Leseprobe Der Mörder am Half Moon Gate

Prolog

Ein dichter Nebel zog vom Fluss herauf. Er schlang sich um die Beine des Mannes, als er sich seinen Weg durch den faul riechenden Schlamm bahnte, und stieg empor, wo er die engen, verwinkelten Gassen in einen Schleier hüllte. Der Mann blieb einen Moment lang stehen, um zu beobachten, wie der Dunst durch die Dunkelheit geisterte.

Gänsehaut überkam ihn.

Er starrte in die Finsternis und versuchte, die schmiedeeisernen Bögen von Half Moon Gate zu finden. Doch vor ihm lagen nichts als schwarze Schatten.

Er kannte sich in London nicht aus und musste die Anweisungen durcheinandergebracht haben. Vom Red Lion Square aus war er dreimal - oder viermal? - abgebogen und hatte sich plötzlich in einem Labyrinth aus dunklen Gassen verirrt. Gedrängte Lagerhäuser, schief und schmutzig, reihten sich entlang der krummen Straßen aneinander, während die mit Brettern verschlagenen Häuser der Elendsviertel in schiefen Winkeln emporstiegen und nichts als einen winzigen Spalt Himmel offenließen. Ein Blick nach oben offenbarte einen schwachen Schimmer des Mondlichtes, das zwischen den ausladenden Dächern Versteck spielte.

„Logik“, murmelte er. „Es gibt kein Rätsel, das nicht durch Logik gelöst werden kann.“ Er drehte sich langsam im Kreis herum und versuchte, sich zurechtzufinden.

Links, beschloss er. Nach links abzubiegen, würde ihn wieder zu den gepflasterten Straßen des Platzes zurückbringen, wo er von vorn beginnen konnte.

Mit der Überzeugung, schon bald einen Lichtschimmer zu sehen, machte er sich auf den Weg. Doch stattdessen schienen sich die Schatten zu verdunkeln und näherzukommen. Er versuchte, ruhig durchzuatmen, doch der Gestank ließ ihn würgen.

„Logik“, rief er sich ins Gedächtnis. Noch ein oder zweimal abbiegen und er würde …

Plötzlich blieb er stehen und das Scharren von Schritten hinter ihm verstummte. Allerdings nicht schnell genug. Den Gesetzen der Physik nach zu urteilen, konnte es kein Echo gewesen sein.

„Wer ist da?“, rief er scharf. Seine Frau hatte ihn gewarnt, die Nachricht zu ignorieren, in der man ihn um ein Treffen gebeten hatte. Er hatte vorgehabt, auf sie zu hören, doch den zweiten Brief hatte er nicht ignorieren können. So viel hing davon ab, die richtige Entscheidung zu treffen …

Keine Antwort außer dem Knarren von rostigem Metall, das im Wind schaukelte.

Er verfluchte sich selbst dafür, so schreckhaft zu sein. Die schiefen Wände und Dächer verzerrten die Geräusche, das war alles. Er ging weiter, bog nach links ab, dann nach rechts und dann wieder nach links, und wurde das Gefühl nicht los, im Kreis zu laufen. Nicht einmal ein kleines Flimmern weit und breit. Die Schatten wurden immer dunkler.

Aus dem Nichts ertönte ein leises, krächzendes Lachen.

Er beschleunigte seine Schritte.

Ruhig, ruhig, beschwichtigte er sich selbst. Er sollte den Platz jeden Moment erreichen.

Doch seine Stiefel schienen ein Eigenleben zu führen. Schneller, schneller … Hinter ihm schien das Echo aufzuholen. Es kam von rechts – er musste nach links!

Rutschend und stolpernd verlor er den Halt, als er um die Ecke eines verlassenen Lagerhauses bog, und prallte gegen den rußschwarzen Klinker. Schmerz durchfuhr seine Schulter.

„Teufel noch eins.“ Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete zittrig ein. Kein gebildeter, intelligenter Mann der Wissenschaft sollte sich von nichtexistierenden Gespenstern erschrecken lassen. Logik …

Doch entgegen aller Logik wurden die Schritte lauter. Und dann dröhnte eine spottende Stimme durch die Schatten.

„Sie mögen im Labor über brillante Fähigkeiten verfügen, doch hier in der Gosse helfen Ihnen keine ausgefallenen Formeln, Mr. Ashton.“

Ashton stieß sich von der Wand ab und begann zu rennen, so schnell er nur konnte.

In was für eine gottverlassene Hölle hatte er sich hier nur begeben?

Vor ihm ragte eine Wand aus der Dunkelheit hervor. Er zögerte einen Augenblick lang, doch dann trieb ihn der Klang der Verfolgung wieder nach links. Nachdem er ein weiteres Mal nach links abgebogen war, versuchte er, zusätzlich an Geschwindigkeit zu gewinnen, doch er rutschte aus und verlor das Gleichgewicht.

Er schlug auf dem Boden auf, rollte sich durch den Matsch und war schon wieder halb auf den Beinen, als eine Hand – gehüllt in einen Handschuh so schwarz wie Luzifer – hervorschoss und ihn am Kragen packte. Sein Angreifer schleuderte ihn herum und beförderte ihn gegen das Eisentor.

Instinktiv hob er seinen Arm, um den Schlag in Richtung seines Schädels zu parieren. Sein Angreifer wich zurück und Ashton hörte das leise Flüstern von Stahl auf Leder, als ein Messer seine Scheide verließ.

Er war nicht mehr jung, doch er hatte den Großteil seines Lebens damit verbracht, Eisen mit Hammer und Meißel zu bearbeiten. Seine Arme waren noch immer muskulös, seine Hände noch immer stark. Er hatte nicht die Absicht, kampflos aufzugeben.

Er warf sich mit all seinem Gewicht zur Seite und befreite sich von dem Griff des Mannes, bevor er einen harten Schlag austeilte. Er fand eine finstere Befriedigung darin, wie seine breiten Knöchel mit einem Knacken den Schädel des anderen Mannes trafen.

Ein schmerzerfülltes Stöhnen, ein derber Fluch. Sein Angreifer ließ das Messer von Hand zu Hand wandern, während er einen Schritt zurückwich, bevor er, jetzt vorsichtiger, erneut auf ihn zuging. Der Mond war wieder durch die Wolken gebrochen und ließ einen Hauch Licht auf die schmale Gasse scheinen. Es blitzte über den geschärften Stahl in der Hand seines Angreifers.

Ashton fischte seinen Geldbeutel heraus und warf ihn auf den Boden. „Hier, nehmen Sie mein Geld. Das ist alles, was ich an Wertsachen bei mir trage.“

Sein Angreifer brach in gemeines Gelächter aus. Eine Maske verbarg sein Gesicht, doch ein bösartiges Funkeln wich durch die Augenschlitze in der Seide.

„Ich will kein Geld. Ich will die Zeichnungen.“

Wie konnte ein einfacher Straßenräuber von den Zeichnungen wissen? „W-welche Zeichnungen?“, stammelte er.

Die Antwort folgte in Form von einigen blitzschnellen Finten mit der Klinge, die Ashton zurück gegen die unnachgiebigen Eisenstangen trieben. Er war jetzt in dem schmalen, versperrten Einlass zwischen zwei Lagerhäusern gefangen. Verzweifelt führte er einen Tritt aus, doch der Mann mit dem finsteren Blick war flink wie eine Schlange. Er wich aus und rammte Ashton sein Knie in die Leiste.

„Ich bin es leid, Katz und Maus mit Ihnen zu spielen.“

„Ich habe keine …“, keuchte Ashton.

Doch ein heftiger Schlag mit dem Ellbogen gegen seine Kehle zerquetschte seine Luftröhre, bevor er weiterreden konnte.

