs aus dem Raum gestürmt wäre. Er schloss die Augen und seine bleichen Lippen bewegten sich stumm. Dann trat er einen Schritt auf John zu und setzte sich wieder in den bequem gepolsterten Korbsessel. John entspannte sich. Er spürte, wie seine hochgezogenen Schultern sich langsam senkten.

„In einer Therapie geht es nicht darum, Dinge loszuwerden“, sagte er. „Es geht darum, zu lernen, mit belastenden Erfahrungen zurechtzukommen. Die Zwangsgedanken schränken Ihr Leben ein. Sie nehmen sie als derart bedrohlich wahr, dass Sie ihnen viel Zeit widmen. Das wiederum gibt den Gedanken mehr Raum. Sie wirken noch stärker. Sie lassen Ihnen ja nicht einmal nachts Ihre Ruhe. Und irgendwann übernehmen die Gedanken die Kontrolle über Ihr ganzes Leben.“

„Und genau deswegen will ich sie nicht mehr haben.“

„Das ist verständlich“, sagte John. „Aber es ist kein Ziel, auf das wir hinarbeiten können. Gedanken lassen sich nicht einfach amputieren wie ein Raucherbein.“

„Und was für ein Ziel halten sie stattdessen für realistisch?“, fragte Sir Edmund.

John atmete tief durch. Hathaways Skepsis war mit Händen zu greifen, aber die Art der Frage deutete an, dass er zumindest bereit war, seinen Therapeuten anzuhören. „Zurzeit haben die Gedanken die Kontrolle über Sie. Wir können gemeinsam versuchen, den Spieß umzudrehen und die Kontrolle über die Gedanken zurückzugewinnen.“

Sir Edmund legte den Kopf so schief, dass sein leicht abstehendes linkes Ohr die gepolsterte Schulter des Tweedjacketts berührte.

Das Pochen hinter Johns rechter Schläfe wurde lauter und drängender. Würde Hathaway das Therapieziel akzeptieren? Oder würde er die Behandlung doch abbrechen?

„Ich werde über Ihre Worte nachdenken“, sagte Sir Edmund schließlich und erhob sich. „Dann sehen wir uns morgen zur selben Zeit wieder.“

Johns rechte Augenbraue schoss nach oben.

„Aber … nein“, sagte er. „Unsere Termine finden einmal wöchentlich statt.“

Sir Edmunds Augen verengten sich zu Schlitzen und auf einen Schlag war jede Schwäche, jede Unsicherheit verschwunden.

„Ich werde ganz bestimmt nicht bis nächste Woche warten. Das können Sie vielleicht mit einer dieser alten Schachteln machen, die sich bei Ihnen über ihre Eheprobleme ausweinen, aber nicht mit mir. Entweder Sie geben mir für morgen Früh einen neuen Termin oder ich sehe mich gezwungen, mir einen anderen Therapeuten zu suchen.“

John schluckte schwer. Es drängte ihn dazu, zu widersprechen, eine Grenze zu setzen. Aber damit würde er riskieren, dass Hathaway sich doch noch für einen Abbruch der Therapie entschied. Und das durfte er nicht zulassen.

„Lassen Sie sich bitte von meiner Sprechstundenhilfe einen Termin geben, Sir Edmund“, sagte er schließlich.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Hathaways Mondgesicht. Er holte eine weitere Plastiktüte aus seiner Jacketttasche und entnahm ihr eine Mundschutzmaske. Nachdem er diese über Nase und Lippen fixiert hatte, deutete er eine Verneigung an, wandte sich um und verließ den Raum.

Kaum hatte die Tür geschlossen, sank John in die Polster des Korbsessels. Er atmete tief aus und stieß dabei einen Laut zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, den ein unbeteiligter Beobachter leicht als eingebildeter Fatzke deuten hätte können.

Er fühlte sich schwer. So unendlich schwer. Und dabei war es doch erst Montag. Und der Arbeitstag hatte gerade eben erst begonnen. Fünf weitere Klienten warteten noch darauf, nach den Regeln der Psychotherapeutenkunst behandelt zu werden. Dieser Gedanke drückte ihn tiefer in die weichen Kissen.

