Leseprobe Der Marquess und seine Lady

Kapitel 1

Vanguard Hall

Was die Verruchtheit anbelangte, gab es unterschiedliche Grade, und an diesem Abend würde Lady Maryann Eleanor Fitzwilliam ganz besonders verrucht sein müssen.

Sie wollte Rache nehmen an Lady Sophie, dem strahlenden Juwel des ton, eine junge Dame, die mit dem größten Vergnügen diejenigen schikanierte, die sie aufgrund mangelnden Rang und Namens als unwürdig erachtete.

Unglücklicherweise waren die Mauerblümchen der vergangenen Saisons, zu denen auch Maryann zählte, aufgrund des gehässigen Geschwätzes von Lady Sophie und ihres erlesenen Zirkels an den Rand des gesellschaftlichen Geschehens gedrängt worden. Maryann und ihre Freundinnen waren des wenig schmeichelhaften Rufes der „Mauerblümchen“ mittlerweile mehr als überdrüssig. Vor vier Jahren hatte Maryann kurzzeitig das Wohlwollen der Schönen und Beliebten genossen, bis sie nicht länger mit deren Spitzzüngigkeit und Rachsucht hatte mithalten können. Sobald ihre vermeintlichen Freundinnen davon Wind bekamen, schlossen sie Maryann aus ihrem Zirkel aus und lachten und flüsterten hinter vorgehaltenen Fächern über sie, wo immer sie Gehör fanden.

Leider waren die meisten jungen Damen der Gesellschaft äußerst empfänglich für derartiges Geschwätz.

Lady Sophie mochte die Schwester eines der gefragtesten Dukes des ton sein, aber im Grunde genommen waren sie und ihr Gefolge nichts weiter als ruchlose Rüpel, und an diesem Abend sollte sie am eigenen Leib erfahren, dass Grausamkeit ihren Preis hatte. Und Maryann würde ihr diese bittere Lektion erteilen. Immerhin hatte sie ihren Freundinnen erst kürzlich eingeschärft, dass es an der Zeit war, waghalsig zu sein und sich zu nehmen, was ihre Herzen begehrten. Tatenlos herumzusitzen und Däumchen zu drehen, hatte ihnen bislang nichts von dem beschert, was sie sich wünschten … weder Liebe noch Familie, noch irgendeine Form von Unabhängigkeit oder Glück.

Ungeduldig klopfte Maryann mit dem Fuß auf den Boden und ließ den Blick über die weitläufigen Gärten streifen. Wo steckte ihr älterer Bruder und engster Vertrauter, Crispin, nur? Sie hatten vereinbart, sich nach dem Eröffnungswalzer in diesem Teil des Gartens zu treffen.

Nervös rückte sie ihre Brille zurecht und nagte an ihrer Unterlippe. Hoffentlich hatte sie ihn nicht zum Tode verurteilt, als sie ihn losschickte, um einige Ringelnattern und andere Kriechtiere um den Teich herum aufzusammeln. Obwohl die Sommernacht angenehm warm war, hatte er noch vor wenigen Tagen das Bett gehütet.

Aus diesem Grund verbrachte die Familie die Hälfte der Zeit in ihrem Stadthaus am Berkeley Square und die andere Hälfte in Vanguard Hall, dem Anwesen wenige Meilen außerhalb von London. Es war nahe genug an der Stadt gelegen, sodass die meisten Mitglieder der Gesellschaft bereitwillig den Weg auf sich nahmen, um an den Bällen und Gartenfeiern der Countess Musgrove teilzunehmen, aber auch weit genug entfernt, damit Crispin sich von der Luftverschmutzung erholen konnte, wenn ihn wieder einmal die Kurzatmigkeit plagte.

Ein Rascheln zwischen den Topfpflanzen ließ sie herumwirbeln.

„Da bist du ja endlich!“, rief sie aus und eilte zu der in Schatten gehüllten Gestalt hinüber. „Vielen Dank, Crispin! Ich weiß, du heißt meine Rachepläne nicht gut, aber es bedeutet mir viel, dass du mich unterstützt. Wo ist der Eimer?“

Die Gestalt erstarrte sichtlich, und ein ungutes Gefühl beschlich Maryann. Sie unterdrückte einen Ausruf des Protests, als er mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung zurück in die Dunkelheit verschwand, aus der er gekommen war.

„Crispin?“

Dieser erschien nur wenige Augenblicke später mit einem Eimer in der Hand neben ihr.

„Oh, Gott sei Dank“, seufzte sie mit einem erleichterten Lächeln. „Ich könnte diesen Plan nicht ohne dich durchziehen.“

Er nickte knapp, und sie wandte sich den Fenstern zu, durch die sie das rege Treiben im prunkvollen Ballsaal ihrer Eltern beobachten konnte. Ursprünglich hatte Crispin vorgeschlagen, einen Maskenball zu veranstalten, aber ein solches Unterfangen hatte ihre Mutter als viel zu skandalös für die Musgroves erachtet. Dennoch waren einige Freunde ihres Bruders in Masken erschienen, hatten diese jedoch abgelegt, als die Countess sie ob ihrer Frivolität scharf zurechtgewiesen hatte. Maryanns Plan war dieser Trubel nur zuträglich: Da sie und Crispin gegenwärtig maskiert waren, würde ihre Mutter sich nicht allzu sehr wundern, wenn jemand ihr von zwei Gästen berichtete, die mit Masken durch die Gegend spazierten.

Die Kunst des Rachenehmens bedurfte sorgfältiger Planung und Ausführung. Daher hatte Maryann ihren Bruder angewiesen, auf Lady Pilkingtons Ball in der Woche zuvor mit Lady Sophie zu tanzen und diese zu überreden, auf der Soiree ihrer Mutter zu erscheinen. Nicht, dass irgendwer eine Einladung zu den exklusiven Veranstaltungen der Countess ausschlagen würde, aber wenn ein Plan Erfolg haben sollte, konnte man nicht vorsichtig genug sein.

„Kann ich mich auch für den nächsten Teil meines Vorhabens auf deine Unterstützung und deinen gesunden Menschenverstand verlassen, Crispin?“

Er zögerte kurz, bevor er nickte.

Sie atmete erleichtert auf. „Ich will ja nicht undankbar erscheinen, aber es wundert mich, dass du so entgegenkommend bist. Liegt dir nicht dein Lieblingszitat des guten Mark Aurel auf der Zunge?“

Selbst in der Dunkelheit spürte sie seinen eindringlichen, forschenden Blick auf sich, der ihr einen unbehaglichen Schauer über den Rücken jagte. „Du weißt schon: Die beste Art, sich zu rächen, ist die, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber ich ertrage diese gehässige Schlange Sophie nun einmal keinen Tag länger!“ Maryann hielt inne und deutete in den Saal. „Wenn man vom Teufel spricht … Da ist sie!“

Ihr Bruder rückte näher heran und starrte ebenfalls durch das Fenster hinein zu der Stelle, an der das blonde, kurvenreiche Juwel der Saison soeben erschienen war. Ihr mit Silberfäden durchzogenes, blütenweißes Abendkleid schien förmlich um sie herum zu schweben, während sie mit ihren Freundinnen (den Mitgliedern des Klubs der Widerlinge) Hof hielt, als sei sie die Königin höchstpersönlich und nicht die hinterhältige Ziege, die den anderen Ladys und Debütantinnen das Leben zur Hölle machte.