Nein, nein, nein, formte er in stiller Qual mit seinen Lippen. Lieber Gott – nicht jetzt! Nicht jetzt, wo seine bedeutsame Entdeckung im Begriff war, die Welt zu verändern.

„Bitte, lassen Sie mich leben“, schaffte er zu flüstern.

„Sie leben lassen?“ Das Messer durchdrang das Fleisch zwischen Ashtons Rippen. „Ich befürchte, das wird nicht möglich sein.“

Er spürte keinen Schmerz, nur ein merkwürdiges Kribbeln. Wie eigenartig, dachte er. Dampf war stets so angenehm warm, doch der silbrige Dunst, der seine Wangen streichelte, war so kalt wie des Teufels Herz.

„Sie müssen wissen, Mr. Ashton, Sie leben zu lassen, würde alles ruinieren.“

 

Der Mann mit dem finsteren Blick ließ den leblosen Körper auf den Boden sacken. Ein Durchsuchen von Ashtons Taschen brachte nichts als einen Bleistiftstummel, eine Rolle Schnur und ein Stück Draht zum Vorschein. Er fluchte leise und öffnete den Mantel des Toten, um das Futter mit dem noch immer blutigen Messer aufzuschlitzen.

Nichts.

Hosen, Stiefel, Strümpfe - die Klinge schnitt durch die Kleidung, doch es war kein gottverdammtes Papier zu finden.

Als die Fassungslosigkeit der Wut wich, schlitzte der Mann mit dem finsteren Blick eine Reihe klaffender Schnitte in das blasse Fleisch von Ashtons entblößtem Bauch.

„Verdammt sollst du sein! Wo sind sie?“

Kapitel 1

„Wie kommt es, dass ich nie gewinne, wenn wir Karten oder Würfel spielen, Wrex?“ Christopher Sheffield trat einen Haufen verrottenden Kohl beiseite, bevor er durch einen tiefen Torbogen hindurch vorausging. „Während Sie die Spielhöllen immer mit vollgestopften Taschen verlassen.“ Er seufzte schwermütig. „Es widerspricht jeglicher Logik.“

Der Graf von Wrexford zog verdutzt eine Augenbraue hoch. „Und dass Sie das Wort ‚Logik’ in den Mund nehmen, widerspricht jeglicher Vernunft.“

„Kein Grund, sarkastisch zu werden“, grummelte Sheffield.

„Also gut. Wenn Ihre Frage wirklich mehr als nur rhetorisch gemeint war, ist die Antwort, dass ich die Karten aufmerksam beobachte und meine Chancen kalkuliere.“ Er ging um ein kaputtes Fass herum. „Versuchen Sie es mit Denken, Kit. Und Zählen.“

„Höhere Mathematik überfordert mein erbärmliches Hirn“, erwiderte sein Freund.

„Warum spielen Sie dann?“

„Ich bin der Überzeugung gewesen, man müsste nicht schlau sein, um zu spielen“, protestierte Sheffield. „Hat dieser Pascal – und sein Freund Fermat – nicht Anschauungen über Risiko und Wahrscheinlichkeit formuliert? Ich dachte, die Chancen ständen ungefähr fünfzig-fünfzig, dass ich gewinne, wenn ich ganz einfach blindspiele.“ Er verzog reumütig das Gesicht. „Teufel nochmal, nach dieser Rechnung müsste ich schon bald ein Vermögen gewinnen.“

„Sie schliefen also doch nicht während der Vorlesungen in Oxford?“, sagte Wrexford trocken.

„Es war lediglich ein Dösen.“ Eine Pause. „Womöglich hatte ich aber auch einen im Tee. Aberdeen war äußerst großzügig was seinen Vorrat an feinem Brandy anging.“

„Wo wir gerade von Brandy sprechen“, murmelte der Graf, als er sah, wie sein Freund taumelte und beinahe auf seinem Hintern landete. „Sie trinken in letzter Zeit zu viel.“

„Teufelszahn, seit wann sind Sie denn so ein Langweiler?“

„Seit Sie mich in diesen faulig stinkenden Sumpf von einer Gasse gebracht haben“, konterte er. Seine eigenen Gedanken waren durch Alkohol ein wenig benebelt und er erschrak, als er ausrutschte und beinahe sein Gleichgewicht verlor. „Sagen Sie, warum nehmen wir die Route durch Half Moon Gate? Tyler wird mir die Hölle heiß machen, wenn er meine mit diesem scheußlichen Mist verdreckten Stiefel sieht.“

„Gott bewahre, dass wir Ihren Kammerdiener verärgern.“ Sheffield verzog das Gesicht. „Wissen Sie, allmählich glaube ich, Sie sind kein guter Pokulier-Kumpan.“

Wrexford blieb stehen, als sich die Gasse in drei verwinkelte Gänge gabelte. „Wo lang?“

„Der mittlere“, sagte Sheffield, ohne zu zögern. „Und um Ihre Frage zu beantworten, warum wir hier entlanggehen: Das hat zwei Gründe. Dieser Weg ist erstens viel kürzer als über die Hauptstraße zu gehen.“ Er stöhnte, als er erneut ausrutschte. „Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass hier die Chance besteht, einem Straßenräuber zu begegnen, und dank meiner jüngsten Verluste an den Kartentischen, bin ich in der Laune jemanden zu einem blutigen Brei zu prügeln.“

Der Graf hielt sich mit seinem Kommentar taktvoll zurück. Wie viele andere jüngere Söhne adliger Familien, war sein Freund in einer verdammt schwierigen Situation gefangen. Der Erbfolger und Erstgeborene erhielt meist ein beträchtliches Taschengeld – und wenn nicht, waren Geschäftsmänner bereit, einen großzügigen Kredit zu gewähren. Diejenigen jedoch, die nach ihnen kamen, unterlagen der finanziellen Kontrolle der Eltern. Sheffields Vater war allerdings ein notorischer Geizkragen, der ihm ein mickriges Taschengeld zahlte.

Um es ihm heimzuzahlen, benahm sich Sheffield daneben, ein Teufelskreis, der niemandem diente.

Es war eine Schande, grübelte Wrexford, denn Kit war scharfsinnig, wenn er gezwungen war, sein Hirn benutzen. Er war eine große Hilfe gewesen, als sie vor einigen Monaten ein kompliziertes Verbrechen aufgedeckt hatten …

„Hat Mrs. Sloane beschlossen, in einen anderen Stadtteil zu ziehen?“, fragte sein Freund und wechselte damit abrupt das Thema.

„Als ich ihr das letzte Mal einen Besuch abgestattet habe, hat sie nichts dergleichen erwähnt“, antwortete er.

Sheffield warf ihm einen verwunderten Blick zu. „Sie haben nicht gefragt?“

Das Schmatzen ihrer Schritte erfüllte die Luft. Wrexford sagte absichtlich nichts.

„Wie auch immer“, murrte sein Freund.

Charlotte Sloane. Ein plötzliches Stolpern ließ die Luft ruckartig aus seinen Lungen entweichen. Es war ein Thema, über das er nicht diskutieren wollte, vor allem, da das Pulsieren in seinem Hinterkopf allmählich schlimmer wurde.

Der grausame Mord an einem führenden religiösen Eiferer hatte sie zusammengeführt, ein Verbrechen, für das er der Hauptverdächtige gewesen war. Geheimnisse wanden sich um Geheimnisse - eines der etwas überraschenderen war gewesen, dass der berüchtigte A.J. Quill, Londons führender Karikaturist, eine Frau war. Die Umstände hatten dazu geführt, dass er und Charlotte ihre Kräfte vereint hatten, um einen teuflischen Plan aufzudecken und den wahren Schuldigen zu enttarnen.

Aus anfänglichem Misstrauen war vorsichtige Kollaboration geworden, die sich letztlich zu einer Freundschaft entwickelt hatte – obwohl das, dachte Wrexford, ein zu simples Wort war, um den Bund zwischen ihnen zu beschreiben.