John schloss die Augen und versuchte, sich mit einer simplen Übung zu erden. Er atmete ein und dann doppelt so lange wieder aus. Schon nach wenigen Wiederholungen spürte er, wie das Pochen hinter der rechten Schläfe nachließ, die Muskeln im Nacken sich lockerten und der Ärger darüber, von Sir Edmund überrumpelt worden zu sein, abflaute.

Ein Klopfen an der Tür beendete den allzu kurzen Augenblick des Friedens. John öffnete die Augen und rief: „Ja, bitte?“

Ein hübsches, junges Gesicht, das von glänzenden, tiefschwarzen Haaren umrahmt wurde, schob sich durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen.

„Linda“, sagte John und erhob sich. „Kommen Sie rein!“

Die Sprechstundenhilfe trat auf ihn zu.

„Was gibt es?“, fragte er.

„Ich habe Sir Hathaway einen Termin am Mittwochvormittag gegeben. Morgen war keiner mehr frei.“

John spürte, wie die Nackenmuskulatur sich erneut verhärtete und die Schultern nach oben strebten.

„Wie hat er reagiert?“, fragte er, bemüht darum, Linda seine Anspannung nicht anmerken zu lassen.

„Naja“, sagte sie und ihre Mundwinkel zuckten in der Andeutung eines amüsierten Lächelns nach oben. „Er hat sich natürlich ein bisschen aufgeplustert hinter seinem Mundschutz. Alter Adel und so. Aber dann habe ich ihm erklärt, dass er in ganz London keinen fähigeren Therapeuten finden wird als Sie. Und dann war er plötzlich wieder so klein, wie er tatsächlich ist.“

John ließ die Schultern sinken. „Danke, das haben Sie gut gemacht. Auch wenn das mit meinen therapeutischen Fähigkeiten eine maßlose Übertreibung war.“

Linda zwinkerte ihm zu. „Der Zweck heiligt die Mittel. Sir Hathaway wird wiederkommen.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, sagte John.

Linda sah ihn aufmerksam an. „Na, auf Patienten wie ihn könnten Sie doch sicher auch verzichten. Ich meine … ich kenne mich ja nicht aus, aber der wirkt wie eine ziemliche Nervensäge. Müssen Sie sich so jemanden wirklich antun?“

John seufzte. Er rang mit sich, unsicher, ob er dieses Gespräch mit seiner Sprechstundenhilfe führen wollte. Aber es war besser, wenn sie gleich von Anfang an Bescheid wusste.

„Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns?“, fragte er.

„Seit drei Wochen“, erwiderte Linda.

John nickte. „Und Dr. Hamilton und ich sind wirklich froh, dass wir so rasch einen Ersatz für Ihre Vorgängerin gefunden haben. Ich selbst habe auch nur fünf Wochen mehr Erfahrung mit dieser Praxis als Sie.“

„Sie sind als neuer Teilhaber eingestiegen, das hat mir Dr. Hamilton schon im Vorstellungsgespräch erzählt.“

John nickte. „Nun, wovon er Ihnen wahrscheinlich nichts erzählt hat, ist die traurige Tatsache, dass ich mich für diese Teilhaberschaft ziemlich hoch verschulden musste. Dr. Hamilton kann sich seine Klienten aussuchen. Ich nicht. Ich bin darauf angewiesen, jeden zu behandeln, der bereit ist, 150 £ pro Stunde zu bezahlen.“

„Oje, dann drücke ich Ihnen die Daumen, dass Sir Hathaway am Mittwoch auch wirklich kommt. Oder dass er wenigstens zu spät absagt. Dann können wir ihm das volle Honorar berechnen.“

John kam nicht umhin, Lindas Äußerung mit einem beifälligen Grinsen zu quittieren, wurde jedoch rasch wieder ernst.