Ihretwegen hatten zahlreiche junge Damen gesellschaftliche Anlässe in Tränen aufgelöst verlassen, verfolgt von einer dunklen Wolke des Skandals und der Schande, welche Lady Sophie mit grausamem Geschick aufrechtzuerhalten wusste. Natürlich erkannte niemand außer ihren Opfern das wahre Ausmaß ihrer Niederträchtigkeit hinter der anmutigen, gutmütigen Fassade, die sie in der Öffentlichkeit zur Schau stellte.

„Sieh nur, wie süß und unschuldig sie sich gibt“, flüsterte Maryann und stieß Crispin mit dem Ellbogen in die Seite. „Wusstest du, dass sie das Gerücht in die Welt gesetzt hat, wegen dem Hyacinth von ihrer Mutter nach Cornwall geschickt wurde? Was für eine furchtbare Vorstellung, den Rest der Saison oder vielleicht ihres Lebens aufgrund dieses berechnenden Miststücks dort versauern zu müssen, findest du nicht?“

Ihr Bruder gab einen leicht erstickten Laut von sich, den er sofort zu unterdrücken versuchte.

Maryann senkte verschwörerisch die Stimme. „Es ging Lady Sophie gehörig gegen den Strich, dass Mr Humboldt es wagte, seine Aufmerksamkeit nicht ihr, sondern Hyacinth zu schenken, also sorgte sie dafür, dass die Ärmste unbeaufsichtigt mit einem Lakaien im Gewächshaus eingesperrt wurde!“

Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. „Niemand glaubte Hyacinth, dass sie durch eine Nachricht in eine Falle gelockt worden war. Aber als ich den Brief in Augenschein nahm, bestand für mich kein Zweifel, dass Sophie ihn verfasst hatte. Ich kenne ihre Handschrift von den albernen Gedichten, die sie dir geschrieben hat. Am schlimmsten an der Sache ist, dass Sophie eigentlich gar kein Interesse an Mr Humboldt hat. Sie ist die Tochter eines Dukes mit einer Aussteuer von fünfzigtausend Pfund und einem Landsitz in Wiltshire. Der arme Mann hätte niemals eine ernsthafte Chance bei ihr gehabt. Es ist nur natürlich, dass er sich in eine anständige Frau wie Hyacinth verliebte.“

Sie brach ab, als sie sah, wie Miss Louisa Nelson den Saal betrat. Louisa war eine junge Dame, die von Lady Sophie und ihrem gehässigen Gefolge regelmäßig ausgelacht und als „unansehnliches Mauerblümchen“ bezeichnet wurde. Sie trug ein etwas überladenes, rosenfarbenes Abendkleid, das ihrem rötlichen Teint und ihrer gedrungenen Statur unglücklicherweise nicht übermäßig schmeichelte. Ihr gutmütiges, rundliches Gesicht strahlte erwartungsvoll, als sie sich im Saal umsah, bevor sie auf den Getränketisch zusteuerte.

Als Maryann das hämische Funkeln in Sophies Augen bemerkte, überkam sie ein ungutes Gefühl. Sobald Louisa nahe genug an der blonden Schlange vorbeilief, streckte diese blitzschnell den Fuß heraus, um ihr Opfer stolpern zu lassen.

„O nein!“ Schockiert presste Maryann eine Hand vor den Mund und beobachtete, wie Louisa unbeholfen zu Boden fiel und in einem rosafarbenen Häufchen Elend liegen blieb.

Das Orchester verstummte, die Gäste, die gerade ein Menuett tanzten, hielten inne, und eine peinliche Stille legte sich über den Saal. Niemand schickte sich an, der jungen Dame, die möglicherweise verletzt war, aufzuhelfen. Zu Maryanns Abscheu begannen Sophie und ihre fiesen Freundinnen zu kichern.

Ihr Gehabe ermutigte diejenigen unter den Gästen, die ihre Gunst zu gewinnen versuchten, dazu, sich die Fächer vors Gesicht zu halten und Miss Louisa abfällige Blicke zuzuwerfen. Als die arme Frau sich anschickte, aufzustehen, verhedderte sie sich in den Rüschen ihres Saums und fiel erneut zu Boden. Endlich trat ein junger Mann, den Maryann nicht kannte, vor und half ihr auf die Füße. Mit dem Gesicht in den Händen vergraben eilte Louisa aus dem Saal.

Maryann kochte vor Wut. „Verstehst du jetzt, warum ich diesen Plan unbedingt ausführen muss?“, fragte sie ihren Bruder. „Sophie ist durch und durch niederträchtig!“

Sie selbst war allzu vertraut mit der grausamen Schattenseite der illustren Londoner Gesellschaft. Nur zu leicht konnten Worte und Taten den Ruf eines Menschen ruinieren oder längst überstanden geglaubte Skandale wiederaufleben lassen. Tatenlos hatte Maryann während der letzten zwei Saisons zusehen müssen, wie Lady Sophie nicht nur sie, sondern auch zahlreiche andere Debütantinnen schikanierte. Aber damit war nun Schluss.

„Wir müssen geduldig sein“, flüsterte sie und zog Crispin tiefer in die Schatten. „Sobald Sophie sich diesem Fenster nähert, schlagen wir zu!“

Während sie schweigend auf den passenden Augenblick warteten, warf sie ihrem Bruder hin und wieder besorgte Blicke zu. „Du bist heute Abend ungewöhnlich still. Hast du immer noch Halsschmerzen?“ In Gedanken machte sie sich eine Notiz, Dr. Gervase gleich am folgenden Morgen zu benachrichtigen.

Die Art, auf die Crispin sich ihr zuwandte, war seltsam befremdlich und einschüchternd. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber er schien sich absichtlich auf eine Weise im Halbdunkel zu verbergen, die es ihr unmöglich machte, sein Gesicht zu erkennen.

Die goldene Maske, die er trug, um während der Ausführung ihres Plans unerkannt zu bleiben, kam ihr jedoch bekannt vor. „Ziehst du es vor, deine Stimme zu schonen?“, fragte sie.

Er nickte.

„Fühlst du dich immer noch angeschlagen?“

Abermals nickte er.

Maryann musterte ihn besorgt. Bevor sie weiter nachbohren konnte, hörte sie jedoch Lady Sophies Stimme zu ihnen herausdringen: „Habt ihr gesehen, wie gedemütigt die gute Miss Louisa war?“

Mit hämmerndem Herzen schlich Maryann sich näher an das Fenster heran. „Schnell, den Eimer, Crispin“, flüsterte sie.

Als dieser ihr wortlos den Eimer hinhielt, starrte sie ihn entgeistert an. „Ich kann ihn doch nicht ausleeren. Wie du weißt, habe ich eine Heidenangst vor Schlangen.“

Er schnaubte spöttisch, und ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Dann kroch ihr Bruder bis dicht unter das Fenster, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen im Ballsaal zu.

„Sophie ist fast da. Schnell, leere den Eimer aus!“ Bitte verzeih mir diesen Aufruhr, Mama.

Crispin folgte ihrer Aufforderung und kippte die kleinen Schlangen und anderen Kriechtiere durch das Fenster. Zu Maryanns Überraschung schien niemand das Ungeziefer auf dem Parkettboden zu bemerken, schon gar nicht Sophie, die sich nun in unmittelbarer Nähe befand. Vielleicht versperrten die strategisch platzierten Topfpflanzen ihr die Sicht auf das Grauen, das sie erwartete. Beinahe tat sie Maryann ein wenig leid.

Aber auch nur beinahe.