Chemie. Als Experte der Wissenschaft konnte Wrexford in sachlichem Detail beschreiben, wie die Kombination ihrer besonderen Talente eine heftige Reaktion hervorzurufen schien. Allerdings lebten sie in unterschiedlichen Welten und bewegten sich in völlig verschiedenen Kreisen Londons. Reich und arm. Ein Adliger und ein Niemand. Nachdem sie das Verbrechen aufgeklärt hatten, hatte Charlotte deutlich gemacht, dass sich besagte Kreise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht noch einmal überschneiden würden.

Entgegen ihrer Annahme hatte er ihr gelegentlich einen Besuch in ihrem bescheidenen Heim abgestattet – der Freundschaft halber -, um sich zu vergewissern, dass sie und die zwei verwaisten Gassenkinder, die sie unter ihre Fittiche genommen hatte, nicht in Schwierigkeiten steckten, nachdem sie geholfen hatten, seine Unschuld zu beweisen. Doch in Anbetracht seines Rufes, ein kaltherziger Bastard zu sein, brauchte Sheffield davon nichts zu erfahren …

„Hier müssen wir wieder abbiegen.“

Sheffields Gemurmel riss Wrexford aus seinen Gedanken.

„Passen Sie auf Ihren Kopf auf“, fügte sein Freund hinzu, als sie sich durch eine Lücke zwischen den zwei baufälligen Gebäuden quetschten. „Da ist ein Dachbalken abgebrochen.“

Die Gasse weitete sich und ermöglichte es ihnen wieder, Seite an Seite zu gehen.

Wrexford verzog das Gesicht als ein besonders abstoßender Geruch aufstieg, um seine Nasenlöcher zu überfallen. „Sollten Sie mich das nächste Mal dabeihaben wollen, wenn Sie Ihr Glück an den Kartentischen herausfordern, schlage ich vor, wir wählen einen zivilisierteren Ort als das Wolf’s Lair. Ich habe wirklich keine Lust …“ Er verstummte plötzlich, als er eine abrupte Bewegung in den Schatten vor ihnen wahrnahm.

Er hörte ein Fluchen und das Geräusch einer nicht zu sehenden Person, die aufsprang und davonrannte.

„Worauf haben Sie keine Lust?“, fragte Sheffield, der stehengeblieben war, um sich einen Stummel anzuzünden.

„Zünden Sie noch ein Streichholz an und geben Sie es mir“, forderte Wrexford. „Schnell!“

Sheffield tauchte einen kleinen Stab, dessen Spitze mit Phosphor ummantelt war, in ein winziges Fläschchen mit Salpetersäure und entzündete so eine Flamme.

Wrexford nahm ihn und näherte sich der Ecke eines geziegelten Lagerhauses. Er bückte sich und sah, was die knisternde Flamme vor ihm im Schlamm zum Vorschein brachte, und stieß einen entnervten Seufzer aus.

„Ich habe wirklich keine Lust, schon wieder eine Leiche zu finden.“

 

Charlotte legte ihren Stift beiseite und nahm einen spitzen Rotmarderpinsel zur Hand, um einige blutrote Pinselstriche zu ihrer Zeichnung hinzuzufügen.

Mann gegen Maschine. Ihre neueste Karikaturreihe hatte sich als äußerst beliebt erwiesen. Gott sei Dank, denn in letzter Zeit hatte es keinen spektakulären Mord oder einen schwerwiegenden königlichen Skandal gegeben, mit dem sie das lüsterne Interesse der Gesellschaft hätte wecken können. Als A.J. Quill, Londons berühmtester Quälgeist, verdiente sie ihren Lebensunterhalt damit, die Schönen und Reichen zur Rechenschaft zu ziehen, sowie die Missstände der unteren Gesellschaftsschicht anzuprangern.

Ruhe und Frieden brachten ihr kein Geld ein.

Charlotte seufzte leise. Finanzielle Probleme hatten sie dazu gezwungen, die Identität ihres verstorbenen Ehemannes als der berüchtigte A.J. Quill zu übernehmen, und sie war verdammt gut darin. Sie würde ihr Einkommen jedoch im Handumdrehen verlieren, würde bekannt werden, dass eine Frau die Feder führte. Sie wusste nur zu gut, dass kein Geheimnis, sei es noch so gut gehütet, jemals sicher war. Doch eine der hart erkämpften Fähigkeiten, die sie über die letzten Jahre hinweg erlernt hatte, war die Kunst des Überlebens.

Sie verdrängte derartige Ablenkungen und wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu. Der jüngste Aufruhr vor den nördlichen Textilfabriken hatte in der Nation einen Nerv getroffen. Es gab eine hitzige Debatte darüber, ob die Dampfkraft bald die Handarbeit ersetzen würde. Viele Menschen feierten die neue Technologie.

Und viele fürchteten sie.

Charlotte lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um den gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Arbeitern und der örtlichen Milizarmee zu betrachten, den sie kreiert hatte. Die Figuren balancierten unsicher auf den dunklen Eisenkolben eines monströsen, Dampf speienden Motors.

Wir alle sind Gewohnheitstiere, grübelte sie. Wie schrecklich es auch immer sein mochte, das Bekannte war besser als das Unbekannte.

Der Gedanke ließ sie schief lächeln. Sie schien eine dieser außergewöhnlichen Seelen zu sein, die getrieben waren, über die Grenzen des Konventionellen hinaus zu forschen.

„Nicht, dass ich irgendeine Wahl gehabt hätte“, raunte sie.

Für den Anfang vielleicht nicht. Doch Ehrlichkeit verleitete sie dazu, sich einzugestehen, dass die Herausforderungen, so einschüchternd sie auch sein mochten, das waren, was der faden Eintönigkeit des alltäglichen Lebens eine gewisse Würze verliehen.

Charlotte hob ihren Blick und ließ ihn über die halbgepackten Kisten wandern, die in dem Zimmer verteilt waren, und wurde wieder einmal an das aktuelle Thema ihrer Kunst erinnert.

Veränderung.

„Veränderung ist gut“, redete sie sich ein. Nur einfallslose Geister sahen sie als etwas Angsteinflößendes.

Doch bei dem Anblick all ihrer irdischen Besitztümer - eine ziemlich bescheidene Ansammlung von Krimskrams -, die in ungeordneten Haufen herumlagen, konnte sie nicht anders, als einen Anflug von Beklemmung zu verspüren.

Über mehrere Monate hinweg hatte sie mit dem Gedanken gerungen, aus ihrem winzigen Quartier am Rande des Elendesviertels St. Giles auszuziehen, um sich etwas Neues in einer respektableren Nachbarschaft zu suchen. Vor einer Woche hatte sie endlich einen Entschluss gefasst und sich mit der Hilfe eines engen Freundes ein bescheidenes Haus in der Buckridge Street nahe Bedford Square gemietet.

Ihre Kunst brachte mittlerweile ein ansehnliches Einkommen von Fores Druckerei ein. Und zusammen mit dem unerwarteten Geldsegen durch die Zusammenarbeit mit Lord Wrexford …

Charlotte atmete langsam aus. Sie war sich noch nicht ganz im Klaren darüber, wie sie sich damit fühlen sollte, das Geld des Grafen angenommen zu haben. Ja, sie hatte sich jeden einzelnen Penny davon verdient. Und doch …

Bettler können nicht wählerisch sein. Sie ließ ihre Zweifel mit einem alten Sprichwort verstummen.

All diese entzückenden, goldenen Guineen würden Raven und Hawk, den zwei Straßenkindern, die sie unter ihre Fittiche genommen hatte, die Chance geben, sich zu bessern. Grundlegende Bildung, anständige Kleidung, Zugang zu einer Welt außerhalb der schäbigen Gassen, in denen man sie zurückgelassen hatte.