„Ob Sie es glauben, oder nicht“, sagte er. „Mir wäre nicht nur aus finanziellen Gründen daran gelegen, dass Sir Hathaway zu seinem nächsten Termin kommt. Er hat einen hohen Leidensdruck und ich glaube, dass ich ihm helfen kann. Er mag nach außen schroff und snobistisch wirken, aber in seinem Innern geht es ihm gar nicht gut.“

Linda warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Na, wenn Sie meinen“, sagte sie. „Ach, übrigens soll ich Sie noch daran erinnern, dass Sie Ihre Tochter Poppy am Bahnhof abholen wollten.“

John schlug sich gegen die Stirn. „Oje, das hätte ich fast vergessen.“

„Naja, dafür haben Sie ja eine Sprechstundenhilfe. Aber machen Sie sich keinen Stress, Sie haben noch fünf Stunden Zeit.“

„Ist Mr. Maddock schon da?“, fragte John nach einem kurzen Blick auf die Uhr. Der nächste Termin war bereits zwei Minuten überfällig.

Linda schüttelte den Kopf.

John spürte, wie das Pochen hinter seine Schläfe wieder zunahm.

„Er wird schon noch kommen. Sie wissen doch, wie diese berühmten Schriftsteller sind. Pünktlichkeit kommt in deren Wortschatz nicht vor“, sagte Linda und lächelte John zu.

Er meinte, eine Spur Mitleid in diesem Lächeln zu erkennen, und das gefiel ihm gar nicht. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, alle Arten von Emotionen in Linda zu wecken. Nur eben kein Mitleid.

Draußen läutete das Telefon. Linda eilte hinaus. Er hörte, wie sie sich meldete, den Rest verstand er nicht. Dann klingelte sein Apparat. Er nahm ab.

„Mr. Maddock für Sie“, sagte Linda.

Die Leitung klickte.

„Ja, Burgess“, meldete sich John.

„Oh, gut, dass ich Sie erreiche, Dr. Burgess“, hörte er die weiche Stimme des Schriftstellers sagen. „Es tut mir so leid, aber ich habe unseren Termin heute vollkommen vergessen. Ich werde natürlich für die ausgefallene Stunde aufkommen.“

„Danke, dass Sie sich melden“, sagte John. „Wie geht es Ihnen denn?“

„Ja, es geht. Besser als letzte Woche. Und das ist zum großen Teil Ihr Verdienst. Wenn es jemand schafft, einen Sinn in das Chaos in meinem Kopf zu bringen, dann Sie. Ich setze weiterhin große Hoffnungen in Ihre Fähigkeiten!“

John nickte geistesabwesend und scrollte durch seinen elektronischen Terminkalender.

„Ich sehe, dass wir für kommenden Montag bereits einen Termin vereinbart haben. Ist das in Ordnung? Oder soll ich Sie früher einschieben?“

„Das wird nicht nötig sein. Montag reicht vollkommen aus. Vielen Dank!“

„Gerne“, sagte John. „Auf Wiedersehen.“

Er legte auf und lehnte sich zurück. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er eine gute Dreiviertelstunde auf seiner Couch entspannen konnte, ehe die nächste Klientin kam. Vielleicht ließ sich diese Woche doch nicht so schlecht an, wie er befürchtet hatte. Er durfte nur nicht vergessen, seine Tochter am Bahnhof abzuholen. Noch während er diesen Gedanken dachte, überwältigte ihn die Müdigkeit und er dämmerte weg.

2. Kapitel: Unity

„Fuck!“

Unity schlug mit der flachen Hand auf den schwarzen Plastikhandgriff der Rolltreppe. Die Rücklichter des abfahrenden Zuges waren eben noch zu erkennen. Wie die glühenden Augen eines Raubtiers in der Nacht starrten sie Unity noch einen Moment lang an, ehe sie sich mit dem abschwellenden Rattern der Wagen in das Dunkel des Tunnels zurückzogen.

Sie schob sich eine besonders widerspenstige Strähne ihres Afros hinter das knallbunte Stirnband und schaute zur Anzeige empor. Der nächste Zug würde in elf Minuten eintreffen. Ein Blick auf ihr Handy zeigte ihr, dass das ihre morgendliche Verspätung auf einen Gesamtwert von fünfunddreißig Minuten anheben würde. Das war selbst für ihre Verhältnisse ein neuer Rekord.

Sie wählte Marcs Nummer. Nach dreimaligem Tuten hörte sie seine Stimme.