„O nein, es sieht aus, als ginge sie zu Phineas Hadley hinüber. Am Ende wird sie gar nicht …“

Ein ohrenbetäubender Schrei ertönte, und in der nächsten Sekunde brach das Chaos aus. In dem verzweifelten Versuch, sich von dem Getier zu entfernen, auf das sie getreten war, hatte Sophie sich in die Arme eines Gentlemans geflüchtet und weigerte sich, mit den Füßen den Boden zu berühren. Der überrumpelte Kerl stolperte rückwärts und packte die Frau, die sich ihm schluchzend an den Hals geworfen hatte, an den Hüften – wie unziemlich! –, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als Sophie ihn empört mit ihrem Fächer ohrfeigte, stürzten sie in einem Gewirr aus Gliedmaßen zu Boden … geradewegs inmitten der verängstigten Schlangen.

Maryann hatte noch nie jemanden so laut schreien hören. Einige Damen aus Lady Sophies Gefolge schickten sich an, ihr auf die Füße zu helfen, während andere die Unverfrorenheit besaßen, reglos dazustehen und zu lachen. Das gefallene Juwel bedachte die Verräterinnen ihres Zirkels mit einem vernichtenden Blick, bevor ihre Unterlippe zu zittern begann und sie in Tränen ausbrach.

Maryann zog Crispin am Ellbogen mit sich fort zu der versteckten Gartenlaube, in der sie als Kinder oft zusammen gespielt hatten. Erst, als sie sich in Sicherheit wähnte, brach sie in schallendes Gelächter aus.

Beschwingt von der Erinnerung an Lady Sophies blankes Entsetzen wandte sie sich ihrem Bruder zu. „Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan!“

Er trat einen Schritt zurück in die Schatten der hohen, gepflegten Hecke, die sie umgab. Maryann streifte sich ihren Umhang ab und breitete ihn auf dem weichen, saftigen Rasen aus, bevor sie sich darauf niederließ.

Dann warf sie theatralisch eine Hand in die Luft und rief: „,Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?‘“

Sie hielt inne und seufzte tief. „Oh, Crispin, irgendwie tut sie mir ja leid, aber gleichzeitig freut es mich, dass sie endlich einmal am eigenen Leib erfahren hat, wie ihre Schikane sich für andere anfühlt. Zweifellos werden sämtliche Skandalblätter morgen von dem Vorfall berichten, und noch wochenlang wird man darüber tuscheln. Wir wissen doch, wie reißerisch der ton sein kann.“

Sie wandte das Gesicht gen Himmel und fragte: „Was denkst du? Wird Sophie etwas aus dieser Lektion lernen und einsehen, wie viel Leid sie denen von uns zugefügt hat, die nur versucht haben, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und ihr Glück zu finden? Oder muss ich zukünftig wohl noch drastischere Maßnahmen ergreifen?“

Sie hoffte, dass sie nicht noch schonungsloser würde vorgehen müssen. Zwar hatte ihr der Anblick der gepeinigten Sophie unter dem Gekicher derer vermeintlichen Freundinnen eine gewisse Genugtuung verschafft, allerdings hatte sich der Sieg auch leer angefühlt. Es fiel Maryann nicht leicht, ihre Prinzipien der Güte und Vergebung ohne Weiteres über Bord zu werfen.

Langsam ließ Crispin sich neben ihr auf dem Rasen nieder, den Rücken gegen den Sockel einer Venusstatue gepresst, die eine Vase trug. Wieder einmal hatte er eine Position gewählt, die sein Gesicht und seinen Oberkörper in Schatten hüllte. Ein Bein hatte er ausgestreckt, das andere angewinkelt. Maryann runzelte die Stirn. Hatte er schon immer so große Füße gehabt?

„Vielleicht hätte ich lieber von Angesicht zu Angesicht mit ihr reden sollen, anstatt derart kindisch vorzugehen.“ Sie hielt inne und seufzte tief. „Wie dem auch sei, jetzt, da ich diesen Streich hinter mir habe, muss ich mir einen brillanten Plan einfallen lassen, wie ich der Vermählung mit Lord Stamford entgehe. Mama will sich einfach nicht erweichen lassen, Crispin, und ich stehe kurz davor, etwas wirklich Skandalöses zu unternehmen.“

Wieder quittierte er ihre Worte mit beharrlichem Schweigen. Maryann warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Normalerweise würde er den Gedanken eines drohenden Skandals mit lautstarkem Entsetzen begrüßen, vor allem, wenn er ahnte, dass er ihr auch bei dem Unterfangen helfen sollte, ihre Mutter von deren Plänen abzubringen. War ihr Bruder schon immer so … schweigsam gewesen? Irgendetwas an ihm kam ihr seltsam vor, doch sie konnte nicht genau sagen, was.

„Crispin? Was denkst du?“

Ihre Frage klang weitaus verunsicherter, als ihr lieb gewesen wäre.

Er atmete tief durch. „Ich denke, Sie sind unglaublich faszinierend“, erwiderte er mit einer tiefen, kehligen Stimme, die definitiv nicht Crispin gehörte.

Schock und Panik ließen Maryanns Puls in die Höhe schnellen. Sie erstarrte und vergrub die Finger im Gras neben sich, während die Welt sich um sie zu drehen schien. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Mann, mit dem sie sich die ganze Zeit über in der Gartenlaube ihrer Eltern versteckt hatte, war nicht ihr Bruder.

Zuvor war sie zu sehr mit der Ausführung ihres Racheplans beschäftigt gewesen, aber in diesem Moment konnte sie das Offensichtliche nicht länger ignorieren. Er war so viel größer als Crispin, seine Schultern wesentlich breiter, seine Beine länger und muskulöser. Außerdem roch er ganz anders … dunkel, würzig, ein wenig nach Regen. Wie ein lauerndes Raubtier wartete er auf ihre Antwort, doch sie brachte kein Wort heraus, konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Er ist nicht Crispin. Er ist nicht mein Bruder. O Gott!

Hastig versuchte sie, sich aufzurappeln, rutschte aber in ihrer Eile mehrmals aus. Endlich schaffte sie es mit zitternden Knien auf die Füße, wäre jedoch beinahe wieder zu Boden gesunken, als sie sein leises, höhnisches Lachen vernahm.

Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit, bis er sich schließlich ebenfalls erhob und aus dem Schatten trat, sodass sie seinen großen, kraftvollen Körper und das wachsame Funkeln in seinen Augen hinter der Maske erkennen konnte, während er sie von Kopf bis Fuß musterte.

„Ah … Sie wirken, als würden Sie jeden Moment in Ohnmacht fallen oder hysterisch werden. Dabei dachte ich, Sie seien mutig“, sagte er spöttisch.

Ohne ihren Umhang aufzuheben, wirbelte Maryann herum und rannte so schnell sie konnte davon.

***

Nicolas Charles St. Ives, Marquess of Rothbury, war zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht sogar Jahren, aufrichtig amüsiert. Nie zuvor hatte er eine Dame mit solcher Geschwindigkeit davonstürmen sehen. Immerhin besaß sie genug gesunden Menschenverstand, sich so weit wie möglich von ihm zu entfernen.

Gut.

Als sie um die Ecke bog, sah er im Schein des Mondes, wie sie etwas fallen ließ. Vielleicht einen Brief? Langsam schlenderte er auf die Stelle zu, von der sie verschwunden war, als lauerte etwas Monströses, Albtraumhaftes in den Schatten hinter ihr. Und womöglich war er genau das, ein Monster, das seit Jahren den Pfad der Rache verfolgte.