Sie stand auf, wickelte ihre fertige Zeichnung in ein Stück Öltuch und steckte die Enden vorsichtig hinein, um sie für die Auslieferung an die Kupferstecher vorzubereiten. Die Uhr auf dem grobgezimmerten Tisch verriet ihr, dass es bereits nach Mitternacht war.

Die Jungen waren noch nicht von ihrem nächtlichen Umherstreifen zurückgekehrt, doch Charlotte versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Von dem Moment an, als sie sie in ihrem Eingangsbereich gefunden hatte, wo sie Unterschlupf gesucht hatten, gab es ein unausgesprochenes Verständnis darüber, dass sie kommen und gehen konnten, wann sie wollten. Sie tat ihr Bestes, um dafür zu sorgen, dass sie mehr als nur stibitzte Essensreste zu essen und etwas Besseres als zerfetzte Lumpen zum Tragen hatten. Sie waren sehr gerissen und clever, und unter ihrer Anleitung hatten sie gelernt zu lesen und zu schreiben …

Es gab jedoch Momente, da glaubte sie, ein ungebändigtes Funkeln in den Tiefen ihrer Augen zu erkennen. Eine erbitterte Unabhängigkeit, eine elementare Skepsis, die sich nicht zähmen lassen würde.

Was, wenn sie die Vorstellung eines schöneren Hauses und anständiger Bildung hassten?

Was, wenn …

Waswennwaswennwaswenn …

Charlotte streckte ihren Rücken und tat derartige Gedanken mit einem selbstspöttischen Schnaufen ab. Teufel noch eins, hätte sie einen Penny für jedes Mal, als sie sich über die Konsequenzen einer Entscheidung das Hirn zermartert hatte, wäre sie so reich wie Krösus.

Sie war immer ehrlich und direkt mit ihnen gewesen und hatte sich ihr Vertrauen verdient. Anders als John Dee, Queen Elizabeths legendärer Weissager und Spion, besaß sie keine magische Glaskugel, in der sie die Zukunft sehen konnte. Sie konnte lediglich versuchen, mit der Gegenwart klarzukommen.

Und in diesem Moment verlangte die Gegenwart nach einer Tasse Tee. Glücklicherweise konnte sie sich jetzt den Luxus leisten, ihn mit einem Löffel Zucker zu süßen.

 

Ein scharfes Zischen entwich zwischen Sheffields Zähnen, als er sich über Wrexfords Schulter lehnte.

„Ist er tot?“

„Ja.“ Wrexford hatte nach einem Puls gefühlt, auch wenn die drei Stichwunden in der linken Brust ahnen ließen, dass das Opfer nicht mehr am Leben sein konnte. Hockend begutachtete er die Brutalität des Angriffes – die zerrissene Kleidung, die aufgeschlitzten Stiefel, den verstümmelten Bauch des toten Mannes.

„Hölle noch eins“, murmelte sein Freund, während er dabei war, ein weiteres Streichholz anzuzünden. Das Flackern der Flamme offenbarte, dass jegliche Farbe aus dem Gesicht des Mannes gewichen war.

„Des Teufels Werk“, stimmte er zu.

Sheffield schluckte schwer. „Ein erschreckend brutaler Angriff, selbst für diese Gegend der Stadt.“ Das Genick des Mannes war gebrochen und ein Messerschnitt hatte sein Gesicht übel entstellt.

Der Graf hob die Hände des Mannes hoch und untersuchte die breiten Knöchel. Ihm fielen die Abschürfungen und Schwellungen auf. „Sieht nach einem Kampf aus.“

„Das erklärt die Verletzungen des Opfers.“ Sheffield wandte seinen Blick ab. „Der Räuber muss panisch geworden sein, weil er nicht mit Gegenwehr gerechnet hatte.“

„Womöglich.“ Wrexford runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, dass mehr hinter dieser Auseinandersetzung steckte als man auf Anhieb erkennen konnte. „Das erklärt jedoch nicht die zerschnittene Kleidung oder die Stiche, die ihm zugefügt wurden, als er bereits tot war …“

„Woher zum Teufel wissen Sie das?“

„Die Schnitte an seinem Bauch haben kaum geblutet, was darauf hindeutet, dass sein Herz bereits aufgehört hatte, zu schlagen.“

Sheffield sah allmählich etwas grün um die Nase herum aus.

„Straßenräuber schlagen aus pragmatischen Gründen zu“, sinnierte der Graf, sowohl an seinen Freund gerichtet als auch an sich selbst. „Sie wollen Geld und Wertsachen – von denen sie glauben, sie befänden sich in Taschen oder an Fingern. Sie verschwenden keine Zeit damit, die Nähte zu öffnen oder ihre Opfer zu verstümmeln. Es sei denn …“ Er warf einen genaueren Blick auf das zerrissene Innenfutter des Mantels und fuhr mit der Hand zwischen der Wolle und dem Satin entlang.

„Es sei denn, der Angreifer hat gewusst, dass dieser Kerl etwas Besonderes an seinem Körper versteckt hat“, sagte Sheffield.

„Das wäre eine Möglichkeit“, gestand Wrexford seinem Freund zu, „doch angesichts der Anzeichen blinder Wut, war es wahrscheinlich etwas Persönliches. Womöglich Betrug oder ein gescheitertes Geschäft.“

Sein Freund schien nicht überzeugt. „Aber seiner Kleidung – oder dem, was davon übrig ist – nach zu urteilen, war der Tote ein Mann von hohem Stand, ein Gentleman.“

Wrexford zog eine Augenbraue hoch, während er mit der Untersuchung des Mantels fortfuhr. „Soll das heißen, ein Gentleman ist niemals in eine schmutzige Sache involviert?“

Ein frisches Streichholz fing Sheffields verzogenes Gesicht ein. „Guter Punkt.“

Er nickte geistesabwesend. Ein kleines Etikett des Schneiders, das diskret in den Kragen genäht worden war, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Es schien, als käme das Opfer aus Leeds. Was die zusätzliche Frage aufwarf, warum er in einem der gefährlichsten Elendsviertel Londons ermordet worden war. Jemand, der nicht von hier war, stolperte nicht einfach so durch Zufall in diese übelriechenden Gassen hinein …

Als der stinkende Schlamm durch seine eigenen Stiefel zu sickern begann, beendete er das Rätselraten mit einem Schulterzucken. Was auch immer der Grund gewesen war, der den Unbekannten hierhergeführt hatte, sollte nicht seine Sorge sein. Er bedeckte das schmerzverzerrte Gesicht des Toten mit dem, was von seinem Mantel noch übrig war, und stand auf.

„Hier gibt es nichts weiter für uns zu tun. Wir sollten einen Wachmann am Red Lion Square suchen und ihn über das Verbrechen informieren.“ Er pausierte. „Vorausgesetzt, Sie kennen den Weg aus diesem verfluchten Labyrinth.“

„Hier entlang“, sagte sein Freund und zeigte auf den Durchgang zu ihrer Linken.

Als sie sich umdrehten, entdeckte der Graf zwei geisterhafte Gestalten, schwarz auf schwarz, in den Schatten.

„Die Wiesel“, raunte er.

„Wo?“, fragte Sheffield. „Ich sehe nichts.“

„Kein Wunder.“ Sie waren bereits in der Dunkelheit verschwunden. „Sie sind flüchtiger als Quecksilber.“

Einen Augenblick später schossen zwei Jungen aus den Nebelschwaden auf der anderen Seite der Gasse hervor.

„Ey“, krähte der ältere der beiden. „Schon wieder ‘ne Leiche, Mylord?“

„Du solltest nicht so unverschämt sein, wenn du mit Älteren sprichst“, entgegnete Wrexford.