„Unity? Wo steckst du denn? Grimson hat schon nach dir gefragt?“

„Grimson?!“ Unitys Stimme überschlug sich. Was wollte denn der Chefredakteur von ihr? Sie war doch nur eine Volontärin. Eine chronisch unpünktliche Volontärin.

„Was hast du ihm gesagt?“

„Keine Panik“, erwiderte Marc.

Er schien zu spüren, wie aufgeregt sie war, und dafür war Unity ihm dankbar. Marc war ein Schatz. Ohne ihn hätte sie wohl schon am ersten Tag die Segel gestrichen. Die Redaktion des Morning Star war eine neue Welt für sie gewesen, voller Faszination, aber auch voller Fallstricke. Es war ein Glücksfall, dass man Marc den Auftrag gegeben hatte, sie einzuarbeiten, und nicht einem der anderen Kollegen, die nur eines noch mehr waren als überarbeitet: unfreundlich.

„Bist du noch dran?“

Marcs Frage riss Unity aus ihren rasenden Gedanken.

„Äh, ja klar. Was will Grimson denn von mir?“

„Das wollte er mir nicht verraten“, sagte Marc. „Du sollst gleich in sein Büro kommen, wenn du auftauchst. Also beeil’ dich ein bisschen!“

„Ich tu, was ich kann! Bye.“

Sie legte auf und schaute wieder auf ihr Handy. Noch acht Minuten, bis der nächste Zug eintraf. Sie überlegte kurz, ob sie die Rolltreppe nach oben nehmen und ein Taxi rufen sollte. Aber bei dem allmorgendlichen Berufsverkehr würde sie an der Oberfläche wahrscheinlich noch länger brauchen als mit der Tube.

Sie schätzte die Entfernung ab. Zwischen Aldgate East und der London Bridge lag eine Meile dicht bevölkerter Gehsteige. Sie konnte also nicht damit rechnen, freie Bahn zu haben, um ihre zu Schulzeiten berühmten Läuferinnenqualitäten unter Beweis zu stellen. Zudem würde sie verschwitzt in Grimsons Büro ankommen und das fände der wahrscheinlich ziemlich daneben.

Was der Chefredakteur wohl von ihr wollte? Ein schrecklicher Gedanke flog sie an. Was, wenn er ihr mitteilen würde, dass sie ihre Siebensachen packen und verschwinden solle? Dass man einen anderen, qualifizierteren Volontär eingestellt hatte und ihre kümmerlichen Dienste nun nicht mehr benötigte?

Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken. Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie an Leistungen vorweisen konnte. Naturgemäß war das nicht viel, sie war ja erst seit zwei Wochen beim Morning Star. Die kleinen Berichte über eine Kneipenschlägerei in Brixton oder den Kirchenbasar in Southwark hätte eine Schülerin schreiben können.

Die Reportage über das Schwanenpaar, das seit einigen Wochen die Themse zwischen Tower und London Bridge bewohnte und den Touristen als beliebtes Fotomotiv diente, war da schon ein anderes Kaliber. Sie hatte viel Mühe reingesteckt und Marc hatte sie sehr dafür gelobt. Aber reichte das aus, um den kritischen Mr. Jeremy Grimson, den toughesten Chefredakteur in der härtesten Presseszene der Welt, zufriedenzustellen?

Endlich fuhr der Zug ein. Unity stöhnte auf, als sie sah, wie voll er war. Die Türen öffneten sich und sie arbeitete sich in die dichtstehende Menge im Inneren des Wagens vor, was ihr Flüche und auch eine unsagbar dämliche, rassistische Bemerkung eines nach schalem Ale stinkenden Typen eintrug, der wohl glaubte, er könne sich nach dem Brexit nun alles erlauben.