Er versuchte erst gar nicht, seine Taten schönzureden, zu behaupten, er bestrafe diejenigen, die es verdienten. Er war kein Verfechter der Gesetze seines Landes. Nein, ihm ging es allein darum, die hasserfüllten Rachegelüste seines tiefschwarzen Herzens zu stillen. Deswegen war er an diesem Abend hier aufgetaucht und überraschend dieser äußerst rätselhaften, faszinierenden Dame begegnet.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, in das Arbeitszimmer des Hausherrn einzubrechen, das sich im zweiten Stock befand, und diskret den Schreibtisch, das versteckte Bücherregal, die Bodenplatten und selbst den Tresor nach Beweisen zu durchsuchen, die den Sohn des Earls, Viscount Crispin Fitzwilliam, mit der schwarzen Dahlie in Verbindung brachten.

Denn mehr als alles andere war er daran interessiert, diese Person zu finden.

Unglücklicherweise hatte er keine offizielle Einladung zum Ball des Earls und seiner Countess erhalten, was ihm sein Vorhaben deutlich vereinfacht hätte. Seine Lippen verzogen sich in einem Anflug von Reue. Er hatte seine Rolle als vermeintlicher Wüstling während der letzten Jahre zu perfekt gespielt, und obwohl zahlreiche Mütter des ton mehr als bereit waren, ihre Töchter an einen wohlhabenden, wenn auch verrufenen Marquess zu verheiraten, ließ eine so anspruchsvolle und sittsame Frau wie die Countess einen Mann wie ihn keinesfalls über ihre Türschwelle treten.

Wann immer sie ihm begegnete, machte sie keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen ihn. Sie rümpfte die Nase und hob hochmütig das Kinn an, sodass alle Welt die Falten an ihrem Hals und Dekolleté zu sehen bekam. Obwohl er ein gutes Stück größer war als sie, hatte er in ihrer Gegenwart stets das Gefühl, als würde sie auf ihn herabsehen.

Er bückte sich und hob den Brief auf, den die Tochter der Countess soeben hatte fallen lassen. Er war mehrmals gefaltet, wie eine Nachricht an einen geheimen Liebhaber. Nun war sein Interesse geweckt, denn er wusste, wie wichtig und notwendig es war, Geheimnisse und Informationen zu sammeln, wenn man mit einflussreichen Familien verkehrte, die sich für unantastbar hielten.

Da es im Garten zu dunkel war, um den Brief zu lesen, steckte er ihn ein und drehte sich um, als er Schritte auf dem raschelnden Laub vernahm. Die junge Frau war zurückgekehrt und steuerte selbstbewusst und unbeirrt auf ihn zu. Ihre elegante Haltung hatte etwas seltsam Bedrohliches an sich, das ihn stutzig werden ließ.

In ihrem hellblauen Abendkleid wirkte sie in den Schatten der Bäume und Pflanzen beinahe ein wenig gespenstisch. Ihre Figur war zierlich, doch ihre Hüften und das Dekolleté waren von einladender Fülle. Als er den Blick an ihr herunterwandern ließ, fiel ihm ein glänzender Gegenstand in einer ihrer Hände auf und seine Augen weiteten sich überrascht.

Was um alles in der Welt?

Kapitel 2

Nicolas blinzelte mehrmals, doch der Anblick vor ihm blieb der gleiche: die Tochter der Countess, nicht länger verängstigt, sondern wutentschlossen, mit einer gefährlich spitz zulaufenden Schaufel in der Hand. Sie hatte herausfordernd das Kinn vorgeschoben und bedachte ihn mit einem arroganten, herablassenden Blick, der dem ihrer Mutter alle Ehre machte.

„Wollen Sie mir mit der Schaufel eins überziehen, weil ich Sie erschreckt habe?“, fragte er spöttisch.

Sie hob das Werkzeug mühelos an. Offensichtlich war sie stärker, als sie aussah.

„Ich werde Sie damit erdolchen, wenn Sie mir nicht augenblicklich sagen, wo mein Bruder ist.“

Zweifellos bezog sie sich auf den Mann mit dem Eimer, dem Nicolas zuvor begegnet war. „Ah, also habe ich doch nicht Ihr Zartgefühl verletzt?“

Sie wirkte, als würde sie sich jeden Moment mit einem angriffslustigen „En garde!“ auf ihn stürzen. Wie ungewöhnlich … Sie schien Erfahrung mit dem Degen zu besitzen und sich nicht zu zieren, ihre Kenntnisse einzusetzen.

„Sie tragen die Maske meines Bruders. Was haben Sie mit ihm angestellt?“

Das leichte Zittern in ihrer Stimme jagte ihm einen seltsamen Schauer über den Rücken. „Wie tapfer Sie doch sind“, murmelte er und trat einen Schritt auf sie zu. „Obwohl Sie eindeutig Angst haben, sind Sie bewaffnet zurückgekehrt, um ihn zu retten. Tapfer, aber töricht. Was, wenn ich ein ruchloser Schurke wäre?“

Trotz ihrer Halbmaske, die den oberen Teil ihres Gesichts verdeckte, konnte er sehen, wie sie die Augen zusammenkniff. Anstatt zurückzuweichen, hielt sie ihm mit ruhiger Hand ihre Waffe entgegen, die ein ordentliches Gewicht haben musste. Er deutete auf die verlassenen Gärten um sie. „Wir sind ganz allein, und ich könnte Sie mühelos entwaffnen.“

Als sie die vollen Lippen verzog, vergaß er für den Bruchteil einer Sekunde seinen eigenen Namen. Er wusste, dass er den Anblick ihres Lächelns, so flüchtig es auch gewesen sein mochte, nie wieder vergessen würde.

„Versuchen Sie es ruhig“, erwiderte sie grimmig. „Aber machen Sie sich darauf gefasst, einen Arm zu verlieren, wenn Sie mir zu nahe kommen. Jetzt sagen Sie mir endlich …“

„Maryann?“, wurde sie von einer verwirrten Stimme unterbrochen.

Sie wirbelte herum. „Crispin! Du bist unverletzt, Gott sei Dank!“ Achtlos warf sie die Schaufel beiseite und eilte auf den jungen Mann zu, der sich, den Nacken reibend, aus dem Gestrüpp kämpfte.

Nicolas’ bedrohliche Anwesenheit schien sie völlig vergessen zu haben. Wie beleidigend. Lautlos wich er zurück in die Schatten, wo er verharrte und den Geräuschen der Nacht lauschte. Ein Teil von ihm war auf sonderbare Weise immer noch auf sie fixiert, wie er zu seinem großen Unmut feststellte.

„Wer war der Gentleman, mit dem du dich unterhalten hast?“, fragte ihr Bruder mit einem Blick über ihre Schulter. „Wohin ist er verschwunden?“

Beide wandten sich der Stelle zu, an der Nicolas eben noch gestanden hatte, bevor sie sich nervös im Garten umsahen.

„Ich weiß nicht, wer er war, aber er hat deine Maske getragen, Crispin.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Hat er dir wehgetan?“

„Nein.“

„Warum hast du dann mit der Schaufel herumgefuchtelt, als wolltest du dir einen Wüstling vom Hals halten?“

„Ich wollte ihn dazu bringen, mir zu verraten, was er dir angetan hat“, erklärte sie mit einem ungehaltenen Schnauben. „Ich war überzeugt, dass du längst irgendwo tot begraben lagst!“

Angesichts ihrer regen Fantasie musste Nicolas schmunzeln. Er hatte nicht vorgehabt, den jungen Mann zu überwältigen. Als dieser ihm zufällig über den Weg lief, hatte er instinktiv gehandelt und ihn mit einem geübten Handgriff kurzzeitig außer Gefecht gesetzt. Dass Lord Crispin eine Maske getragen hatte, war Nicolas nur gelegen gekommen, und er hatte sie dem jungen Mann abgenommen, um seine eigene Identität zu verbergen.