Kichern folgte auf seine Ermahnung. Anders als die Beau Monde hatte sein Titel auf die Wiesel keine einschüchternde Wirkung.

Der jüngere der beiden Jungen grinste. „Mir kommt ein neuer Fahn.“ Er führte seine Hand an die Unterlippe – vielleicht war es auch eine Pfote, sie war zu schmuddelig, um sich sicher sein zu können. „Woll’n Fie mal feh’n?“

„Gütiger Gott – steck dir diesen Finger bloß nicht in den Mund“, antwortete er. „Du holst dir noch die Pest.“

Der ältere Junge – dessen Name Raven lautete, obwohl der Graf vorgab, seinen Namen nicht zu kennen – gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Unser Lehrer, Mr. Keating, sagt, dass es in London seit 1665 keinen Fall der Pest mehr gegeben hat.“

„Das mag sein, aber diesen widerlichen Schlamm in den Mund zu nehmen könnte das ändern.“

Hawk – wie sein Bruder hatte auch er einen aviären Spitznamen – nahm gehorsam seine Hand herunter.

Raven zögerte und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Leiche. Er überquerte den Gehweg und beugte sich über sie, um einen näheren Blick zu erhaschen. „Woah, das ist verdammt üble Klingenarbeit.“

„Ist schließlich ein übles Viertel von St. Giles“, antwortete Wrexford. Es gab keinen Grund, die Dinge schönzureden. Die Brüder waren inmitten der brutalen Realitäten des Lebens in der Gosse aufgewachsen. In der Hoffnung, weiteren Fragen vorzubeugen, fügte er hinzu: „Was die Frage aufwirft, was ihr Wiesel hier zu so später Stunde verloren habt.“

Raven ignorierte die Frage. „Seltsam, dass seine Klamotten so zerfetzt wurden“, grübelte er.

„Nicht, wenn ein Dieb geglaubt hat, dass er von seinem Partner übers Ohr gehauen wurde“, sagte der Graf. „Ich vermute, es war eine Auseinandersetzung über Geld, die hässlich geworden ist.“

„Ich denke, das ergibt Sinn“, gestand ihm der Junge zu.

„Werden Sie den Mörder finden?“, fragte Hawk.

„Auf gar keinen Fall. Ich habe beschlossen, die Verbrechensaufklärung den zuständigen Behörden zu überlassen“, antwortete er entschlossen. Die Jungen hatten ihren Teil – einen viel zu großen - dazu beigetragen, den Mörder des Pfarrers Holworthy zu schnappen, und er wollte sich nicht ausmalen, dass sich das noch einmal wiederholen könnte. „Wie es sich für jeden gesetzestreuen Bürger gehört, werde ich die Nachtwache alarmieren. Und dann werde ich mein Bett aufsuchen und den Schlaf der Unschuldigen schlafen.“

Obwohl er wusste, dass es keinen Zweck hatte, machte er einen Schritt zur Seite, um dem Jungen die Sicht auf den verstümmelten Torso zu versperren. „Ich schlage vor, ihr beide verschwindet und tut es mir gleich.“

Die Jungen starrten weiterhin die Leiche an.

„Es ist bloß ein gewöhnlicher Mord, einer von vielen, die womöglich heute Nacht in der Stadt begangen worden sind“, murmelte er. Als könnte ein genommenes Menschenleben, so unerfüllt es auch sein mochte, je als etwas bedeutungsloses abgetan werden. „Nicht nötig, sich die schrecklichen Details einzuprägen. Hier gibt es nichts, was für Mrs. Sloane von Interesse sein könnte.“

Raven nickte und drehte sich langsam um. „Aye. Mylady sagt, dass ihre Fertigkeiten nicht gebraucht werden, um der Öffentlichkeit von den hässlichen Wahrheiten ihres alltäglichen Lebens zu erzählen. Sie glaubt, ihre Feder eignet sich viel besser dazu, das Böse in der Gesellschaft aufzuzeigen, das verändert werden kann.“

Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Es stimmte, dass Charlottes Zeichnungen scharf waren wie ein Rapier. Und die Tatsache, dass sie zielsicher ins Herz der Probleme, mit dem sich das Land konfrontiert sah, oder der Heuchlerei der Herrschaftsklasse stach, war elementar für ihre Popularität.

Resolute Tapferkeit und stolze Prinzipien – eine der gefährlichsten Kombinationen, die man sich nur vorstellen konnte.

Wrexford unterdrückte ein betrübtes Seufzen, während er zusah, wie die Jungen in der nebligen Dunkelheit verschwanden. Das Pochen in seinem Kopf fühlte sich mittlerweile so an, als bohrte sich ein Nagel durch seinen Schädel. „Kommen Sie, Kit, lassen Sie uns …“

„Hallo!“ Der Schein einer Laterne und ein lauter Zuruf unterbrachen ihn. „Wer da?“

„Ah, hervorragend. Da kommt auch schon die Nachtwache. Wir können ihm die Sache überlassen und diese verflixte Angelegenheit hinter uns lassen.“

Kapitel 2

Wrexford nahm vorsichtig am Frühstückstisch Platz und warf einen zusammengekniffenen Blick auf die gekuppelten Fenster, die Blick auf die hinteren Gärten gewährten. Schlaf hatte den Auswirkungen des gestrigen Abends keine Abhilfe getan. In der Nacht war das Pulsieren in seinem Schädel zu einem dumpfen Schmerz geworden, dessen unablässige Tentakel jetzt bis in seine Magengrube reichten.

Der Diener, der an der Anrichte stand, schlich auf Zehenspitzen über den Teppich und zog leise die Vorhänge zu, um das gleißende Sonnenlicht abzuschirmen. Wie der Rest der Dienerschaft des Stadthauses, war auch er gut darin ausgebildet, die sprunghaften Launen seines Dienstherren zu erkennen.

„Tee und Toast, Mylord?“, fragte er mit leiser, beschwichtigender Stimme.

Der Graf antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken, doch selbst das ließ ihn vor Schmerz zusammenzucken. „Und bitten Sie Tyler, um die Vorbereitung seines …“

„Seines speziellen Haar-des-Hundes-Tranks“, beendete sein Kammerdiener den Satz, der in diesem Moment auf der Türschwelle erschien, in der Hand ein großes, mit einer abscheulich grünen Flüssigkeit gefülltes Kristallglas. Er ging um den Tisch herum und schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Jeder weiß, dass die Kombination aus Brandy, Champagner und schottischem Malt Whisky des Teufels eigene Rezeptur für einen höllischen Kater am nächsten Morgen ist.“

„Danke für die kurze Unterrichtsstunde in grundlegender Chemie“, sagte Wrexford gereizt.

„Gerade Sie sollten wissen, was passieren kann, wenn man flüchtige Substanzen zusammenmischt, ohne auf Abmessungen und zeitliche Vorgaben zu achten.“

Innerhalb Londons wissenschaftlicher Kreise, gehörte der Graf zu den führenden Experten der Chemie. Eine Tatsache, die oft von seinem aufbrausenden Verhalten überschattet wurde. Sein bissiger Sarkasmus und die unverfrorene Missachtung der gesellschaftlichen Regeln – gepaart mit seinem berüchtigten, überschäumenden Gemüt - hatten ihm kürzlich eine Schlagzeile im Skandalblatt der Stadt eingebracht.