Sie klammerte sich an eines der gelben Plastikrohre und versuchte, den Gestank auszublenden, der sie einhüllte wie eine Pestwolke. Kalter Zigarettenrauch, Schweiß, Deos, Ausdünstungen nach Knoblauch und anderen Gewürzen. Sie hasste die Tube. Um sich von der aufsteigenden Übelkeit abzulenken, las sie den Leitartikel der Times, den eine ältere Dame ihr freundlicherweise entgegenstreckte. Der Chef des Politikressorts rechnete damit, dass Sir James Fitzwilliams Aufstieg zum Premierminister nur noch eine Formsache war. Nun, für diese Vorhersage würde er bei keinem Wettbüro gute Quoten bekommen. Fitzwilliam hatte seit letzter Woche keinen innerparteilichen Gegner mehr. Sir Gregory Rushmore, der Schatzkanzler und Anwärter auf den Posten des PM, war festgenommen worden, weil die Polizei auf seinem privaten Laptop kinderpornografisches Material gefunden hatte. Marc hatte einen vielbeachteten Artikel darüber geschrieben und damit die Verkaufszahlen des Morning Star im Alleingang explodieren lassen. Und woran hatte sie währenddessen gearbeitet? An zwei gähnend langweiligen Vögeln. Die Welt war unfair.

Als sie drei Bahnhöfe später endlich wieder Tageslicht erblickte, atmete sie erst einmal tief durch. Es war zehn vor neun. Wenn sie es bis zur vollen Stunde in Grimsons Büro schaffte, wäre alles gut. Sie würde ihm einfach erzählen, dass sie noch an der Themse gewesen sei, um nach den Schwänen zu schauen.

Unity betrat das Redaktionsgebäude um vier Minuten vor neun. Anstatt auf den Aufzug zu warten, der im zehnten Stockwerk festhing, hastete sie die drei Treppenabsätze bis zu den Räumen des Morning Star hinauf. Sie öffnete die Eingangstür mit ihrem Chip und eilte zu dem Abteil im Großraumbüro, das sie sich mit Marc teilte.

„Gut ausgeschlafen?“, fragte er und der schmale Mund unter seinem dichten, braunen Hipster-Bart verbreiterte sich zu einem Lächeln. Sie wollte ein freundliches Fuck you! erwidern, dann fiel ihr jedoch ein, dass sie Marc trotz seiner angenehmen Umgangsformen noch nicht gut genug kannte, um ihm liebevolle Frotzeleien an den Kopf zu werfen.

„Nein, schlecht aufgehört“, sagte sie stattdessen, stellte ihre Handtasche auf den Minischreibtisch neben den PC und machte sich auf den Weg zum Büro des Chefredakteurs. Ihre Knöchel klopften im Einklang mit den 9-Uhr-Glocken von St. Paul’s gegen die Tür.

Im Raum roch es nach kalter Asche und Kaffee. Grimson saß hinter dem Schreibtisch. Er hatte die Fersen auf eine Ecke des Möbels abgelegt und die altmodische Hornbrille auf die kahle Stirn geschoben. Die Spitzen seines ausladenden Schnurrbarts zuckten auf und ab wie der Stab eines Dirigenten, während der gewaltige Bauch sich im Rhythmus seiner Atemzüge hob und senkte. Er war in die Lektüre eines einzelnen Blattes vertieft. Als er Unity eintreten sah, legte Grimson das Dokument beiseite und nahm die Füße von der Tischplatte.

„Guten Morgen, Miss Wilmore“, sagte er und deutete mit seiner Pranke auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz.“

Unity versuchte, an der Miene des Chefredakteurs abzulesen, ob er ihr freundlich gesinnt war, oder ob er sie gleich feuern würde. Ihr Herz wummerte in ihren Ohren wie ein heftiger Technobeat.

„Guten Morgen, Sir“, sagte sie und setzte sich Grimson gegenüber. Dieser schob die riesige Hornbrille auf der kleinen Nase zurecht, zwirbelte die rechte Spitze seines Schnurrbarts und musterte sie eindringlich mit schmalen, grauen Augen, die durch die Brillengläser unnatürlich vergrößert wurden.

„Sie sind nun seit zwei Wochen bei uns“, begann er und Unity ergänzte den Satz in Gedanken mit und haben in dieser Zeit unsere Erwartungen leider nicht erfüllen können. Instinktiv wollte sie sich verteidigen, doch Grimson fuhr fort:

„Wie gefällt es Ihnen denn beim Morning Star?“

„Äh… gut“, erwiderte sie, vollkommen aus dem Konzept gebracht, weniger durch die Frage als durch den plötzlich sehr freundlichen Ton des Chefredakteurs.