„Wie du siehst, bin ich quicklebendig“, murmelte der junge Lord und bedachte seine Schwester mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du solltest wirklich nicht so viele von diesen Schauerromanen lesen.“

„Was ist denn passiert, Crispin?“

Stirnrunzelnd wandte er sich dem Gebüsch zu, in dem Nicolas ihn zurückgelassen hatte.

„Ich war auf dem Weg zu dir, nachdem ich die Kriechtiere vom Teich geholt hatte, und ich … ich glaube, ich habe etwas aufgeschreckt, das in der Dunkelheit lauerte. Mit ziemlicher Sicherheit war es ein Mann, und kein Gespenst.“

Seine Schwester boxte ihn in die Schulter. „Wer liest hier zu viele Schauerromane, hm? Natürlich war es ein Mann. Er hat irgendetwas mit dir angestellt und dir deine Maske gestohlen. Was wirklich gruselig ist, denn er hätte dir offensichtlich mit Leichtigkeit den Garaus machen können!“

Sie holte tief Luft und sah sich nervös um. „Crispin, er … er hat sich für dich ausgegeben. Ist das nicht erstaunlich? Warum hätte er das tun sollen?“

Weil Sie mich überrascht haben … Und aus Faszination ließ ich mich dazu hinreißen, Sie bei Ihrem Vorhaben zu unterstützen, dachte Nicolas, ein wenig amüsiert angesichts ihrer Bestürzung.

„Gütiger Himmel, Maryann, du klingst, als seist du völlig von ihm eingenommen“, stellte ihr Bruder alarmiert fest.

So eingenommen, dass sie mich mit der Schaufel bedrohte, dachte Nicolas trocken.

Lord Crispin ließ den Blick über den dunklen Garten schweifen. „Ganz offensichtlich war er ein Schurke, der nichts Gutes im Sinn hatte. Er hat mich überwältigt und mir meine Maske gestohlen! Vielleicht ist er ein Dieb?“

„Sei nicht albern. Warum sollte ich von einem völlig Fremden eingenommen sein?“, erwiderte seine Schwester ungehalten. „Lass uns in den Ballsaal zurückkehren. Und vergiss nicht, dich äußerst schockiert zu zeigen, wenn du erfährst, was der armen Lady Sophie zugestoßen ist.“

„Sag jetzt bloß nicht, du hast deinen Plan mit der Hilfe dieses Mannes umgesetzt?“

„Allerdings!“

Sie ging zu ihrem Umhang hinüber und hob ihn auf, bevor sie in Richtung Haus davonmarschierte. Ihr Bruder murmelte etwas vor sich hin, folgte ihr aber gehorsam. Nicolas verharrte noch eine Weile in den Schatten, bevor er lautlos um das Gebäude herumschlich, weg von dem regen Treiben im Ballsaal. Auf der anderen Seite angekommen, betrachtete er das Spalier, das sich über die Mauer erstreckte, sowie die Balkone der oberen Stockwerke. Anschließend begab er sich zur Rückseite des Hauses, wo er die Stufen im Gemäuer entdeckte, über die die Schornsteinfeger aufs Dach kletterten, um den Rauchabzug zu reinigen oder lose Schieferplatten zu befestigen.

Vorsichtig erklomm er die Wand hinauf zur zweiten Etage, wo er sich über den nächstgelegenen Balkon hievte. Als er gegen das Fenster drückte, stellte er fest, dass es nicht verschlossen war. Wenig überraschend, da eine Familie wie die Fitzwilliams hier draußen am Stadtrand keine Gedanken an die eigene Sicherheit verschwendete. Selbst mitten in London, wo Verbrechen aufgrund von Armut und den Nachwirkungen des Krieges auf der Tagesordnung standen, würden sie sich durch ihren Reichtum und ihre privilegierte Stellung beschützt fühlen.

Lautlos schlüpfte er durch das Fenster und fand sich in einem dunklen Raum wieder. Im schwachen Schein des Mondes erkannte er, dass es sich um ein kleines Arbeitszimmer handelte. Wie er vermutet hatte, war die Einrichtung des Herrenhauses übermäßig luxuriös und prunkvoll.

Gelächter, Orchestermusik und das Klirren von Gläsern drang durch die Wände und die geöffneten Fenster zu ihm herauf. Trotz des regen Treibens, das ihm als Ablenkung diente, bewegte er sich mit Bedacht durch das Zimmer, bis er die Kerzenhalter fand und eine Kerze anzündete.

Dann nahm er die Maske ab und legte sie auf dem massiven Eichentisch ab, der an einer der Wände stand. Es dauerte nicht lange, bis er den Raum komplett durchsucht hatte. Leider fand er jedoch nichts Nennenswertes, außer ein paar Kontobüchern, unbezahlten Rechnungen von angesehenen Hutmacherinnen und Modistinnen sowie Briefe eines der Landverwalter des Earls. Darin ging es lediglich um die Trockenlegung einiger Gebiete, die der Angestellte als notwendig erachtete. Nicolas fand weder verborgene Wandpaneele noch Geheimfächer im Schreibtisch oder den Bücherregalen.

Leise verließ er das Zimmer und begab sich den Gang hinunter zur Bibliothek. Die Tür war angelehnt, und gedämpftes Gemurmel und Gelächter drangen zu ihm heraus. Die intimen Geräusche verrieten ihm, dass der Raum wohl noch eine ganze Weile besetzt sein würde. Aufgrund seiner sorgfältigen Recherche wusste er, dass sich ein paar Türen weiter ein noch größeres Arbeitszimmer befand, welches er betrat, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand sich darin aufhielt.

Er schloss hinter sich ab, damit niemand ihn überraschen konnte, bevor er sich umsah. Einige Kontobücher stapelten sich auf dem Schreibtisch, und weitere lagen auf dem Sofa vor dem Kamin verstreut. Diese ignorierte er geflissentlich. Einflussreiche Familien wie die Musgroves ließen ihre schmutzigen Geheimnisse nicht offen herumliegen. Vielmehr vergruben sie die potenziellen Skandale so tief, dass beharrliche Männer wie er schonungslos danach graben mussten.

Obwohl er nicht genau wusste, wonach er suchte, war er sich sicher, dass sein Instinkt es ihm sagen würde, wenn er auf etwas Wichtiges gestoßen war. Immerhin hatte dieser ihn während der letzten Jahre nie im Stich gelassen. Er suchte jeden Zentimeter des Zimmers ab – sah selbst unter dem Aubusson-Teppich, hinter den Bücherregalen und an den Wandpaneelen nach –, doch ihm fiel nichts Verdächtiges ins Auge.

Nicolas stieß einen frustrierten Laut aus und versuchte, die aufkeimende Wut zu unterdrücken. Es hatte ihn beinahe ein Jahr gekostet, in dem er zahlreiche Edelmänner und deren Reisen, Interessen sowie Geheimnisse hatte überprüfen lassen, bis die Spur ihn schließlich zu den Musgroves führte.

Crispin Fitzwilliam passte theoretisch perfekt auf die Beschreibung des Mannes, nach dem er suchte, aber nichts ließ darauf schließen, dass der junge Lord in die Angelegenheit verwickelt gewesen war, derer Nicolas ihn beschuldigte. In Gedanken hörte er Ariannas Stimme die Worte aus dem Brief flüstern, den sie ihm hinterlassen hatte, und die ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen: Derjenige, der sich die schwarze Dahlie nennt, ist am grausamsten von allen. Er schenkte mir Hoffnung, nur um dabei zuzusehen, wie sie meine Seele in Stücke rissen.