„Geben Sie mir das verdammte Glas“, murrte Wrexford. Er nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. „Ist da etwa ein extra Schuss Pferdepisse drin?“

„Und zwei Prisen Schafsdung“, entgegnete Tyler, der mit den Sticheleien des Grafen bereits gut vertraut war. Er zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Sie sind aus der Übung, Mylord. Was nichts Gutes erahnen lässt, wenn Sie in den kommenden Wochen vorhaben sollten, wieder mit Mr. Sheffield Ihren Zechgelagen zu frönen.“

„Erinnern Sie mich noch gleich, warum ich Sie nicht im hohen Bogen rauswerfen und stattdessen einen servileren Lakaien einstellen sollte?“

„Weil niemand sonst das Geheimnis dafür kennt, chemische Flecken aus Ihren teuren Abendmänteln zu entfernen.“

Wrexford prustete vor Lachen und kippte das Getränk anschließend in einem Schwall hinunter. „Sie können sich glücklich schätzen, dass ich so penibel auf mein Äußeres achte.“

Sein Kammerdiener warf einen langen Blick auf das ungekämmte Haar und die achtlos gebundene Krawatte des Grafen. „Äußerst glücklich, Mylord.“ Er nahm das leere Glas in die Hand. „Noch etwas, womit ich Ihnen dienen kann?“

„Außer einer Pistole, um mich von meinem Leid zu befreien?“ Wrexford seufzte. „Ist Avogadros Buch über Gase bereits da?“

„Das Paket ist heute Morgen von Hatchards gekommen. Es liegt auf Ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer.“

„Legen Sie außerdem die Bücher von Lavoisier und Priestley bereit“, sagte der Graf. Wenn es irgendetwas gab, dass die Dämonen aus seinem Schädel vertreiben konnte, dann war es wissenschaftliche Recherche. „Ich möchte einige ihrer frühen Experimente mit Sauerstoff ausprobieren.“

„Sehr gut, Sir“, antwortete Tyler. Als er sah, wie das Frühstück hereingebracht wurde, drehte er sich um und verließ ohne weiteren Kommentar das Zimmer. Er wusste, dass die Laune des Grafen immer etwas besser wurde, sobald er den vollen Brotkasten sah.

Eine Dampfwolke stieg aus dem schwanenähnlichen Ausguss des silbernen Kessels auf. Wrexford inhalierte den scharfen Geruch rauchiger Würze und seufzte genüsslich, während er sich eine Tasse des dunklen Gebräus einschenkte. Er nahm einen großen, brühend heißen Schluck und spürte, wie der Tee sein Unwohlsein ein wenig linderte. Sein Toast, dick geschnitten und so gebuttert, wie er es mochte, war …

Ein plötzliches Klopfen an der Tür ruinierte den Moment.

„Verfluchter Mist“, murrte er.

Sein Butler öffnete langsam die Tür zum Eingangsportal. „Bitte entschuldigen Sie, Mylord, aber jemand wünscht Sie zu sprechen. Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit.“

„Und wenn es der Sensenmann höchstpersönlich ist. Sagen Sie ihm, dass ich vor Mittag keine Gäste empfange“, erwiderte er.

„Es ist weit nach ein Uhr, Mylord.“ Eine Pause. „Und es ist kein Er, sondern eine Sie.“

Noch schlimmer.

„Der Name der Dame lautet Mrs. Isobel Ashton.“

Wrexford runzelte die Stirn. Der Name kam ihm vage bekannt vor, doch er konnte ihn nicht zuordnen. „Nun sagen Sie schon, welche Angelegenheit, die so wichtig ist, wünscht sie, mit mir zu besprechen?“

„Den Tod ihres Ehemannes, Sir.“ Der Butler räusperte sich. „Es scheint, als wären Sie es gewesen, der seine Leiche gestern Nacht entdeckt hat.“

 

„Eier und Schinken?“ Hawk machte große Augen. „Gibt es etwas zu feiern?“

„Ja“, antwortete Charlotte, während sie sich von der brutzelnden Bratpfanne abwandte, um einige dicke Scheiben Weißbrot abzuschneiden. „Die letzten Dokumente sind unterschrieben worden. Die Miete des neuen Hauses ist jetzt offiziell.“

Hawk lächelte unsicher und suchte im Gesicht seines älteren Bruders nach einer Reaktion.

„Wann ziehen Sie um?“, fragte Raven.

Charlotte spürte, wie sich ihre Brust zuschnürte, doch sie tat so, als hätte sie das Wort Sie nicht gehört.

„Nächste Woche“, antwortete sie. „Der Kutscher kommt heute und zählt die Kisten.“ Ein Blick durch das Zimmer machte deutlich, dass er dafür nicht mehr als die Finger an seinen beiden Händen benötigen würde. „In dem neuen Haus ist viel mehr Platz …“

Klang das reizvoll für die beiden?

„Wir werden uns mehr Möbel anschaffen müssen“, fuhr sie fort. „Anständige Betten für euch beide und einen Schrank für eure Kleidung.“

Ravens Gesicht verriet wenig Emotionen, ebenso wie sein wortloses Grummeln.

„Betten“, flüsterte Hawk mit großen Augen. Die Jungen schliefen derzeit auf dem Flickenteppich vor dem Ofen. „Wie ein großer Lord?“

„In der Tat“, erwiderte sie heiter. „Du wirst der Herzog der Daunenkissen sein.“

Er kicherte, doch der Gesichtsausdruck seines Bruders blieb zurückhaltend.

„Da wir gerade von Lords sprechen“, sagte Raven und brach den kurzen Moment der Stille, „Wir haben Seine Lordschaft letzte Nacht in St. Giles getroffen.“

„Ach?“ Charlotte wendete das brutzelnde Fleisch. Es gab nur zwei Gründe, warum sich Aristokraten in diesen Teil der Stadt wagten – die Spielhöllen und Bordelle boten die Art gefährlicher Freuden, die man in den Straßen von Mayfair nicht finden konnte.

Nicht, dass die Freizeitunternehmungen des Grafen von Wrexford sie irgendetwas angingen …

„Ich nehme an, er sah gut aus“, sagte sie.

„Um ehrlich zu sein, war er etwas grün um die Nase herum“, meldete Hawk sich zu Wort. „Könnte daran gelegen haben, dass er betrunken war – er hat wie das Innere eines Whiskyfasses gerochen. Aber es hatte wohl eher mit der Leiche zu tun, die er kurz zuvor entdeckt hatte.“

Charlotte hob ruckartig ihren Blick und fluchte, als heißes Fett auf ihre Finger spritzte.

„So etwas sagt man nicht, Mylady“, sagte Raven zimperlich, was ein weiteres Glucksen seines Bruders nach sich zog.

„Eine Leiche.“ Sie wischte sich vorsichtig die Hände an einem Putzlappen ab. „Im Sinne von, jemand ist eines natürlichen Todes gestorben?“

„Daran, abgeschlachtet zu werden, ist nix natürlich“, antwortete er.

„Sag nicht nix“, flüsterte Hawk.

„Du meinst also, es war ein Mord?“, fragte Charlotte, auch wenn die Antwort offensichtlich war.

„Aye, ein abscheulicher noch dazu. Die Kleidung des Mannes war in Streifen geschnitten und sein Bauch war ungeheuerlich verstümmelt“, antwortete Raven.

Sie spürte, wie sie erstarrte.

„Lord Wrexford hat gesagt, es war wahrscheinlich eine Auseinandersetzung zwischen Dieben“, fügte Raven hinzu.

Gott sei Dank – ein gewöhnlicher Mord. Einer, der keine tiefere Bedeutung hatte als Gier und Verzweiflung. Die Straßendiebe, die auf den Straßen von St. Giles umherstreiften, waren dafür bekannt, einige der brutalsten in ganz London zu sein.

„Ich wage zu behaupten, dass er recht hat“, sagte Charlotte und spürte eine Welle der Erleichterung. Es gab diverse Gründe, warum sie froh war, dass der Graf allem Anschein nach nicht zu einem Motiv für ihre Feder werden musste.

Nicht schon wieder.

Und es bestand kein Zweifel daran, dass er noch erleichterter darüber war als sie.