„Schön, das freut mich. Mir ist zugetragen worden, dass Sie sich bislang engagiert eingebracht haben. Das ist lobenswert.“

Unity fragte sich, wer ihm das wohl gesteckt haben könnte. War es Marc gewesen? Wer sonst? Sie spürte, wie sich ein großer Stein in ihrem Innern zu lösen begann. Ihr Puls schlug nun einen groovigen Motown-Beat an.

„Danke, Sir“, sagte sie.

„Woran arbeiten Sie gerade?“, fragte er.

„An einer Reportage über das Schwanenpaar auf der Themse.“

Er verzog das Gesicht und Unitys Herzschlag nahm sofort wieder an Fahrt auf.

„Sie sind doch sicherlich nicht zum Morning Star gekommen, um über zwei turtelnde Vögel zu schreiben, die zur Zeit Heinrichs VIII. bestenfalls als Hauptgericht von sich reden gemacht hätten.“

Unity schluckte. „Es ist ein Anfang“, erwiderte sie vorsichtig.

Grimson winkte ab. „Es ist der sicherste Weg ins Mittelmaß. Wollen Sie Mittelmaß sein? Ich hätte Sie als ehrgeiziger eingeschätzt. Ihre Bewerbung klingt jedenfalls nicht so, als ob Sie Ihr Lebensziel darin sehen, über des Liebesglück eines Schwanenpaares zu schreiben.“

Er klopfte mit der Handfläche auf eine Bewerbungsmappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Auf Unitys Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus, als sie die Mappe als ihre eigene wiedererkannte.

„Natürlich will ich große Reportagen schreiben“, sagte sie. Der Satz gab ihr so viel Mut, dass sie hinterherschob: „Sonst hätte ich mich nicht beim Morning Star beworben, sondern meinen Job als Texterin in der Werbeagentur behalten.“

„Na endlich kommt mal ein wenig Feuer in Ihre Bude“, sagte Grimson. Er lehnte sich zurück und grinste sie an. Die Spitzen seines Schnurrbartes wurden dadurch nach oben gebogen, was ihm das Aussehen eines verrückten Zirkusdirektors verlieh.

Unity fühlte sich jedoch keineswegs entflammt, sondern eher so, als ob sie gerade an einer Ice-Bucket-Challenge teilgenommen hätte. Was wollte der Chefredakteur von ihr? „Okay, jetzt haben wir lange genug um den heißen Brei herumgeredet“, sagte Grimson. „Langer Rede kurzer Sinn: Ich habe einen Auftrag für Sie.“

„Einen Auftrag?“

Unity hatte sich zu spät auf die Zunge gebissen, um zu verhindern, dass sie klang wie ein verdammter Papagei.

„Haben Sie schon einmal etwas von Christopher Maddock gehört?“, fragte er.

„Den Schriftsteller?“

„Ja, genau, gutes Mädchen“, sagte Grimson und zwinkerte ihr zu. „Sie werden mir bitte eine umfängliche Recherche anlegen zu allem, was wir über Maddock wissen müssen. Lassen Sie nichts aus, je schmutziger die Details, desto besser.“

Unity nickte nur. Das Ganze drohte gerade, sie zu überrollen. Erst die Angst, den Job zu verlieren und nun ein Auftrag, der ihr ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend verursachte.

„Ich soll nach dunklen Punkten im Leben eines Prominenten suchen?“, fragte sie.

Offenbar hatte Grimson aus ihrem Ton geschlossen, wie wenig begeistert sie war, denn er sagte: „Glauben Sie mir, dreckige Wäsche zu waschen mag Ihnen weniger ehrbar erscheinen als eine nette Reportage aus dem Reich der Tiere. Aber es wird Ihre Karriere deutlich rascher in die Gänge bringen als das liebe Federvieh. Ich zähle auf Sie. Zeigen Sie mir, dass ich richtig gehandelt habe, als ich aus den über vierhundert Bewerbern für das Volontariat ausgerechnet ein jamaikanisches Mädchen aus dem Eastend ausgewählt habe.“