Nicolas ließ sich in einen der großen Ohrensessel vor dem Kamin sinken und starrte hinauf an die Decke. Wenn er die benötigten Informationen nicht im Verborgenen fand, musste er sich vielleicht unter die anwesenden Gäste mischen und versuchen, mehr über den jungen Lord von denjenigen zu erfahren, die ihm nahestanden.

Mit einem Anflug von Belustigung stellte er sich vor, wie die Countess reagieren würde, wenn er sich uneingeladen auf ihrem Ball blicken ließe. Offensichtlich konnte er nicht in dieser Aufmachung, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, aufkreuzen. Der ton hielt ihn für einen nichtsnutzigen Dandy, der sich ausschließlich für Mode und Ausschweifungen interessierte. Da seine Unterkunft nicht allzu weit von hier entfernt war, könnte er jedoch innerhalb einer Stunde wieder zurück sein. Die Gelegenheit, Lord Crispin in seiner natürlichen Umgebung zu beobachten, sollte er sich wirklich nicht entgehen lassen.

Als er sich erhob, raschelte etwas in seiner Tasche. Jetzt, da seine Wut sich gelegt hatte, erinnerte er sich wieder an den Zettel, den die Tochter des Hauses im Garten hatte fallen lassen. Neugierig zog er ihn heraus und entfaltete ihn.

Die erste Zeile lautete:

Wie verrucht muss man sein, um die Illusion des Ruins zu erschaffen?

Die Schrift war fließend, verschnörkelt und elegant. Interessiert las er weiter.

Nötige Schritte, um seinen Ruf zu verlieren, ohne tatsächlich seine Tugend, Freiheit und Unabhängigkeit einzubüßen:

- Mama dazu überreden, Lord Nicolas St. Ives, einen der berüchtigtsten Wüstlinge Londons, zu einem ihrer Bälle einzuladen. (Ein nahezu unmögliches Unterfangen, da Mama nichts von ihm hält, aber dennoch muss ich es versuchen.)

- Herausfinden, welche Veranstaltungen der Marquess zu besuchen gedenkt. Leider zählt er nicht zu Crispins Freunden (der mir ohnehin nichts verraten würde), aber wenn ich die Augen und Ohren offenhalte, erfahre ich vielleicht etwas über die Pläne des Marquess.

- Wenn es mir gelingt, einen Augenblick mit ihm allein zu sein, reicht das möglicherweise bereits aus, um Gerüchte über uns in die Welt zu setzen.

- Den Marquess küssen oder ihm gestatten, mich zu küssen, aber nur in Gegenwart einer Person, die es ohne Skrupel herumerzählen wird.

- Nicolas St. Ives dazu überreden, etwas Verruchtes mit mir anzustellen! Selbst ein einziger Kuss ohne Aufsicht würde meine Mutter bereits mit maßlosem Entsetzen erfüllen. Aber wie soll ich ihn dazu bringen? Würde er mir diesen Gefallen tun, wenn ich ihn einfach darum bäte?

- Mich als ruiniert erklären.

- Mich auf den gesellschaftlichen Skandal und das niederträchtige Geflüster vorbereiten.

- Mich auf einen längeren Aufenthalt auf dem Lande einstellen.

„Wie töricht Sie doch sind“, flüsterte Nicolas, überrascht, wie sehr die alberne Liste ihn erheiterte. Sie wollte also, dass er sie küsste. Nein, ihr Wunsch ging sogar noch einen Schritt weiter: Er sollte sie ruinieren.

Ihm fiel wieder ein, dass sie mit ihrem Bruder hatte besprechen wollen, wie sie einer Vermählung entgehen könne. Mit einem leisen Lachen steckte er das Stück Papier zurück in seine Tasche und verließ das Arbeitszimmer, um die goldene Maske, die er in dem kleineren Raum hatte liegen lassen, zu holen.

Auf dem Weg zum Ballsaal hielt er sich möglichst in den Schatten auf, um zu vermeiden, dass die wenigen Gäste, denen er begegnete, ihn erkannten. An den weit geöffneten Türen angekommen, die in den Saal führten, blieb er stehen und ließ den Blick über die Menge schweifen. Da! Es dauerte nicht lange, bis er sie fand.

Sie stand am Rande der Tanzfläche und unterhielt sich angeregt mit einer Gruppe junger Damen. Es schien eine – zugegebenermaßen charmante – Angewohnheit von ihr zu sein, sich die Brille zurechtzurücken, während sie sprach. Obwohl sie ihr gesellschaftliches Debüt bereits vor ein paar Jahren gehabt haben musste, war sie ihm bislang nie aufgefallen.

Wäre sie nach ihrem leicht ungewöhnlichen Aufeinandertreffen nicht mit der Schaufel zurückgekehrt, hätte er vermutlich keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet. Sie wäre nur eine unbedeutende Begegnung von vielen gewesen, gesichtslos, namenlos, wie jemand, den man flüchtig auf der Straße passiert.

Jetzt aber, da sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, überkam ihn das seltsame Gefühl, dass er sie nie wieder würde vergessen können, dass sie auf ewig wie ein hartnäckiger Dorn in seiner Seite steckte.

Als spürte sie seinen Blick auf sich, hob sie das Kinn und starrte in seine Richtung, geradewegs in die Schatten hinein. Für einen kurzen Augenblick trat er ins Licht, und ihre Augen weiteten sich. Instinktiv legte sie eine Hand an ihren Hals.

Trotz der Distanz zwischen ihnen spürte er deutlich die knisternde Anspannung in der Luft.

Reglos musterten sie einander von entgegengesetzten Enden des Ballsaals. Ihr Blick blieb an der goldenen Maske hängen, und er konnte an ihrer neugierigen Miene erkennen, wie gerne sie wüsste, wer er wohl sein mochte. Er verneigte sich mit sichtlichem Hohn vor ihr. Sie sollte ruhig wissen, dass er sich durchaus im Klaren darüber war, mit wem er es zu tun hatte.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, das nicht nur atemberaubend war, sondern auch herausfordernd. Wozu genau wollte sie ihn herausfordern?

Hochmütig hob sie das Kinn an und erwiderte seine Verbeugung mit einem ebenso mokanten Knicks. Wie kühn von ihr. Offensichtlich war sie sich der Gefahr, die von einem Mann wie ihm ausging, nicht bewusst. Angesichts ihrer unerschrockenen Trotzgeste regte sich etwas Dunkles, Leidenschaftliches in ihm.

Drei ihrer Freundinnen drehten sich um, zweifellos verwundert, vor wem sie geknickst hatte. Bevor sie ihn erblickten, war er zurück in die Schatten gewichen und entfernte sich leichtfüßig von der glanzvollen Gesellschaft und der ungewöhnlichen Versuchung eines Mauerblümchens.

Passen Sie besser auf, was Sie sich wünschen, Lady Maryann, denn ich hätte nichts dagegen, etwas Verruchtes mit Ihnen anzustellen.

***

Maryann konnte nicht glauben, dass Nicolas St. Ives tatsächlich die Dreistigkeit besaß, ohne Einladung auf dem Ball ihrer Mutter aufzutauchen. Doch er schritt selbstsicher die Treppe hinunter in den Saal, warf den Debütantinnen hier und da süffisante Blicke zu und lächelte auf eine Weise, die seinem Ruf als Wüstling alle Ehre machte.