Sie schob die Gedanken an Wrexford beiseite und konzentrierte sich auf eine dringendere Angelegenheit. „Das ist eine grausame Erinnerung daran, dass St. Giles eine gefährliche Gegend ist, vor allem in der Nacht.“ Sie wagte nicht mehr auszusprechen als eine verblümte Warnung. Raven war unabhängig und die Bindung zwischen ihnen war eine des Vertrauens und nicht des Blutes.

Er zuckte mit den Schultern. „Der Tod ist allgegenwärtig, Mylady.“

„Das heißt aber nicht, dass man dem Sensenmann eine lange Nase drehen sollte.“

Ihre Worte entlockten ihm ein widerwilliges Lächeln. „Wir sind vorsichtig.“

Bei Weitem nicht vorsichtig genug, dachte Charlotte mit einem innerlichen Seufzen. Doch sie ließ das Thema sein.

„Kommt und helft mir, die Teller zum Tisch zu tragen. Als zusätzlichen Leckerbissen habe ich auch noch etwas Erdbeermarmelade gekauft.“

 

„Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, Lord Wrexford.“ Mrs. Isobel Ashton glättete ihren Rock und ließ sich auf dem Sofa im Gesellschaftszimmer nieder. „Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, Sie um Ihre Hilfe zu bitten, aber …“ Sie atmete tief durch. „Aber mein Mann war ein großer Bewunderer Ihres Intellekts und Scharfsinns, da dachte ich, möglicherweise …“

Sie verstummte und Wrexford zermarterte sich noch immer das Gehirn darüber, wie er mit dem ermordeten Mann in Verbindung stand.

„Mein Beileid“, sagte er, gezwungen, auf die Art Floskeln zurückzugreifen, die er so sehr hasste, da ihm keine bessere Antwort einfiel.

„Elihu war besonders dankbar für Ihren Rat zu der chemischen Zusammensetzung von Eisen“, fuhr die Witwe fort, „und wie man ein Metall gewinnen kann, das Hitze und Druck standhält.“

Ah – der Erfinder! Jetzt erinnerte sich Wrexford wieder an ihren Schriftverkehr im letzten Jahr. Ein anderes Mitglied der Royal Institution hatte vorgeschlagen, dass Ashton den Grafen bezüglich eines Problems kontaktierte, das er mit den Erhitzern eines neuartigen Dampfmotors hatte.

Was für ein schrecklicher Verlust für die wissenschaftliche Welt, dass es sich bei dem Opfer um Ashton handelte.

„Ihr Mann verfügte über außerordentliches Talent – er besaß sowohl die Vorstellungskraft als auch die technische Genialität, die für die Umsetzung seiner Ideen notwendig waren.“ Wrexford fühlte sich nur selten dazu angehalten, Komplimente auszusprechen, besonders was andere Männer der Wissenschaft anbelangte. „Es ist eine schreckliche Schicksalswende, dass er das unglückliche Opfer eines willkürlichen Raubüberfalls wurde.“

Er hielt inne, um seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. Kein Grund, eine Hinterbliebene mit den fragwürdigen Umständen des Todes ihres Ehemannes weiter zu belasten …

„Aber genau das ist es ja, Lord Wrexford“, sagte Isobel, bevor er fortfahren konnte. „Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass der Mord an meinem Mann auf einen willkürlichen Raub zurückzuführen ist.“

Der Graf lehnte sich überrascht zurück.

Sie blickte von ihrem Schoß auf. Ihr Gesicht war so blass wie Lord Elgins Statuen des Parthenon, doch trotz ihrer Trauer, die ihre filigranen Züge überschattete, war ihr Ausdruck unnachgiebig wie Granit. „Sie mögen es womöglich weibliche Hysterie nennen, doch ich verspreche Ihnen, ich habe noch alle Tassen im Schrank. Elihu war im Begriff eine bedeutsame Entdeckung zu machen, und ich glaube, dass es einige Menschen gab, die zu allem – allem – bereit waren, um seine Idee zu stehlen.“

Die erste Frage, die ihm in den Sinn kam, war, warum? Wrexford rutschte auf dem Sitzkissen umher, während er darüber nachdachte, wie er sie am taktvollsten formulieren konnte. Doch ein weiterer Blick in ihr Gesicht, verriet ihm, dass die Witwe nicht mit Samthandschuhen angefasst werden musste.

„Aus welchem Grund?“, fragte er.

„Aus denselben Gründen, die den Menschen seit Urzeiten dazu bewegen, seinen Mitmenschen zu töten - Gier und Neid. Man muss nur die griechischen Tragödien lesen, um diese Wahrheit zu erkennen.“

Eine interessante Antwort. Anfangs hatte die Dame keinen besonders tiefgründigen Eindruck auf ihn gemacht. Seiner Erfahrung nach, gingen Schönheit und Hirn nur selten Hand in Hand – und an Mrs. Ashtons Attraktivität bestand kein Zweifel. Ihr schimmerndes, rabenschwarzes Haar betonte ihre perfekte, weiße Haut, und die Symmetrie ihres Gesichts erinnerte an Skulpturen einer antiken Göttin.

Ihre Augen starrten in seine und wichen nicht von ihnen ab.

„Die Griechen waren in vielerlei Hinsicht sehr weise“, stimmte Wrexford zu. Doch sie waren nicht unfehlbar, fügte er innerlich hinzu. Das war niemand. Selbst der großartige Aristoteles hatte seine Schwächen - seine Vorstellungen von der Wissenschaft waren absolut irrsinnig.

Einen Augenblick lang war ein Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen zu sehen. „Ich verstehe ja, dass Sie skeptisch sind, Sir. Man sagt, Frauen würden viel mehr von überschäumenden Emotionen als von rationalem Denken gelenkt.“ Isobel seufzte. „Leider gibt es zu viele von uns, die diese Behauptung bestätigen.“

„Als ein Mann der Wissenschaft bin ich stets bemüht, meine Schlüsse anhand empirischer Belege anstelle von vorgefassten Meinungen zu ziehen“, antwortete der Graf. „Bisher habe ich keinen Grund zur Annahme, dass Ihr Handeln von Hysterie getrieben wird.“

„Allerdings glauben Sie ebenso wenig, dass ich irgendeine logische Erklärung für den Verdacht einer dunkleren Motivation als schieres Pech hinter dem Mord an meinem Mann habe.“

Wrexfords Eindruck von ihr wurde immer besser.

„Wenn Sie mir erlauben, noch etwas mehr von Ihrer Zeit zu beanspruchen, werde ich versuchen, mich zu erklären …“

Ein Nicken signalisierte ihr, fortzufahren.

„Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass mein Mann kurz davor war, einen revolutionären Dampfmotor zu entwickeln, einer, dessen Kraft eine gänzlich neue Welt der Manufaktur ermöglicht hätte.“ Isobel atmete tief ein. „Eine solche Idee ist nicht nur in intellektueller Hinsicht aufregend, sondern sie würde ihren Erfinder reicher machen, als er es sich je zu träumen gewagt hatte.“

Es dauerte einen langen Moment bis Wrexford realisierte, worauf sie hinauswollte. „Ich nehme an, Sie reden von einem Patent.“ Ihre Ängste schienen plötzlich weitaus mehr zu sein als reine Hirngespinste. Geld war ein überzeugendes Motiv für Mord. Und die Rechte an einer solch wichtigen technischen Innovation zu besitzen, würde in der Tat ein Vermögen wert sein.

„Richtig, Mylord.“

„Was war das für eine Innovation?“, fragte Wrexford, seine wissenschaftliche Neugier überkam ihn.