Der ton erachtete ihn als anstößig, unehrenhaft und äußerst gerissen. Allerdings sah er auch verteufelt gut aus, weshalb viele junge Damen ungeachtet der möglichen Konsequenzen schamlos mit ihm schäkerten. Offensichtlich kümmerte er sich nicht darum, was die Gesellschaft über ihn dachte, sonst würde er viel mehr darauf achten, nicht jede Woche die Titelseiten der Klatschblätter zu zieren.

„Ist er es wirklich?“, flüsterte eine junge Debütantin. „Himmel, er sieht wahrhaft anbetungswürdig aus.“

Ihre Freundinnen kicherten und zogen sie mit sich fort, als wollten sie die anmutige Gazelle vor dem heranpirschenden Löwen bewahren. Der Marquess schien die Aufmerksamkeit, die er unter den weiblichen Gästen erregte, nicht zu bemerken. Sorglos setzte er seinen Weg durch die Menge fort. Maryann wurde aus seiner Miene und seinem Auftreten nicht schlau.

Einige Gentlemen des ton waren äußerst fixiert auf ihr makelloses Erscheinungsbild, und er schien einer von ihnen zu sein. Immerhin trug er einen perfekt sitzenden, schwarzen Anzug, eine goldene Weste mit dazu passendem Krawattenschal, an dem eine Krawattennadel mit einem riesigen Diamanten prangte. Sein Haar wirkte auf kunstvolle Weise zerzaust.

Wie verwegen von diesem Schuft, uneingeladen auf dem Ball ihrer Mutter aufzukreuzen!

Stirnrunzelnd nahm Maryann das aufgeregte Getuschel um sich herum wahr. Mama würde den Marquess am nächsten Morgen lauthals verfluchen, aber die Skandalblätter würden seine Kühnheit anpreisen, die Debütantinnen würden davon schwärmen, wie nah er an dem Saum ihrer Kleider vorbeigestreift war, und einige verheiratete Damen sowie Witwen würden womöglich sogar Geschichten über ihre wilden Abenteuer mit dem „verruchten Marquess“ zum Besten geben.

Insgeheim spottete sie über diese Albernheiten, und dennoch konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden, wusste nicht, warum ihr Herz plötzlich höherschlug. Eine seltsame Sehnsucht durchflutete sie, aber was vermochte ein notorischer Wüstling ihr schon zu bieten, außer einem Leben in Verruf und Schande?

Lady Porter, eine junge Witwe mit fragwürdigem Ruf, stolzierte auf ihn zu, und er betrachtete sie mit unverhohlener Bewunderung. Mehrere Damen schnappten hinter ihren Fächern hörbar nach Luft. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, welches Maryann höchst unangebrachte Gedanken durch den Kopf gehen ließ, beispielsweise, wie es sich wohl anfühlen mochte, ihn zu küssen und ob er dabei seine Zunge verwendete.

Energisch fächelte sie sich Luft zu und wandte sich von ihm ab. Sie beschloss, nach draußen zu gehen, um ihr glühendes Gesicht abzukühlen. Nachdem sie den Ballsaal durch die geöffneten Doppeltüren, die in den Garten führten, verlassen hatte, begab sie sich in eine kleine Privatnische, wo sie vor den neugierigen Blicken anderer Gäste sicher sein würde.

Seufzend streifte sie ihre Tanzschuhe ab und sah hinauf zum Himmel. Nach einer Weile hörte sie, wie leise Schritte sich ihr näherten, und sie umklammerte angespannt ihren Fächer.

„Nicolas“, rief eine säuselnde Stimme. „Wohin gehen Sie denn?“

Mit hämmerndem Herzen erhob Maryann sich. Der Marquess war ebenfalls nach draußen gekommen … und jemand war ihm gefolgt? Neugier und Belustigung erfassten sie gleichermaßen.

„Lady Trentman“, erwiderte er in leicht tadelndem Tonfall. „Ich hatte nicht bemerkt, dass Sie mir folgten.“

Ein affektiertes Kichern war die Antwort. „Es überrascht mich, dass Sie sich auf Lady Musgroves Ball haben blicken lassen. Niemand hat Sie hier erwartet.“

„Genau das war auch meine Absicht, meine Teure“, erklärte er neckend.

„Gerüchten zufolge sind Sie ein Mann, der sich ganz den sinnlichen Gelüsten verschrieben hat. Ich sehne mich schon seit einer Weile danach, das Bett mit Ihnen zu teilen.“

Mit angehaltenem Atem wartete Maryann auf seine Antwort.

Er stieß einen kehligen Laut aus, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Wie seltsam, dass allein seine Stimme eine solche Reaktion in ihr hervorzurufen vermochte.

„Sie möchten also wissen, ob an den Gerüchten etwas Wahres dran ist, Lady Trentman?“

Maryann presste die Lippen zusammen, um nicht schockiert nach Luft zu schnappen. Die Countess war eine verheiratete Dame!

„Womöglich“, murmelte diese in einem verführerischen Tonfall.

„Ah, wenn Sie sich nicht sicher sind, wäre es wohl besser, Sie gingen wieder hinein.“

Lady Trentman lachte atemlos. „Ich bin mir sicher! Bislang habe ich Ihnen drei Einladungen geschickt, auf die Sie nicht reagierten. Zum Glück habe ich Sie heute Abend endlich erwischt.“

„Vorfreude macht doch den Großteil des Reizes aus“, erwiderte er entwaffnend.

„Ich will nicht länger warten!“

„Dann will ich Sie bei meiner Ehre als Gentleman nicht länger warten lassen.“ Seine Stimme war tief und sinnlich, allerdings verbarg sich auch ein Anflug von Belustigung darin.

Was für ein Wüstling! Ob er sich bei jeder Frau so verhielt?

„Es erstaunt mich, dass Sie sich die Freiheit herausnehmen, sich als Gentleman zu bezeichnen“, sagte die Countess neckisch.

„Hmmm … Und sind die so steif, weil Ihnen kalt ist? Oder sind Sie erregt?“

Schockiert riss Maryann die Augen auf und bewegte sich lautlos auf die Stimmen der beiden zu. Als sie vorsichtig hinter dem Springbrunnen hervorblickte, der sich vor ihrer Nische befand, sah sie, dass der Marquess, mit dem Rücken zu ihr stehend, ein paar Meter von der Countess entfernt war, und … Gütiger Himmel! Lady Trentman hatte das Oberteil ihres Kleides nach unten geschoben und entblößte einladend ihre vollen Brüste vor ihm.

„Mir ist nicht kalt“, flüsterte sie mit einem sinnlichen Lächeln.

Maryann wich ein paar Schritte zurück und hielt sich den Fächer vors Gesicht, um sich von dem skandalösen Anblick abzuwenden.

„Wie ich hörte, sind Ihre Fertigkeiten im Bett – und auch anderweitig – weder kultiviert noch ehrenhaft.“

Zu ihrem Unmut wurde Maryann von einer prickelnden Neugier übermannt. Wovon genau sprach die Countess?

„Ah, mon coeur, und trotz dieser Gerüchte bieten Sie sich mir so willig an?“

Als die Countess ein trillerndes Kichern ausstieß, verdrehte Maryann die Augen.

„Ist es wahr?“, flüsterte Lady Trentman atemlos.

„Was?“

„Bin ich wirklich Ihr Herz?“

In seinem leisen, kehligen Lachen schwang ein sorgloser Charme mit. „Das bedeuten diese Worte also. Ich hatte ja keine Ahnung. Mein Französisch ist leider grottenschlecht.“

Hastig schlug Maryann sich eine Hand vor den Mund, um ihr eigenes Lachen zu unterdrücken, aber ihr entwich ein hörbares Prusten, auf das panisches Geraschel folgte.