Ein trauriger Blick verdunkelte ihre bernsteinfarbenen Augen. „Mein Mann hat mir eine ganze Menge anvertraut. Was das angeht, war er jedoch stets sehr verschwiegen. Möglicherweise …“ Sie ballte ihre Fäuste. „Möglicherweise fürchtete er, dass es laut auszusprechen, selbst in der Intimität unseres Heims, zu gefährlich war.“

Wrexford nahm sich einen Moment Zeit, um über alles nachzudenken, was sie ihm erzählt hatte. „Mir scheint Ihre Besorgnis durchaus nachvollziehbar, Mrs. Ashton.“ Er verzog das Gesicht, als das Pochen in seinem Kopf mit voller Wucht zurückkehrte. „Was ich jedoch nicht verstehe, ist, warum Sie damit zu mir kommen. Die Behörden …“

„Die Behörden glauben, ich hätte zu viele schaurige Romane gelesen!“, schrie sie. „Ich habe mich heute Morgen mit einem Läufer von der Bow Street getroffen – ein großer, ungepflegter Mann, dessen Sinne so langsam wie seine schlurfenden Schritte zu sein schienen.“ Die Läufer waren eine Gruppe von Männern unter dem offiziellen Kommando des Magistrates in der Bow Street Nr. 4, und eine der wenigen staatlichen Institutionen zur Aufklärung von Verbrechen.

„Er stellte klar, dass der Mord an meinem Ehemann ein – wie er es nannte - unglücklicher Fall von ‘zur falschen Zeit am falschen Ort’ war“, fuhr Isobel fort. „Und dass die Chancen, den Übeltäter zu fangen, praktisch gleich null seien.“

So begriffsstutzig der Läufer auch sein mochte, Wrexford stimmte seiner Einschätzung zu. Die meisten Morde in den Elendsvierteln blieben ungelöst.

„Wie dem auch sei“, erwiderte er, „ich habe keinerlei Erfahrung mit der Aufklärung von Verbrechen.“

„Humphry Davy von der Royal Institution hat etwas anderes behauptet“, konterte Isobel.

Verflucht. Davy liebte den Klang seiner Stimme so sehr, dass er dazu neigte, zu viel zu reden.

„Mr. Davy war so nett, mich zu besuchen und sein Beileid zu bekunden“, erklärte die Witwe. „Als ich meine Besorgnis über die Ermittlungsbehörden ausgedrückt habe, hat er erwähnt, dass Sie eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung eines Mordes gespielt haben.“

Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: „Und wie der Großteil der Bevölkerung auch, habe ich die Zeichnungen von A.J. Quill gesehen. Der Künstler hat angedeutet, dass es Ihre Bemühungen waren, die für Gerechtigkeit gesorgt hatten.“

Wrexford presste seine Augen zusammen und wünschte sich, er wäre seinem anfänglichen Instinkt, sich wieder schlafen zu legen, gefolgt.

„Beide haben maßlos übertrieben“, murrte er. „Im Gegensatz zu dem, was Sie vielleicht denken mögen, bin ich kein Ritter der Gerechtigkeit. Jegliche Bemühungen, die ich angestellt habe, dienten lediglich der Rettung meines eigenen Halses.“

„Bitte“, sagte sie leise und senkte ihren Blick, „ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.“

Weibliche List langweilte ihn zu Tode. Doch Ashton war ein Kollege gewesen. Ein brillanter Mann der Wissenschaft. Wrexford erinnerte sich an die Leiche, die im Mist einer verlassenen Gasse lag, und stieß einen langen Seufzer aus. „Ich kann mich ein wenig umhören. Allerdings kann ich Ihnen nicht versprechen, dass das zu etwas führen wird.“

„Gott segne Sie, Mylord“, sagte sie und fixierte ihn mit einem sanftmütigen Lächeln.

„Ich bezweifle, dass der Allmächtige irgendetwas dergleichen tun wird“, murrte Wrexford. „Es ist der Teufel, der heraufbeschworen wird, wenn jemand meinen Namen erwähnt.“

„Nichtsdestotrotz setze ich Hoffnungen in Ihre Fähigkeiten, Sir.“

Seiner Erfahrung nach, ließen sich Hoffnung und Wahrscheinlichkeit nur selten vereinbaren. Er beschloss jedoch, derartige Skepsis für sich zu behalten.

„Wenn ich Ihnen irgendeine Hilfe sein soll, muss ich alles wissen, was Sie mir über die möglichen Gründe für den Mord an Ihrem Ehemann sagen können. Zuallererst möchte ich wissen, ob Sie irgendeine Ahnung haben, warum er sich zu so später Stunde in diesem Teil der Stadt herumgetrieben hat.“

„Er hat gesagt, er würde den Abend im White’s mit ein paar Kollegen der Royal Institution verbringen. Doch bei unserer Ankunft in London vor einigen Tagen hatte er eine Mitteilung von jemandem erhalten, der von seiner Forschung zu wissen schien und einige äußerst wichtige Implikationen zu besprechen wünschte …“

„Wer?“, unterbrach der Graf.

Isobels Lippen spannten sich einen Moment lang, bevor sie antwortete. „Die Nachricht war signiert mit Ein Geistesverwandter der Wissenschaft. Ich habe ihm geraten, nicht zu antworten. Doch Elihu war gutgläubig - zu gutgläubig.“ Sie sah auf ihre Hände hinunter. „Ich befürchte, er könnte einem Treffen, trotz meiner Einwände, zugestimmt haben. Eine andere Erklärung, warum er sich in die Elendsviertel verirrt haben könnte, will mir beim besten Willen nicht einfallen.“

Wrexford machte sich eine Notiz im Geiste, herauszufinden, ob Ashton ein Mann des Glücksspiels oder der Frauen war. Ehefrauen, so scharfsinnig sie auch sein mochten, konnten nicht immer die Schwächen eines Mannes sehen.

„Haben Sie die Nachricht noch?“, fragte er.

„Ja.“

„Ich würde sie mir gerne einmal ansehen.“ Der Graf bezweifelte, dass es ihm irgendwie weiterhelfen würde, doch an diesem Punkt war jeder noch so kleine Informationsfetzen hilfreich.

„Natürlich“, erwiderte sie. „Einer von Elihus Investoren hat uns freundlicherweise sein Stadthaus für unseren Besuch angeboten. Ich werde einen der Lakaien damit beauftragen, sie Ihnen zu bringen.“

„Eine letzte Sache noch – ich brauche eine Liste mit allen Personen, die von der Forschung Ihres Ehemannes gewusst haben und davon, wie kurz er vor einem Durchbruch stand.“ Er legte die Fingerspitzen aneinander. „Und ich wünsche Ihre Einschätzung, wer unter ihnen bereit wäre, dafür zu töten.“

Isobel drehte sich unbehaglich und wandte ihren Blick ab. Schatten huschten über ihr Profil und doch konnte er sehen, dass ihr Gesicht eine gespenstische Blässe angenommen hatte.

„Mrs. Ashton?“

„Ich werde eine Liste anfertigen und sie Ihnen zusammen mit der Nachricht zukommen lassen“, flüsterte sie. „Es schmerzt mich, zu denken, dass jemand meinem Ehemann etwas Schlechtes wünschen könnte.“ Die Haut spannte sich über ihren Gesichtsknochen und verlieh ihrer Schönheit eine gewisse Zerbrechlichkeit. „Doch wenn Sie damit beginnen möchten, nach möglichen Motiven zu suchen, schlage ich vor, Sie sprechen mit der Sekretärin meines Mannes, Octavia Merton, und seinem Laborgehilfen, Benedict Hillhouse.“

Isobel hielt inne. Ihr Gesichtsausdruck wirkte jetzt versteinert.

„In Anbetracht ihrer engen Zusammenarbeit mit meinem Mann an seinen Experimenten“, sagte sie allmählich, „werden sie Ihnen am ehesten etwas über eventuelle geheime Feindseligkeiten erzählen können.“