„Oh, Nicolas, dort draußen ist jemand!“, flüsterte die Countess alarmiert. „Ich darf auf keinen Fall mit Ihnen gesehen werden.“

„Aber Sie waren sich des Risikos doch bewusst …“

Abermals raschelte es, dann vernahm Maryann ein gedämpftes Uff!

„Es hilft wohl kaum, wenn Sie sich mir an den Hals werfen“, merkte er trocken an, offensichtlich wenig bekümmert darüber, ob jemand die beiden in dieser kompromittierenden Lage entdeckte. „Gehen Sie besser schnell wieder hinein.“

„Aber Nicolas, wir haben gar nicht …“

„Gehen Sie“, wiederholte er ohne eine Spur seines ursprünglichen Charmes.

Als Maryann die Schritte der sich entfernenden Countess vernahm, sank sie zurück auf ihre Bank in den Schatten. Plötzlich stieg ihr ein leichter Zigarrengeruch in die Nase, und sie spürte seine Nähe mehr, als dass sie ihn auf sich zukommen hörte.

Mit wild pochendem Herzen umklammerte sie die Kante der Steinbank.

„Wollen Sie nicht herauskommen?“, fragte er amüsiert.

Maryann erstarrte und blickte an sich hinunter. Es war so dunkel in der Nische, dass sie kaum ihr eigenes Kleid auszumachen vermochte. Der Marquess konnte sie also keinesfalls sehen, er mutmaßte nur, dass sich jemand im Dunkel befand. Still und reglos blieb sie sitzen, während sein würziger Duft immer näherkam.

Als sie sein leises Lachen vernahm, erstarrte sie. Irgendwie erinnerte es sie an den maskierten Mann, der ihr wenige Stunden zuvor im Garten begegnet war. Waren der Marquess und der Unbekannte etwa ein und dieselbe Person?

Was für ein abwegiger Gedanke! Der Fremde war eindeutig gefährlich gewesen, sie hatte es gespürt. Crispin hatte gesagt, er wisse nicht mehr, ob er mit oder ohne Zutun des Mannes ohnmächtig geworden war. Maryann war sich nicht sicher, ob man einen anderen Menschen einfach so überwältigen konnte, ohne, dass dieser es mitbekam, aber das spielte auch keine allzu große Rolle. Der Fremde hatte Crispins Maske gestohlen und ihn bewusstlos liegen lassen, was nicht gerade vom Verhalten eines ehrbaren Gentlemans zeugte. Und obwohl auch sie selbst maskiert gewesen war, hatte er ihre Identität erraten, wie er durch seine mokante Verbeugung im Halbschatten des Ballsaals bewiesen hatte. Die herausfordernde Geste alarmierte und erregte sie nach wie vor gleichermaßen.

Nicolas St. Ives kannte sie zwar nur dem Ruf nach, war sich aber sicher, dass der Mann nichts Niederträchtiges oder Gefährliches an sich hatte. Am liebsten hätte sie ihn geradeheraus gefragt, hielt sich jedoch zurück.

„Ich dachte, eine kühne Dame wie Sie würde vor der Aussicht auf gesellschaftlichen Ruin nicht zurückschrecken“, murmelte er spöttisch.

Seine Worte ließen ihren Puls in die Höhe schnellen und sie hielt gebannt den Atem an. Plötzlich lag eine bedrohliche Anspannung in der Luft. Hatte er sie etwa dabei beobachtet, wie sie den Ballsaal verließ? Unmöglich. Sie waren einander noch nie zuvor begegnet, und ein Mann wie Nicolas St. Ives würde von einer Frau wie ihr niemals bewusst Notiz nehmen.

Aber wenn er doch wusste, dass sie hier war und wer sie war, warum ließ er sie dann zappeln, anstatt seine Absichten preiszugeben?

Schluss mit diesem Katz-und-Maus-Spiel, dachte sie grimmig.

Sein überhebliches, erwartungsvolles Gehabe verleitete sie dazu, sich spontan, verrucht … ja, sogar skandalös zeigen zu wollen. So gerne sie auch jeglichen Sinn für Anstand und Moral über Bord werfen würde, zügelte sie jedoch ihr tollkühnes Herz. Wüstlinge wie er stellten nach wie vor eine Gefahr für Mauerblümchen und künftige Jungfern wie sie dar. Auch wenn sie sich insgeheim wünschte, seiner strahlenden Flamme nahe zu sein, musste sie höllisch aufpassen, sich nicht daran zu verbrennen.

Vor ein paar Wochen hatte sie ihrer besten Freundin, Kitty Danvers, anvertraut, dass Nicolas St. Ives das fehlende Puzzleteil ihres verruchten Plans war, durch den sie sich eine glückliche, unabhängige Zukunft zu sichern gedachte. Sie hatte vorgehabt, ihm vorsätzlich über den Weg zu laufen und ihm ein Angebot von gegenseitigem Nutzen zu unterbreiten. Natürlich war die Idee völlig aberwitzig, aber in ihrer Verzweiflung hatte sie sich nicht anders zu helfen gewusst. Seitdem überlegte sie fieberhaft, was sie ihm im Gegenzug für seine Hilfe anbieten könnte, doch nichts erschien ihr passend.

Als sie schließlich eine Einladung zu Lady Peregrines mehrtägiger Privatfeier erhielt, hatte sie sich einen neuen Plan zurechtgelegt: Sie wollte sich in das Zimmer des Marquess schleichen, sodass der Mann, den ihre Eltern als zukünftigen Gemahl für sie auserwählt hatten, Zeuge ihrer Anwesenheit dort wurde. Natürlich wäre St. Ives selbst zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen, es sollte lediglich so aussehen, als sei sie seiner skandalösen Einladung gefolgt und wartete im Nachtgewand auf ihn. Allerdings hatte sie diese Idee verworfen, als der ehemalige Marquess verstarb. Seinen Sohn in Zeiten der Trauer auf so schäbige Weise auszunutzen, brachte sie nicht über sich.

Nicht, dass sie sich deswegen hätte Sorgen machen müssen.

Zur Empörung des ton schien der junge Marquess den Tod seines Vaters, der schlussendlich einer langen, schwerwiegenden Krankheit erlegen war, nicht sonderlich zu betrauern.

Erst vor sechs Wochen hatte St. Ives Vermögen und Titel geerbt, doch ungeachtet der Anstandsregeln trauerte er nicht im Stillen, sondern widmete sich ungeniert seinen skandalösen Vorlieben. Er ließ sich regelmäßig auf Veranstaltungen und im Theater blicken, was den Rest der Gesellschaft zutiefst schockierte. Natürlich durften die Herren der Schöpfung sich wesentlich mehr erlauben als die Damen, vor allem, wenn der besagte Gentleman so attraktiv war wie der Marquess.

Maryann schnaubte leise. Wahrscheinlich hätte ihr skandalöser Plan den erfahrenen Wüstling nur amüsiert.

Ausgelassenes Gelächter und Musik erfüllten die Nachtluft, doch sie regte sich nicht. Auch er verharrte schweigend und rauchte seine Zigarre. Auf diese Weise verstrichen mehrere Minuten. Maryann war fest entschlossen, nicht klein beizugeben.

„Sie sind eine würdige und unerschütterliche Gegnerin“, sagte er schließlich.

Wer ist in diesem Spiel nun die Katze und wer die Maus?, dachte sie amüsiert und lehnte sich beharrlich schweigend auf ihrer Bank zurück.